Puppenliebe
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Niemand ist davor sicher, aus dem Haus zu treten und in eine andere Welt zu stolpern. Dieser Spruch hätte mich davor bewahrt, darüber überrascht zu sein, als es mich traf.
Ein Tag wie jeder andere begann, dabei kann ich mich nicht mehr erinnern, um welchen Wochentag es sich handelte und es spielt auch keine Rolle für das, was kommen sollte.
Ich stand auf, frühstückte ausgiebig, wie ich es liebte, setzte mich danach an meinen Schreibtisch um ein paar Recherchen zu machen. Nichts Aufwendiges, eher Grundlegendes für einen neuen Roman, den ich in Fragmenten in meinem Kopf hatte. Es ging um ein paar nebensächliche, historische Ereignisse, die ich mit verarbeiten wollte, die mit der Story selber nichts zu tun hatten. Korrekt mussten sie trotzdem sein, sonst konnte die Fanpost zu einem Spießrutenlauf werden, wenn man tausend Mal darauf hingewiesen wurde, dass Unstimmigkeiten vorhanden waren. Viele Leser schienen sich einen Spaß darauf zu machen, nach diesen kleinen, nebensächlichen, falschen Dingen zu suchen. Hatten sie was gefunden, schmierten sie es einem direkt aufs Brot. Das Dumme war, dass sie recht hatten.
Diesem wollte ich entgehen und sucht im Internet Informationen. Leider erwiesen sie sich nicht selten als falsch, daher sicherte ich mich ab, indem ich mehrere Quellen zu dem Thema anzapfte.
Bei einer Frage stieß ich auf Widersprüche und fragte mich nach einiger Zeit der Recherche, ob es irgendwo einen Menschen gab, der fachlich Kompetent war. Eine Expertin oder einen Experten, der sich auskannte. Sofort suchte ich danach, bekam eine Adresse angezeigt, die nicht weit weg war. Es war in einer Gegend, einem Stadtteil, in der ich mich nie aufhielt, daher kannte ich es nicht, obwohl in meiner eigenen Stadt. Typisch für Menschen wie mich, die an der eigenen Scholle klebten und wenig herum kamen.
Ich schrieb mich die Rufnummer auf und rief an, um einen Termin zu machen.
Lange musste ich klingeln lassen, bis abgenommen wurde und eine ältere, weibliche Stimme erklang.
„Ja!“, hörte ich lang gezogen ohne weitere Information.
„Frau Kringel?“, fragte ich vorsichtshalber nach, um sicherzugehen, die Richtige am Telefon zu haben.
„Am Apparat!“, antwortete die Stimme und verstummte.
„Ich bin Schriftsteller und haben eine Frage, die sie mir vielleicht beantworten können, das Internet bietet dazu keine eindeutige Antwort. Daher habe ich die Bitte an sie, ob sie mir helfen können!“
Für einen Moment blieb es still am anderen Ende und ich dachte bereits, dass niemand mehr dran wäre, doch leises Atmen war zu hören und belehrte mich eines besseren.
„Junger Mann, ich wüsste nicht, wie ich ihnen helfen könnte. Ich bin alt, niemand braucht meine Hilfe seit vielen Jahren. Was kann ich ihren schon erklären?“
„Ich glaube schon, dass sie mir helfen können. Sie haben sicher viel Erfahrung, wenn es um Puppen geht. Soweit ich gesehen habe, hatten sie einmal ein Geschäft und eine Werkstatt für Reparaturen!“, meinte ich und lauschte neugierig.
„Das ist viele Jahre her. Meine Augen sind schlecht geworden, meine Hände zittern und tun nicht mehr das, was sie sollten. Wenden sie sich bitte an jemanden anderen!“
Mir war klar, dass sie auflegen wollte und das konnte ich nicht zulassen.
„Bitte Frau Kringel, ich suche nach Informationen über historische Puppenkleider!“
Zu meiner Erleichterung hörte ich nicht, dass sie auflegte, stattdessen entstand eine kleine Pause mit bekanntem Atmen.
„Gehen sie in ein Museum. Dort wird man ihnen helfen!“
„Dort wird man mir wahrscheinlich nichts sagen über die Herstellung, wer sie genäht hat, welche Stoffe verwendet wurden. Ihre Erfahrungen damit würden mich schnell weiterbringen!“
„Schnell weiterbringen!“, wiederholte sie mit nachdenklicher Stimme.
„Junger Mann, schnell, ist nichts mehr für mein Alter. Aber ich will für sie eine Ausnahme machen. Lange habe ich mich nicht mehr mit Menschen über das alte Handwerk unterhalten. Kommen sie, wenn sie möchten. Ich bin zuhause. Bitte klingeln sie drei Mal, es wird dauern, bis ich an der Tür bin!“, sagte sie und lege, ohne ein weiteres Wort, auf.
Nachdenklich hielt ich mein Smartphone in der Hand, sah auf das leuchtende Display und legte es erst beiseite, als dieses in den Sparmodus ging und ich nachgesehen hatte, wie spät es war.
Ich nahm mir vor, Frau Kringel am nächsten Tag zu besuchen. Ohne ihre Meinung zu dem, was ich schreiben wollte, konnte ich nicht an meinem Roman weiterarbeiten.
Am nächsten Tag, am späten Vormittag, machte ich mich auf den Weg, fuhr zu der angegebenen Adresse und sah mich verwundert um.
Die Backsteinhäuser, an der Adresse waren ausnahmslos in Reihe gebaut worden und aus einer anderen Zeit, wahrscheinlich vor dem Ersten Weltkrieg entstanden. Typisch für die Zeit war die Bauweise. Hochparterre mit Souterrain, in die jeweils eigene Treppen führten. Ich hatte es oft in alten Filmen gesehen. Besonders hatte mir gefallen, wenn im untersten Geschoss ein kleiner Laden, vielleicht ein Krämer oder Bäcker seine Waren anbot.
Ich lächelte über die Bilder in meinem Kopf und stieg aus meinem Wagen aus, trat auf das Gebäude zu und entdeckte das Namensschild von Frau Kringel am Hochkeller.
Vier Stufen stieg ich herunter, drücke auf einen Klingelknopf aus Messing, der lange nicht mehr geputzt worden war. Er war leicht oxidiert, hatte eine grünliche Färbung angenommen.
Ich hörte eine altertümliche Klinge läuten und wartete längere Zeit, wie mir Frau Kringel geraten hatte.
Nach einer Minute, gerade als ich meinen Finger erneut auf den Knopf legen wollte, hörte ich wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Die Tür ging langsam auf und vor mir stand eine gebeugte Frau, weiße Haare, trübe Augen, die mich von unten herauf ansah und sich dabei auf einen Gehstock stützte.
„Ja!“, vernahm ich das bekannte, lang gezogene Wort und wusste augenblicklich, dass es sich um Frau Kringel handelte.
„Frau Kringel, mein Name ist Bauer, ich hatte sie wegen der Puppenkleidung angerufen!“
„Sie sah mich einen kurzen Moment an, und es sah aus, als wenn sie in ihre Erinnerungen nach mir suchte. Nach ein paar Sekunden erhellte sich ihr Gesicht und sie legte ein schmales Lächeln auf die Lippen.
„Ach sie sind das, ich hatte sie nicht so schnell erwartet. Es muss für sie ja ungemein wichtig sein, sonst würden sie eine alte Frau wie mich nicht um Rat fragen. Kommen sie doch herein!“
Sie mache mir umständlich Platz, hielt sich dabei zusätzlich an der Tür fest und ich ging an ihr vorbei.
Ich tauchte in eine andere Welt ein, wie ich sofort feststelle. Ein Geruch von Jahrhunderten drang in meine Nase ein und ich brauchte einen Moment, um mich an das Halbdunkel des Souterrains zu gewöhnen. Erstaunt blieb ich stehen, sah mich für einen Moment um, bis Frau Kringel die Tür geschossen hatte.
Es war, wie ich es mir vor der Tür vorgestellt hatte. Ich betrat einen kleinen Raum, der wahrscheinlich zum Verkauf gedient hatte. Die gesamten Wände waren mit Regalen vollgestellt, auf denen Hunderte Puppen saßen und mich mit ihren Glasaugen ansahen. Große und Kleine saßen und standen auf den Brettern, waren für mich nach keinem System angeordnet. Nicht einmal das Alter war ein Anhaltspunkt. Die meisten Puppen waren alt, doch hier und war eine Neuere dazwischen, auch wenn sie optisch nicht passte. In der Mitte des Raumes standen vier kleine Sessel um einen runden Tisch herum. Seine Größe ließ darauf schließen, dass er dafür gebaut worden war, Tee oder Kaffee an ihm einzunehmen. Dies bestätigte sich, als Frau Kringel mich danach fragte.
„Einen Tee Herr Bauer?“, hörte ich sie mit ihrer typisch schleppenden Stimme und wendete mich ihr zu.
„Gerne!“, antwortete ich und sie nickte, schlurfte an mir vorbei und ich hörte sie in einem Nebenraum Wasser aufsetzten.
Ich ging näher an die Regale heran, betrachtete einige der ausgestellten Stücke, sah sie mir genau an. Irgendwann Pfiff ein Wasserkessel und ich kam mir vor wie in einer anderen Zeit.
„Alles meine Kinder!“, hörte ich sie hinter mir und zuckte zusammen, weil ich sie nicht hatte, kommen gehört.
Ich drehte mich zu ihr um, sah, wie sie ein silbernes Tablett auf den Tisch stellte, zwei Tassen und eine Kanne, sowie Zucker und Milch darauf platzierte.
„Setzen sie sich doch!“, forderte sie mich auf und ich ging zum Tisch, setzte mich und sah in einem der Sessel, von dem ich lediglich die Rückenlehne gesehen hatte, eine seltsame Puppe sitzen. Sie saß zusammengekrümmt darauf, hatte wenig Kleidung an. Was mich sofort an ihr faszinierte, war ihre Form. Der Kopf schien aus einem weißen Material gefertigt worden zu sein, wie aus Porzellan, genauso die überlangen Haare, die glatt herunterhingen. Sie hatte ein niedliches Gesicht, ohne Makel, in dem ihre großen, schwarzen Augen auffielen, halb geschlossen, mit langen Wimpern. Zu meiner Verwunderung war dieser Kopf wesentlich größer als der Puppenkörper, hatte die falsche Proportion zum Rest. Der Körper selber war fraulich schlank mit deutlich hervorgehobenen Brüsten, deren Nippel durch einen groben Bikini oder Unterwäsche hervorstachen. Der linke Arm fehlte.
Ich betrachtete sie, solange Frau Kringel dafür brauchte, um sich hinzusetzen.
„Zucker? Milch?“ fragte sie mich und ich riss mich von dem Anblick, der einen bizarren Eindruck auf mich machte, los.
„Milch, ein Stück Zucker bitte!“, antwortete ich ihr, beugte mich selber vor, um zu nehmen. Ich wollte nicht, dass Frau Kringel sich wegen mir zu sehr anstrengte. Sie nahm es mit Wohlwollen auf und lächelte mich an.
„Sie heißt Prinzess!“, sagte sie und ich verstand nicht gleich, was sie damit meinte, bis mir aufging, dass die Puppe gemeint war.
„Ein schöner Name. Passt zu ihr. Haben sie ihr den gegeben?“
„Nein, sie hat es mir gesagt und mich darum gebeten ihr neue Kleidung zu machen. Leider ist mein Augenlicht dafür nicht mehr gut genug. Sehen sie, ihre Unterwäsche ist mir schlecht gelungen. Ich kann die feinen Arbeiten nicht mehr ausführen!“
Ich sah es mir genauer an, konnte erkennen, dass besonders das Höschen nicht richtig saß. Es lag nicht am Unterleib an, war eine Nummer zu groß. Die Nähte waren grob, teilweise scheinen sie schief zu sein.
„Es wird sie sicher nicht stören!“, meinte ich und nahm vorsichtig einen Schluck von dem heißen Tee.
„Das glauben sie. Prinzess hat sich bereits bei mir beklagt. Sie müssen wissen, sie ist sehr eitel, mehr als jede andere hier!“
Ich sah Frau Kringel von der Seite aus an, und sagte mir, dass Menschen im Alter wunderlich werden, besonders wenn sie alleine waren. Einen Herrn Kringel, schien es nicht zu geben.
„Haben alle Puppen hier Namen!“, frage ich daher freundlich und Frau Kringel sah sich um, nannte mir einige davon.
„Nein, nicht alle wollen es mir verraten!“, gab sie an, nachdem sie etwa zwanzig Namen aufgezählt hatte.
„Warum nicht?“, fuhr ich neugierig fort, dass nicht gespielt war. Es interessierte mich wirklich, wollte wissen, wie sich diese Geschichte fortsetzte. Vielleicht konnte ich sie irgendwann in einem Buch gebrauchen.
„Sie sind der Meinung, dass wenn man ihren wirklichen Namen kennt, zum Arbeiten gezwungen werden können!“
„Und? Kann man?“, setzte ich das Gespräch fort.
„Ich würde so etwas nie tun, sie sind dafür da, sie anzusehen, sie lieb zu haben. Früher habe ich ihnen was vorgesungen, oder, wenn sie brav waren, einen Wunsch erfüllt!“
Gut, die Alte war durchgeknallt, jedoch auf eine besonders liebenswürdige Art und Weise. Ich mochte sie, ihr ruhiges Wesen, ein Mensch, dem man ansah, dass sie niemandem etwas zuleide tun würde.
„Was wünschen sie sich denn? Sagen wir mal, Prinzess hätte einen, was würde sie wählen?“, fragte ich, hatte das eigentliche Thema meines Besuchs längst in den Hintergrund gestellt. Diese Konversation war interessanter.
„Oh, sie ist nicht leicht zufriedenzustellen. Meistens wünscht sie sich, dass ich ihr Haar bürste. Sie liebt es, wenn die Borsten leicht über ihren Kopf kratzen, die Haare glänzend und ohne Knoten herabhängen, nachdem ich sie gewaschen habe!“, antwortete Frau Kringel und sah die Puppe liebevoll an.
„Ich frage mich, wenn ich einmal nicht mehr bin, wer sich dann um meine Kinder kümmert?“
„Frau Kringel, bei ihrer Gesundheit müssen sie sich keine Sorgen machen, sie haben noch viele Jahre!“, schmeichelte ich ihr und sie sah mich mit einem friedlich wirkenden Lächeln an.
„Junger Mann, als alte Frau sieht man vieles anders, dankt für jeden Tag, den man erleben darf!“
Ich nickte, nahm einen weiteren Schluck Tee, der kräftig und geschmackvoll war.
„Sie hatten Fragen wegen der Kleidung, wenn ich mich richtig erinnere?“, wechselte sie auf einmal das Thema und ich nickte.
„Was interessiert sie am meisten und wofür brauchen sie es?“
Ich erzählte es ihr, frage nach den Stoffen, die verwendet wurden, wer sie nähte, als es keine maschinelle Herstellung gab und viele andere Dinge, die ich mir in einem kleinen Buch notiert hatte, dass ich grundsätzlich mit mir herumtrug.
Frau Kringel war eine gute Zuhörerin, beantwortete mir die Fragen in einer großen Ruhe und schloss dabei öfters ihre Augen. Vielleicht sah sie dabei, was sie erzählte, vor sich.
„Wissen sie was? Ich glaube es wäre besser, wenn sie es einmal probieren würden. Selber machen lehrt am besten. Was halten sie davon?“
Warum nicht, es konnte nicht schaden, auch wenn ich keine Ahnung davon hatte.
„Ich habe davon aber keine Ahnung, kann nicht nähen und bin im Handarbeitsunterricht, in der Schule, eher schlecht gewesen!“, versuchte ich mich herauszureden. Frau Kringel ließ es nicht zu.
„Mit meinem Wissen, ihren guten Augen und hoffentlich geschickten Händen, wird es schon gehen. Es werden keine Meisterwerke werden, aber das verlangt auch keiner. Also, was ist?“
Wahrscheinlich hatte sie recht. Vieles erklärte sich schneller in der Praxis, als wenn man es nur hörte, außerdem hatte ich Zeit, keinen Termin mehr an diesem Tag.
„Wenn sie mit einem Mann, der zwei Linke Hände hat, arbeiten wollen, werde ich nicht Nein sagen. Aber nicht mit mir schimpfen, wenn nichts draus wird!“
Frau Kringel lächelte sanft, leerte ihre Tasse Tee und kam schwerfällig auf die Beine.
„Folgen sie mir. Ach ja, nehmen sie bitte Princess mit. Sie wartet seit einer kleinen Ewigkeit darauf, dass ich mich um sie kümmer!“
Während Frau Kringel auf Filzpantoffeln in Richtung einer Tür schlurfte, stand ich auf und hob Prinzess vorsichtig von dem Sessel hoch, wollte nichts kaputt machen. Zu meinem Erstaunen war sie schwerer als gedacht, ihre Körper, die einzelnen Glieder locker. Daher schob ich eine Hand unter ihren großen Kopf und legte den Rest auf meinen Arm, wie ich es bei Babys gesehen hatte. Schlaff hingen Arme und Beine herunter, ihr schmaler Körper wurde von meinem Unterarm gestützt. Zu meiner Verwunderung fühlte sie sich nicht kalt an wie erwartet, sondern erwärmte sich schnell. Ich schrieb es dem Material ihres Körpers zu, der meine eigene Wärme aufnahm und sofort zurückstrahlte.
Mit langsamem Schritt ging ich hinter Frau Kringel her, und wir kamen in einem Hinterzimmer an, der sich, als eine alte Werkstatt herausstellte, also war der Vorraum der Verkaufsraum eines Ladens gewesen.
In der Werkstatt stand ein großer Tisch, davor zwei Stühle. Daran montiert war eine große Lupe, darüber eine Lampe mit Neonröhre, die helles Licht abstrahlte, als Frau Kringel sie anschaltete.
Mehrer hohe Schränke standen an den Wänden, in denen es Hunderte von kleinen Schubladen zu geben schien. An jede war ein keines Fach angebracht, in dem ein Zettelchen steckte, auf dem wahrscheinlich stand, was sich in der Schublade befand. Aus der Entfernung konnte ich es nicht erkennen.
Ich legte Prinzess vorsichtig auf den Tisch, setzte mich daran und übersah die geschätzten tausend Dinge, die sich darauf befanden. Pinsel, Kleber, Scheren und Stoff, dazwischen Ersatzteile für Körper. Augen sahen mich aus einem Glas an, Arme und Beine lagen auf einem kleinen Haufen. Trotz des Wirrwarrs hatte ich den Eindruck, als wenn es eine geordnete Unordnung war.
„Womit wollen wir anfangen?“, frage ich tatendurstig Frau Kringel, die sich neben mich setzte und zu überlegen schien.
„Wir sollten Prinzess einen neuen Arm geben, es sieht ohne nicht gut aus. Können sie einmal schauen, ob sie einen möglichst gleichen finden, wie ihr anderer. Bitte einen Linken!“
Ich sah mich auf dem Tisch um, verglich sie mit dem vorhandenen, doch keiner hatte dieselbe Proportion. Entweder waren sie zu klein, zu groß oder hatten die falsche Farbe.
„Nichts dabei!“, erklärte ich und Frau Kringel zeigte auf eine Kiste, die in einer Ecke stand.
„Schauen sie doch bitte dort drin nach. Es wird sich sicher was Passendes finden!“
Ich stand auf, sah in die offene Kiste und entdeckte ein Sammelsurium von Armen in jeder Form und Größe, wobei die obersten mit einer leichten Schicht Staub bedeckt waren.
Hier hatte lange keiner mehr gesucht. Es hielt mich nicht davon ab, in der Kiste zu wühlen, in der wahrscheinlich seit Jahrzehnten die Arme gelagert wurden, die bei nicht rettbaren Fällen anfielen.
Ich zog einige heraus, die passen könnten und kam mit meiner Ausbeute zurück. Hier verglich ich sie mit dem Vorhandenen und fand zwei, die passen würden. Der eine war dunkler, der andere hatte eine ähnliche Farbe, dafür sahen die Finger anders aus.
„Hmmmm, könnte passen!“, sinnierte ich und hielt sie an den Stumpf der Puppe, an den er gehörte.
„Welchen würden sie nehmen?“
„Fragen sie sich, welcher Prinzess am besten gefallen würde. Ihre Meinung ist nicht gefragt, versuchen sie sich in die Puppe zu versetzten, um zu entscheiden!“, erklärte Frau Kringel und ich atmete leise und tief durch. Sie war eine seltsame Frau, das ließ sich nicht verleugnen.
„Wenn dieser heller wäre, würde er besser zu ihr passen als der andere!“, erläuterte ich mein Ergebnis und nickte zustimmend mit dem Kopf.
„Gut, dann machen wir ihn heller. Zuerst müsste er geputzt werden, meistens sind sie ein wenig verschmutzt und dann schauen wir uns das Material an. Je nachdem lässt sich was machen!“
An einer Wand hing ein Waschbecken und ich ging hin, nahm Seite und Bürste, rubbelte den Arm kräftig ab. Danach kam ich zurück und musste Frau Kringel recht geben. Die Behandlung hatte ihn heller gemacht, sah wesentlich besser aus, als ich ihn neben den anderen Arm hielt.
„Passt, ich glaube, wir müssen nichts mehr damit machen!“, fand ich und sah Frau Kringel an.
„Denken sie daran, die Puppe muss lange damit leben, und wenn es ihr nicht gefällt, darf ich mir ihr Genörgel anhören!“
„Gut, eine Nuance heller wäre nicht schlecht!“, sah ich ein und Frau Kringel streckte ihre Hand aus, um mir den Arm abzunehmen. Ich gab ihn ihr und sie tastete mit ihren Fingern über das Material.
„Sie haben Glück, es ist kein moderner Kunststoff, sondern ein altes Material. Da lässt sich was machen!“
Frau Kringel ließ mich nach einer Flasche suchen, die eine bestimmte Flüssigkeit enthielt und schraubte sie auf, roch vorsichtig daran ob es dir richtige war, als ich ihr die gewünschte Flasche anreichte.
Sie verzog bei dem beißenden Geruch ihr Gesicht, als er in ihre Nase zog, wendete ihren Kopf sofort ab.
„Nehmen sie ein Tuch, geben sie ein wenig von dem Inhalt darauf und reiben sie den Arm vorsichtig und vor allem gleichmäßig ab, damit er nicht scheckig wird!“, erklärte sie und ich tat es, konnte die Wirkung schnell erkennen und musste schnell stoppen, um nicht zu viel zu machen.
„Fertig!“, meinte ich, nachdem ich alles überprüft hatte, und reichte ihn Frau Kringel herüber. Sie nahm ihn nicht an.
„Nein, sie haben ihn ausgewählt, sie werden ihn anbringen. Es ist ganz einfach!“
Frau Kringel erklärte mir genau, wie er angebracht werden musste und ich versuchte, ihrer Anweisung zu folgen. Vorsichtig befestigte ich den Arm an der vorgesehenen Stelle und zuckte zusammen, als die Puppe ihre Schlafaugen für einen Moment weit aufriss und mich ansah. Sofort hielt ich inne, betrachtete sie aufmerksam, kam danach zum Schluss, dass ich ihren Kopf bewegt hatte und daher die Augen aufgegangen waren.
Nach einigen Minuten und mehreren leisen Flüchen war ich fertig und hielt Prinzess hoch. Wie zuvor hing sie schlaff in meinen Händen, und ich betrachtete sie im Ganzen. Der neue Arm passte perfekt zu ihr und ich war auf mich Stolz, es geschafft zu haben.
„Sehr gut!“, lobte ich mich selber und leget sie zurück auf den Tisch.
„Das höre ich gerne. Nun kommen wir zu ihrer Kleidung. Was denken sie, was Prinzess gerne hätte?“
Ich sah sie mir genau an, rieb mit einer Hand durch meinen Dreitagebart und überlegte einen Moment. Wie aus heiterem Himmel kam mir eine Eingebung, als wenn eine Stimme in mir gesprochen hätte.
„Ich denke, dass ihr was Modernes gefallen würde. Vielleicht ein Miniröckchen und ein schmales Oberteil in kräftigen Farben!“, erklärte ich und Frau Kringel sah mich kurz an.
„Keine schlechte Idee. Wollen mal sehen, ob wir was in der Richtung für sie machen können. Sie wollten doch sehen, wie so was geht. Im Prinzip ist es nicht anders, als bei der Bekleidung für Menschen, zumindest ich mache das so. Hier wird nur geklebt, wenn es nicht anders möglich ist. Leider haben ich keine Schnittmuster für diese modernen Sachen. Aber wir sollten das auch so hinbekommen. Dort hinten ist feinstes, dünnes Leder, schauen sie mal nach, ob was für uns dabei ist, ich schaue, ob ich Stoff für das Oberteil finde. Würde Prinzess ein knalliges Rot gefallen?“
Ich sah die Puppe an und nickte. In der Farbe konnte ich sie mir gut vorstellen.
Wenig später lag das Beste auf dem Tisch, was wir finden konnten und Frau Kringel zeichnete mit zittrigen Fingern schmale Linien auf das Material. Nahm zwischendurch bei der Puppe Maß.
„So, das sollte gehen. Schneiden sie es bitte aus und danach werden sie es vernähen!“
Um ehrlich zu sein, war es das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Nähmaschine bediente. Sie war im Gegensatz zur Werkstatt recht modern und daher einfacher zu bedienen als gedacht. Zuvor übte ich einen Moment, um eine einigermaßen gerade Naht zu bekommen und durfte mich danach an die Stoffteile für die Kleidung wagen.
Natürlich hätte ein Experte es besser gemacht, trotzdem fand ich das Ergebnis meiner Arbeit ansehnlich. Immerhin hatte ich über zwei Stunden dafür gebraucht, wobei mir Frau Kringel wertvolle Tipps geben konnte. Es bezog sich weniger auf meine Werkstücke, stattdessen fragte ich sie über andere aus, die ich in meinem Roman verwenden wollte. Sie war eine übersprudelnde Quelle für alles, was das betraf und ich hatte den Eindruck, als wenn sie genüsslich in alten Erinnerungen schwelgte.
„Fertig!“, meint ich und hob das Röckchen hoch, hielt es der Lampe entgegen.
„Sieht gut aus. Probieren sie es an!“
Ich wendete mich der Puppe zu, zog ihr die Bekleidung vorsichtig über den Körper und betrachtete danach das Ergebnis.
„Passt!“, erklärte ich freudig und hob Prinzess hoch über mich.
Sie schlug ihre Augen klimpernd auf und ihre Lippen verzogen sich im Halbschatten zu einem schmalen Lächeln.
Eine Täuschung, war ich mir sicher und legte sie vorsichtig auf den Tisch zurück. Danach verabschiedete ich mich von Frau Kringel, bedankte mich für die vielen Tipps und Informationen, die mich in meiner Recherche weitergebracht hatten. Sie kam mit mir an die Tür, zog auf einmal eine kleine Puppe hinter dem Rücken her und reihte sie mir.
„Nehmen sie, dann sind sie nie alleine!“, meinte sie, zwinkerte mir mit einem Auge zu.
Ich nahm die scheinbar alte Puppe, die mit einem Kleid angezogen war, das ihr bis über die angedeuteten Knie hing, in winzigen Schühchen steckten ihre Füße, die Haare waren unter einer Haube versteckt. Sie hatte ein nettes, lächelndes Gesicht mit roten Bäckchen, und hatte eine Größe, die meine Hand ausfüllte.
Ich bedankte mich bei Frau Kringel, stieg in meinen Wagen ein, setzte die Puppe auf den Beifahrersitz und fuhr nach Hause. Hier machte ich mich gleich an die Arbeit das gewonnene Wissen zu verarbeiten. Die Puppe bekam einen Ehrenplatz auf meinem Schreibtisch.
In den nächsten Wochen gewöhnte ich mich an sie, und wenn ich sie ansah, erinnerte sie mich an Frau Kringel.