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1. Auflage als E-Book, September 2016
entspricht der 1. Druckauflage vom September 1991
© Christoph Links Verlag GmbH
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Lektorat: Peter-Michael Fritsch
Gestaltung: Eberhard Delius
eISBN 978-3-86284-358-9
Die Fahrt nach Eggersdorf – Ein Vorwort
DAS ERSTE KAPITEL
Das Bernsteinzimmer
Das Bernsteinkabinett
Das Geschenk des Soldatenkönigs
DAS ZWEITE KAPITEL
Dr. Rohdes Geheimnis
Sicherstellung der Kunstschätze
Rittmeister Graf Solms
»Alles ist hin«
Evakuierung?
Transporte auf der Ostsee
DAS DRITTE KAPITEL
Die zwingende Hypothese
Rätseln um BSCH
Das Geheimnis von »Olga«
Objekt »Weiße Erde«
Trugschlüsse und eine gewagte Hypothese
Der Rühle-Transport
Georg Stein und die Version Wittekind
DAS VIERTE KAPITEL
Das Jahr des Bernsteinzimmers
Frau Laubes Erinnerung
Die Brauerei Ponarth
Abenteuer Bierkeller
Wer ist Professor Barsow?
Anonyme Briefe
Der versenkte Schlittentroß
Skurrilitäten
DAS FÜNFTE KAPITEL
Das letzte Kapitel?
Stadelmanns Entdeckungen
In den Kellern
Der Fund von Schwepnitz
Rohdes geheimnisvoller Tod
Das Tagebuch
Das zweite Bernsteinzimmer
Das Ende einer Legende?
Renaissance des Bernsteinzimmers
Anhang
Anmerkungen
Namenregister
Über den Autor
Zum Jahresende 1984 war die Bernsteingeschichte »Sonnensteine« von Günter Ludwig im Verlag Die Wirtschaft Berlin erschienen. Als Lektor dieses Buches erhielt ich zahlreiche schriftliche und telefonische Informationen zum Schicksal des Bernsteinzimmers, dem der Autor ein besonderes Kapitel seines Buches gewidmet hatte. So meldete sich in den ersten Märztagen des Jahres 1985 ein Mann, der sich als pensionierter Mitarbeiter des Ministeriums des Innern vorstellte, nach Zuschriften fragte und um die Adresse von Günter Ludwig bat. Der Mann hieß Paul Enke.
An einem trüben Märzmorgen fuhren wir gemeinsam nach Eggersdorf, einem jener weitläufigen Wochenendparadiese Berliner Grundstücksbesitzer im sogenannten Randgebiet.
Der promovierte Jurist Paul Enke war damals 60 Jahre alt und wegen eines schweren Kreislaufleidens seit einigen Jahren invalidisiert.
Die Fahrt nach Eggersdorf dauerte kaum eine dreiviertel Stunde. Doch sie reichte, um den Lebenslauf und das Credo dieses Mannes kennenzulernen. »Dreher hab ich gelernt, und dann bin ich freiwillig zur Wehrmacht gegangen. Wer ist denn denen damals nicht auf den Leim gekrochen? Deutschland erwache, aufgezwungener Krieg und so. Junge, und dann die ganze Scheiße mitgemacht. Gefangenschaft bei den Russen. Die haben mich lange dabehalten. Nicht, weil ich ihnen besonders gefiel, sondern weil irgendein anderer Enke da Schweinereien unter der Zivilbevölkerung begangen hatte, und die glaubten nun, das wäre ich. Sie haben mir auch gezeigt, was unsere Truppen aus Leningrad gemacht haben. Ich hab Peterhof, Gatschina und Puschkin gesehen. Und in Puschkin erfuhr ich von dem Bernsteinzimmer. Das wär’s schon. Was willst du noch hören? Rückkehr 1949, Volkspolizei, Abitur, Jurastudium, Promotion. Hab auch Vorlesungen über Geschichte und Kunstgeschichte besucht, aber dazu war die Zeit sehr knapp. Und Idioten waren wir damals. Aus einem Nachbardorf kam jemand und sagte, auf dem Boden eines Hauses hätte man ein Lager von Naziakten entdeckt. Wir fuhren hin, und weißt du, was ich befohlen habe? Verbrennt den ganzen Plunder, hab ich gesagt.« Er lachte, ein kurzes, trockenes Lachen. »Jaaa, so war das.«
Bei den Ludwigs verbrachten wir acht Stunden. Wir saßen da mit roten Ohren und lauschten den Erzählungen Enkes. Der mittelgroße, eher klein wirkende Mann, dessen graue Augen auch im Disput noch zu lächeln schienen, war so etwas wie ein Lexikon über alles, was sich in den 12 Jahren des sogenannten Tausendjährigen Reiches auf dem Gebiet des Kunstraubs ereignet hatte. Fast 30 Jahre hatte er nach dem Verbleib des Bernsteinzimmers geforscht, zahllose Verliese der Nazis aufgestöbert, manches Verschollene wiedergefunden, »getaucht und gewühlt«, wie er sagte, und Spuren entdeckt. »Du kennst doch den Flakturm im Friedrichshain«, wandte er sich an mich, »weißt du von dem, was sich damals, im Mai 1945, dort ereignet hat? Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es auch noch nicht, aber da ist eine ungeheure Schweinerei passiert.«
Ich wußte nur, daß die SS dort ein Kunstgutlager der Berliner Staatlichen Museen verheizt haben soll. Im Kunstgewerbemuseum Schloß Köpenick hatte Professor Schade, der Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, einen Lichtbildervortrag über den brandgeschädigten Giselaschmuck gehalten. Das war ein Jahr her. Von der »Schweinerei«, wie Paul Enke sich ausdrückte – für ihn war es gewissermaßen der Oberbegriff für Verbrechen aller Art – wußte ich indes nichts.
Als wir zurückfuhren, dunkelte es schon. Ich fragte Enke nach seinen Plänen, dachte dabei auch an seinen Gesundheitszustand. Als »medizinisches Wunder« bezeichnete er sich, er dürfte nach menschlichem Ermessen gar nicht mehr am Leben sein. »Junge«, sagte er, »das Manuskript über die Bernsteinzimmersuche ist fertig, aber der Militärverlag will erst 1988 darangehen. Und dann will ich noch eine Geschichte des Kunstraubs schreiben. Nur, weiß ich, wie lange das Wunder noch dauert?«
Wir wurden uns einig, eine gekürzte Fassung seiner Forschungen über das Bernsteinzimmer in meinem Verlag unterzubringen. »Und deine Kunstraubgeschichte?« fragte ich.
»Ich mache weiter, das verlangt viel Zeit, Jahre, wieviel, weiß ich nicht. Vielleicht übernimmst du es von mir, wenn mich der große Fährmann ruft.«
Enkes »Bernsteinzimmer-Report« erschien 1986 im Verlag Die Wirtschaft, eine zweite Auflage folgte 1987. Insgesamt sind 50000 Bücher verkauft worden.
Die Zeit der Zusammenarbeit mit Enke bei der Gestaltung seines Manuskriptes gehört zu den besten Erinnerungen meiner über 20jährigen Tätigkeit als Lektor. Er kämpfte um jedes Wort. Ich empfand seine Darstellungsweise als zu nüchtern. Jeder Lektor glaubt, ein guter Psychologe zu sein. In diesem Fall war Enke der bessere. Noch nie hatte der Verlag auf ein Buch mehr Zuschriften erhalten als auf den »Bernsteinzimmer-Report«.
An jenem Märzmorgen des Jahres 1985 begann auch meine nebenberufliche Laufbahn als Bernsteinzimmerforscher im engeren und als Fahnder nach verschollenem Kulturgut im weiteren Sinne. Bis zu Enkes Tod im Dezember 1987 arbeitete ich mit ihm zusammen, so etwa wie Watson mit dem großen Meister Sherlock Holmes. Dann mußte ich das von ihm Begonnene allein, unterstützt von Uwe Geißler und Dieter Hilpert, fortsetzen. In den folgenden Jahren gab es etliche Turbulenzen um das Bernsteinzimmer und auch ganz neue Erkenntnisse, die schließlich in den TV-Film des jungen Münchners Maurice Philip Remy eingingen. So blieb es nicht aus, Paul Enkes heute längst vergriffenen »Bernsteinzimmer-Report« hier und dort der Kritik zu unterziehen, ohne jedoch den Wert dieses besonders wegen der darin enthaltenen zeitgeschichtlichen Zusammenhänge brillanten Werkes in irgendeiner Weise schmälern zu wollen.
Günter Wermusch
Der Brief der Kammerzofe. Das »achte Weltwunder«. Friedrich III. wird König in Preußen. Die Idee von der Bernsteintäfelung. Gottfried Wolffram wird zu teuer. Schacht und Turau vollenden das Meisterwerk. Peter I. in Berlin. Zwey kostbahre praesente. Transport nach Petersburg. Erweiterung und Einbau im Katharinenpalais. Das Gegenpraesent Peters.
»Wir haben wieder einige kleine Touren gemacht, wo ich viel Schönes gesehen habe. Den 5. August nach Pawlowsk, den 7. zurück. Das gehört dem Großfürsten Michael, und bei jedem diesem Lustschloß ist allemal ein Städtchen so groß wie Weimar. Die Größe und Schönheit von Schloß und Garten ist gar nicht zu beschreiben … Wie wir von Pawlowsk zurückfuhren, mußten wir durch Zarskoje Selo, die Hoheit befahl, wir sollten dort halten und schickte einen Feldjäger mit, daß wir alles gezeigt bekamen, dessen Pracht gar nicht zu beschreiben ist. Da war ein Zimmer, beinahe so groß wie der neue Saal, der bei uns gemacht wird, von lauter Bernstein die Wände und ziemlich große Figuren aus einem Stück gearbeitet, dessen Wert dieses Zimmers gar nicht zu berechnen ist.«
So schrieb Friederike Roltsch, Kammerzofe der Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, am 13. August 1840 an ihren Verlobten in Weimar. Das Kammerfräulein war anläßlich eines Verwandtenbesuchs der großherzoglichen Familie nach Petersburg gekommen1 und berichtete ihrem »lieben guten Albrecht« voller Begeisterung von all den Wundern, die sie im fernen Rußland entdeckt hatte.
Andere, gebildetere Leute haben die Pracht und den Zauber des Bernsteinzimmers im Katharinenpalais von Zarskoje Selo zwar in treffendere Worte gekleidet, als es das kleine Kammerfräulein vermochte. Doch wie ungekünstelt und ursprünglich wirkt das Staunen der Friederike Roltsch, die in den Schlössern ihrer Herrschaft gewiß an Pomp gewöhnt war.
Ein britischer Gesandter in Petersburg, dessen Name nicht überliefert ist, soll den Bernsteinsaal im Katharinenpalais gar als »achtes Weltwunder« bezeichnet haben. Ähnliche Worte fand auch der Baron A. von Fölkersam im Jahre 1912: »Der Stil des Bernsteinzimmers von Zarskoje Selo ist ein Gemisch von Barock und Rokoko und ist ein wahres Wunder nicht nur durch den großen Wert des Materials, die kunstvolle Schnitzerei und Leichtigkeit der Formen, sondern hauptsächlich durch den schönen, bald dunklen, bald hellen Ton des Bernsteins, der dem ganzen Zimmer einen unaussprechlichen Reiz verleiht.«
Am 16. November 1700 hatte der römisch-deutsche Kaiser Leopold I. (reg. 1658–1705) in Wien mit dem brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. (reg. 1688–1713) das sogenannte Kronentraktat abgeschlossen. Darin hieß es, Leopold wolle, »wenn der Kurfürst sich wegen des Herzogtums Preußen zum König ausrufen und krönen lasse, denselben als einen König in Preußen ehren, würdigen und erkennen, auch befördern, daß dasselbe von anderen Mächten geschehe«.
Etwa vier Wochen später brach der Kurfürst mit riesigem Hofstaat nach Königsberg, der Hauptstadt des Herzogtums, auf, wo er sich und seiner Gemahlin am 18. Januar 1701 eigenhändig die Krone aufsetzte. Die Feierlichkeiten wurden mit ungeheurem Pomp begangen und glichen denen einer Kaiserkrönung. Erst im Mai desselben Jahres kehrte der nunmehrige König Friedrich I. nach Berlin zurück, wo er durch sechs kunstvoll errichtete Ehrenbogen Einzug hielt.
Friedrich der Große hatte wohl auch wegen dieses Pomp- und Prachtgehabes für den körperlich schwachen und verwachsenen Großvater nicht allzu viel übrig. Er nannte ihn »groß im Kleinen und klein im Großen«.
Der erste König der Hohenzollerndynastie war ein ausgesprochener Kunst- und Baunarr. Auf ihn geht der Neubau des Berliner Schlosses ebenso zurück wie die Ausstattung Berlins mit barocken Prachtbauten und die wohl größte Sammlung von Silbermöbeln und -gerät Europas.
Bei seinem Aufenthalt in Königsberg soll Friedrich I. auf den Gedanken gekommen sein, für ein Zimmer im Schloß Charlottenburg eine Bernsteintäfelung anfertigen zu lassen. Die mit edelstem Bernstein gefüllten Depots der Ordensritter hätten ihn dazu angeregt, heißt es. Belegt ist es nicht. Doch hatte Friedrich von Königsberger Meistern schon mehrere bernsteinverzierte Schränke für seine Berliner Schlösser herstellen lassen. In Königsberg gab er lediglich einen Bernsteinaltar in Auftrag, den er, der Protestant, dem Wiener Kapuziner-Kloster zum Geschenk machte: ein nachträglicher Dank an Leopold I. für die Verleihung der Königswürde.
Jedenfalls hat Friedrich I. erst nach seiner Rückkehr nach Berlin von dem tüchtigen dänischen Bernsteinschneider Gottfried Wolffram erfahren. Wolffram war lange Jahre am dänischen Hof als Kunstdrechsler beschäftigt gewesen und dann nach Königsberg gegangen. Der dänische König, Friedrich IV., soll seinem Amtsbruder in Berlin persönlich Wolffram empfohlen haben.
Gottfried Wolffram begann noch im Krönungsjahr mit der Arbeit an der Wandtäfelung. Anhand einiger Basreliefs in dieser Täfelung hat man später vermutet, daß der berühmte Andreas Schlüter mit Wolffram zusammengearbeitet habe. Doch gibt es dafür keinerlei Beleg außer der Ähnlichkeit dieser Reliefs mit den Masken sterbender Krieger im Schlüterhof des ehemaligen Berliner Zeughauses. Andreas Schlüter hatte nie mit Bernstein gearbeitet.
Schlüter war im Jahre 1706 bei seinem König in Ungnade gefallen. Ein Jahr später ereilte auch Wolffram dieses Schicksal. Johann Friedrich Eosander (wegen seiner Herkunft aus Gotland »von Göthe« genannt), Friedrichs Hofarchitekt, hatte in beiden Fällen die Hand im Spiel. In der Sache Wolffram entschied er, daß der Däne zu teuer sei für die preußische Staatskasse. Eosander berief daraufhin die Danziger Bernsteindrechsler Ernst Schacht und Gottfried Thurau nach Berlin, die Ende 1711 das fertige Bernsteinkabinett präsentierten. Die beiden Danziger waren schon recht stolz auf »ihr« Meisterwerk, an dem allerdings Gottfried Wolffram wenigstens den gleichen Anteil hatte. Denn ein Teil der Paneele war bereits im Schloß Charlottenburg installiert, als Wolffram den Abschied erhielt. Um nun ihre Leistung besonders herauszustreichen, präsentierten sie ihre Rechnung und mit ihr »den Preiß wo er (Wolffram – G. W.) für die Arbeit forderte, wie in der ersten Rubric zu ersehen, wobey in der andern Rubric der Preiß zu sehen wo für die andern Beyde Meister, alß Ernst Schacht und Gottfriedt Turow es Bedungen, und auch verfertiget haben«.
Sparsamkeit war geboten am preußischen Hofe, wenngleich Friedrichs Prachtstreben und Bauwut ständig in Widerspruch dazu gerieten. Allein die Krönungsfeierlichkeiten hatten sechs Millionen Taler, das eineinhalbfache der jährlichen Staatseinnahmen, verschlungen. Die Verstrickung in kostspielige Kriegshändel reproduzierte den ständigen finanziellen Notstand Preußens ebenso wie das zum Image eines europäischen Herrscherhauses gehörende Nachäffen der rauschenden Feste von Versailles. Den dortigen »Standard« vermochte Friedrich allerdings beim besten Willen nicht zu erreichen. Auf entsprechende Spötteleien in Versailles antwortete Friedrich: »Wir feiern unsere Feste nach unsere Alte Teutsche Ahrt.«
So wußten sich halt die beiden Danziger Meister mit weniger Lohn abgefunden als ihr dänischer Kollege Wolffram, der an höhere Bezüge gewöhnt war.
Die fertige Bernsteintäfelung wurde jedoch nicht in Charlottenburg aufgestellt, sondern in einem Eckraum des dritten Stockwerks im völlig umgebauten und erweiterten Berliner Stadtschloß, der dem »tabacs=collegium« des Königs vorbehalten war.
Dort befand sich das Bernsteinkabinett noch im Jahre 1716.
Im Februar 1713 war Friedrich I. verstorben. Sein Sohn und Nachfolger, Friedrich Wilhelm I. (reg. 1713-1740), hatte für den Kunstsinn des Vaters wenig übrig. Er setzte auf Preußens militärische Macht und hielt selbst die hochherrschaftliche Küche knapp, um alles seinem Militär zu opfern. Der »Soldatenkönig« ließ Tafelsilber einschmelzen, Hofämter abschaffen und sogar den Krönungsmantel des Vaters verkaufen.
Im Jahre 1716 weilte Zar Peter I. mit seinem Hofstaat in Berlin. Friedrich Wilhelm I. hoffte, den Zaren für ein Bündnis gegen Schweden zu gewinnen, um mit seiner Hilfe die Truppen Karls XII. aus Vorpommern zu verdrängen. Die Markgräfin Wilhelmine Friederike Sophie von Bayreuth, Tochter des Königs, berichtete über den hohen Besuch, man habe ihn im Schloß Monbijou einquartiert. »Um die Unordnungen zu vermeiden, welche die Herren Russen überall, wo sie sich aufhielten, angerichtet hatten, ließ die Königin das ganze Haus ausräumen und alles Zerbrechliche beiseite schaffen.« Dem sparsamen Preußenherrscher gefiel das Gebaren des russischen Amtsbruders so gar nicht. Aber er brauchte den Russen, der sich dessen wohlbewußt war. Und so ließ Peter I. seinen Gastgeber ungeniert wissen, was er gern »übernehmen« würde. »Am folgenden Tage zeigte man ihm alles Merkwürdige von Berlin, unter anderem auch die Medaillen- und Antikensammlung … Ohne das geringste Bedenken verlangte er diese und noch einige andere Statuen vom Könige, der sie ihm nicht abschlagen konnte, ebenso machte er es mit einem Schrank, der ganz mit Bernstein ausgelegt war. Dieser Schrank, der einzige seiner Art, der König Friedrich den Ersten ungeheure Summen gekostet hatte, hatte zum allgemeinen Leidwesen das Schicksal, nach Petersburg geführt zu werden.«
Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß die Prinzessin – sie war bei dem Zarenbesuch erst sieben Jahre alt – mit dem so einzigartigen und kostbaren »Schrank« das Bernsteinzimmer gemeint hat.
Genauer wußten es Zacharias Grübel und Franz Herrmann Ortgies, Autoren und Herausgeber der »Correspondenz«, einer zweimal wöchentlich erscheinenden Zeitung, die immer wieder das Mißfallen des Königs erregte. Unter dem »5. Decembris 1716« berichtet die Zeitung: »… maßen wie Se. Czaarische Majestät gesagt: ›Bruder Fridrich, wir wollen beyde in einen immerwehrenden guten Verständnüß und harmonie bleiben‹, hat der König erwiedert, ›wie er solches feste versprechen könte; waß aber unsere Jungens nach unserm Tode thun werden, solches müßen wir sodan geschehen laßen‹. Eine Anzeige solches gestiffteten guten Vernehmens kan auch daraus genommen werden, daß der König dem Czaar zwey kostbahre praesente gethan hat, nemlich das prächtige und schöne Jagdtschiff, so der hochseelige König vor 7 Jahren in Holland hat bauen laßen und welches mit dem ameublement m/40 rthlr. gekostet, dan ein prätieuses Bernstein=Getäffel zu einer vollenkommenen Bekleidung und Ausschlagung eines Cabinets, so allein an die m/30 rthlr. hier zu verarbeiten kömt … Der Czaar hat mit großer Verbindlichkeit zu erkennen gegeben, daß er auf ein Gegen=praesent starck würde bedacht seyn.«
30 000 Reichstaler hat den Preußenkönig also das Bernsteinzimmer gekostet. Allerdings sind die Angaben von Grübel und Ortgies mit Vorsicht zu behandeln, denn für das nicht 1709, sondern schon 1704 gekaufte »Jagdtschiff« hat Friedrich I. 100 000 Taler bezahlen müssen. Im übrigen fand Peter I. an dem Schiff zunächst weit mehr Gefallen als an dem »Bernstein=Getäffel«. Der Zar ist dann ohne seine Gattin Katharina, die bei dem »Staatsbesuch« in Berlin zugegen war, nach Holland weitergereist. Erst am 17.Januar 1717 teilt er ihr aus Amsterdam mit »Ich habe ein höchst bedeutsames Praesent erhalten, ein Bernsteinkabinett …«
Im April 1717 transportierte man das Bernsteinzimmer, in 18 Kisten verpackt, von Berlin nach Memel. Im Staatsarchiv Merseburg fand sich darüber ein »Immediatbericht« von General Charles de Brion, Festungskommandant von Memel, vom 2. Mai 1717: »Euer Königl. Majt. habe hierdurch allerunterthänigst berichten sollen, daß das Börnstein Cabinet vorgestern im gutten Stande, so viel alß ich bemerken, und von die dabey gestellte Leute die nachricht einziehen können, hier angelanget, und bald darauff weiter biß an die Grentze geschicket worden, und seindt aus diesem Ambte drey Relais, auf jede Relais 108 Vorspann Pferde zu deren Fortbringung gegeben.«
Mit Relais bezeichnete man damals die Pferdewechselstationen, die Vorläufer unserer heutigen Postämter. Da die Entfernungen zwischen den Stationen etwa gleich waren, dienten die Angaben in Relais auch als Längenmaße.
Für den Weitertransport von Memel nach Riga hatte Peter bereits im Januar 1717 von Amsterdam her Richtlinien erteilt. So schrieb er am 7. Januar an seinen kurländischen Generalkonsul, Michail Bestushew-Rjumin: »Wenn aus Berlin das Bernstein=Kabinett, was Seine königliche Majestät von Preußen geschenkt hat, in Memel ankommt, so empfange und schicke es sofort über Kurland auf kurländischen Fuhren nach Riga, vorsichtig und mit dem Boten, welcher euch diesen Unseren Ukas mitteilt, und gebt ihm bis Riga eine Bedeckung von einem Unteroffizier und mehreren Dragonern; auch gebt dem Boten auf dem Weg bis Riga Geld zur Beköstigung, auf daß er zufrieden sei. Sollte er für den Transport des Kabinetts Schlitten fordern, so gebt ihm auch solche.«
In Petersburg wurde das Bernsteinzimmer im alten Winterhaus, sechs Jahre später dann im Neuen Winterpalais installiert. Von dort kam es 1755 in das nach Versailler Stil umgebaute Katharinenpalais in Zarskoje Selo, die Sommerresidenz der Zarenfamilie.
Doch der für die Installierung der Bernsteinverkleidung bestimmte Saal im Katharinenpalais war etwa sechsmal so groß wie das Eckzimmer des Berliner Schlosses, das Tabakskabinett Friedrich Wilhelms. Der mit dem Einbau beauftragte Hofarchitekt Carlo Rastrelli brauchte zusammen mit dem Italiener Martelli und fünf Königsberger Bernsteinmeistern acht Jahre, um das Bernsteinzimmer mit neuen Elementen so zu komplettieren, daß die ursprüngliche Komposition erhalten blieb und dennoch etwas völlig Neues entstand. So wurden 24 große venezianische Spiegel sowie ein bernsteingerahmter Spiegel, den Friedrich II. Zarin Elisabeth 1745 geschenkt hatte, installiert. Sie ließen den Raum größer, majestätischer erscheinen. Die Spiegel erhielten neu angefertigte Sockel mit Bernsteinplatten. Vergoldete Supraporten, vergoldete Holzornamente an und über den weißen Türen fügten sich in das Gesamtbild ebenso harmonisch ein wie vier florentinische Steinmosaikbilder und der Fußboden aus Intarsienparkett mit Perlmutteinlagen. Friederike Roltsch berichtet darüber: »Wie vor ein paar Jahren der Persische Prinz in Petersburg gewesen ist, man hat ihn dahin geführt, so hat er vor der Türe die Schuhe ausgezogen und glaubte nicht auf diese Pracht treten zu dürfen.«
Zarin Katharina II. soll sich nirgends lieber aufgehalten haben als im Bernsteinzimmer. Übrigens ist das Palais, wie oft irrtümlich behauptet wird, nicht nach ihr, sondern nach der zweiten Gattin Peters I., Katharina Alexejewna, benannt. Seine Schönheit pries der Freiherr Bernhard von Köhne im Jahre 1882 mit den Worten: »Es ist wohl kein Sommerpalais in der Welt, welches mit dem von Zarskoje Selo verglichen werden könnte.«
An das »Gegen=praesent«, auf das Peter »starck würde bedacht seyn«, hat sich der Herrscher aller Reußen erst ein Jahr später wieder erinnert. Im Sommer 1718 brachte sein Kammerjunker Tolstoi 55 »mit trefflichen Gewehren aus Tula« bewaffnete »lange Kerls«, eine Vorliebe des Preußenkönigs, sowie eine Drechselbank, eine in Petersburg gebaute Barke und einen von Peter selbstgefertigten Elfenbeinpokal nach Berlin.
Überschwenglich bedankte sich Friedrich Wilhelm am 22. Oktober dafür bei dem »vielgeliebten Bruder, Gevatter und Freund«: »Eurer Tsaarischen Mayst. Kammerjunker Herr v. Tolstoy, hat Mir da fünfundfünfzig Mann große Grenadirer, und daneben einen Pocal von Eurer Tsaarischen Mayst. Eigenhändigen und dannenher unschätzbahren Arbeit, wie auch die zu Petersburg erbaute Barje und Drechselbank, womit Eure Tsaarische Mayst. Mich zu beschenken geruhen wollen, zu recht überliefert.
Alles dieses ist Mir ein angenehmes Präsent, und bin Ich Eurer Tsaarischen Mayst. mehr davor verbunden als Ich es exprimieren kann …«
Dies nur zur Richtigstellung der in vielen Berichten über das Bernsteinzimmer anzutreffenden Zweifel an diesem »Gegen=praesent«.
Das wiederaufgebaute Katharinenpalais
Schatulle von Gottfried Thurau
Kurfürst Friedrich III., der spätere König Friedrich I.
Immediatbericht des Charles de Brion
Zar Peter I.
Historische Aufnahme mit einem der vier Steinmosaike
Teilansicht des Bernsteinzimmers (Modell)
Der Brief der Friederike Roltsch
Historische Aufnahme mit einem der vier Steinmosaike
Das einzige überlieferte Farbfoto des Bernsteinzimmers
Erhalten gebliebene Splitter des Bernsteingetäfels
Schachbrett aus Bernstein
Kunsträuber als Nachhut der Operation »Barbarossa«. Sicherstellung oder Raub? Der Zwiespalt des Alfred Rohde. Frau Hirschmanns Aussage. Abtransport nach Lochstädt? Evakuierungspläne nach Sachsen. Gauleiter Kochs Kunstsammlung. Kisten, die »mindestens teilweise das Bernsteinzimmer enthielten«. Die Mär von der Verpackung mit Federbetten. Tranporte auf der Ostsee. Die angeblichen Erinnerungen des Gauleiters. Abtransport mit seiner Privatsammlung? Bernsteinsplitter unter dem Albrechtstor.
Am 25. November 1773 berichtete der preußische Gesandte in Rußland, Victor Friedrich Graf von Solms-Sonnenwalde, von den Feierlichkeiten anläßlich des Namenstages von Katharina II. aus dem Bernsteinzimmer im Katharinenpalais von Zarskoje Selo. Die Sensation bestand damals in dem Geschenk, das der in Ungnade gefallene Prinz Grigori Orlow der Zarin zu Füßen legte: einem 193karätigen Diamanten, der später den Namen »Orlow« erhielt. Der Zufall wollte es, daß 168 Jahre später wieder ein Mann aus dem Geschlecht derer von Solms mit dem Bernsteinzimmer in Berührung kam.
Am 22. Juni 1941 startete Hitler die Operation »Barbarossa«, den Überfall auf die Sowjetunion. Im Troß der kämpfenden Truppe befanden sich auch jene Kunstraubeinheiten, die sich bereits in Polen und im okkupierten Westeuropa zweifelhaften Ruhm erworben hatten: der »Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg« und das Ribbentrop unterstehende »Sonderkommando Künsberg«. In einem mit dem 12. Juli 1941 datierten Protokoll des Reichsaußenministeriums heißt es beispielsweise: »Der Herr RAM bittet, LR von Künsberg anzuweisen, daß er nicht nur nach Leningrad (wegen der Bilder) sondern auch in gleicher Weise nach Moskau sich begibt, um auch im Kreml Kunstwerke sicherzustellen.«2
Ribbentrop hatte es offenbar eilig, Legationsrat SS-Sturmbannführer Eberhard Freiherr von Künsberg mit seinem »Sonderkommando A. A.« zur Plünderung der Museen von Leningrad und Moskau abzukommandieren, um dem Rivalen, Rosenbergs »Einsatzstab« zuvorzukommen.