Eine Münze hat immer zwei Seiten.
Doch wenn man sie aufstellt und nur schnell genug dreht,
wird aus zwei Seiten eine.
Lani
Es ist still in Sugar Land. Es ist so still, dass sich Bettys Stöckelschuhe laut wie ein Presslufthammer anhören, als sie über einen Abflussdeckel stolpert. Sie kichert im Arm von Neal Miller, dem Mannschaftskapitän der »Sugar-Skulls«. Betty hatte schon immer eine Schwäche für Sportler. Die mit den gefährlicheren Sportarten wie American Football ganz besonders. Neal ist mindestens genauso angetrunken wie wir und manövriert Betty weiter durch die ausgestorbenen Straßen unserer Wohnsiedlung.
Barfuß laufe ich langsam mit den schwarzen Stöckelschuhen in der Hand hinter den beiden her und kichere ebenso. Eigentlich ist nichts an der Situation besonders lustig, doch der Alkohol prickelt durch unsere Blutgefäße und macht unsere Gemüter besonders leicht. Niemand ist mehr auf der Straße unterwegs, in wenigen Stunden geht die Sonne auf und erweckt das ruhige Wohngebiet wieder zum Leben. Sugar Land ist ein südwestlich gelegener Stadtteil von Houston, Texas, und von vielen kleinen Kanälen unterwandert. Obwohl Neal eigentlich in entgegengesetzter Richtung wohnt, begleitet er uns nach Hause. Er hat schon länger ein Auge auf Betty geworfen. Wir kommen an dem Spielplatz vorbei, auf dem ich die meiste Zeit meiner Kindheit verbracht habe. Betty erzählt Neal, dass sie keine Unterwäsche trägt, und verfällt in einen so starken Lachanfall, dass ich Angst habe, sie könnte wieder Nasenbluten kriegen. Neal dagegen bekommt ganz glasige Augen und scheint mit den Gedanken plötzlich ganz woanders zu sein. In seinem Gesicht machen sich dunkelrote Flecken bemerkbar. Eine der verlassenen Schaukeln bewegt sich in der Dunkelheit ein wenig hin und her und ein Schauer überkommt mich. Ein kühler Wind streicht mir um die nackten Arme.
Plötzlich zieht ein kurzer Augenblick vor meinem inneren Auge vorbei. Wie ich mit meinen Puppen im Kletterturm sitze und Aiden und Sam aus meiner Straße nicht mit mir spielen wollen. Der kleine Aiden, wie er schluchzend von seinem wutentbrannten Vater vom Spielplatz geschleift und dann von dessen Ohrfeige ruhig gestellt wird. Wie Sam völlig neben der Spur dasitzt und kreidebleich auf die Schaukel starrt, die Hände noch voller Sand vom Boden. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was damals passiert ist, aber danach habe ich Aiden nur noch ein einziges Mal gesehen, als er ein paar Tage später in einer Trage in den Krankenwagen gehievt wurde. Auf einmal fühle ich mich völlig ernüchtert, mir wird ein bisschen schlecht. Schnell wende ich den Blick von dem Spielplatz ab, der im Dunkeln etwas Unheilvolles an sich hat. Es ist nicht mehr weit zu mir nach Hause, doch komischerweise zieht sich der Weg endlos lang hin. Meine Füße fühlen sich ganz taub an, obwohl es eigentlich nicht kalt ist.
***
»Lani Harper?«
Betty und ich liegen nebeneinander in meinem Bett, die Musik aus dem Club hallt uns noch ein bisschen in den Ohren nach. Irgendwie mag ich dieses Gefühl nach einer durchzechten Nacht. Es fühlt sich an, als ob man sich immer noch ein bisschen herumdrehen würde. Die Füße pochen und man hat immer diesen bestimmten nervigen Ohrwurm, der einen die ganze Nacht nicht loslässt. Neal hat sich von einem Taxi abholen lassen, seine Eltern sind sehr gut betucht. Warum er uns nicht gleich mit dem Taxi nach Hause gefahren hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich waren wir alle drei zu betrunken, um auf diesen Einfall zu kommen.
»Ja, Betty Brown?«, murmle ich. Wir sind beide im Halbschlaf und können doch nicht richtig einschlafen. Meine kleine Nachtleuchte versetzt den Raum in gedimmtes Licht, damit man nachts ins Badezimmer findet. Obwohl ich schon 17 Jahre alt bin, ist mir die Dunkelheit immer noch unheimlich.
»Willst du mich heiraten?«, will Betty wissen und hat dabei schon die Augen geschlossen.
»Hm?«
»Na ja, du weißt schon, wenn ich meinen Traumkerl mit 60 immer noch nicht gefunden habe. Und wir unsere Oma-WG aufmachen. Dann könnten wir Steuern sparen«, nuschelt sie weiter. Betty gehört zu den Personen, die in absolut jeder Situation etwas zu sagen haben, sogar wenn ihr Gehirn schon schläft.
»M-hm«, stimme ich ihr zu und erkämpfe mir ein bisschen Decke zurück.
»Neal hat mir den ganzen Abend auf die Titten geglotzt.«
Ich muss lachen und werde wieder ein bisschen wach.
»Wär ja schlimm wenn nicht … bei dem hohen Preis für so wenig Top«, antworte ich. Sie blinzelt mich an und grinst, ihre rötlichen Locken fallen ihr über das sommersprossige Gesicht.
»Na ja, damit ist er jedenfalls durchgefallen.«
Ich merke, dass ich fast wieder einnicke und schiebe die Decke zu meinen Füßen ein wenig herum.
»Wer ist durchgefallen?«, kommt es dann etwas verspätet von mir zurück. Es ist schwer, ihr durch meinen schläfrigen Nebel im Kopf zu folgen. Von dem Alkohol dreht sich der Raum fast ein wenig zu viel.
»Na Neal. Er hat noch nicht mal den Titten-Test bestanden. Garantiert kein Fall für was Festes«, sagt Betty und steckt mir ihren Finger ins Ohr, als ich wieder ein wenig wegdrifte. Ich schlage nach ihr, treffe aber nur ins Leere. Betty ist so verzweifelt auf der Suche nach einem – in ihren Worten – perfekten Mega-Typen, dass sie sich schon Dinge wie den Titten-Test einfallen lässt, um jede noch so kleine Schwäche sofort zu erkennen.
»Tut mir leid Betty, aber bei deiner Ausstattung wirst du keinen Kerl finden, der den Test besteht. Höchstens vielleicht, er ist schwul, und selbst da bezweifle ich, dass er dir wirklich nur in die Augen sehen würde. Sogar ich musste ein paar Blicke riskieren«, necke ich sie spaßeshalber. Betty seufzt und murmelt noch etwas, dann schlummern wir schließlich doch ein.
Als der Wecker am Morgen klingelt, liegt Betty wieder quer über meinem Bett und hat mich bis an die Kante gedrängt. Sie hört weder den Wecker noch spürt sie meinen Versuch, sie wachzurütteln. Ich gebe es auf und schlendere im Morgenmantel und mit dickem Kopf in die Küche.
Mein Bruder Ben schmiert sich gerade einen Toast und nickt mir kurz zu. Er ist 19, zwei Jahre älter als ich, und ebenso kein Morgenmensch. Unsere Konversationen begrenzen sich morgens auf ein Nicken und gegenseitigem Erdnussbutterzuschieben. Gerade, als ich mir heißes Wasser in die Teetasse gießen will, geht draußen die Alarmanlage eines Autos an. Ich zucke zurück, schon landet die Tasse auf der Seite und das dampfende Wasser tropft auf den Küchenboden. Wenigstens habe ich mir die Zehen nicht verbrannt. Ben seufzt und wirft mir das Geschirrhandtuch zu.
»Also mit Teetassen hast du’s ja ganz besonders«, murrt er. Es vergeht eigentlich keine Woche, in der ich nicht irgendetwas umstoße. Und das, obwohl ich noch nicht mal in der Reichweite dieser Gegenstände bin. Zumindest bilde ich mir ein, nicht in Reichweite zu sein …
»Lani, vielleicht solltest du dir einen Schnabelbecher aus Plastik zulegen«, sagt Betty, als sie sich verschlafen zu uns an den Tisch setzt. Ich brumme vor mich hin und mache mir einen neuen Tee, während ich mich noch wundere, wie sie so schnell aus ihrem komatösen Tiefschlaf erwachen konnte.
»Na Betty, wie läuft die Suche nach dem Traumprinzen?«, erkundigt sich Ben, der plötzlich viel wacher aussieht. Bettys Blick verdüstert sich.
»Den gibt es nicht«, knurrt sie. Gestern hatte ich nicht das Gefühl, dass sie von Neal derart enttäuscht war. Nüchtern betrachtet fällt ihr sein niedriger Intelligenzquotient wohl doch auf, auch wenn er ein netter Kerl ist.
»Zumindest sind solche Jungs nicht erreichbar«, füge ich hinzu. Ben verdreht die Augen.
»Das liegt daran, dass ihr Frauen so scheiß anspruchsvoll seid. Ich meine, was ist denn mit diesem Kerl aus eurem Biologie-Kurs, der hier in der Straße wohnt …? Wie hieß er noch gleich?«, wundert sich Ben und rührt in seinem Kaffee. Betty und ich seufzen gleichzeitig Sams Namen und hängen kurz unseren Gedanken nach.
»Unerreichbar«, sagt Betty dann und schüttelt den Kopf.
»Der spielt in einer völlig anderen Liga«, bestätige ich nickend. Meine braunen Haare hängen mir wild ins Gesicht und zum zehnten Mal an diesem Morgen versuche ich sie irgendwie mit einem Haargummi zu bändigen.
»So? Warum?«
Betty seufzt wieder und verdreht die Augen. Ben kann so etwas natürlich nicht verstehen, er kann sich die Mädchen reihenweise aussuchen, ohne sich großartig anstrengen zu müssen. Und das, obwohl er meiner Meinung nach nicht mal halbwegs so gut aussieht wie Sam.
»Darum eben«, murre ich und bedeute Betty, zurück in mein Zimmer zu gehen.
***
Stunden später lungern wir immer noch im Pyjama in meinem Zimmer herum. Es ist ein richtig fauler Sonntag und wir gucken uns gerade Pocahontas an. Wir sitzen auf dem Bett und lehnen mit dem Rücken an der Wand, während wir uns eine Schokolinse nach der anderen in den Mund schieben. Solche Tage liebe ich am meisten.
»Das könnten du und Sam sein«, sagt Betty, als Pocahontas auf den gut aussehenden John Smith trifft. Wie immer zieht sie mich mit meinem heimlichen Schwarm auf und piekst mir dabei schelmisch grinsend in die Seite.
»… mit deinen hawaiianischen Gesichtszügen und seinen unglaublich tollen Haaren …«
Ich verdrehe die Augen.
»Du übertreibst. Da wird sowieso nichts draus. Wir kennen uns seit dem Kindergarten und er hat nie irgendein Interesse an mir gezeigt. Ich glaube, wir haben zuletzt vor zwei Jahren miteinander geredet. Und außerdem haben Hawaiianer absolut nichts mit Indianern gemeinsam«, sage ich genervt. Pocahontas singt gerade »Das Farbenspiel des Winds« und Betty singt schief mit. Nein. Jemand wie Sam ist für jemanden wie mich wirklich unerreichbar.
***
Der Montag lauert wie ein böses Tier auf uns und katapultiert uns nach dem viel zu kurzen Wochenende zurück in die Realität. Ich starre müde auf die leere Tafel, während der Rest der Klasse gerade in den Kunstsaal schlendert. Mr Miller ist wie immer völlig zerstreut und sucht nach seiner Brille. Als Sam den Klassenraum betritt, setze ich mich etwas gerader hin und versuche, ihn nicht zu auffällig zu beobachten. Sam ist zwar relativ groß, trotzdem fällt er nicht aufgrund seiner Größe auf. Vielmehr ist es das weißblonde Haar und die dafür umso dunkleren Augen, die immer irgendwie streng und distanziert wirken. Ich denke, sie sind dunkelbraun, kann es aber nicht genau sagen. Als wir Kinder waren, habe ich nie darauf geachtet.
Er geht durch den Raum, als wären alle um ihn herum unsichtbar, und lässt sich auf den Platz hinter mir fallen. In meinem Nacken kribbelt es, doch ich widerstehe dem Drang, mich zu ihm umzudrehen. Sein schönes Gesicht mit den hohen Wangenknochen hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Meine Faszination für diesen Jungen kann ich mir selbst nicht wirklich erklären. Sobald ich ihn sehe, breitet sich eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper aus. Ehrlich gesagt, fürchte ich mich wahnsinnig davor, von ihm angesprochen zu werden. Ich glaube, mein Herz würde das keine Sekunde lang aushalten und einfach in meinem Brustkorb zerspringen. Betty sagt, ich würde ihn jedes Mal mit meinen Blicken ausziehen, daher habe ich mir angewöhnt, ihn nicht mehr direkt anzusehen. Nicht, dass er meine Blicke jemals bemerkt hätte, aber na ja.
Ein Mädchen wie ich hat bei ihm sicherlich keine Chance. Allerdings kann ich mir eigentlich überhaupt kein Mädchen aus unserer Schule vorstellen, das es mit ihm aufnehmen kann. Und bisher habe ich ihn noch nie in weiblicher Begleitung gesehen. Ich weiß, dass er mal ein Mädchen aus unserem Cheerleader-Team völlig hat abblitzen lassen, aber mehr nicht. Sam ist eher für sich, die Pausen verbringt er meistens alleine oder ab und zu mit seiner Football-Mannschaft. Er schafft es, innerhalb weniger Sekunden nach Schulschluss das Schulgelände zu verlassen und sich dann in Luft aufzulösen. Und das, obwohl er in derselben Straße lebt wie ich. Der Oyster Creek Drive ist eine Straße mit schönen Häusern, die in größerem Abstand nebeneinander stehen. Mit den Nachbarn hat man daher eher wenig zu tun, aber man läuft sich trotzdem ab und zu über den Weg. Früher als Kind war das anders, als Aiden noch in der Straße gewohnt hat. Er hatte diese Gabe, Menschen zueinander zu bringen, obwohl er selbst von der Art her eher ein Außenseiter war. Kaum war Aiden verschwunden, isolierte Sam sich komplett von mir und unseren Freunden. Heute, sieben Jahre später, weiß ich praktisch nichts mehr über ihn.
»Meine Lieben, Ruhe bitte!«, mahnt Mr Miller. Keine Ahnung, ob er schon zuvor etwas gesagt hat. Er ist ein schmächtiger Mann mit Schnauzbart; einer dieser Typen, die nicht wissen, dass die 80er schon seit Ewigkeiten vorbei sind, und immer noch mit Socken in ihren offenen Sandalen herumlaufen. Mit seinen gelblichen Brillengläsern mustert er uns, bis es einigermaßen still ist. Er kann sich nur schwer durchsetzen und seufzt noch einmal laut.
»Der Schauspiel-Kurs hat in einigen Monaten eine wichtige Aufführung seines Theaterstücks ›Romeo und Julia‹ in der städtischen Turnhalle. Das Stück soll ein bisschen moderner und bunter gestaltet werden und wir dürfen sie beim Bühnenbild unterstützen. Ist das nicht toll?«, fragt er und klingt selbst überhaupt nicht motiviert. Ich glaube, er hat schon seit Jahren keinen Spaß mehr an seinem Job – was ich ihm wirklich nicht verdenken kann. Wir haben ziemlich viele eingebildete Arschlöcher in der Schule, die es den Lehrern schwer machen.
Genervtes Gebrumme im Klassenzimmer. Mr Miller beginnt wie immer, in seinem Hemdkragen zu schwitzen, und schreibt verschiedene Szenen an die Tafel.
»Jede Szene benötigt ein großes Hintergrundbild und ein paar andere Utensilien. Findet euch in Zweier- oder Dreiergruppen zusammen und holt hier vorne eine Szene mit allen Arbeitsanweisungen ab. Ihr habt dann zwei Monate Zeit, alles vorzubereiten«, erklärt er. Sofort schließen sich die ersten Gruppen zusammen. Eigentlich gehöre ich zu den Mädchen, die jeder in seiner Gruppe haben möchte, doch heute reagiere ich auf Susannas Einladung zu spät und stehe plötzlich alleine in der Mitte des Klassenzimmers. Leider haben Betty und ich diesen Kurs nicht zusammen. Aufgeregte Gespräche der einzelnen Gruppen dröhnen durch den Raum, während Susanna mir einen mitleidigen Blick zuwirft.
»Lani? Sie sehen etwas verloren aus«, stellt Mr Miller fest. Gerade überlege ich, mich einfach noch in eine bestehende Gruppe zu schmuggeln, als neben mir eine Gestalt erscheint.
Meine Gänsehaut verrät mir auch ohne hinzusehen, wer da steht.
»Ach, Sam, das ist schön, dass Sie auch noch übrig sind. Sie beide geben sicherlich ein tolles Team ab. Zwei so talentierte, junge Leute …«, murmelt unser Lehrer gedehnt und schiebt uns einen Zettel mit der letzten übrig gebliebenen Szene hin. Sam greift an meinem völlig erstarrten Körper vorbei und nimmt sich den Zettel.
»Ist das für dich okay, Lani?«, fragt er mich halbwegs freundlich, als würden wir ständig miteinander reden.
Ich starre immer noch völlig neben mir stehend zu ihm herauf, meine Hände beginnen plötzlich wie verrückt zu schwitzen.
»Äh … was?«
Oh. Mein. Gott. Wie geistreich.
Am liebsten würde ich jetzt im Erdboden versinken, aber Sam steht immer noch neben mir und sieht mich mit gehobener Augenbraue an. Sein dunkler Blick ruht auf mir, und er scheint sichtlich damit zu kämpfen, sich ein Grinsen zu verkneifen.
»Ob es für dich okay ist, mit mir in einem Team zu arbeiten?«, fragt er dann ganz geduldig. Er trägt seinen schwarzen Rucksack lässig über der linken Schulter und sieht in seinem roten Shirt absolut umwerfend aus.
»Ja, na klar! Du und ich … Das … das wird super …«, stammle ich vor mich hin und weiß, dass ich mich überhaupt nicht so anhöre, als würde ich irgendetwas super finden. Eher als hätte ich Angst vor ihm.
»Gehen wir in die Bibliothek, um die Umsetzung zu besprechen? Hier drin ist es ein bisschen laut«, schlägt er vor. Er lächelt mich scheu an, und in dem Moment wird mir klar, dass er mindestens genauso angespannt ist wie ich. Er kann es gut kaschieren, aber seine Handknochen treten weiß hervor, so verkrampft hält er sich am Riemen seines Rucksacks fest. Ich frage mich, ob er sich noch daran erinnern kann, dass wir früher fast unzertrennlich waren. Natürlich nicht so unzertrennlich wie Aiden und Sam, aber trotzdem. Ich nicke und folge ihm aus dem Klassenzimmer. Wir gehen an der Cafeteria vorbei und im Vorbeigehen fällt Betty bei unserem Anblick fast der Kaffeebecher herunter. Ihr klappt der Mund auf, als sie mich neben Sam Crane den Gang herunterlaufen sieht und sie formt mit den Lippen den Satz »Du musst mir später alles erzählen«. Ich kann nur nervös zurücklächeln und hoffe, dass mein laut schlagendes Herz überhaupt noch so lange mitmacht.
Sam
Nicht gut. Gar nicht gut.
Lani Harper aus unserer Straße sitzt mir in der Bibliothek gegenüber und lächelt mich mit roten Wangen an. Ich bin unruhig und wippe mit dem Fuß unter dem Tisch. Am liebsten möchte ich aufspringen und so schnell wie möglich nach Hause, aber ich muss den Rest der Stunde noch durchhalten. Lani gehört garantiert nicht zu den Menschen, mit denen ich mich anfreunden möchte. Beziehungsweise mich wieder anfreunden, um es korrekt auszudrücken.
»Also …«, fange ich an und sie schiebt sich erwartungsvoll eine Haarsträhne hinters Ohr. Gruppenarbeit. Ich hasse Gruppenarbeit. Ich hasse eigentlich jede Arbeit, die ich mit anderen erledigen muss.
»Das ist eine richtige Scheißszene«, sagt sie. Überrascht starren wir uns an. Sie presst die Lippen zusammen, als wäre ihr das versehentlich rausgerutscht. Wenigstens sind wir einer Meinung.
»Du sagst es«, stimme ich ihr zu und blicke schnell wieder auf den Zettel von Mr Miller. Wir haben die Balkon-Szene erwischt und können sozusagen zwei Monate lang Mauersteine auf eine große Holzplatte malen. Yay.
Es ist immer noch so angespannt zwischen uns, dass es kaum auszuhalten ist. Wann habe ich das letzte Mal ein Wort mit ihr gewechselt? Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern.
»Wir könnten …«, hebt sie an, schweigt dann wieder. Verdammt, ich will nach Hause. Zwei Monate Gruppenarbeit sind eine verflucht lange Zeit.
Ich bleibe stumm und warte, dass sie weiterspricht. Nervös rutscht sie auf ihrem Stuhl herum. Ich beobachte ihre Gesichtszüge genauer, während sie grübelnd auf das Blatt vor uns starrt. Lani war schon immer sehr hübsch mit ihren hawaiianischen Zügen um Augen und Mund und ihrem langen, glatten Haar. Nur, dass sie heute nicht mehr das nette Mädchen von nebenan ist. Jetzt ist sie nur noch ein Mädchen aus der Gegend, mit dem ich nichts mehr gemeinsam habe. Ich weiß noch ganz genau, wie erschrocken sie war, als das mit Aiden passiert ist. Als sein Vater ihn mitten auf der Straße verprügelte. Der Gedanke an ihn lässt mich frösteln und ich starre wie sie auf das Blatt, um mir nichts anmerken zu lassen.
»Lass uns morgen weitermachen, wenn uns was eingefallen ist, ja?«, schlage ich dann vor. Es hat keinen Sinn, sich noch für den Rest der Stunde anzuschweigen.
»Ja … na klar. Ich meine, zu Hause ist man sowieso kreativer«, sagt sie fast erleichtert und wir entfernen uns schnellstmöglich voneinander. Ich atme ebenso erleichtert aus, als ich endlich die Schule verlasse und mit dem Pick-up meines Vaters nach Hause fahre. Am Straßenrand sehe ich Lani zum Bus laufen. Ich könnte sie mitnehmen. Eigentlich. Doch bevor ich es wirklich tue, fahre ich schnell weiter.
Lani
Betty ruft auf meinem Handy an, kaum dass ich im Bus sitze.
»Erzähl mir alles. Sofort!«, ruft sie atemlos, als wäre etwas furchtbar Spektakuläres passiert.
»Betty, ich sitze gerade im Bus. Ich kann hier nicht so gut reden«, murmle ich. »Ich erzähl’s dir morgen, okay? Aber bevor du einen Herzinfarkt bekommst: Es ist nur ein Kunstprojekt, also reg dich ab.«
Sie seufzt und legt dann missmutig auf. Ich gucke aus dem Fenster, die Häuserreihen mit den hübschen Vorgärten ziehen an uns vorbei. Dieses Kunstprojekt kann ja noch heiter werden. Schon die erste Stunde der Gruppenarbeit ist völlig in die Hose gegangen. Ich habe kein Wort herausgebracht und Sam hat mich die meiste Zeit lang mit diesem distanzierten Blick angesehen, sodass ich noch nervöser wurde. Er gehört wohl nicht gerade zu der redseligen Sorte. Als Kind war er fröhlich, hat viel gelacht. Jetzt wirkt er in sich gekehrt und abweisend. Ich frage mich, was damals passiert ist, das ihn so verändert hat. Und ob er etwas gegen mich hat. Zu Hause halte ich es nicht lange aus und rufe Betty doch noch an, um ihr von der merkwürdigen Situation zu erzählen.
»Vielleicht steht er seit Jahren auf dich und war nun mit der Situation genauso überfordert wie du. Vielleicht hat er dich in Gedanken schon ausgezogen«, sagt Betty. Das Problem ist, dass man sich nach den Gesprächen mit ihr meistens nicht besser fühlt.
»Danke für den Aufmunterungsversuch. Ich schätze, er will einfach nichts mit mir zu tun haben. Er konnte gar nicht schnell genug von mir wegkommen«, knurre ich und zerfleddere mit meinen Händen eine Werbebroschüre einer Elite-Uni, die Mom mir ins Zimmer gelegt hat. Allerdings habe auch ich aus Nervosität ziemlich schnell die Flucht ergriffen, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin. Betty seufzt durch die Freisprechfunktion in meinem Handy und fuhrwerkt im Hintergrund mit irgendwelchen Töpfen herum.
»Sag mal, kochst du?«
»Ja. Ich dachte mir, ich probiere es mal wieder. Mit was ganz Einfachem. Etwas, das nicht brennen kann.«
Ich überlege kurz.
»Suppe?«, frage ich dann.
Schweigen am anderen Ende.
»Ach, vergiss es«, sagt sie dann nur. Als wir auflegen, gehe ich zu meinem Fenster hinüber. Von hier aus kann ich noch eine kleine Ecke vom Haus der Cranes sehen. Man kann nicht erkennen, ob Sam sich in seinem Zimmer befindet, denn er hat völlig lichtdichte Rollläden, die oft schon am Nachmittag zugehen. Nicht, dass ich hier dauernd stehen und sein Haus beobachten würde, aber so etwas fällt einem nun mal auf. Statt mir noch weiter sinnlose Gedanken zu machen, hole ich meine Ausgabe von Romeo und Julia aus dem Bücherregal und fange an, es erneut zu lesen. Vielleicht fällt mir dann wenigstens etwas zu dem Kunstprojekt ein, denn neben den groben Anforderungen sollen wir unsere persönliche Note mit einbringen. Natürlich ist es wahnsinnig einfach, eine persönliche Note in einem Stück Papp-Mauer unterzubringen.
Sam
Mom steht schon in der Küche, als ich nach Hause komme. Ich werfe meinen Rucksack achtlos in die nächste Ecke und lasse mich am Esstisch auf den Holzstuhl fallen.
»Hi mein Schatz, wie geht es dir?«, fragt sie und mustert mich kritisch vom Herd aus. Ich halte die Augen geschlossen und fahre mir durch die Haare. Die Anspannung des Tages fällt ein bisschen von mir ab und meine Schultern entspannen sich.
»Geht schon«, murre ich. Wie immer sieht sie mich besorgt an, als würde ich jeden Moment zusammenbrechen.
»Mit wem hast du Pause gemacht?«, fragt sie wie beiläufig, obwohl sie sich die Antwort eigentlich denken kann.
»Mit den Jungs vom Team«, flunkere ich sie mal wieder an, damit sie sich nicht dauernd Sorgen um mich macht. Normalerweise mache ich alleine Pause und lese in einem Buch, nur manchmal setze ich mich an den Mannschaftstisch. Ich werde in der Runde geduldet, um nicht irgendwo alleine herumsitzen zu müssen, das ist aber auch schon alles. Wenn es mal ums Spiel geht, versuchen sie mich mit ins Gespräch einzubeziehen, ansonsten höre ich einfach nur zu und halte mich zurück. Ich weiß, dass ich bei allen der Freak des Teams bin, der nach einem Spiel sofort nach Hause fährt oder erst duscht, wenn alle weg sind. Zum Glück bin ich so gut im Football, dass sie mich respektieren und wenigstens so tun, als würde ich dazugehören.
Mom schaufelt mir Spaghetti auf den Teller und setzt sich zu mir. Dad ist Pilot und momentan auf einem Fernflug nach Asien unterwegs. Wir bekommen ihn nicht sehr oft zu Gesicht, doch das ist mir eigentlich ganz recht. Mein Verhältnis zu ihm ist … sagen wir … kompliziert.
Ich weiß, dass Mom darauf wartet, dass ich ihr mehr über die Schule erzähle. Dass ich ihr davon berichte, irgendetwas Tolles mit meinen Freunden gemacht zu haben. Sie hat Angst, dass ich zu Hause vereinsame.
»Sonst nichts Neues?«, fragt sie dann doch und lächelt mich entschuldigend an, als ich sie genervt ansehe. Ich bin ziemlich schnell mit dem Essen fertig und räume den Teller in die Spülmaschine, dann verkrieche ich mich mit der Ausrede, Hausaufgaben machen zu müssen, nach oben in mein Zimmer. Ich lege mich aufs Bett und starre an die Decke. Meine Gedanken wandern zurück zu Lani und der bevorstehenden Zeit, die wir nun wohl oder übel miteinander verbringen müssen. Es ist nicht so, dass ich sie nicht leiden kann. Im Gegenteil. Sie ist süß. Und jedes Mal, wenn ich sie sehe, stelle ich mir vor, sie wäre meine Freundin. Wie wir zusammen ausgehen, über alles Mögliche reden, vielleicht auch mal streiten. Normale Dinge eben.
Aber es geht nicht. Es wird niemals gehen.
Lani
Den ganzen Vormittag habe ich ein flaues Gefühl im Magen, weil die nächste Kunststunde ansteht. Ich mache mich darauf gefasst, wieder kein Wort herauszubekommen. Betty versucht ihr Bestes, um mich zu beruhigen, aber immerhin geht es hier um Sam Crane: den meiner Meinung nach heißesten Jungen der Schule, der für mich ein Buch mit sieben Siegeln ist. Mein geheimer Schwarm, den ich seit Jahren nur aus weiter Entfernung anhimmle, wenn niemand hinsieht. Gestern habe ich nicht gerade eine Glanzleistung an Konversation hervorgebracht. Und das, obwohl ich sonst nicht so schüchtern bin und ganz gut austeilen kann. Nach der Mittagspause steht erst eine Stunde Training an, bevor es zu Kunst geht. Mit Betty und den anderen Mädchen mache ich mich auf dem Sportplatz im Freien ans Aufwärmen für unsere Cheerleader-Performance, doch ich bin nicht wirklich bei der Sache. Als ich einen Schluck trinken will, spritzt mir fast der gesamte Inhalt der Wasserflasche entgegen und durchnässt meinen kurzen Rock an der unpassendsten Stelle. Jen und die anderen lachen und ich bringe ein nervöses Lächeln zustande. Bettys Blick ist mitleidig, doch ich versetze ihr einen Stoß und schubse sie dann zum Joggen vor mir her.
»Den Fleck sieht man fast gar nicht«, sagt sie und ihr Pferdeschwanz schwingt im Laufen hin und her.
»Ja klar. Kannst ruhig sagen, dass ich aussehe, als hätte ich mich angepinkelt«, murre ich. Meine Tollpatschigkeit geht mir gehörig auf die Nerven.
Sie grinst süffisant.
»Das Gute ist, dass ich mich jetzt erleichtern kann, ohne mir Gedanken darüber machen zu müssen«, bemerke ich dann kühl.
»Du bist so ekelhaft!«
»Ich hab mir heute noch nicht mal die Hände gewaschen«, ziehe ich sie lachend auf, und fast vergesse ich, dass ich später noch eine vermutlich unangenehme Stunde mit Sam verbringen muss. Wie um mich daran zu erinnern, joggt in diesem Moment das Football-Team im inneren Kreis an uns vorbei. Neal zwinkert uns mit seinem Zahnpasta-Lächeln zu und ruft: »Na ihr Süßen, bereit uns anzufeuern?«. Wir tun so, als fänden wir das unglaublich geistreich und lachen, während Sam hinter ihm die Augen verdreht und ebenfalls langsam an uns vorbeijoggt. Er trägt ein enges Trikot mit den üblichen Schulterpolstern, sein Helm hängt ihm locker an einem Gurt um die Hüfte. Ich beginne zu straucheln, doch Sam greift reflexartig nach meinem Arm, als er gerade an mir vorbeikommt. Sobald ich mich etwas fange, lässt er mich schnellstmöglich los und joggt wortlos weiter an uns vorbei. Betty zwinkert mir verschwörerisch zu, als ob ich das Ganze geplant hätte. Glücklicherweise trainieren unsere Teams weit genug voneinander entfernt, sodass ich meine Plumpheit nicht erneut unter Beweis stellen muss. Mein Arm fühlt sich an der Stelle, an der Sam mich berührt hat, heiß und empfindlich an. Die Hitze scheint in den ganzen Körper zu wandern und lässt mich noch im Nachhinein rot wie eine Tomate anlaufen. Betty bemerkt es nicht und ich konzentriere mich wieder aufs Aufwärmen.
Bei den Jungs geht es immer ziemlich rabiat zu. Der Trainer brüllt sie über das gesamte Feld an und schickt Sam und ein paar andere Spieler noch mal zehn Runden um die Außenanlage der Schule. Wie fast immer ist es sehr heiß in Sugar Land und ich wundere mich, dass die Jungs auf dem verbrannten Rasen keinen Hitzschlag bekommen. Seit Wochen hat es nicht geregnet und die Sonne knallt uns mit aller Wucht auf den Kopf. Die Hebefiguren und Pyramiden, in denen ich durch mein geringes Gewicht meist die Hauptrolle spiele, lassen wir für heute sein und gehen nur unsere Grundschritte durch.
***
Als das Training zu Ende geht, schlendert Sam mit verstrubbeltem Haar und rotem Gesicht auf unsere Gruppe zu. Wir Mädchen sitzen zu siebt am Rand des Sportplatzes und reden über das nächste Training und über neue Figuren. Sarah ist die Erste, die ihn sieht, und unsere Gespräche ersterben augenblicklich, als sie uns auf ihn aufmerksam macht. Zum Glück ist mein Rock wieder trocken und ich sehe, dass er auf mich zugeht und die anderen gar nicht beachtet. Betty blickt aufgeregt von ihm zu mir und schubst mich ein Stück in seine Richtung.
»Hey, Lani«, grüßt er mich mit einem Lächeln, das seine dunklen Augen nicht ganz erreicht. Hinter mir höre ich Susanna tuscheln, verstehe aber nicht, was genau sie sagt. Zwei der Mädchen kichern hinter mir und am liebsten möchte ich ihnen für ihr peinliches Benehmen den Mund zu halten.
»Hey Sam. Gutes Spiel«, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt. Vor meinen Freundinnen fühle ich mich wenigstens ein bisschen sicherer und erlange etwas von meiner Fähigkeit zu sprechen zurück.
»Treffen wir uns für Kunst wieder in der Bibliothek? Ich muss noch duschen, wird also fünf Minuten später«, sagt er und fährt sich unbewusst durch die verschwitzten Haare.
»Klar, ich freu mich schon …«, bringe ich tapfer hervor und er joggt mit einem kurzen Winken locker in Richtung Umkleiden.
»… auf deinen sexy Knackarsch«, beendet Betty neben mir meinen Satz, der noch offen in der Luft hängt. Die Mädchen kichern wie die Hühner und ich hoffe, dass er schon weit genug weg ist, und es nicht mehr gehört hat. Allerdings kann ich ihr nicht widersprechen.
»Den Kerl solltest du dir unbedingt schnappen«, sagt Sarah, als wäre das das einfachste auf der Welt. Jen zieht die Augenbrauen hoch, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. Ich glaube, sie ist das Mädchen, das Sam einmal um ein Date gebeten und einen Korb von ihm bekommen hat. Bevor ich noch etwas zu dem Thema sagen kann, stehen alle auf und gehen ebenfalls zu den Umkleideräumen.
***
Ich schreibe gerade ein paar Ideen auf, als Sam sich mit nassen Haaren an den winzigen Tisch setzt. Fast berühren sich unsere Knie. Der Raum ist voll und unser kleiner Tisch war einer der letzten freien Plätze, den ich in der Bibliothek noch für uns ergattern konnte. Tatsächlich kommt er 15 Minuten zu spät und ich wette, dass ich dieses blöde Projekt in ein paar Tagen alleine durchziehen muss.
Ich reiße mich zusammen und möchte unbedingt selbstbewusster auftreten als beim letzten Mal. Bevor wir wieder in ein peinliches Schweigen verfallen, erzähle ich ihm von meiner Idee: Eine mit Graffiti besprühte Wand und ein heruntergekommener Balkon. Die Version des Stücks soll in der heutigen Zeit stattfinden. Gott sei Dank muss es also keine Burgmauer sein. Sam nickt über meinen Vorschlag und schlägt als weitere Utensilien einen Container und Schilder vor, damit es wie ein Hinterhof aussieht. Dann machen wir eine Liste mit den Dingen, die wir dafür benötigten: Holz, Werkzeug, jede Menge Farbe, eine Graffiti-Vorlage, Stangen zum Befestigen der Schilder und andere Kleinigkeiten. Die Nervosität fällt von mir ab und ich habe das Gefühl, dass es Sam genauso geht. Es ist einfacher, wenn man ein gutes Thema hat, hinter dem man seine Angst ein bisschen verstecken kann. Wir reden gerade über das Graffiti und ich sehe Sam zum ersten Mal seit unserer Kindheit so richtig in die Augen. Sie sind schwarz. Ich schwöre, seine Iris ist nicht braun, sondern schwarz. Tiefschwarz. Man kann sie kaum von der Pupille unterscheiden. Sam hält inne, als er meinen intensiven Blick bemerkt, und räuspert sich.
»Was war damals mit Aiden?«, rutscht es mir plötzlich ohne jeglichen Zusammenhang heraus. Ich weiß selbst nicht, wie ich darauf komme, aber unsere beendete Freundschaft muss mit Aidens damaligem Verschwinden zu tun haben. Sams Gesichtsausdruck ist beherrscht und er lehnt sich etwas zurück, doch für einen kurzen Moment habe ich etwas in seinen Augen aufblitzen sehen. Er presst die Lippen zusammen und sieht kurz auf seine Hände.
»Wieso fragst du das ausgerechnet jetzt?«, antwortet er nach kurzem Schweigen mit einer Gegenfrage. Er betrachtet mich eingehend, doch ich lasse es an mir abprallen. Wow, heute übertreffe ich mich selbst.
»Ich weiß nicht, ist mir gerade eingefallen. Ich kam letztens an unserem Spielplatz vorbei«, sage ich wahrheitsgemäß. Sein Unterkiefer wirkt angespannt. Der Begriff »unser Spielplatz« fühlt sich leer an, denn »unser« ist ein längst vergessenes Wort in Bezug auf Sam und mich.
»Ich kann mich nicht mehr erinnern«, sagt er dann etwas zu schnell und widmet seine Aufmerksamkeit wieder dem Blatt. Ich weiß, dass er mich anlügt, aber ich wechsle das Thema zurück zu dem Graffiti.
Sam
Es ist bereits spät, als ich zu Hause aus der Dusche steige und mir mit dem Handtuch die Haare trockne. Der Spiegel im Bad ist angelaufen, aber ich wische ihn nicht ab. Ich kann mein Spiegelbild nicht ertragen und schlüpfe schnell in meine Kleidung. Meine Mutter kommt gerade von ihrem Yoga-Kurs zurück. Ich höre, wie sie die Haustür aufsperrt und ein kurzes »Hallo« durchs Haus ruft. In letzter Zeit haben wir nicht sehr viel miteinander gesprochen und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Ich gehe nach unten und setze mich neben sie auf die Couch.
»Oh, ist es schon dunkel draußen?«, fragt sie irritiert, als sie mich sieht. Manchmal frage ich mich, in welcher chaotischen Welt sie sich manchmal in ihren Gedanken befindet, dass sie sogar die Tageszeit vergisst. Vor ein paar Wochen hätte sie die Wohnung beinahe ohne Hose verlassen.
Sie zappt ein bisschen durch die Fernsehprogramme, während sie mir mit der freien Hand mütterlich das Knie tätschelt. Sie kann spüren, wenn mich etwas beschäftigt. Meine Mutter ist eine kleine, hübsche mexikanische Frau. Ihr Aussehen steht in völligem Kontrast zu meinem: Ihr Haar ist tiefschwarz, ihre Augen sanft und sie trägt immer ein Lächeln im Gesicht. Das Einzige, was ich von ihr geerbt habe, sind die dunklen Augen und eine relativ braune Haut. Mein Vater kommt ursprünglich aus Deutschland; er ist blond, hat blaue Augen und wie ich eine große Statur mit einer Neigung zu breiten Schultern und einer schmalen Hüfte. Die beiden lernten sich am Flughafen in Mexiko-Stadt kennen, als meine Mutter noch im Personalservice arbeitete. Sie erzählt mir oft, wie sie sich aufgrund eines Cocktail-Schirmchens kennenlernten. Es reicht, wenn ich sage, dass das Schirmchen nicht das Kitschigste an der Geschichte ist.
Mom spielt unbewusst mit ihrer Halskette herum, die sie trägt seit ich denken kann. Es ist irgendein mexikanisches Symbol, doch ich weiß nicht, für was genau es steht. Wie ihre Familie in Mexiko ist sie sehr gläubig, doch sie sagt vor mir und meinem Vater nichts darüber. Manchmal betet sie abends im Garten, wenn niemand mehr auf der Straße ist.
»In der Schule haben wir gerade ein Kunstprojekt. Wir müssen Bühnenbilder für den Theaterkurs machen«, erzähle ich, während wir bei einer Quizshow hängen bleiben.
»Das klingt toll! Für welches Stück denn?«, fragt Mom und ich sehe an ihren leuchtenden Augen, dass sie sich wahnsinnig über ein Gespräch mit mir freut. Meine Füße liegen auf dem niedrigen Couchtisch und schnell wende ich den Blick von meinen nackten Zehen ab.
Ich erzähle ihr von dem Stück und spreche dann das aus, was mich überhaupt zu diesem Gespräch bewegt hat.
»Ich bin mit Lani Harper in einer Gruppe. Wir müssen die Balkon-Szene gestalten«, sage ich und nestle an meiner Jogginghose herum.
»Lani Harper?«, wiederholt meine Mutter überrascht und sieht aus dem Fenster, als könnte sie direkt zu dem Haus der Harpers rüber sehen. Und das, obwohl das Wohnzimmerfenster in die andere Richtung zeigt.
»Das ist doch schön! Ihr habt so lange nichts mehr zusammen unternommen«, sagt Mom. Obwohl sie die einzige Gesprächspartnerin ist, die ich habe, fällt es mir sehr schwer, mit ihr über meine Gedanken und Gefühle zu sprechen.
»Vor sieben Jahren, um genau zu sein«, sage ich. Wir waren zehn Jahre alt und spielten am Nachmittag in ihrer Einfahrt Basketball, als gegenüber der Krankenwagen vor Aidens Haus parkte und die beiden Männer aus dem Fahrzeug ins Haus rannten.
Mom blickt mich prüfend an. Dann sagt sie leise: »Wenn du schon im negativen Sinn an das Schicksal glaubst, dann glaub wenigstens auch im positiven Sinn daran.«
Ich verdrehe die Augen.
»Der Spruch war heute in meinem Zitate-Kalender«, erklärt sie entschuldigend und grinst mich an. »Wie ist sie denn mittlerweile so? Hat sie noch viel mit dem Mädchen von früher gemeinsam?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, hab ich keine Ahnung. Es ist komisch zwischen uns.«
Mom hebt tadelnd eine Braue.
»Weil du dich komisch verhältst.«
»Weil ich komisch bin«, sage ich nur.
»Du bist besonders, nicht komisch«, widerspricht sie stur. Ich glaube, wir führen dieses Gespräch schon zum millionsten Mal.
»Antwort C ist richtig«, werfe ich ein, um das Thema zu wechseln, doch sie ignoriert mich einfach.
»Weißt du … manchmal muss man Mut zeigen, obwohl man ihn nicht hat. Du musst ihr nicht gleich alles sagen, aber es spricht nichts dagegen, sich ein bisschen mit deinen Schulkameraden anzufreunden. Ihr könnt euch doch nur nachmittags treffen, und für abends lässt du dir eine Ausrede einfallen. Ich halte gern dafür her, falls du mich als seelisches Wrack darstellen willst, das im Dunkeln paranoid wird oder so …«, schlägt sie vor und knufft mich in die Seite.
»Und dann? Was, wenn wir uns immer besser verstehen und sie Fragen stellt? Plötzlich abends hier auftaucht? Oder ich mich in sie verknalle? Oder umgekehrt? Wenn sie rausfindet, dass …«
»Schon gut, schon gut. Ich hab’s schon verstanden. Ich wollte dir damit nur sagen, dass du dein Leben nicht wie ein Gefangener führen musst und vielleicht auch mal etwas Vertrauen in andere setzen kannst«, unterbricht mich Mom.
Ich stehe auf, weil ich das Gespräch nicht mehr ertrage. Ihre Familie in Mexiko hat Angst vor mir, sie verabscheuen und meiden mich. Wenn mich schon meine eigene Familie von sich stößt, warum sollte es mit anderen Menschen anders laufen? Und das Schlimmste daran ist, dass meine Mutter das eigentlich ganz genau weiß, denn sie ist diejenige, dich mich völlig von ihrer Familie abschirmt und mich immer ermahnt hat, mein Geheimnis niemals mit jemandem zu teilen.
Lani
Am Wochenende fahre ich ein bisschen mit dem Fahrrad in der Gegend herum. Ein paar Nachbarn mähen den Rasen ihrer Gärten, Kinder spielen auf der Straße Ball. Unser Viertel ist friedlich und mit individuellen kleinen Häusern bebaut, die alle einen hübschen Vorgarten haben. Parallel zum Oyster Creek Drive verläuft ein schmaler Kanal, dessen Wasser in einem gemächlichen Tempo vor sich hinfließt. Ich mache einen Abstecher in die Einkaufspassage, die mit dem Fahrrad etwa 20 Minuten entfernt ist, und treffe mich mit Betty auf ein Eis. Das Fahrrad stelle ich an einer Laterne gelehnt ab und setze mich dann zu ihr an einen Tisch in einer schnuckeligen Eisdiele. Sie war shoppen und hat meinen Platz mit ihren Einkaufstüten freigehalten.
»Na, Lanilein, was macht das Projekt mit Mr Perfect?«, fragt sie. Sie trägt ein helles Sommerkleid, während ich mir mit meiner löchrigen kurzen Hose und einem einfarbigen Top ziemlich schäbig vorkomme. Betty weiß im Gegensatz zu mir genau, wie sie ihre Vorzüge zur Geltung bringen kann.
»Wenn du mit Projekt unser Kunstprojekt meinst … es geht schon«, sage ich und schlecke an meinem Vanilleeis.
»Eigentlich meinte ich eher das Projekt Schnapp-ihn-dir.«
Ich seufze.
»Mhm, das läuft eher wie meine Oma mit dem Rollator. Schleppend bis gar nicht«, antworte ich ihr und ernte schallendes Gelächter.
»Ist deine Oma nicht vor Jahren gestorben?«
»Deswegen passt der Vergleich umso besser.«
Betty schüttelt grinsend den Kopf.
»Ich hab mich gestern mit Neal getroffen«, gesteht sie mir dann. Ihre langen Wimpern senken sich und plötzlich wirkt sie nicht mehr so selbstbewusst wie sonst. Das kann nur eins bedeuten.
»Du hast mit ihm geschlafen.«
Sie seufzt theatralisch.
»Ja …«
»Ach Betty … Ich dachte, du wolltest dich nicht mehr auf so was einlassen?« Ich will ihr nicht ins Gewissen reden, aber mein Ton klingt trotzdem etwas enttäuscht. Wenn es um Männer geht, ist sie völlig instabil und hat jeden Tag eine andere Meinung zu dem Thema. Und zu dem jeweiligen Kerl, der an einem Tag toll und am nächsten Tag ein Arschloch ist.
»Wollte ich auch nicht. Aber irgendwie hat er in seinem T-Shirt einfach zu gut ausgesehen«, sagt sie kleinlaut. Betty wurde vor einem halben Jahr von ihrem Freund verlassen, seitdem hat sie Angst, keinen anständigen Kerl mehr abzukriegen. Sobald ihr ein Junge seine Aufmerksamkeit schenkt, lässt sie sich kurz auf ihn ein, um dann doch wieder einen Rückzieher zu machen. Es fällt ihr schwer, sich wieder auf etwas Festes einzulassen, obwohl sie sich genau das wünscht. Und wenn sie will, findet sie jeden noch so kleinen Fehler an ihrem nächsten Auserwählten.
»Kann Neal seine niedrige Intelligenz wenigstens anderweitig ausgleichen?«, frage ich grinsend und diesmal ist es Betty, die rot wird. Normalerweise gehört Betty nicht gerade zu der schüchternen Sorte Mensch.
»Na ja. Reicht es, wenn ich dir sage, dass er selbst im Bett noch für seine Football-Spiele trainiert?«
Ich pruste los und lasse beinahe mein Eis fallen.
»Ohne Witz, so was Anstrengendes hab ich noch nie erlebt.«
»Ich hoffe, er trainiert im Bett nicht wie bei dieser Übung, in der sie mit voller Wucht gegen diese schweren Dinger rennen. Du weißt schon, um ihre Gegner aus dem Weg zu räumen«, ziehe ich sie auf.
Betty verzieht angewidert das Gesicht. »Du hast zu viel Fantasie. Wird Zeit, dass du deine eigenen Erfahrungen machst und nicht mehr dieses versaute Zeug in deinem Köpfchen hast«, antwortet sie gespielt kühl. Doch dann muss auch sie lachen, als sie noch hinzufügt: »Allerdings kommt dein Vergleich ziemlich gut hin, ich dachte irgendwann, meine Hüfte würde gleich auseinanderbrechen.«
***
Es dämmert bereits, als ich mich mit dem Fahrrad wieder auf den Heimweg mache. Es ist ein lauer Abend und ich freue mich auf ein ruhiges Tagesende mit der Liebesschnulze, die ich gerade lese. Ich bin schon fast zu Hause, da läuft mir plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken. Ich werde etwas langsamer, als ich an die Kreuzung komme, an der unser Haus steht. Im Augenwinkel sehe ich plötzlich eine langsame Bewegung. Ich halte an und sehe mich um. Es fühlt sich an, als wären die heißen Temperaturen unter null gefallen, und ich beginne zu zittern. Irgendwie kommt es mir vor, als würde mich jemand heimlich beobachten.
Es ist totenstill und ein seltsames Gefühl beschleicht mich. Noch bevor ich sagen kann, woher dieses Gefühl kommt, sehe ich vor mir an der Ecke plötzlich eine Gestalt, die gerade eben noch nicht dort stand. Vor Schreck mache ich einen Satz, bleibe mit meinen Beinen am Fahrrad unter mir hängen und kippe zur Seite auf den Boden. Leise fluchend schiebe ich mich unter dem Fahrrad hervor und starre dann an die Stelle, an der ich Sekunden zuvor noch eine schwarzhaarige nackte Frau mit leeren Augenhöhlen und offenen Wunden am Bauch gesehen habe. Die Kreuzung ist leer, nirgends ist eine Spur von ihr zu sehen. Warmes Blut läuft an meinem Ellenbogen herunter und nun spüre ich auch den Schmerz im Arm. Ich habe mich nicht stark verletzt, es ist nur eine größere Schürfwunde am Arm und an meinem Knie.
Gerade, als ich mich mit zitternden Beinen aufrappeln will, rennt vom Haus gegenüber eine besorgte Mrs Connor auf mich zu. Sie ist die Mutter von Aiden und ich bin überrascht, sie zu Gesicht zu bekommen. Normalerweise sieht man sie nie auf der Straße; Aidens Vater habe ich seit dem Vorfall auch nur noch ein paar Wochen gesehen, dann war er weg. Sobald man ihn früher nach Aiden fragte, wurde er sehr wütend und verschwand tagelang im Haus. Seit Jahren fragt niemand mehr nach ihm, als hätte Aiden nie existiert.
»Geht es dir gut?«, fragt Mrs Connor und hilft mir aufzustehen. Ihre Stimme ist sehr dünn und kaum hörbar, weil sie noch dazu sehr leise spricht.
»Ja, alles in Ordnung!«, sage ich schnell und füge hinzu: »Ich bin irgendwie blöd am Fahrrad hängen geblieben.«
Sie sieht mich immer noch besorgt an, ihr Körper wirkt in sich zusammengesunken, und mir fällt auf, wie müde und verbraucht sie aussieht. Ihre Wangen sind eingefallen, ihr aschblondes Haar ist strähnig und an manchen Stellen schon grau. Sie muss in ihrem Leben sehr viele Sorgen haben, denn meine Mutter sieht im Gegensatz zu ihr extrem jung aus.
»Ich habe gerade gespült, als ich dich draußen sah«, erklärt sie und es hört sich an, als müsse sie sich dafür entschuldigen, aus dem Fenster gesehen zu haben.
»Danke, dass Sie gleich rausgekommen sind. Zum Glück ist ja nichts passiert«, sage ich lächelnd und hebe mein Fahrrad auf. Die Haustür der Connors steht noch offen und von drinnen ertönt ein Scheppern.
»O je, ich glaube, jetzt sind mir die Töpfe heruntergefallen«, murmelt sie schnell. Ihr Blick ist gehetzt, die Augen weiten sich etwas vor Schreck.
Sie will schon nach drinnen eilen, als ich sie am Arm zurückhalte. »Haben Sie … Haben Sie die Frau gerade eben vom Fenster aus gesehen?«, frage ich zögernd, weil ich mir langsam sicher bin, mir alles nur eingebildet zu haben.
Mrs Connor verengt leicht die Augen.
»Welche Frau?«
»Da war so eine schwarzhaarige dünne …«, hebe ich an, doch dann unterbricht sie mich mit einem schroffen »Nein!« und hetzt zurück ins Haus. Kurz bevor sie die Tür erreicht, wirft sie noch einmal einen schnellen Blick nach hinten, dann schmeißt sie die Haustür hinter sich zu.
Oooo-kaaaaaay … Ich starre ihr nach dieser merkwürdigen Performance noch einen Moment hinterher, dann schiebe ich das Fahrrad in unsere Hauseinfahrt. Das Ding läuft nicht mehr ganz rund und eiert; hoffentlich kann Ben das reparieren. In meinem Zimmer rede ich mir ein, mir die Frau nur eingebildet zu haben, und lege mich lieber schlafen. Mrs Connors Blick bleibt mir die ganze Nacht im Gedächtnis.
Sam
Wie immer nach dem Training trödle ich langsam zu den Umkleidekabinen, während sich der Rest der Mannschaft schon umzieht. Ich mag es nicht, mich vor anderen umzuziehen, geschweige denn mit zu vielen verschwitzten Typen in einer Sammeldusche zu stehen. Alles in mir sträubt sich so sehr dagegen, dass ich lieber zu spät zur nächsten Stunde komme. Es ist schwer zu erklären, aber ich kann den Anblick von nackten Kerlen nicht ertragen. Ich fühle mich unter ihnen völlig fehl am Platz, ich bin einfach zu … anders. Und diese Andersartigkeit wird mir in diesen Momenten so stark bewusst, dass ich es nicht aushalte.
Während ich mich noch ein wenig am Snackautomaten herumdrücke, kommen die letzten Spieler heraus. Neal ist unter ihnen und erzählt gerade lautstark, dass er jetzt eine Freundin hat und nicht mehr »Fünf-gegen-Willi« spielen muss.
Ich verkneife mir einen Kommentar und höre Danny noch so etwas sagen wie »Betty ist aber auch zu heiß«, bevor die beiden um die Ecke biegen und verschwinden. Ich weiß, dass Betty Lanis beste Freundin ist, denn die beiden hängen in jeder Pause wie siamesische Zwillinge zusammen. Ehrlich gesagt, hätte ich dieser Betty nicht zugetraut, auf einen Hohlkopf wie Neal zu stehen, doch im Grunde ist es mir sowieso egal. Ich vergewissere mich, dass alle weg sind, dusche schnell, und ziehe mir rasch frische Klamotten über. Dann hetze ich über den Schulhof zurück zum Schülerparkplatz. Wie in jeder Kunststunde ist Lani schon vor mir da und malt mit ihrer Schuhspitze gedankenverloren im Sand herum.
»Lani«, sage ich schon aus einiger Entfernung, um sie nicht zu erschrecken, doch sie zuckt trotzdem zusammen.
»Hey«, sagt sie, und ein breites Lächeln stiehlt sich auf ihr Gesicht. Sie ist ein bisschen blass um die Nase und hat je ein großes Pflaster an ihrem Ellenbogen und ihrem Knie, das unter ihrem gelben Kleid hervorlugt. Ich schlucke, als ich ihr etwas zu offensichtlich auf die Beine starre, und krame schnell nach meinem Autoschlüssel.
»Was hast du mit deinem Arm gemacht?«, frage ich und öffne ihr die Beifahrertür des Pick-ups. Wir müssen die Materialien für das Bühnenbild besorgen und dürfen dafür die aktuelle Kunststunde verwenden.
»Fahrradunfall«, murmelt sie knapp und wir machen uns auf den Weg zum Baumarkt. Ich werfe ihr einen fragenden Blick zu.
»Na ja … es war schon dunkel und … ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, und bin dann vom Fahrrad gefallen, aber es war wohl nur Einbildung.« Sie schiebt sich peinlich berührt eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Dachtest du, es wäre Johnny Depp, dass du vor Schreck gleich vom Fahrrad fällst?«, frage ich amüsiert. Sie rümpft die Nase.
»Wenn du es genau wissen willst: Nein. Johnny Depp ist nicht mein Typ.«