Einem weisen Mann steht die ganze Welt offen.
Denn das Vaterland einer trefflichen Seele ist das Universum.
DEMOKRIT
Eine Forschungsreise
zu den Rätseln
der Naturwissenschaften
Aus dem Englischen von Daniel Fastner
Matthes & Seitz Berlin
Denn wir tragen die Wunder mit uns selbst
herum, die wir außer uns suchen.
THOMAS BROWNE
dennoch empfand ich keine angst
mein wunder suchendes glück hatte dafür keinen platz.
JOHN CLARE
Niemand weiß, wieso es so sein kann, wie es ist.
RICHARD FEYNMAN
Einleitung
1. Der Regenbogen und der Stern: Licht
2. Die Konzentration des universellen Lichts in leuchtenden Körpern: Leben
3. Drei Milliarden Schläge: Herz
4. Ein Hyperobjekt im Kopf: Gehirn
5. Der Rand des Horizonts: Selbst
6. Von Karten und Träumen: Welt
7. Wunder der Zukunft: Abenteuer mit Perhapsatron, der Vielleichtmaschine
Nachwort: Der Wunderer und sein Schatten
Anmerkungen
Auswahlbibliografie
Danksagung
Bildnachweise
Register
Feiern möcht’ ich, aber wofür?
FRIEDRICH HÖLDERLIN
Warum, warum spüren wir […] dieses
süße Gefühl von Freude?
ELIZABETH BISHOP
Eines Frühlingsmorgens entdeckte ich, als ich mit meiner Tochter in die Küche hinunterkam, einen hellen Lichtfleck an der Decke. Zunächst konnte ich mir keinen Reim auf dieses seltsame Etwas machen, das da waberte, sich verformte und zeitweise von Schatten abgedunkelt wurde. Doch allmählich begriff ich, was hier vor sich ging. Die Sonne, die sich tagelang hinter den Wolken versteckt gehalten hatte, war hervorgebrochen und so weit den Horizont hinaufgeklettert, dass ihre Strahlen auf die Fenster eines gegenüberliegenden Gebäudes fielen. Diese Fenster reflektierten nun das Licht durch die sich wiegenden Äste eines Baums auf eine weitere spiegelnde Oberfläche, die gerade in einem solchen Winkel angeordnet war, dass sie das von den Ästen abgeschattete Licht durch unser Küchenfenster an die Decke warf.
Manchmal erfordert es extreme oder außerordentliche Umstände, damit ganz gewöhnliche Dinge wundervoll erscheinen. Im Fall des Dichters Ko Un beispielsweise genügte ein briefmarkengroßer Flecken Sonnenlicht auf seiner Zellenwand im koreanischen Militärgefängnis, um wieder ein Gefühl des Staunens und der Hoffnung in ihm zu entfachen, wenngleich er auch um sein Leben fürchtete. Die Umstände an jenem Morgen in meiner Küche hingegen hatten nichts Außergewöhnliches an sich. Ich musste nicht um mein Leben bangen. Ich befand mich an keinem atemberaubend schönen oder exotischen Ort. Es war ein stinknormaler Arbeitsdienstag. Oder Mittwoch. Oder sonst ein Tag, ich vergesse solche Dinge. Jedenfalls waren weder Zeit noch Ort irgendwie besonders und ebenso wenig, könnte man meinen, das Phänomen, mit dem ich konfrontiert war. Wer hat nicht schon Sonnenlichtsprenkel auf einer Wand beobachtet oder sich gefragt, was diesen Effekt wohl hervorruft? Und wem hat sich in dem Klima, in dem ich lebe, nicht schon die Stimmung aufgehellt, wenn sich nach einer Reihe düsterer Tage endlich die Sonne wieder blicken ließ?
Und dennoch, mein Erstaunen – mein Gefühl, vollkommen wach zu sein – war außerordentlich. Mir mit meinem Wissenschaftsspleen war klar, dass das so sanfte und lebendige Spiel des Lichtflecks und seiner Schatten von Trillionen von Photonen (Lichtteilchen) hervorgerufen wurde, die von einer gewaltigen thermonuklearen Explosion in ungefähr 150 Millionen Kilometern Entfernung her stammten. Und ich wusste auch, dass diese Photonen nur einen winzigen Bruchteil einer ungleich gigantischeren Menge von Photonen ausmachten, die jede Sekunde geräuschlos und mit einer Geschwindigkeit weit jenseits unserer Vorstellungskraft auf unseren Planeten treffen. Wie Ko Un in einem anderen Gedicht schreibt: »Ich starre auf die unsichtbaren Bewegungen aller Dinge«.1
Noch größere Freude machte mir der Moment meiner Tochter wegen. Sie war damals fünf, und der Lichtfleck erschien ihr wahrscheinlich nicht mehr und nicht weniger erstaunlich als viele andere Dinge – von Postboten bis Fischstäbchen –, die eine Fünfjährige jede Woche zu sehen bekommt. Aber sie sah ihren Vater lachen, beschloss daher, dass daran etwas lustig sein musste, und lachte ebenfalls. Es war also Liebe dabei, und das machte es wundervoll. Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte.
Mein Küchenerlebnis brachte mich zum Nachdenken über das Wundern – darüber, was es auslöst und wie wir es erfahren, wie flüchtig es sein kann; darüber, auf wie vielfältige Weise es zum Schweigen gebracht und erstickt werden kann, aber auch, wie es ein Gefühl von Sinn vermitteln und essenzieller Bestandteil eines guten Lebens sein kann. Ich kam zu dem Schluss, dass all das einer genaueren Untersuchung wert wäre. Neue Karte der Weltwunder ist dabei herausgekommen.
Dieses Buch taucht in Philosophie, Geschichte, Kunst, Religion, Wissenschaft und Technologie ein, um zu einem besseren Verständnis und einer größeren Wertschätzung der Dinge, über die wir uns wundern, aber auch der Natur des Sich-Wunderns selbst zu gelangen. Auf besondere Expertise kann ich nicht verweisen und auch nicht auf andere Qualifikationen als nur meine Neugier und meinen Dickkopf. Ich stimme allerdings Samuel Johnson zu, der schrieb: »Niemals […] würde etwas unternommen werden, wenn erst alle möglichen Einwände widerlegt sein müssten.« Und wenn ich auch viel (eigentlich nahezu alles) ausgelassen habe, so war ich doch bemüht, meine Darstellung nach Kräften geerdet und kohärent zu halten. Geerdet dadurch, dass die verschiedenartigen und zahlreichen Wunder, denen ich in diesem Buch nachspüre, auch in einfachen und alltäglichen Situation wie der in meiner Küche bereits zu einem gewissen Grade gegenwärtig sind. Und kohärent dadurch, dass diese verschiedenen Wunder durch das Phänomen der Emergenz miteinander verbunden sind.
Ausgelassen habe Als Startpunkt eignen sich Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750 von Katherine Park und Lorraine Daston sowie The Age of Wonder von Richard Holmes.
Über Emergenz werde ich in dieser Einleitung noch ein paar Worte verlieren, doch zunächst einige Gedanken über die Bedeutung des Worts ›wundern‹, seine mögliche Geschichte sowie darüber, was das Wundern mit jenem großen Unterfangen zu tun hat, aus der Welt schlau zu werden und sich in ihr zurechtzufinden.
The Oxford Companion to Consciousness enthält keinen Eintrag zu Wundern oder Verwunderung – sehr wohl aber einen zu Wein – und das sollten wir vielleicht als einen Wink auffassen. Ein Standardwörterbuch bringt uns hier auch nicht viel weiter. Typischerweise wird Wunder2 als etwas definiert, das Erstaunen oder Bewunderung auslöst, und Verwunderung entsprechend als der Zustand der darüber nachsinnenden Person. Henry David Thoreau vermutete eine gemeinsame Wurzel mit ›wandern‹, während andere einen Zusammenhang mit ›Wunde‹ ins Spiel gebracht haben, doch diese Ableitungen sind rein spekulativ.
Ableitungen In der Kurzgeschichte »Undr« macht Luis Borges Wunder zu einem Urwort, das allen anderen vorhergeht und sie überflüssig macht. Ralph Waldo Emerson schreibt: »Wenngleich der Ursprung der meisten Wörter vergessen ist, war doch jedes Wort zuerst ein Genieblitz und wurde allgemein gültig, weil es im Augenblicke für den Ersten, der es sprach und hörte, die Welt versinnbildlichte«.
Im Folgenden eine etwas weitergehende Definition. Im Rückblick auf seine Erfahrung mit einer Esche in der Abendsonne beschreibt der Philosoph Martyn Evans ›wundern‹ als:
eine Haltung veränderter, unwiderstehlich intensivierter Aufmerksamkeit auf etwas, das wir unmittelbar als irgendwie bedeutsam anerkennen – etwas, dessen Erscheinen unsere Vorstellungskraft noch vor unserem Verstand anregt, das wir aber mit der Zeit vermutlich umfassender verstehen wollen.
Umfassender »Die Fantasie [ist] ein Hilfsmittel, um in einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten Sinn zu finden, indem man diese Möglichkeiten reduziert.« Michael Lewis
Dies trifft meiner Ansicht nach einen bedeutenden Teil dessen, was vor sich geht, wenn wir von Verwunderung ergriffen werden. Jedenfalls kann ich das für meine Person sagen. Wie Evans sich ausdrückt: Wir erkennen oder erfassen intuitiv etwas Wesentliches und Schönes (etwa eine zugrunde liegenden Struktur oder Ordnung) und geraten in einen Zustand gesteigerter Aufmerksamkeit.
Wann hat es mit dem Wundern angefangen? Gehört es zur menschlichen Erfahrung seit den Anfängen unserer Geschichte? Oder reicht es sogar noch weiter zurück? Vor einigen Jahren wurden im Gombe Stream Nationalpark in Tansania zwei Schimpansen dabei beobachtet, wie sie unabhängig voneinander zum Sonnenuntergang auf den Grat eines Bergkamms kletterten. Dort grüßten sie einander, fassten sich bei den Händen, setzten sich gemeinsam hin und starrten lange Zeit auf das schwindende Licht der untergehenden Sonne. Wie sollen wir so einen Bericht deuten? Die Primatologin Jane Goodall hegt da keinen Zweifel. Nicht weit von dieser Stelle entfernt hat sie andere Schimpansen dabei beobachtet, wie sie einen Wasserfall betrachteten und dann überbordendes Ausdrucksverhalten und Tänze zeigten. Sie bemerkt dazu:
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass [solches Verhalten] durch Gefühle von Ehrfurcht und Staunen, die wir empfinden, ausgelöst wird. Das Gehirn der Schimpansen ähnelt so stark dem unseren. Sie haben Gefühle, ähnlich oder gleich wie [die unseren,] und unglaubliche intellektuelle Fähigkeiten, von denen wir dachten, sie wären uns vorbehalten. Warum sollten sie also nicht auch … irgendeine Art spirituelles [Leben] haben, das heißt wirklich in Erstaunen verfallen über Dinge, die um einen herum vorgehen. […] Ich glaube, Schimpansen sind so spirituell wie wir, nur können sie es nicht analysieren, sie sprechen nicht darüber. […] Es bleibt alles in ihrem Inneren eingeschlossen, und die einzige Weise, wie sie es zum Ausdruck bringen können, ist durch diesen fantastischen rhythmischen Tanz …
Wenn Goodall und andere Forscher recht haben, dann könnte auch unser mit den Schimpansen gemeinsamer Vorfahre, der vor mehr als fünf Mio. Jahren lebte, so etwas wie Verwunderung empfunden haben.
Andere Forscher »Ungerechtfertigte sprachliche Abgrenzungen fragmentieren die Einheit, mit der sich die Natur uns präsentiert. Affen und Menschen hatten noch nicht genügend Zeit, um unabhängig voneinander verblüffend ähnliche Verhaltensweisen zu entwickeln.« Frans de Waal
Vor fünfzig- oder gar hunderttausend Jahren stellten anatomisch moderne Menschen ausgeklügelte Werkzeuge her und trieben weiträumig Handel. Um dies zu bewerkstelligen, mussten sie sprechen können und daher dürfen wir annehmen, dass sie auch Geschichten kannten. Spätestens vor etwa vierzigtausend Jahren stellten Menschen Tiere und andere Dinge in Skulpturen und Wandgemälden dar, die heute allgemein als große Kunst angesehen werden. Niemand bezweifelt das Können dieser frühen Schöpfer. Was aber können wir über ihre Gefühle und Überzeugungen aussagen? Werfen wir einen Blick auf die daumenlange Skulptur eines Wasservogels, vielleicht eines Kormorans, die in einer Höhle in Süddeutschland entdeckt wurde und mehr als dreißigtausend Jahre alt ist.
Der Vogel besitzt eine perfekte Stromlinienform, wie im Augenblick des Eintauchens eingefangen. Laut Jill Cook, leitende Kuratorin in der prähistorischen Abteilung des British Museum, mag es sich um ein »spirituelles Symbol« handeln, »das die Oberwelt, mittlere Welt und Unterwelt des Kosmos verbindet […]. Alternativ kann es sich auch um die Abbildung einer kleinen Mahlzeit und eines Pakets brauchbarer Federn handeln.« Aber wir sollten auch an einige der erhalten gebliebenen Darstellungen menschlicher und halbmenschlicher Formen denken, von den höchst stilisierten nackten Frauenfiguren bis zu dem ›Zauberer‹ aus der Chauvet-Höhle in Frankreich, vermutlich halb Mensch, halb Hirsch, und dem Löwenmensch aus dem Hohlenstein-Stadel in Deutschland. Die Erschaffer dieser Objekte legten in ihren Beobachtungen und ihrer Nachahmung nicht nur außerordentliche Präzision an den Tag – so das verbreitete Urteil heute; sondern sie waren auch schöpferisch. Sollte ihr Empfindungsvermögen tatsächlich so weit von dem eines Künstlers wie Paul Klee entfernt gewesen sein, der 1920 schrieb: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar«? Sollte zu ihren Empfindungen tatsächlich nicht auch Wundern gehört haben?
Außerordentliche Präzision »Der aufgeworfene Nacken eines Tieres, die Stellung seiner Kiefer, die Kraft seiner Läufe sind mit einer Feinfühligkeit und Kontrolliertheit beobachtet und wiedergegeben, wie man sie in den Werken von Frau Lippo Lippi, Velázquez oder Brancusi findet.« John Berger
*
Vor etwa zehntausend Jahren, in den Anfängen des Ackerbaus, blühte in Anatolien im Südosten der heutigen Türkei eine Gesellschaft, die monumentale Steinarbeiten hervorgebracht hat. Auf einem Bergkamm bei Göbekli Tepe errichtete hohe Säulen wurden mit Piktogrammen versehen, in denen man heute heilige Symbole zu erkennen glaubt, und mit Reliefen verziert, die diverse Kreaturen darstellen. Nicht weit von Göbekli Tepe, in Nevali Çori, einer kurz vor ihrer Flutung durch einen Stausee in den 1990er-Jahren noch freigelegte Ausgrabungsstätte, befand sich an einem Flussufer ein von gigantischen Steinfiguren umgebenes Amphitheater. In einer der Skulpturen wand sich eine Schlange um den Kopf eines Mannes. Eine andere zeigte einen Raubvogel auf sich umschlingenden Zwillingen landen. Riesige, T-förmige Megalithen zeigten gesichtslose, längliche Köpfe und seitlich eingemeißelt menschliche Arme. Diese Gestalten mussten über einem Publikum aufgeragt haben, das auf den Bänken entlang der Gebäudewände Platz gefunden haben mag. Empfand, wer auf diese Figuren blickte, Staunen, Furcht oder noch etwas anderes? Wir werden wahrscheinlich nie mehr als darüber spekulieren können, aber ein ritueller und religiöser Kontext scheint plausibel: Wir wissen, dass heute solche Orte häufig emotional aufgeladene Zustände von Ehrfurcht, Bewunderung und Erstaunen befördern.
Verwunderung, schrieb der Gelehrte Philip Fisher 1999, »liegt auf einer Skala des Erklärbaren in einem mittleren Bereich, jenseits des Gewöhnlichen, aber außerhalb des Irrationalen oder Unlösbaren.« Es bildet, bei jedem Einzelnen wie auch historisch, einen Horizont »zwischen dem derart Vertrauten, dass es als Selbstverständlichkeit erscheint, und dem, was sich zu weit draußen auf dem Ozean der Wahrheit befindet, um auch nur gesichtet worden zu sein, es sei denn als Unaussprechliches.« Das Wundern ist dann also mit der Liebe zum Wissen und zur Weisheit verbunden. Das überrascht natürlich kaum. Sowohl Platon als auch Aristoteles sehen den Ursprung der Philosophie im Wundern oder thaumazein. Platon sagt: »die Verwunderung; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen«. Und Aristoteles: »Verwunderung veranlasste zuerst wie noch jetzt die Menschen zum Philosophieren«.
Viele Traditionen ehren, was wir in modernen Industrieländern als ein Gefühl der Verwunderung auffassen, wobei es sich bei ihnen gleichwohl um Verwunderung einer leicht anderen Art handeln mag. Diese Empfindung hat häufig eine, wenn auch nicht notwendigerweise wissensfeindliche, so doch weniger suchende und rastlose Form angenommen als in unserer Gesellschaft. Beispielsweise haben die Völker, die wir als ›animistisch‹ bezeichnen, möglicherweise ihre Gemeinsamkeit in einer Daseinsweise, die der Ethnologe Tim Ingold als »lebendig und zu einer in permanenter Geburt befindlichen Welt hin offen« beschreibt. Für sie ist die Welt eine ständige Quelle des »Erstaunens, aber nicht der Überraschung«. In der Yoga-Philosophie gibt die Verwunderung über die Erkenntnis der eigenen Unkenntnis der Welt Anlass zu Befreiung. In den Werken klassischer chinesischer Dichter wie Li Bai und Du Fu folgt der konzentrierten Aufmerksamkeit auf die Wunder des Daseins keine ruhelose Suche nach immer weiteren Fakten, sondern Verwunderung (wenngleich sie häufig auch Gefühle von Melancholie und Trennung hervorrufen mag). Und im 20. Jahrhundert stellte in Europa der Philosoph Martin Heidegger die nach seiner Auffassung instrumentelle Einstellung der industriellen Zivilisation, in der alles außerhalb von uns zu einer ständig verfügbaren Ressource des Konsums wird, dem gegenüber, was er als wahres Erstaunen ansah.
Verwunderung, wie Heidegger sie auffasste – er nannte es Erstaunen und verband es mit Verhaltenheit –, enthüllt Menschen und Dinge, ganz einfach so, wie sie sind, und lässt uns die Schönheit und Komplexität der Welt bewahren wollen. Das ist nach meiner Ansicht ein attraktiver Gedanke und einer, der zu einer unserer Zeit angemessenen Ethik beitragen (aber sie nicht definieren) kann. Man muss Heidegger nicht sehr weit folgen – insbesondere nicht bis zu seinen katastrophalen politischen Entscheidungen –, um Nutzen aus einigen Unterscheidungen zu schlagen, die er zwischen dem wahren Erstaunen und sehr ähnlichen, aber doch nicht damit identischen Gemütsverfassungen getroffen hat.
Fangen wir mir Staunen und Bestaunen an, die vor allem im vormodernen und religiösen Denken vorherrschen, in dem die Welt voller Mysterien steckt und die Götter oder Gott angsteinflößend auf den Menschen wirken können. Zwei herausragende Beispiele, beide wahrscheinlich im 4. Jahrhundert v. Chr. niedergeschrieben, stammen aus der Bhagavad Gita und aus der hebräischen Bibel. Im 11. Gesang der Gita gewährt Krishna Arjuna eine Vision seiner göttlichen Gestalt. Vor dem Wunder dieser Herrlichkeit, die heller strahlt als tausend Sonnen, erzittern vor Furcht Himmel, Erde und all die unendlichen Räume. In den Kapiteln 38 bis 41 des Buchs Hiob spricht Jahwe aus dem Sturm zu Hiob und fragt ihn: »Wo warst du, als ich die Erde gründete? [A]ls die Morgensterne miteinander jauchzten und alle Gottessöhne jubelten? Wer hat das Meer mit Toren verschlossen, als es herausbrach wie aus dem Mutterschoß«. (Hiob weiß darauf natürlich keine Antwort.) Auch der Psalmendichter rückt yir’ah – die Ehrfurcht, Scheu und Verehrung derer, die die Zeichen und Omen von Gottes Wirken in der Welt erblickt haben – in den Vordergrund und stellt es als den Ausgangspunkt der Weisheit dar.
Erzittern vor Furcht Das berühmte Zitat des Physikers Robert Oppenheimer bei seiner Erinnerung an die Explosion von Trinity, der ersten Atombombe, stammt aus der Gita: »Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.« Eine genauere Übersetzung ist: »Ich bin allmächtige Zeit, die alles zerstört.« Die Grundbotschaft der Gita ist jedoch Freude.
Yir’ah »Alle Welt fürchte den HERRN, und vor ihm scheue sich alles, was auf dem Erdboden wohnet.« (Psalm 33, 8)
Erstaunen und Ehrfurcht liegen auch in der erhabenen und romantischen Empfindsamkeit, die im 18. und 19. Jahrhundert in Europa aufkam. Nur brachen und veränderten sich die Gefühle in dieser neuen Welt. Die Empfindung von Ehrfurcht vor den großen Werken der Natur wie einem Berg oder einem mächtigen Wasserfall war nun ebenso oder noch mehr eine ästhetische als eine religiöse Erfahrung. Eine einflussreiche Formulierung dieser Sichtweise erschien 1756 in Edmund Burkes Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Der Verfasser beschreibt darin das Erhabene als einen Zustand des Erstaunens, »in welchem alle [Gedanken], mit einigem Grade von Schrecken, gehemmt und unterbrochen werden«. Er fügt aber hinzu, dass wir trotz der Gefahr auch ein Gefühl von Entzückung angesichts des Erhabenen empfinden. Dass uns ein riesiger Wasserfall verschlucken könnte, gehört zu seinem Reiz, weil uns die Konfrontation mit ihm befähigt, uns unserer Furcht zu stellen und sie zu einem gewissen Grade zu überwinden, wodurch uns eindringlich gewahr wird, dass wir am Leben sind.
Von der Gemütsregung des Erhabenen gänzlich verschieden präsentiert sich die typische menschliche Reaktion auf Kuriositäten. Dieser (von Heidegger Verwunderung genannten) Empfindung zentral ist der Reiz des Neuen. Und worauf sich unsere Neugier richtet, variiert beträchtlich: Es mag sich um die Zurschaustellung außerordentlichen Geschicks oder Wagemuts drehen, zum Beispiel das Jonglieren mit Kettensägen. Es kann sich schlicht um Sonderbares und Unvertrautes handeln: Man denke an die Szene in Der Sturm, in der Trinculos erster Gedanke beim Zusammentreffen mit Caliban sich darauf richtet, ihn zurück nach England zu schaffen und als Schauobjekt Geld aus ihm zu schlagen. Auch Grelles oder Abnormes kann die Neugier wecken, an der Grenze dessen, was viele Menschen als grotesk empfinden, oder schon darüber hinaus wie beispielsweise den Elefantenmenschen oder die Mikrozephaliker in Tod Brownings Film Freaks von 1932 – oder im Zeitalter des Internets das Bild eines Harlequin-Babys oder ein penisförmiger Fortsatz auf dem Kopf eines Ferkels. Oder es kann sich um etwas auf entzückende Weise Unvereinbares handeln: »Dieses Hippobaby wurde durch einen Tsunami von seiner Familie getrennt, und eine 103-jährige Schildkröte wurde zu seinem besten Freund« gehört zu meinen Favoriten. Doch was immer der Gegenstand der Neugier, nichts hält unsere Aufmerksamkeit lange im Bann. Es gibt immer Hunger auf Neues und selten viel Interesse an tieferen Erklärungen oder tieferem Sinn.
Geld aus ihm zu schlagen »wenn sie [in England] keinen Deut geben wollen, einem lahmen Bettler zu helfen, so wenden sie zehn dran, einen toten Indianer zu sehn« (Zweiter Aufzug, zweite Szene).
Von der Faszination und Begeisterung für Neues verschieden ist die nüchternere Form der Bewunderung (so Heideggers Kategorie), in der der Verstand aktiv bleibt und der Bewunderer einen gewissen emotionalen Abstand vom Objekt seiner Bewunderung hält. Diese Art des Wunderns mag dem, was Platon und Aristoteles im Sinn hatten, am nächsten kommen. Für sie bildet das Wundern den Anfang, nicht jedoch das Ziel der Philosophie, das vielmehr darin besteht, mittels Vernunftgebrauchs das Leben des Menschen zu verbessern. Und ganz in denselben Bahnen beschreibt der Mathematiker und Philosoph René Descartes 1649 Verwunderung (admiration) als die Erste der Leidenschaften – und als eine ausschließlich geistige, die nicht von schnellem Puls und klopfendem Herzen begleitet wird. Laut Descartes ist Verwunderung »eine plötzliche Überraschung der Seele, die bewirkt, dass sie sich dazu gebracht sieht, mit Aufmerksamkeit die Objekte zu betrachten, die ihr als selten und außerordentlich erscheinen.« Sie sei zu begrüßen, weil sie uns hilft, uns auf Gegenstände, wie sie an sich selbst sind, zu konzentrieren statt etwa darauf, wie sie für uns sind. Und damit leite sie uns auch zur Erwerbung der Wissenschaften. Sobald wir aber dazu angeregt worden seien, diesem höheren Wissen nachzustreben, hätten wir keinen weiteren Bedarf am Wundern. Es ist also dienlich, aber durchaus kein Ort, um zu verweilen. Diese Art des Wunderns entspricht also grob dem Geist der wissenschaftlichen Revolution, der Heidegger so misstraute. (Aus einem optimistischeren Blickwinkel, für den Steven Johnson in seinem 2017 erschienenen Buch Wonderland eintritt, haben die Lust am Neuen und der Antrieb des Spaßes, wenn sie mit nüchternerer Analyse verbunden werden, häufig zu bedeutenden und segensreichen technologischen und gesellschaftlichen Fortschritten geführt. Programmierbare Computer entspringen automatischen Musikinstrumenten; Demokratie entspringt der Begegnung aller Menschen als Gleicher in Schenken und Kaffeehäusern.)
Der Leidenschaften Descartes zählt zu den Leidenschaften neben der Verwunderung noch Liebe, Hass, Begierde, Freude und Trauer.
Das Aufblühen der Forschungskultur im frühmodernen Europa veränderte grundlegend, worüber sich Menschen wunderten und Gedanken machten. Der Historiker David Wootton illustriert die Natur dieser Veränderung durch Vergleich eines gebildeten Engländers, bevor und nachdem die Wissenschaft, zu seiner Zeit noch als Naturphilosophie bezeichnet, in eine zentrale Stellung in der Kultur seines Landes aufrückte. Um 1600, ein Jahrzehnt bevor Galileis Entdeckungen mit einem Teleskop John Donne zu dem Ausspruch verleiteten, dass die »neue Philosophie alles in Zweifel zieht«, glaubt ein gebildeter Engländer, dass Zauberer und Hexen wirklich existieren und dass Hexen Stürme beschwören können, mit denen sie Schiffe auf See zum Kentern bringen. Er glaubt, dass Mäuse spontan in Strohballen entstehen. Er hat das Horn eines Einhorns gesehen, aber kein Einhorn. Er ist überzeugt, dass es eine Salbe gibt, die Wunden heilt, wenn man sie auf den Dolch aufgeträgt, der die Wunden verursacht hat, und dass der Leichnam eines Ermordeten blutet, wenn der Mörder zugegen ist. Er glaubt, dass Form, Farbe und Textur einer Pflanze ihre medizinischen Eigenschaften verraten. Er hält es für möglich, unedles Metall in Gold zu verwandeln. Er glaubt, dass Regenbogen Zeichen Gottes sind und dass Kometen auf Böses hindeuten. Er glaubt an Astrologie und dass sich die Sonne um die Erde dreht, obwohl es bereits fast sechzig Jahre her ist, dass Nikolaus Kopernikus seine Gegenargumente vorgetragen hat. Für ihn ist Aristoteles der größte Philosoph und sind Plinius, Galen und Ptolemäus, allesamt antike Römer, die größten Autoritäten der Naturgeschichte, der Medizin und der Astronomie.
In den 1730er-Jahren hat ein gebildeter Engländer durch ein Teleskop und ein Mikroskop geblickt. Er besitzt eine Pendeluhr und ein Barometer (er weiß, dass es ein Vakuum am Ende der Röhre gibt). Er kennt keine gebildete und einigermaßen kultivierte Person, die an Magie, Hexen, Alchemie oder Astrologie glaubt. Er ist überzeugt, dass Form und Farbe einer Pflanze nichts darüber verraten, welchen medizinischen Nutzen sie hat. Er weiß, dass das Einhorn der Mythologie angehört. Er ist überzeugt, dass keine mit dem bloßen Auge sichtbare Kreatur spontan entsteht. Er glaubt nicht an die Waffensalbe oder dass die Leichen Ermordeter in Anwesenheit des Mörders bluten. Er weiß, dass der Regenbogen durch Lichtbrechung entsteht, dass sich die Erde um die Sonne dreht und dass Kometen keine Bedeutung für unser Leben auf der Erde tragen. Er weiß, dass das Herz eine Pumpe ist, und hat möglicherweise auch schon eine Dampfmaschine bei der Arbeit gesehen. Er glaubt, dass Naturphilosophie die Welt verändern wird und die Menschen der Moderne die der Antike in jeder Hinsicht überflügelt haben.
Eine Dampfmaschine Thomas Newcomens atomsphärische Dampfmaschine – Vorbote des Anthropozäns – pumpte erstmals 1712 Wasser aus Kohleminen.
Diese neue Art des Denkens – in Woottons Worten »eine neue Art der Auseinandersetzung mit der sinnlichen Realität« – vervielfältigte die Macht und Wahlmöglichkeiten des Menschen im Hinblick auf die Natur und reduzierte das Ausmaß der Angst im täglichen Leben. Diese Sichtweise hat weitgehend bis heute Bestand und kann gelegentlich sehr phlegmatisch daherkommen. Wie sich im 20. Jahrhundert der Physiker Richard Feynman ausdrückte: »Die Leute fragen mich: ›Suchen Sie nach den allem zugrunde liegenden Naturgesetzen?‹ Nein, das tue ich nicht, ich versuche lediglich, mehr über die Welt herauszukriegen. Falls sich herausstellt, dass es ein einfaches, letztgültiges Gesetz gibt, das alles erklärt, umso besser; würde Spaß machen, es zu entdecken. Falls sich jedoch herausstellt, das Ganze ist wie eine Zwiebel mit Millionen Häuten, und wir es einfach leid sind, alle diese Häute zu untersuchen, dann ist es eben so … Mein Interesse an der Wissenschaft besteht einfach darin, mehr über die Welt herauszufinden«.
Aber so sehr Feynman es hier auch kleinredet, der Prozess wissenschaftlicher Entdeckung kann große Freude bereiten, dem Entdecker genauso wie denen, die in seine Fußstapfen treten. Nehmen wir die Relativitätstheorie, auf die Albert Einstein in seinen eigenen Worten durch »kombinatorisches Spiel« kam, indem er zwei zuvor unverbundene Ideen zusammenbrachte. Was, so fragte sich Einstein, wenn Schwerkraft nicht irgendeine mysteriöse, aus der Distanz auf Objekte einwirkende Kraft ist, sondern mehr wie ein elektromagnetisches Feld und somit Raum ist? Sein Zeitgenosse, der Physiker Carlo Rovelli, beschreibt die emotionale Wirkung, als er sich als Student Einsteins Durchbruch bewusst wurde:
Immer wieder löste ich meinen Blick vom Buch und sah auf das glitzernde Meer: Mir erschien es, als sähe ich tatsächlich die Krümmung von Raum und Zeit, wie Einstein sie sich vorstellte. Wie durch Magie: als flüsterte mir ein Freund eine unerhörte verborgene Wahrheit ins Ohr, die plötzlich den Schleier der Wirklichkeit zerreißt und eine einfachere, tiefere Ordnung offenbart. Seit wir entdeckt haben, dass die Erde rund ist und sich dreht wie ein irrwitziger Kreisel, begreifen wir, dass die Wirklichkeit nicht ist, wie sie uns erscheint: Jedes Mal, dass wir einen neuen Aspekt an ihr erhaschen, ist es eine tief emotionale Erfahrung. Ein weiterer Schleier ist gefallen.
Wissenschaft und Technologie sind in unserer Kultur eng mit der Idee des Fortschritts verknüpft. Die meisten Entdeckungen und Entwicklungen werden mit Enthusiasmus begrüßt, weil sie uns faszinieren oder begeistern oder weil sie den Kreis unserer Möglichkeiten erweitern und die Not lindern. Wissenschaft ist, so unterstellen wir, unparteiisch. Doch es liegt ein Schatten auf ihr, denn neues Wissen bringt nicht nur Macht, sondern auch die Möglichkeit ihres Missbrauchs mit sich. Wie ein alter griechischer Mythos erzählt, ist eine der Töchter des mit Wundern assoziierten Gottes Thaumas die wunderschöne Göttin des Regenbogens Iris, die anderen Töchter aber sind die Harpyien: grausame Vorboten der Zerstörung und des Todes.
Unparteiisch »Daher ist das Wundern – und nicht die Erwartung irgendwelcher Vorteile aus ihren Entdeckungen – das erste Prinzip, das die Menschheit zum Studium der Philosophie anregt, jener Wissenschaft, die die verborgenen Verknüpfungen freilegen möchte, welche die vielfältigen Naturerscheinungen verbindet; und sie betreiben dieses Studium um seiner selbst willen, als eigenständiges Vergnügen oder Gut an sich selbst, ungeachtet seiner Tendenz, ihnen die Mittel zu zahlreichen anderen Vergnügen zu verschaffen.« Adam Smith
Für die frühmodernen Europäer war die Entdeckung Amerikas, die die wissenschaftliche Revolution möglicherweise überhaupt erst in Gang brachte, etwas höchst Erstaunliches – nicht zuletzt, weil sie bewies, dass noch wirklich Neues, der antiken Welt Unbekanntes entdeckt werden konnte. Doch wie den Feinfühligeren und Aufmerksameren unter ihnen bewusst wurde, zogen diese Entdeckungen häufig Katastrophen nach sich. »Die wundervolle Entdeckung Amerikas […] bringt alle Gespräche über andere Wunder zum Verstummen«, schrieb Bartolomé de las Casas 1542. Auf diesen einzelnen Satz folgt dann ein komplettes Buch zur Dokumentation des Genozids an den Ureinwohnern. Die Gründungsgeschichte der USA stützt sich auf zahlreiche Völkermorde, von denen wir teilweise nur durch einzelne Vorfälle einen flüchtigen Eindruck gewinnen wie etwa durch die tödliche Folter indigener Frauen und Kinder »zur öffentlichen Belustigung« und das übermütige Football-Spiel mit rund achtzig Köpfen in den Straßen Manhattans.
Heute haben Wissenschaft und Technologie zu einem Ausmaß menschlichen Wohlstands geführt, von dem unsere Vorfahren sicher nicht zu träumen gewagt haben. Zugleich ermöglichen sie die Konstruktion von Waffen, die Hunderte Millionen Menschenleben binnen Sekunden auslöschen können. »Unser ganzer gepriesener Fortschritt der Technik, überhaupt der Zivilisation«, schrieb Albert Einstein Mitte des 20. Jahrhunderts, »ist der Axt in der Hand des pathologischen Verbrechers vergleichbar.« Vielleicht sorgt uns die Gefahr eines Atomkriegs weniger als noch zu Zeiten des Kalten Kriegs, doch andere Schreckgespenster sind an seine Stelle getreten. Eines davon ist die Sorge, dass Wissenschaft und Technologie unsere Gesellschaften in die Lage bringen, die Ökosysteme, von denen wir abhängen, so sehr zu stören und zu verschmutzen, dass es zu ihrer Destabilisierung kommt. Eine andere ist die Furcht, dass neue Technologien ihrem großen Versprechen zum Trotz in Wirklichkeit unsere Freiheit einschränken könnten. In den 1950er-Jahren warnte Aldous Huxley, dass Pharmakologie und Gehirnwäsche eines Tages die Menschen dazu bringen könnten, ihre Knechtschaft zu lieben. Wenn wir dafür Zucker, Smartphones und Massendesinformation einsetzen, lag er vielleicht gar nicht so weit daneben, und das noch bevor wir das ganze Ausmaß der Folgen intelligenter Systeme abschätzen können, die unsere Gefühle besser lesen und Begierden besser antizipieren können als wir selbst.
Smartphones und Massendesinformation Ein erwachsener US-Amerikaner verbringt durchschnittlich 74 Stunden wöchentlich vor dem Bildschirm, Tendenz steigend. Viele Millionen nicht arbeitende junge Männer – arbeitslos und nicht auf Arbeitssuche – sitzen den ganzen Tag bekifft vor dem Schirm.
Selbst bei relativ gesunder Lebensweise und gesicherter Existenz kann schlechte Laune beinahe alles verderben. Mich überkommt das Gegenteil des Wunderns manchmal, wenn ich an die Entscheidungen denke, die ich in meinem Leben getroffen habe (wenn denn davon tatsächlich die Rede sein kann), oder wenn ich über ein politisches und ökonomisches System nachsinne, das uns die Külch quitscht, dass wir nichts mehr gischeln als ›Plisch‹.3 In diesen Momenten stecke ich, wenn nicht im Sumpf der Verzagtheit,4 so doch zumindest im Morast der Verdrossenheit oder im Pfuhl der Aussichtslosigkeit. Meistens wird mir jedoch bald bewusst, dass mich Erste-Welt-Probleme plagen und es noch viel schlimmer bestellt sein könnte – wie der Witz geht: fürchterliches Essen und dann noch so kleine Portionen. Die Stimmung verfliegt schließlich und ich versuche, mich etwas Positivem zuzuwenden. »Ein Traum liefert uns dem andern aus, und die Täuschungen nehmen kein Ende«, schrieb Ralph Waldo Emerson. »Das Leben besteht aus einer ununterbrochenen Folge von Stimmungen, sie gleichen den Rosenkranzperlen auf den Gebetketten. Wenn wir sie der Reihe nach durchgehen, erweisen sie sich als verschieden gefärbte Linsen, die die Welt in ihre eigenen Farben tauchen.«
Tatsächlich die Rede sein kann »Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.« Franz Kafka
Es gibt viele Gründe, sich mutlos zu fühlen, und andere Menschen fallen in tiefere Finsternis, als ich sie jemals erlebt habe, und dies aus unterschiedlichen Gründen. Einige Wege sind in der Literatur brillant beschrieben worden. »Ich sage es Ihnen feierlich, dass ich viele Male ein Insekt werden wollte«, erklärt Fjodor Dostojewskis Mann aus dem Kellerloch, »und mich dafür innerlich, heimlich zu zerfleischen, mit den Zähnen zu zerfleischen, an mir selbst so lange zu nagen und zu saugen, bis die Bitternis sich endlich in eine schmachvolle, verfluchte Süße umwandelte und schließlich – in einen entschiedenen, echten Genuss!« Düsterer noch ist Franz Kafkas Verwandlung, in der sich die Hauptfigur Gregor Samsa in einen riesigen schmutzigen Käfer verwandelt: die metaphern- oder fabelförmige Darstellung eines psychologischen Zustands.
Gründen »Manchmal scheint es mir, dass wir uns nie daran gewöhnen, auf dieser Welt zu sein, und dass das Leben nur ein großes fortlaufendes unverständliches Versehen ist.« W. G. Sebald
Das wirkliche Leben kann sich ebenso schmerzhaft oder hässlich anfühlen wie die schrecklichsten in Büchern beschriebenen Erfahrungen. Die schlichte Erkenntnis, dass wir in einer trüben und sich ständig wandelnden Welt existieren und dass wir sterben werden, kann fürchterlich sein. Ressentiment und Wut aufgrund wirklicher oder eingebildeter Kränkungen und Ungerechtigkeiten mag in Hassgedanken und Hassreden und auch in Gewalttaten zum Ausdruck kommen. Aber auch Versuche, durch Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, Selbstschädigung oder andere Verhaltensweisen das Gefühl der Leere zu überwinden oder sich völlig gegen Gefühle zu betäuben, sind verbreitet.
Ressentiment Ressentiment, ein von dem Philosophen Søren Kierkegaard eingeführter Begriff, bezeichnet einen psychologischen Zustand, der aus unerfüllbaren Gefühlen von Neid und Hass resultiert. Der Schriftsteller Albert Camus fasste es als »Selbstvergiftung – die unheilvolle, abflusslose Absonderung einer fortgesetzten Ohnmacht.«
Im frühmodernen Europa wurden düstere Stimmungen – Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Ängste und Verzweiflung – als Symptome der Melancholie angesehen, die man einer übermäßigen Konzentration schwarzer Galle zuschrieb (neben gelber Galle, Schleim und Blut einer der vier angenommenen ›Säfte‹ der Humoralpathologie).
Melancholie lässt Hamlet das Firmament nicht als mit goldnem Feuer ausgelegten, majestätischen Baldachin sehen, sondern als faulen verpesteten Haufen von Dünsten. Sie ist das wilde Tier, das drohend über Robert Burtons gigantischem Werk The Anatomy of Melancholy von 1621 lauert. Die Humanisten der Renaissance entdeckten aber auch eine positive Seite an dieser Seelenverfassung. Laut Marsilio Ficino wurde Melancholie mit »Genie« assoziiert und daher mit dem Vermögen zu kreativem Schaffen und Veränderung. In diesem Fall, und für dieses Buch, hilft Albrecht Dürers Melencolia I als Wegweiser.
The Anatomy of Melancholy »Unser Leben ist nach Augustinus eine einzige Versuchung, eine Kette beständiger Übel. Wer könnte seine Unseligkeit ertragen? Geht es uns gut, werden wir unverschämt und überheblich, das Unglück dagegen macht uns niedergeschlagen, und so benehmen wir uns unter allen Umständen töricht und jämmerlich.« Robert Burton
Seit seiner Entstehung 1514 hat Dürers Kupferstich zahlreiche Menschen fasziniert, die, auf verschiedene Weisen, das Reich des Wunderns oder das seines Schattens erweitert haben. William Blake hielt an seiner Kopie dieses Stichs selbst dann noch fest, als Armut ihn zwang, fast seine gesamte Habe zu veräußern. Albert Einstein und Sigmund Freud hatten Reproduktionen an der Wand ihres Arbeitszimmers hängen.
Sigmund Freud Für Freud war Melancholie »seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert.«
Nach der Deutung des Kunsthistorikers Erwin Panofsky, der um die Mitte des 20. Jahrhunderts wirkte, personifiziert der Engel in der Bildmitte zwei verschiedene Ideen: Melancholie als einer der vier Säfte und Geometrie als eine der sieben Freien Künste. Er steht für den Geist des Renaissancekünstlers, der praktisches Können respektiert, sich aber nach der Schönheit und Abstraktion der mathematischen Theorie sehnt und der zwar von himmlischen Einflüssen und ewigen Ideen inspiriert wird, aber umso mehr unter der menschlichen Gebrechlichkeit und geistigen Begrenztheit leidet. So weit, so solide und in Gelehrsamkeit und Kunstgeschichte fundiert. Doch eine der Eigenschaften, die Melencolia I zu einem so faszinierenden Werk machen, ist, dass es immer größer erscheint als jede einzelne Interpretation – und sich immer neuen Lesarten öffnet. Hier ist meine: Engel, so glaubte man (und manche Menschen glauben dies immer noch), existieren in einem Zwischenreich zwischen Gott und Menschen, dienen jenem und überbringen diesen gelegentlich Nachrichten. Dürers Engel, von kräftiger Gestalt, scheint fest im Reich des Materiellen zu stehen oder sich zumindest ganz darauf eingelassen zu haben. Dunkelheit, vom Mondschein erhellt, gibt es durchaus in der Szene, doch wir scheinen uns nicht in der alptraumhaften Welt zu befinden, die der Demiurg des gnostischen Glaubens erschaffen hat. Die sonderbare Fledermaus, die den Titel des Drucks trägt, wirkt eher mickrig als furchterregend und mag ohnehin von dannen fliegen. Die unorthodoxe Schreibweise des Worts, das sie auf ihrem Banner trägt, erhält Sinn, wenn wir es als Anagramm von Limen Caelo, Himmelspforte, lesen.
Engel In Alan Moores Roman Jerusalem spielt eine Gang von Erzengeln in einer schäbigen Snookerhalle in Northampton Billard um menschliche Seelen.
Von dannen fliegen Das »I« in Melencolia I könnte darauf hindeuten, dass das Bild das erste einer ganzen Serie werden sollte. Wenn das stimmt, wurden die anderen entweder nie geschaffen oder sind verschollen. Eine andere Möglichkeit ist, dass es auf Imagination (Vorstellung) als die erste und niedrigste der drei Kategorien des Genies (neben Vernunft und Geist) verweist. Oder das »I« steht für das lateinische Wort für »geh«, sodass es in diesem Fall »Melancholie, verschwinde!« bedeuten würde.
Und was immer dieser Engel tut, er ist nicht verzagt. Seine Augen sind nicht nach unten geschlagen, wie wenn er entmutigt wäre, sondern aufwärts gerichtet. Vielleicht hat er mit seinem geistigen Auge etwas erfasst und deshalb für einen Moment innegehalten, bevor er fortfährt zu entwerfen, was immer er mit dem Zirkel auf seinem Schoß konstruiert. Die Holzbearbeitungswerkzeuge zu seinen Füßen befinden sich in Unordnung, doch sie liegen nicht zerbrochen; es wirkt wie die Werkstatt eines Kreativen und nicht wie die von einem, dessen innere Welt in sich zusammenbricht. (Wenn die Einfälle aus seinen Notizbüchern als Anhaltspunkt dienen können, dann dürfte die Werkstatt von Dürers Zeitgenossen Leonardo da Vinci ein wenig so ausgesehen haben, und lethargisch war Leonardo so wenig wie ein speiender Vulkan.) »Melancholie […] hat aber mit Todessehnsucht nichts gemein«, schreibt W. G. Sebald. »Sie ist eine Form des Widerstands.«
Notizbüchern In seiner Skizze zu einer Abhandlung mit dem Titel »Über die Natur, das Gewicht und die Bewegung von Wasser« beispielsweise schlägt Leonardo da Vinci eine Aufteilung in fünfzehn Bücher vor. Sie enthält Dutzende Notizen über verschiedene Phänomene, die alle sehr genaue Beobachtung erfordern, aber letztlich nirgendwohin führen, weil Leonardo die Themen nicht systematisch weiterverfolgt.
Ein links von der Bildmitte und am Rand des Blickfelds des Engels befindlicher großer Polyeder scheint ein Produkt dieser Werkstatt zu sein. Die Eigenschaften dieses Objekts, eines heute als Dürer-Polyeder bekannten Rhomboederstumpfs, sind viel diskutiert worden. Es mag sich um den Versuch handeln, einen neuen archimedischen Körper zu konstruieren (einen aus zwei oder mehr Arten regelmäßiger Polygone gebildeten symmetrischen Polyeder), dessen Ecken alle die Innenfläche einer Kugel berühren würden. Wenn, dann ist der Engel, so wie der Künstler, gescheitert, denn dieses geometrische Problem hat keine mathematische Lösung.
Geometer – in den frühen 1500er-Jahren die Speerspitze der Naturwissenschaft – folgten Platon in der Überzeugung, dass die Platonischen Körper, reguläre Polyeder, die jeweils aus einer Art Polygon gebildet werden, die Bausteine der Materie wären. Der Tetraeder ergäbe Feuer, der Würfel Erde, der Oktaeder Luft, der Ikosaeder Wasser und der Dodekaeder Äther (jene rätselhafte Substanz, die angeblich den Himmel füllte). Natürlich irrten sie, allerdings, wie der Physiker Frank Wilczek angemerkt hat, nicht ohne Nutzen. Denn sie regten ein Nachdenken über die Möglichkeit einer begrenzten Anzahl diskreter Elemente als Grundlage der materiellen Welt an. Das Standardmodell der Teilchenphysik identifiziert ebenfalls eine begrenzte Anzahl von Elementarteilchen (bislang siebzehn), aus denen sich, indem sie sich auf verschiedene Weisen miteinander verbinden, alles zusammensetzt, was ist. Handelt es sich also bei dem Engel um einen Vorläufer heutiger Physiker, die die Grundbausteine der Welt zu verstehen suchen und damit die Möglichkeit zu deren Manipulation auf den tiefsten Ebenen eröffnen?
Was ist Laut der modernen Physik lassen sich Elementarteilchen in zwei Gruppen unterteilen: Teilchen mit Spin ½, aus denen die Materie des Universums besteht, und Teilchen mit Spin 0, 1 und 2, welche die zwischen der Materie wirkenden Kräfte bilden. Zwei Teilchen der ersten Art können sich nie gleichzeitig am selben Ort befinden, während dies für eine unbegrenzte Zahl von Teilchen aus der zweiten Gruppe möglich ist. Fundamentalteilchen bilden ein Emergenzphänomen von Quantenfeldern. Diese wiederum sollen sich zusammen mit der Raum-Zeit aus kovarianten Quantenfeldern ergeben.
Melencolia I enthält vieles mehr, darunter einen Cherub, einen Hund, eine Sanduhr, eine Waage, eine Glocke und einen Schlüsselbund, den der Engel an der Taille trägt. Bemerkenswert sind auch die alchemistischen Symbole: Ein Schmelztiegel steht links vom Polyeder auf dem Sims, eine Leiter mit sieben Sprossen – die gewöhnlich als Repräsentation der sieben Metalle und Planeten des alchemistischen Systems gedeutet werden – ragt hinauf zu einem jenseits des Bildrahmens befindlichen Aussichtspunkt oder Turm. Außerdem gibt es noch rechts hinter dem Kopf des Engels eine Gruppierung von Zahlen, die ein magisches Quadrat bilden – in welchem die Aufsummierung jeder Horizontalen, Vertikalen und Hauptdiagonalen jeweils dieselbe Zahl ergibt. (In diesem Fall ist die Summe 34 und das Quadrat hat zusätzlich die Eigenschaft, dass sich die vier Quadranten sowie die mittleren vier Zahlen ebenfalls auf 34 summieren.) Die zwei mittleren Zahlen unten setzen sich zum Entstehungsjahr des Stichs 1514 zusammen, dessen zwei äußere Ziffern, 1 und 4, auf den ersten und vierten Buchstaben des Alphabets, A und D, verweisen, mit denen Albrecht Dürer seine Drucke und Zeichnungen zu signieren pflegte.
Was bedeutet das alles? Möglicherweise kämpfte Dürer mit der Idee (die, soweit wir wissen, zum ersten Mal von Pythagoras geäußert wurde), dass alle Dinge Zahlen sind. Vielleicht wollte er das Werk auch zu einem bleibenden Rätsel gestalten und hoffte, dass der Betrachter in der Beschäftigung damit Aufschluss über seinen eigenen Geist erlangen würde. Denn so sehr uns Dürer (der Name bedeutet ›Türmacher‹) auch in die detaillierte, fast obsessive symbolische Welt der Werkstatt des Engels hineingeleitet, so lässt er uns auch darüber hinausblicken und -denken. Von Paracelsus bis Jung ist Alchemie mit der Entwicklung des Individuums assoziiert worden, doch ich möchte in der Leiter lieber eine frühe Ahnung der wissenschaftlichen Methode sehen, in der eine umfassendere Sicht durch sorgsamen schrittweisen Fortschritt gewonnen wird. Und in Dürers magischem Quadrat möchte ich den Ausdruck eines hartnäckigen Rätsels erblicken, das uns die wirkliche Welt aufgibt: Mathematik scheint (wie es im 20. Jahrhundert der Physiker Eugene Wigner ausdrückte) etwas »unverhältnismäßig Effektives« an sich zu haben, insofern ihre Konzepte häufig weit über ihren Entstehungskontext hinaus Anwendung finden. Wieso zum Beispiel taucht π, das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser, in statistischen Analysen von Populationsentwicklungen auf, ganz zu schweigen von der Feinstrukturkonstante, den Einstein’schen Feldgleichungen und der Definition der Plancklänge. Auf unheimliche Weise scheint das Universum in einer Art Code geschrieben zu sein – und dazu noch einem, der sich Stück für Stück entschlüsseln lässt. Wir mögen wenig oder keine Ahnung davon haben, was die Gleichungen mit Leben füllt, und doch leben wir in dieser Welt, die sie beschreiben.
»Unverhältnismäßig Effektives« Albert Einstein war kein außerordentlich begabter Mathematiker, doch wie Galilei erkannte er die Erklärungskraft der Mathematik. Es blieb aber das Rätsel, wieso sie diese Macht besitzt. »Das ewig Unbegreifliche an der Welt«, schrieb er, »ist ihre Begreiflichkeit«. Der Physiker James Hartle hat eine einfache Antwort: »Die Welt muss begreiflich sein, damit informationssammelnde und -nutzende Systeme, einschließlich Menschen wie uns, [überhaupt erst] existieren können.«
Leben füllt »Keine Frage ist erhabener als die, wieso es ein Universum gibt.« Derek Parfit
Melencolia I hat noch andere Anklänge. Die Kugel zu Füßen des Engels ist eine von Melencolia ICommentariolusKleinen Kommentar, Kopernikus’ sensationelle These zu Ohren gekommen war.