Zum Buch
In 48 Stunden steht für E. und seine Frau ein lebensentscheidendes Ereignis an, auf das sich beide über Jahre vorbereitet haben.
Den nun folgenden Zeitraum von zwei Tagen nutzt der Autor für einen autobiografischen Rückblick. Dabei stehen abenteuerliche, weltweite Fahrradgepäckreisen im Mittelpunkt. Das Reisen unter manchmal schwierigen Bedingungen hat die Partnerschaft des Paares immer wieder vor Herausforderungen gestellt, hat dadurch die Bindung gefestigt.
Diese stabile Beziehung ist nun unabdingbare Voraussetzung für das, was in 48 Stunden auf beide zukommen wird.
Zum Autor
Der Autor wuchs in den 1950ger und 1960ger Jahren in sog. einfachen, jedoch geordneten Verhältnissen auf. Sein erstes Geld verdiente er sich u.a. als ungelernter Grünkohlwäscher und Handlanger des Handlangers auf dem Bau.
Er absolvierte eine Ausbildung als Chemiker beim weltweit größten Chemiekonzern, holte das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg am Abendgymnasium nach und begann danach ein Studium der Humanmedizin. Nach Studienabschluss und Facharztausbildung arbeitete er als leitender Arzt in einer Klinik. Während des Studiums lernte er seine Frau, ebenfalls Medizinerin, kennen, beide haben einen gemeinsamen Sohn.
Hobbys des Autors sind Radfahren, Reisen, Fotografieren und Musik (hören). Er ist ein fanatischer Autodidakt und verweigerte schon im Grundschulalter die Beschulung. Dieses Buch ist sein „erster literarischer Versuch“ mit dessen Hilfe er, wieder als Autodidakt, für sich ein neues Kapitel aufschlagen möchte. Der Hobbyfotograf hat den einzelnen Kapiteln des Buches insgesamt sechzig Fotos hinzugefügt.
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Herstellung und Verlag
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978 375 044 766 0
Für Engel
Mein Glück
Ein Phänomen, das im Alter von ungefähr elf Jahren erstmals auftrat, möchte ich vorab schildern. Es war so beeindruckend, dass es die Sicht auf mich selbst im weiteren Verlauf meines Lebens sehr beeinflusst hat. Es war so außergewöhnlich, dass ich die genauen Gegebenheiten noch im Detail benennen kann.
In dieser Zeit ging ich sonntags zur Oma und Tante, die zusammenlebten, zum Mittagessen. Nach dem Essen trat ich einen ungefähr 45-minütigen Heimweg an. Ich ging wie immer flotten Schrittes und war nur noch fünf Minuten von zuhause entfernt, als ich plötzlich das Gefühl hatte, ich träte aus mir heraus! Es war nicht ein Gedanke, als ob ich aus mir heraus träte, sondern ich ging auf einmal neben mir her (links neben mir her). Wie ein Zwilling seiner selbst betrachtete er von außen den, aus dem er hervorgegangen war. Es war so, dass von nun an eine leere Hülle mit identischer Physis und simultanen Bewegungen neben dem Zwilling her lief. Dieser Zwilling dachte alleinig und selbstständig, um nach vielleicht 15 bis 30 Sekunden zu schmelzen, wieder mit der Hülle zu verschmelzen, eins zu werden.
Oma und Tante waren nicht dafür bekannt, dem Elfjährigen zu Mittag Alkohol zu servieren und standen auch nicht im Verdacht, Halluzinogene unter das Essen zu mischen.
Ich reagierte auf dieses Phänomen mit Erstaunen, trotz dieser Außergewöhnlichkeit jedoch relativ gelassen. Ich war nicht verängstigt, hatte eher den Wunsch, diese Situation noch einmal zu erleben, vielleicht sogar bewusst herbeiführen zu können, was mir jedoch nicht gelang. Allerdings trat dieses Phänomen in der folgenden Zeit wiederholt spontan auf, immer im wachen Zustand, ohne äußere Impulse.
Der/Die geduldige Leser-in (ich nenne in der Folge nur noch die Leserinnen- , gemeint sind gleichzeitig auch die Leser) wird nun vielleicht, insbesondere wenn sie sich mit S. Freud auseinandergesetzt hat, der Gedanke an das Ich , Überich und Es der psychoanalytischen Theorie kommen. Nein, - das ist es nicht was das Geschilderte trifft. Auch eine dissoziative Störung ist nicht das, was das Ding erklärt. Es kommt hier eher dem nahe, was I. Kant mit dem Begriff Phänomen beschreibt.
In der nachfolgenden Erzählung werde ich zwischen dem Ich-Erzähler und dem Er-Erzähler (Personalem Erzähler) wechseln. Dieser Wechsel ist dem Phänomen geschuldet, welches ich der ausharrenden Leserin geschildert habe. Es ermöglicht mir, unterschiedliche Abstände in Bezug auf die Dinge einzunehmen. Ich bin ich, und er ist er. Er hat den Namen E. E. nicht nur, weil es der Er ist, sondern auch stellvertretend für das englische Wort "Empty". E. ist der, der die leere Hülle zurücklässt und diese von außen betrachtet. Nicht zuletzt beginnt auch mein zweiter Vorname mit E.. Kaum jemand kennt ihn, meinen zweiten Vornamen. Und würde jemand diesen Namen rufen, ich würde mich nicht umschauen.
Wenn lang geplante, außergewöhnliche Dinge endlich ihren Lauf nehmen, dann kreisen die Gedanken und auch die Gespräche häufig um Banalitäten. Die Erklärung dafür ist schnell gefunden. Insbesondere wenn das Außergewöhnliche unangenehm ist, trägt die Beschäftigung mit den banalen Dingen zur Ablenkung bei.
Nicht anders war es, als E. und seine Frau an einem Montagmorgen relativ wortkarg im Auto saßen. Es war Januar und recht frühzeitig und kalt und noch dunkel. E. ging die Liste von vermeintlich wichtigen Dingen durch, die unbedingt erledigt sein mussten, die er als abgeschlossen hinter sich lassen wollte, um sich Neuem zuwenden zu können.
Wie fast immer war er der Fahrer. Er machte nicht seiner Frau die Fahrkünste streitig, sondern ihm wurde seit früher Kindheit als Beifahrer übel. Bei kurvenreicher Strecke wurde ihm sogar als Fahrer blümerant. Dies war einer von vielen Gründen, dass er, wenn immer möglich, Fahrrad fuhr.
Das Radfahren tat E. seit früher Jugend und es war seine Passion. Es konnten pro Jahr durchaus viele 1000 km sein und während "guter Zeiten" gab es Jahre, in denen die Marke von 10 000 km überschritten wurde. Nicht nur zur Vermeidung von Übelkeit fuhr E. Rad. Er hatte Freude daran, sich aus eigener Kraft fortzubewegen. Ohne fremde Hilfe war er es gewohnt auszukommen, auskommen zu müssen, Ziele zu erreichen. Das hatte ihn selbstbestimmt gemacht. Von seinem Vater kannte er die Redewendung "Selbst ist der Mann". Wenn der Vater es geschafft hatte, einen Nagel gerade in die Wand zu schlagen, oder nach ähnlich großen Taten hörte er häufig diesen Spruch, ohne ihn anfänglich richtig deuten zu können.
Nun jedoch war Schluss mit der Selbstbestimmung. Die Situation hatte sich binnen 2 bis 3 Jahren um 180° gedreht. Letztendlich wusste er es schon viel länger, in welche Richtung es mit ihm geht und was am Ende bevorstehen würde. Doch E. hatte es immer wieder geschafft, für kurze Zeiträume die Tatsachen zu verdrängen und seine Frau unterstützte ihn dabei, indem sie sich zuversichtlich zeigte. Letztendlich war es dann aber auch seine Frau, die ihm die Möglichkeit eröffnete, eine für E. akzeptable Alternative zu finden.
Diese Strecke, die sie an diesem tristen Januarmorgen mit dem Auto fuhren, kannten beide in Teilabschnitten sehr genau. Besonders dort, wo der Fahrradweg die Straße kreuzte, kamen E. Erinnerungen. Diese Anfahrt wurde von ihnen häufig genutzt, weil sie zum nächst größeren Flusstal führte. Es war dann wunderschön, an diesem Fluss über große Distanzen entlang zu radeln, ohne vom Autoverkehr gestört zu sein. An diesem Fluss ohne Quelle war übermorgen, also mittwochs, geplant, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Wie das Unternehmen ausginge, war nicht abzusehen, es gab zu viele Unwägbarkeiten, zu viele Variable.
Nie hätte E. vor etwa fünf Jahrzehnten gedacht, als er weiter nördlich das erste Mal mit dem Fahrrad den Fluss querte, dass ihn das Leben einmal in eine so ausweglose Situation bringen könnte. Damals war er auf dem Weg nach Norden. Einige 100 km weiter nördlich fieberte er einem Wiedersehen entgegen, dessen Ausgang damals ebenfalls ungewiss war. Die Erwartungen vor 50 Jahren waren allerdings, im Gegensatz zum aktuellen Januarmorgen, damals erfreulicher Natur.
Die Klasse 8b, deren Klassensprecher ich war, war bei der Lehrerschaft als disziplinarisch schwierig bekannt und insgesamt unbeliebt. Weder die Fachlehrer noch der Klassenlehrer kamen mit den 30 Schülern, die ca. je zur Hälfte Jungen und Mädchen waren, zurecht. Es musste also ein Klassenlehrer her, der Ordnung in die Klassengemeinschaft brachte. Da bot sich ein Junglehrer an, der sich dort bewähren konnte. Zum Erstaunen seiner Kollegen hatte dieser die Klasse schnell im Griff. Er schaffte das mit einer Mischung aus kumpelhaftem Umgang und konsequenter Härte wenn gesetzte Grenzen überschritten wurden, was auch ich gelegentlich zu spüren bekam. Nach einem Schuljahr lief alles so gut, dass der Pädagoge als erster in der Schule ein Experiment wagte. Die anstehende Klassenfahrt ging nicht, wie seit Jahren üblich, in das damalige West Berlin, sondern erstmals ins Ausland nach Kopenhagen.
Dänemark und insbesondere seine Hauptstadt mit ihrer Ansiedlung Christiania stand bei den Jugendlichen sehr hoch im Kurs. Bei der Anreise wurde ein Zwischenstopp in Nyköbing auf der Insel Falster eingelegt. Die Unterbringung dort war in der Jugendherberge, abends ging es in die ortsansässige einzige Disco.
Für mich zeigte sich die Situation in dem spärlich beleuchteten Raum, was Tanzpartnerinnen betraf, anfänglich als ungünstig. Die Mitschülerinnen, auf denen erst einmal das Hauptinteresse ruhte, waren entweder schon vergeben oder sie hatten kein Interesse oder ich hatte keines. Beim Blick in die Runde fielen wegen der dämmrigen Beleuchtung sowieso die meist blonden einheimischen Mädchen auf. Der Umstand, dass Blondhaarige im Dunkeln besser sichtbar sind, gilt heute bei einigen Wissenschaftlern als eine Theorie für die genetische Selektion der Hellhäutigen und Blonden in Skandinavien. Diese Menschen hatten in grauer Vorzeit in den schlecht beleuchteten Höhlen des Nordens während des langen Winters eine bessere Chance, gesehen zu werden. So war es dann auch mit Lene, die ich in einer Gruppe anderer einheimischer blonder Mädchen sah und die ich erfolgreich zum Tanzen aufforderte. Dieses Ausscheren aus der Klassengemeinschaft fiel sofort auf. Es fiel zuerst den Klassenkameradinnen auf und führte insbesondere unter denen, die zuvor kein Interesse gezeigt hatten, zur Diskussion. War es denn fair, sich während einer Klassenfahrt außerhalb der Klassengemeinschaft zu stellen und nach einem fremden Mädchen zu suchen? Waren sie nicht gut genug, dass so etwas notwendig war? Der Spott ließ nicht lange auf sich warten, als ich den Namen des Mädchens kundtat. Lene, so hießen damals unsere Großmütter. Lene, das sorgte bei Susannes, Angelikas und Petras für Erheiterung.
Lene Nilson hatte neben ihrem blonden Haar noch einen Vorteil. Sie sprach, weil sie eine deutsche Mutter hatte, Deutsch. Dieser Umstand ersparte mir, mein schlechtes Englisch zur Sprache zu bringen. So entstand in den wenigen Stunden in der Disco ein intensiver Austausch, der letztendlich auch mit dem Austausch der Adressen endete. Lene war damit für mich schon vor Erreichen des eigentlichen Highlights, Kopenhagen, der Höhepunkt der Reise.
Kopenhagen, das ich noch sehr häufig besuchen sollte, fiel neben seinem schönen Stadtkern dadurch auf, dass hier ein reger Fahrradverkehr herrschte. Vor dem Bahnhof standen und lagen hunderte herrenlose und damenlose Räder, die denen zur freien Nutzung zur Verfügung standen, die sich von A nach B bewegen wollten. Das lief sicherlich etwas chaotisch ab, weil es nicht organisiert war. Die Idee aber war da, wir als Besucher waren sehr beeindruckt von der Freiheit. Um auf die gleiche Idee zu kommen und das Fahrrad in die Stadt als Fortbewegungsmittel zu integrieren, haben die meisten anderen Städte in Europa noch weitere 50 Jahre Bedenkzeit gebraucht. Der Junglehrer, der immer größeres Vertrauen in die Loyalität seiner Klasse bekam, war auch vom liberalen Umfeld der Stadt sehr angetan, was darin gipfelte, dass die Klasse bestehend aus 15- jährigen mit dem Bus zum Tivoli fuhr. Alle durften frei in den weltbekannten Freizeitpark ausschwärmen. Vereinbart wurde ein Treffpunkt am Bus, kurz nach Mitternacht, nachdem das nächtlich stattfinde Feuerwerk abgebrannt war. Bis auf ein Mädchen waren alle zum vereinbarten Zeitpunkt am Bus. Bei dem fehlenden Mädchen handelte es sich um die Klassenbeste, die als zuverlässig und auch als unnahbar galt. Dem Junglehrer war etwas Panik anzumerken, umso mehr, als am nächsten Morgen die Dame immer noch nicht in der Jugendherberge aufgetaucht war. Erst zum Frühstück fuhr sie mit dem Taxi vor. Gemunkelt wurde, sie sei in Begleitung eines Afrikaners gewesen. Die sofortige Heimreise der Delinquentin wurde organisiert. Sichtbare Folgen hinterließ dieses Abenteuer weder bei der Klassenbesten noch beim Klassenlehrer.
Während der kommenden Wochen nach Heimkehr von der Klassenfahrt lief ein reger Briefverkehr zwischen Deutschland und Dänemark. Lene und ich waren uns einig, dass es zu einem Wiedersehen kommen musste. Dass das Treffen wieder in Dänemark statt finden würde, war von Beginn an klar. Was auch sicher war, meine Eltern würden den Exkurs nicht erlauben. Nicht klar waren ebenso die Reisemodalitäten und woher das Geld für die Reise kommen sollte. Preiswert reiste man natürlich mit dem Fahrrad. Es fand sich ein Klassenkamerad, der mit radeln wollte und mir zudem auch noch eine Geschichte lieferte, die ich meinen Eltern präsentieren konnte, um zwei bis drei Wochen abwesend zu sein. Wir würden mit dem deutlich älteren Schwager des Klassenkameraden zu dessen Tante mit dem Auto nach Hamburg fahren, um dort eingehend die Stadt zu besichtigen. So ganz gelogen war die meinen Eltern präsentierte Variante nicht. Wir planten über Hamburg zu fahren, die Tante gab es wirklich, wir würden zudem bei der Tante übernachten und die einschlägigen Viertel in Hamburg würden wir auch erkunden. Der Klassenkamerad hatte kein Problem mit der wahren Geschichte bei seinen Eltern. Sein Vater war als junger Handwerksbursche nach Rom gelaufen und somit war ein grundlegendes Verständnis vorhanden. Was die Finanzierung der Unternehmung betraf, gab es die Möglichkeit, während der ersten drei Wochen der Schulferien in der ortsansässigen Konservenfabrik zu arbeiten. Dort suchte man während der Erntezeit immer Saisonarbeiter.
Tätigkeiten als Hilfskraft an der Erbsendreschmaschine wurden angeboten, später im Herbst auch Stellen als Grünkohlwäscher.
Lohnzuschläge gab es für Nachtarbeit im Lager oder für Arbeiten im Kühlhaus bei -20°, wo einem die Luft stockte, wenn man es betrat. Zusätzliche Einnahmen konnten erzielt werden, wenn man ein bis zwei aus Polen gelieferte Körbe mit Blaubeeren bei Seite stellte, um sie am nächsten Tag preisgünstig an die einzige italienische Eisdiele vor Ort zu verkaufen. Dort wurde nicht nach der Herkunft gefragt.
Die drei Wochen Vorlauf verschafften zudem Zeit, um neben der Erwerbstätigkeit das Equipment zu warten bzw. zu beschaffen, was bei mir im Verborgenen geschehen musste. Gewundert haben sich die Eltern über den Wartungsaufwand, den ich dem Fahrrad widmete. Campingsachen waren zuhause vorhanden, jedoch hätte der Abtransport auffallen können, sodass ich alles unberührt ließ. Ein Zelt bekamen wir von einem Klassenkameraden angeboten. Der hatte es von seinem Großvater geerbt, der es aus dem ersten Weltkrieg gerettet hatte. Es war eine Art Cote aus dunkelblauem, schon reichlich durchsichtigem Leinen, die durch eine in der Mitte aufzustellende rostige Stange aufgerichtet wurde. Da uns der Zustand der Behausung bezüglich Wasserdichtigkeit bedenklich vorkam, steuerte der Mitradler seine Kinderindianerzeltplane als Überwurf bei. Eine Kochstelle fanden wir noch am Arbeitsplatz. Es war eine aus Blech bestehende Halbkugel, aus der oben ein fingerdicker Docht herausragte. Diese konnte mit ca. 1,5 Litern Heizöl bzw. Diesel gefüllt werden. LKW-Fahrer benutzten dieses Gerät als Warnfackel bei Pannen. Wir befüllten es aus einer mitgeführten Bierflasche bei Bedarf und nutzten es als mächtig rußende Kochstelle.
Eine Wette wurde noch mit einem Mitschüler abgeschlossen. So ausgestattet wollten wir nicht nur Kopenhagen, sondern auch Oslo mit dem Rad erreichen! Die halbe Schule wusste inzwischen, dass ich mich auf den Weg zu Lene machen würde. Auch meine zwei Jahre jüngere Schwester war somit darin unweigerlich eingeweiht, hielt aber ihr versprochenes Schweigen, vorerst. Nur meine Eltern wussten nichts.
Der Start war unspektakulär. Pannen kann ich bei der geschilderten defizitären Ausrüstung schon vorweg aufzählen, es waren zwei. Wenige Kilometer nach Aufbruch klappte meinem Kumpanen der Dynamo zwischen die Speichen des Vorderrades, was ohne Folgen auf Speichen und Felge blieb. Wir fuhren alte, solide, damit allerdings auch schwere Räder ohne Gangschaltung. In der ersten Nacht ereignete sich bereits auch die zweite Panne. Es brach die schon erwähnte rostige Zeltstange der Cote. Sie wurde durch einen passgenau geschnitzten Ast ersetzt. Damit waren für die gesamte Reise alle Schwachstellen der Ausrüstung aufgedeckt und beseitigt.
Auf eine weitere detaillierte Schilderung unserer umfangreichen Ausrüstung möchte ich verzichten, um die zugeneigte Leserin nicht zu sehr zu strapazieren. Wir reisten mit großem Gepäck. Wer heute mit großem Gepäck reist, dem wird meistens zurecht unterstellt, dass er nicht auf seinen alltäglichen Luxus verzichten möchte und Überflüssiges mit sich führt. Wer heute mit kleinem Gepäck unterwegs ist, dem wird meistens zu Unrecht zugeschrieben, er sei genügsam. In der rechten Hosentasche das Smartphone und in der linken die gut gedeckte Kreditkarte ist es heute einfach, mit leichtem Gepäck unterwegs zu sein. Mein Kumpane und ich müssen aus heutiger Sicht auf unseren vollgepackten Rädern wie urzeitliche Wesen, wie Dinosaurier ausgesehen haben. Wir führten alles, einschließlich Lebensmittel mit uns, um die Kosten der Reise auf ein Minimum zu reduzieren. Das Budget war trotz dreiwöchiger Arbeit in der Konservenfabrik sehr knapp. Waren wir es überdrüssig, gegen Durst immer nur Wasser zu trinken, wurde dem Wasser eine Spur Erdbeersirup beigemischt. Diesen Sirup hatte die Mutter schon ein Jahr zuvor aus selbst angebauten Erdbeeren hergestellt, er war inzwischen geliert und setzte sich immer wieder in feinsten Partikeln auf dem Boden des Bechers ab, musste immer wieder durch Umrühren in einen schwebenden Zustand versetzt werden. Einen Exzess leisteten wir uns zum Geburtstag meines Kumpanen wenige Tage nach Abreise. Er gab abends in der Dorfkneipe ein Glas Bier aus. Wir waren im wahren Sinne des Wortes Kumpanen, (cum =mit , pan = Brot) zwei, die miteinander das Brot teilten.
Es war auch in Norddeutschland in diesem Juli Sommerwetter, als wir den Fluss ohne Quelle mit den Rädern überquerten. Auf einem Campingplatz zu übernachten, war uns zu teuer. Wir verließen die Straße, bogen in einen kleinen Weg, von dem ein noch kleinerer Weg abzweigte, der nach einigen hundert Metern endete. Hier fand sich ein sehr schöner Platz zum Zelten auf Moos und Heide Untergrund, umgeben von kleinen Kiefern. Trink- und Waschwasser entnahmen wir einem Wassersack, dessen Kapazität sehr begrenzt war und dessen Wasser etwas nach Gummi schmeckte. Schnell schliefen wir ein, da wir vom Fahren in der Hitze des Tages sehr erschöpft waren. Es war am frühen Morgen, die Dämmerung hatte erst eingesetzt, als wir von lautem Dröhnen und Rasseln geweckt wurden. Das Geräusch war sehr bedrohlich, kam schnell näher, wurde ohrenbetäubend laut, um sich dann wieder zu entfernen. Das ganze geschah binnen weniger Sekunden, war für uns nicht einzuordnen und wiederholte sich nach kurzer Pause. Aufklärung war angesagt. Den Kopf zögerlich zur Erkundung aus dem Zelt gestreckt, sah ich, die Lage war ernst, sehr ernst. Wir hatten unwissentlich auf dem Truppenübungsplatz der Bundeswehr übernachtet und waren jetzt offensichtlich einem Panzerangriff ausgeliefert. Eine Panzerspur führte wenige Meter neben unserem Ersteweltkriegszelt her. Sie hatten uns offenbar noch nicht entdeckt, was wir dem Indianerzeltüberwurf aus den Kindertagen meines Kumpanen zu verdanken hatten, der Überwurf war tarnfarben. Um beim nächsten Angriff nicht überrollt zu werden, wurden wir sehr schnell, packten notdürftig die Sachen und traten den Rückzug von der Front an, um uns weiter Richtung Hamburg auf den Weg zu machen.
Wir hatten keine brauchbare Straßenkarte dabei. Die Fahrtrichtung resultierte eher aus geographischen Kenntnissen des Erdkundeunterrichtes, basierte also auf dem Dirke-Atlas. Dieses Wissen ließ uns darauf schließen, dass wenn wir uns Hamburg von Süden her näherten, wir die Stadt in einem südlich gelegenen Stadtteil betreten, in diesem Fall befahren würden, also Hamburg Harburg. Sowieso verließ ich mich, was unseren Hamburg Aufenthalt betraf, ganz auf meinen Kumpanen, dessen Tante wir aufsuchen wollten. Er kannte die Stadt schon, wie er mit einem gewissen Augenaufschlag und bedeutungsvoller Stimme kundtat, von wiederholten Besuchen bei der Tante. Die Tante wohnte im Norden der Stadt. Einen Stadtplan hatten wir nicht und der Kumpane kannte sich offensichtlich eher im Norden der Stadt aus. Es war Feierabendverkehr, Radwege gab es nicht. Zwischenzeitlich bemerkte der Kumpane, er erkenne Dinge wieder. Ich musste es ihm nachsehen, dass er Probleme mit den Örtlichkeiten hatte, die Stadt war im Wandel. Im Umfeld entstanden immer mehr neue Autobahnen und vierspurige Stadtautobahnen.
Die Hamburger waren nicht so stur, wie man ihnen nachsagte. Häufig grüßten sie sogar aus ihren Autos mit heftigen Bewegungen. Wir interpretierten auch das Hupen als Erstaunen und Anerkennung für die beiden Radfahrer, die offensichtlich schon weit gereist waren. Räder, derart beladen, sah man damals selten. Wir kamen plötzlich viel besser voran, besser als auf diesen kleinen Stadtstraßen. Dort musste man häufig absteigen, schieben, teils steile Rampen auf Fußwegen heraufschieben oder die Räder sogar Treppen herauf und wieder herunter tragen. Das hindernisfreie Fahren hatte schnell ein Ende, als neben uns die Polizei mit Blaulicht auftauchte. Zunächst fühlten wir uns gar nicht angesprochen. Welche Polizei würde schon, nur wegen zweier Radler, das Blaulicht einschalten. Als sie neben uns hielten, mussten wir realisieren, dass es doch wir waren, die sie im Visier hatten. Wir bewegten uns auf einer vierspurigen Stadtautobahn ohne Seitenstreifen. Das war der Grund für unser schnelles Vorankommen und auch der Grund für die vermeintlich freundlich grüßenden Hamburger Autofahrer. Mit dem Titel "ihr Ochsen" wurden wir von der Polizei zur nächsten Ausfahrt eskortiert. Von dort kämpften wir uns weiter durch die Stadt bis zur Tante.
Den Luxus, frisch geduscht am Tisch zu sitzen und zu essen soviel wir wollten, aus verschiedenen Speisen auswählen zu können, nahmen wir nur kurz in Anspruch. Wir wollten uns am Abend Hamburg ansehen, da wir planten, am Morgen des folgenden Tages die Stadt schon wieder in Richtung Norden zu verlassen. Hamburg reduzierte sich in unseren Köpfen auf die Reeperbahn. Mein Kumpane ließ durchblicken, dass er sich in diesem Viertel durchaus auskenne, schließlich war er seit einigen Tagen ein Jahr älter als ich. Zudem hatte sein deutlich älterer Schwager ihm Verhaltensregeln, die unbedingt zu beachten seien, mit auf den Weg gegeben. Der wichtigste Tipp war folgender: wenn man im Milieu eine Gaststätte, sprich ein Etablissement betrat, war als erstes geboten, nach einer Getränkekarte Ausschau zu halten. Man sollte nur Getränke bestellen, die auf der Karte mit dazugehöriger Preisangabe aufgelistet sind, ansonsten könne man böse Überraschung erleben!
Als wir Sankt Pauli erreichten, war ich erst einmal überrascht. Es handelte sich um einen ganz normalen Stadtteil. Rückblickend weiß ich allerdings nicht, warum mich diese Tatsache überraschte. Nun aber steuerten wir zielstrebig den Rotlichtbezirk an, um eine Lokalität aufzusuchen, von der wir annahmen, dass diese unseren Erwartungen gerecht werde. Draußen auf der Straße war es noch hell, wodurch etwas vom Flair der Umgebung verloren ging. Dieses Manko wurde jedoch schlagartig kompensiert, als wir das Etablissement betraten. Der Raum wurde von rötlichem Licht spärlich ausgeleuchtet. Wir waren die einzigen Gäste, was um diese frühe Stunde, es war ca. 20 Uhr, nicht verwunderlich war. Es gab eine Theke, die ums Eck reichte. Der Raum war mit Teppichboden, recht klobigen Sitzmöbeln und sehr robusten Tischen ausgestattet. Die Akustik war gedämpft, es lief leise Musik im Hintergrund. Zu sehen war nur der Barmann, der genau so robust wie die Tische aussah. Am von der Bar am weitesten entfernten Tisch nahmen wir Platz. Eine Getränkekarte, deren Wichtigkeit der Schwager hervorgehoben hatte, existierte nicht. Als der Barmann kam, um die Bestellung aufzunehmen und wir nach der Karte verlangten, schaute uns dieser grimmig an. Im zweiten Anlauf brachte er die Karte und warf sie uns auf den Tisch. Die Getränkewahl war schnell getroffen. Das preisgünstigste war ein kleines Bier, wobei preisgünstig relativ war. Für uns kostete es ein Vermögen, das ein riesiges Loch in der Reisekasse hinterließ. Parallel zu den zwei Bieren kamen kurz darauf noch zwei Damen zu uns an den Tisch. Damit relativierte sich der Bierpreis allerdings erneut, dieses Mal zu unseren Gunsten, dachten wir. Nach einem kurzen Wortwechsel, in welchem wir den Anlass unseres Aufenthaltes in Hamburg schilderten, fragte eine der Damen, ob sie etwas trinken dürfe. Sicher durften sie etwas trinken, soviel sie wollten. Konnten wir ihnen das Trinken verbieten? Es fand ein kurzer Blickkontakt zum Barmann statt, ein bestätigendes Nicken und schon hatten die beiden Damen zwei Sektgläser mit sprudelndem Inhalt in den Händen. Wir prosteten uns zu, wobei sie erheblich näher rückten, für mich zu nahe. Auch meinem Kumpanen war die Nähe eher unangenehm. Sowieso waren die beiden Damen nicht unbedingt die Altersklasse, mit der wir hätten etwas anfangen können. Ich taxierte sie auf Anfang zwanzig, wäre die Beleuchtung heller geworden, vielleicht sogar schon Mitte zwanzig.
Nun tauschten der Kumpane und ich Blicke aus und es war klar, wir wollten zahlen, was wir auch kundtaten. Die Rechnung war schnell auf dem Tisch, wies zwei Bier zum auf der Karte angegebenen Preis aus und zusätzlich zwei Gläser Champagner. Zusammen ergab sich ein Saldo in astronomischer Höhe. Auch wenn wir gewollt hätten, wäre uns angesichts unserer Barschaft eine Begleichung der Rechnung nicht möglich gewesen. Als wir reklamierten, nicht wir, sondern die Damen hätten Champagner bestellt, kam es zu einer heftigen Diskussion. Die Lage wurde ernst, insbesondere weil wir immer noch die einzigen Gäste im Lokal waren. Wir zählten das Geld für zwei Bier ab, legten es auf den Tisch und beeilten uns, den Ort zu verlassen, damit rechnend, dass es zu Handgreiflichkeiten kommen könnte. Auf dem Weg zum Ausgang schrie uns der robuste Barmann hinterher: seht zu, dass ihr euch verpisst, ihr Ochsen! Ihr Ochsen, so hatten uns doch am gleichen Tage schon die Polizisten genannt. Ich machte mir Gedanken, ob es die Leute herausforderte, diesen Titel zu benutzen, wenn sie uns beide sahen. Vielleicht aber war es nur eine allgemeine in Hamburg gängige Unmutsäußerung? Draußen angekommen, schauten wir uns immer wieder um, ob uns jemand folgte, um doch noch die richtige Abrechnung zu machen. Es geschah jedoch nichts und wir beendeten den Besuch auf der Reeperbahn sehr schnell, ohne ein weiteres Lokal aufzusuchen. Wir mussten am nächsten Morgen früh raus, Lene wartete.
Wir schafften es wirklich, am kommenden Morgen relativ frühzeitig zu starten. Das Verlassen der Stadt in Richtung Norden war wesentlich unspektakulärer, als das Durchqueren am Tag zuvor und verlief ohne Polizeibegleitung. Das Wetter war weiterhin beständig, schnell hatten wir die Landesgrenze zu Schleswig-Holstein passiert. Wir hielten auf Heiligenhafen zu. Diese Stadt war mir aus meiner Kindheit bekannt. Das war der Ort, an dem ich zum ersten Mal in meinem Leben das Meer gesehen hatte. Solch einen Ort vergisst man nicht. Ich erinnere mich, dass meine Schwester und ich damals, unter größtem Protest unserer Mutter, trotz schlechten Wetters und hoher Wellen, sofort ins Meer liefen.
Jetzt hatten wir die Fehmarnsundbrücke vor Augen, sie machte auf mich einen eleganten Eindruck und roch nach großer, weiter Welt. Solch eine Brücke, die das Meer überquert, mit dem Fahrrad zu passieren, war sehr eindrücklich. Das verschaffte mir, insbesondere weil wir zu diesem Zeitpunkt schon eine ansehnliche Distanz zurück gelegt hatten, einen hohen Grad an Zufriedenheit. Die Brücke war für mich die Golden Gate für Arme. Die im weiteren Verlauf zurückzulegende Strecke nach Puttgarden trägt den Namen Vogel Flug Linie. Auch dieser Name hatte für mich den Odem von Freiheit. Ich befand mich das erste Mal in meinem Leben mit dem Fahrrad auf dem Weg ins Ausland.
Zweifel kamen allerdings, ob wir die Grenze zu Dänemark als 15-bzw. 16-jährige ohne Probleme passieren würden. Hatte nun der Flug dieser beiden Vögel in die Freiheit ein Ende? Diese Problematik realisierte ich erst jetzt. In meinem Allgemeinverständnis hatten Grenzen generell, insbesondere Staatsgrenzen, keinen Platz. Ich hatte zwar einen Pass, der mich als Deutscher auswies, ein damit verbundenes nationales Zugehörigkeitsgefühl oder gar einen Nationalstolz, empfand ich nie. Ich hatte allerdings auch nie das Gefühl der Heimatlosigkeit. Es lag mir mehr, Angehöriger einer Kulturgemeinschaft zu sein, als die Rolle eines Staatsuntertanen einzunehmen. Der Grund dieser empfundenen Staatenlosigkeit mag in der Herkunft meiner Vorfahren liegen. Meinem Vater war seine Abstammung unbekannt, er wuchs in einem Waisenhaus des Dritten Reiches auf. Die Familie meiner Mutter bestand aus Flüchtlingen, Vertriebenen, die nicht heim ins Reich wollten, dazu allerdings als Folge des Kriegsausganges 1945 gezwungen wurden. Dank meiner genetischen Herkunft wiesen mich, außer meinem Pass und meiner Sprache, nur wenige Merkmale als phänotypisch Deutsch aus. Das war im Ausland überwiegend von Vorteil, da man nicht selten, völlig unberechtigt, in Sippenhaft für Naziverbrechen genommen wurde. Peinlich konnte es allerdings werden, wenn man als deutsch erkannt wurde und sich deswegen vermeintlichem Lob aussetzen musste. So war es z.B. mit einem Taxifahrer in Chile, der von meiner deutschen Herkunft angetan war, Begründung : Adolf Hitler sei ja auch ein guter Deutscher gewesen.
Als wir in Puttgarden ankamen, schrumpften unsere voll bepackten Dinosaurierräder im Vergleich zu den Eisenbahnwaggons, welche auch auf die Fähre fuhren, zu kleinen, belanglosen Transportvehikeln. Auch die Zollbeamten waren überzeugt von unserer Harmlosigkeit und ließen uns ohne nachzufragen passieren. Wir bekamen einen Platz im Turnhallen hohen Bauch der Fähre zugewiesen, wo sich auch die Eisenbahnwaggons befanden. Jetzt kamen wir uns noch kleiner vor. Die Räder wurden festgezurrt, damit sie sich bei hohem Seegang nicht selbstständig machten. Dem gleichen Prozedere wurden die Waggons unterzogen, was bei mir keinen vertrauenswürdigen Eindruck hinterließ. Die Fährfahrt war erheblich teurer als wir kalkuliert hatten. Da wir auf gleichem Wege wieder zurück wollten und wir nun den Preis für die Überfahrt kannten, war schnell errechnet, was uns an Liquidität blieb. Es war wenig, sehr wenig. Eine Teilschuld daran trug sicher unser ausschweifender Reeperbahn Besuch. Dazu kam jedoch, dass unser von zuhause mitgeführter Reiseproviant wie Tütensuppen, Erdbeergelee, Konservendosen usw. inzwischen verzehrt war. Bevor stand uns ein Reiseland mit erheblich höherem Preisniveau, als wir es von Deutschland kannten. Ein zollfreier Einkauf an Bord fiel somit schon einmal aus. Wir atmeten stattdessen frische Seeluft an Deck. Restbefürchtungen, die dänische Grenzpolizei in Rodby könne uns Probleme beim Verlassen der Fähre machen, zerstreuten sich schnell. Auch hier lief alles ohne Nachfrage. Wahrscheinlich waren die dänischen Zöllner von der Gründlichkeit ihrer deutschen Kollegen auf der anderen Seite der Meerenge überzeugt und gingen von einer schon erfolgten eingehenden Prüfung der Verhältnisse aus. Jetzt befuhr ich also zum ersten Mal mit dem Fahrrad ein fremdes Land. Gefühlt lief das Gefährt runder, die Kurbel drehte sich leichter, obwohl es keinesfalls bergab ging. War es die Erdkrümmung, die hier im Norden stärker ausgeprägt war und mir den vermeintlich zusätzlichen Schwung gab?
Sowohl die Straßenmarkierung, als auch die Ausschilderung waren fremd. Soweit es möglich war, wählten die Dänen bei der Farbgebung ihre Landesfarben rot und weiß. Vor den Häusern fand sich fast immer ein Fahnenmast, der auch überwiegend mit der dänischen Fahne beflaggt war, weißes Kreuz auf rotem Grund. Da wir Nebenstraßen fuhren, war es häufiger notwendig, nach dem Weg zu fragen. Die Dänen, auch die ältere Generation, sprachen oft englisch, besser als wir es konnten. Der Grund dafür lag darin, dass es zu teuer war, für ein zahlenmäßig kleines Volk, englische oder amerikanische Filme zu synchronisieren. So sahen sie Filme im Originalton mit Untertitel, offenbar ein guter Englischunterricht. Schwierig wurde es allerdings bei dieser Konversation, wenn es um die Aussprache von Ortsnamen ging, nach denen wir fragten. Dass das O mit dem Querstrich Ö gesprochen wird, wusste ich. Dass Kopenhagen auf dänisch „Köbenhaun“ heißt, habe ich jedoch erst nach mehreren Tagen gelernt. Sogar unter Skandinaviern ist man sich einig, dass Dänisch wegen seiner sonderbaren Aussprache schwierig sei.
Und was war mit Lene, wird sich nun die erwartungsvolle Leserin fragen? Lene wohnte nicht weit entfernt vom Fährhafen Rodby. Wir erreichten das Elternhaus in der kleinen Ortschaft noch am frühen Nachmittag. Lene empfing uns an der Haustür und ich verspürte sofort etwas Distanz. Im Hintergrund hörte man immer wieder, wie ihre Mutter ihr etwas auf dänisch zurief. Das Haus betraten wir nicht, wir machten uns zusammen mit ihr auf den Weg zum Dorfstrand. Dieser Strand war nicht sehr einladend.
Auch Lene vermied es, uns eine Einladung für die kommende Nacht zu offerieren. Was hatte ich eigentlich von diesem Wiedersehen erwartet? Wir hatten uns vor wenigen Monaten zwei bis drei Stunden in einer schlecht beleuchteten Discothek kennengelernt und in der Folge gab es den schon erwähnten Briefwechsel. Nun standen, nach den Strapazen der Reise, zwei ziemlich verwegen aussehende Radfahrer vor der elterlichen Haustür. Es war angemessen und folgerichtig, dass höchste Vorsicht angeraten war, entsprechende Instruktionen wird Lene sicher von ihrer im Hintergrund agierenden Mutter bekommen haben. Das entsprach alles natürlich nicht den Träumen und diffusen Phantasien, die in meinem Kopf während der vergangenen Monate ihr Unwesen getrieben hatten. Wahrscheinlich hatte sich Lene das Wiedersehen auch anders ausgemalt. Nun lagen wir zu dritt auf einem kleinen mit Gras bewachsenen Deich, schauten auf die Ostsee und erzählten von unseren bisherigen Reiseerlebnissen, den Reeperbahnbesuch natürlich ausgenommen. Zu dritt, das machte alles noch unerfreulicher.
Nach zwei bis drei Stunden mussten wir uns einen Plan machen, wie und wo wir die kommende Nacht verbringen wollten. Im Garten von Lenes Elternhaus schien sich unser nächster Zeltplatz nicht zu befinden. Das wäre natürlich nicht nur preisgünstig gewesen, sondern hätte sogar auch noch die dringend notwendige Option, eine Dusche in Anspruch nehmen zu können, mit sich gebracht. Es war abends im Juli noch lange hell im Norden. Ich verabschiedete mich von Lene und sagte, dass ich mich auf dem Rückweg ggf. noch einmal melden würde. Mit diesem vagen Versprechen, von dem wir beide wussten, dass ein Wiedersehen eher nicht wahrscheinlich war, fuhren wir weiter die Erdkrümmung bergab in Richtung Nyköbing auf der Insel Falster.
Falster war bereits nach Fehmarn und Lolland die dritte Insel, die wir am gleichem Tag mit dem Rad erreichten. Wir steuerten die Jugendherberge in Nyköbing an, die wir noch von unserer Klassenfahrt her kannten. Immer wieder habe ich auf Reisen festgestellt, insbesondere wenn ich alleine unterwegs war, dass es gut ist, zwischenzeitlich einen mir schon bekannten Ort aufzusuchen. Natürlich ist es reizvoller, etwas Neues zu erkunden und nicht immer wieder die gleichen ausgetretenen Pfade zu gehen. Aber für ein bis zwei Tage an einem Platz zu sein, an dem ich mich auskenne, verschafft Ruhe und Sicherheit, insbesondere, wenn ich mich zuvor täglich auf eine neue Situation einstellen musste.
Es war in Nyköbing auch die Zeit, den weiteren Reiseverlauf zu planen. Noch einmal das Geld gezählt, da war eines auf jeden Fall gewiss, die Wette mit dem Klassenkameraden, Oslo mit dem Fahrrad zu erreichen, hatten wir verloren. Wir konnten froh sein, wenn wir noch Kopenhagen sehen würden. Wie wir dann den Rückweg meistern sollten, darüber hatten wir eher nebulöse Vorstellungen. Auf jeden Fall, das war gewiss, mussten wir auf die eiserne Reserve achten, das Geld, das uns die Fähre zurück nach Deutschland kosten würde. Das Gewicht unserer Räder verlangte uns einiges ab. Auch der inzwischen erreichte Trainingszustand ließ so ein zügiges Vorankommen nicht zu. Sollten wir ab jetzt doch besser mit leichtem Gepäck unterwegs sein? Die Jugendherberge bot uns für diesen Plan eine Möglichkeit an. Wir deponierten dort alles, was wir für überflüssig hielten in einem Spind, um es bei der Rückreise dort wieder abzuholen. Dinge, die für die Weiterreise nach Kopenhagen unseres Erachtens unbedingt notwendig waren, hatten in einer kleinen Plastikeinkaufstüte, (für jeden eine Tüte!) Platz. Das war eine Wende um 180 Grad, die zumindest einen Vorteil hatte, wir waren auf den folgenden zweimal 160 km schneller.
Das Wetter hielt sich stabil. Es war allerdings recht windig, als wir die Brücke von Falster hinüber zur Insel Seeland, auf der sich Kopenhagen befindet, überquerten. Wir kamen jedoch gut voran. Wieder war ich sehr beeindruckt, mit dem Fahrrad auf einem solch mächtigen Bauwerk unterwegs zu sein.
Meine Bedenken, in Kopenhagen als Radfahrer ähnliche Probleme wie in Hamburg zu haben, sich im Straßenverkehr zurecht zu finden, bestätigten sich nicht. Wie schon erwähnt, war die erste Hauptstadt, die ich mit dem Rad befuhr, fahrradfreundlich, was sich jetzt auch in der Praxis bewies. Auch hier steuerten wir die uns schon bekannte Jugendherberge an, das gesamte Camping Equipment war ja im Spind in Nyköbing eingelagert. Kopenhagen, das ich noch häufig aufsuchen würde, hatte bereits damals eine besondere Ausstrahlung auf mich. Eine große autofreie Altstadt gab es zu dieser Zeit in anderen Großstädten kaum. Wenn die Sonne schien, was häufig während meiner Aufenthalte der Fall war, spürte ich beim Gang durch die Fußgängerzone ein fast mediterranes Flair. Die Dänen werden von den anderen Skandinaviern gerne, wegen ihrer vergleichsweise südlichen Lage, aber auch wegen ihres Temperaments, als die Italiener des Nordens bezeichnet. Hier sollte man allerdings die Betonung auf „ des Nordens“ legen.
Wir kehrten trotz unserer finanziell prekären Lage in ein Cafe ein, was sich im weiteren Verlauf noch auszahlen sollte. Wir bestellten jeder eine Tasse Kaffee, dazu leistete ich mir mein geliebtes Wienerbröd. Es wurde ringsherum viel geraucht, was erst einmal wegen der exorbitant hohen Zigarettenpreise verwunderlich war. Auffallend war, dass von Männern Pfeife geraucht wurde, die dänische Dame rauchte offensichtlich gerne Zigarre. Den Grund für diese Vorlieben erfuhr ich erst viel später. In Dänemark wurde im wesentlichen bei Rauchwaren das Zigarettenpapier besteuert, und das brauchte man weder für die Zigarre noch für die Tabakspfeife. Der Kellner brachte Kaffee und Kuchen. Beides war wegen des seit Tagen permanent quälenden Hungers schnell verzehrt. Am Tassengrund befand sich noch Zucker, den ich dem Kaffee reichlich zugefügt hatte und den ich gerade auskratzen wollte, da stand der Kellner plötzlich neben mir und schenkte die Tasse unaufgefordert wieder voll. Das gleiche passierte bei meinem Kumpanen. Es entstand nun zwischen uns eine Diskussion, ob wir bei Verlassen des Cafes diese nicht in Auftrag gegebene Dienstleistung bezahlen sollten. Diesbezügliche Erfahrungen hatten wir ja bereits auf der Reeperbahn gemacht. Während dieser Unterhaltung tranken wir hastig den nachgeschenkten Kaffee mit reichlich Milch und Zucker. Die Tassen waren nicht einmal ganz leer, da stand schon wieder der Kellner neben uns und schenkte nach. Jetzt war das Kind nach unserer Einschätzung sowieso schon in den Brunnen gefallen und wir unterließen es erneut, diesen nicht angeforderten Service zu beanstanden. Wir tranken den Kaffee wieder mit viel Milch und Zucker. Das Procedere wiederholte sich noch zwei- drei Mal, wobei trotz gutem Tainingszustands die Herzruhefrequenz auf über 100 pro Minute stieg. Kuchen wurde von uns nicht nachgeordert. Mit großem Herzklopfen, das nun zwei Ursachen hatte, verlangten wir mit bösen Ahnungen nach der Rechnung. Die Rechnung wies zwei Wienerbröd und zwei Tassen Kaffee aus. Es war damals in Dänemark üblich, nur eine Tasse Kaffee zu bezahlen, das aufmerksame kostenfreie Nachschenken hatte Tradition.
Die Christian Andersen Statue am Rathausplatz, gegenüber dem Tivoli, mussten wir noch aufsuchen. Hier wurde das Beweisphoto aufgenommen. Beweis dafür, dass wir es zumindest nach Kopenhagen, wenn auch nicht nach Oslo geschafft hatten. Der Wettpreis der damit verlorenen Wette, eine Kiste Bier, würde sich dadurch nicht reduzieren. Diese Tatsache belastete uns aktuell jedoch eher weniger. Sorgen machte uns der Blick in unsere Portemonnaies und der Wind, der uns entgegenblies als wir Kopenhagen auf dem gleichen Weg wie auf der Hinfahrt, jedoch in umgekehrter Richtung, verließen.
Vorerst war ich froh, dass wir unser Gepäck im Spind in Nyköbing eingelagert hatten, das Vorankommen war dadurch etwas leichter. Es war trotzdem ein Kampf, der von Kilometer zu Kilometer anstrengender wurde. Dieses Mal eindeutig durch den Gegenwind bedingt und nicht dadurch, dass wir uns in Richtung Süden die Erdkrümmung wieder hinauf bewegten.
Wir hatten zwar die schon jetzt verlorene Wette abgeschlossen, nach Oslo zu radeln, hatten aber nicht gelobt, fair zu radeln. So versuchten wir, wenn in der Ferne ein Trecker zu sehen war, diesen einzuholen, um uns anzuhängen und mitschleppen zu lassen. Das bedeutete jedes Mal Lotterie zu spielen. Das Gefährt mit Anhänger war bei Gegenwind immer nur mit erheblichem Kraftaufwand einzuholen. Hatte man Glück, wurde man einen, bei großem Glück sogar zwei Kilometer mitgeschleppt.
Häufiger kam es jedoch vor, dass der Bauer schon nach wenigen Metern abbog oder schon, bevor wir ihn überhaupt erreichten, die Straße verließ. Letztere Variante war sehr frustrierend, da wir dann ohne Gewinn viele Körner verbrannt hatten. Körner wurden für uns immer rarer. Frei nach Uhlands wackeren Schwaben: „viel Steine gab´s und wenig Brot“, kamen wir am Abend in einer Kleinstadt zwischen Kopenhagen und Nyköbing an, ohne zu wissen, wo wir übernachten sollten.
Ein Cafe am Dorfplatz hatte noch geöffnet. Es hatte zu regnen begonnen und so machten wir dort Einkehr. Wir waren die einzigen Gäste, bestellten eine Tasse Kaffee, dazu ein Wienerbröd. Die nette, schon etwas ältere Bedienung brachte die Bestellung und machte uns darauf aufmerksam, dass wir uns aus einer auf dem Nachbartisch aufgestellten Thermoskanne nach Bedarf selbst nachschenken dürften. Also gab es diese Tradition, Gott sei Dank, auch auf dem Lande. Damit war das Kaloriendefizit zwar noch nicht ausgeglichen, aber vorerst war ich, wenn ich dem Kaffee nur genügend Zucker bei rührte, vor der akuten Unterzuckerung gerettet.
Es war an diesem Tag und es war diese einzige Situation an die ich mich erinnere, je in meinem Leben Hunger gelitten zu haben. Bei späteren Fahrradunternehmungen kam es nicht selten vor, dass ich im sog. Hungerast gefahren bin. Das passiert, wenn man bei längeren, anstrengenden Touren vor lauter Eifer das Essen vergisst. Man merkt dann, dass die Leistung rapide nachlässt. Auch kann es sein, dass der Umgang mit einem Mitradler zunehmend aggressiv wird. Dieser Hungerast hat jedoch nichts mit Hunger leiden gemein. Hunger leidet man, wenn über einen längeren Zeitraum zu wenig Kalorien zugeführt wurden und die Körperreserven verbraucht sind. An diesem Punkt befand ich mich in diesem Cafe.
Da es weiterhin regnete und wir nicht recht wussten, wie wir die Nacht verbringen sollten, ließen wir uns viel Zeit. Die Thermoskanne wurde von der Bedienung zwischenzeitlich immer wieder aufgefüllt. Die nette Dame begann im weiteren Verlauf die Tische intensiv zu wischen und die Stühle an die Tische zu rücken. Als uns dieses Gebaren scheinbar immer noch unbeeindruckt ließ, stellte sie an weiter entfernten Tischen die Stühle auf die Tische. Diesen Wink mit dem Zaunpfahl konnten nicht einmal wir ignorieren. Wir gingen zur Kuchentheke um zu zahlen. Die nette Dame nahm das Geld entgegen, packte alle vom Tag übrig gebliebenen Kuchenstücke in eine große Tüte und überreichte uns diese mit einem warmen Lächeln. Sie hatte uns beobachtet und wusste genau, was uns fehlte.
Mit dem großzügigen Kuchengeschenk war unser akutes Hungerproblem vorerst gelöst. Unser Übernachtungsproblem allerdings hatte sich zwischenzeitlich wegen des an Intensität zunehmenden Regens verschärft. Spätestens jetzt kamen mir Zweifel, ob es schlau war, mit leichtem Gepäck zu reisen. Kreditkarten gab es nicht, zumindest nicht für uns. Erst recht gab es keinen Dispo. Hätte mich jemand nach der Bedeutung dieses Wortes gefragt, wäre mir als Deutung nur „schlechtes Befinden“ eingefallen, was auf unsere Situation durchaus zutraf.
Wir entdeckten auf dem Dorfplatz als einzigen Unterstand eine Telefonzelle, in der wir Schutz vor dem Regen fanden. Das leichte Gepäck beinhaltete weder Kleidung zum Wechseln noch regendichtes Outfit, dessen Notwendigkeit wir bei vorauf gegangenem sonnigen Wetter völlig fehl eingeschätzt hatten. So übel fanden wir die dänische Telefonzelle nun auch nicht. Sie war relativ geräumig und es lagen die Telefonbücher aller Regionen Dänemarks aus. Nicht dass die schnell denkende Leserin vermutet, wir hätten damit nun ausreichend Lesestoff für die folgende lange Nacht zur freien Verfügung gehabt. Wir versuchten stattdessen, das Angebot zu nutzen, um es uns etwas gemütlicher einzurichten. Teils fanden die Bücher Verwendung, um zugige Ritzen abzudichten. Die dickeren stapelten wir, um eine Art Sitzgelegenheit zu schaffen. Die Zelle war beleuchtet und deshalb, es war inzwischen dunkel, von außen gut einsehbar. Bei unserem Tun wurden wir offensichtlich beobachtet und plötzlich klopfte es an der Tür. Draußen standen drei vielleicht um zwei- drei Jahre ältere Jugendliche mit Parka und langen Haaren, länger als wir sie trugen, einer hatte dazu einen recht langen Bart.
Die Verständigung mit den Dreien war schwierig. Entweder mieden sie es, nicht synchronisierte amerikanische Filme zu sehen, oder unser Englisch war zu miserabel und damit unverständlich, oder wir waren an die Dorftrottel geraten. Etwas misstrauisch war ich schon, als sie uns bedeuteten, unser gerade gemütlich eingerichtetes Heim zu verlassen, um ihnen zu folgen. Der Weg führte Dorf auswärts, die Beleuchtung wurde spärlicher. Wir machten vor einem alten, länglichen, unbeleuchteten Backsteingebäude halt. Einer der drei stieg auf eine Bank, um ein höher gelegenes Fenster zu erreichen und schlug das Glas, ohne auf Lärmschutz zu achten, mit einem Gegenstand ein, um dann recht geschickt das Fenster zu öffnen.