H. J. Hoffmann, geboren 1949 in Duisburg.
Er lebt seit 1987 in Köln, ist seit 1994 verheiratet und Vater von drei Kindern.
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© 2019 H. J. Hoffmann
www.hjuergen-hoffmann.de
Umschlagfoto: © Heinrich Cuipers
Herstellung:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7494-9252-7
Für meine Frau Margit und meine Töchter Lara und Svea in Liebe. Danke für Eure Geduld und Unterstützung.
Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben:
Die Sterne der Nacht,
Die Blumen des Tages
Und die Augen der Kinder.
Dante Alighieri (1265-1321), Göttliche Komödie,
geschrieben zwischen 1307 und 1321
Am Ende der 1940er Jahre liegen viele der größeren Städte in Deutschland immer noch in Schutt und Asche. In den 1950er Jahren werden die größten Kriegsschäden zwar weggeräumt oder auch nur kaschiert sein. Arbeitskräftemangel. Männer sind im Krieg gefallen oder noch in Gefangenschaft bei den Siegermächten, andere sind verkrüppelt und arbeitsunfähig. „Trümmerfrauen“ waren es zu wenige, um die von Männern in Trümmer gelegten Städte wieder bewohnbar zu machen. Die wenigen hatten alle Hände voll zu tun. Schutt und Asche wegräumen, Backsteine sammeln, sie - so gut es ging - zu reinigen und zu stapeln für den Neuaufbau.
Trotz oder gerade wegen der strikten Verbote und Hinweise auf die Gefahren herabfallender Bauteile, dienen Häuserruinen und Neubauten der aufstrebenden Nachkriegsjugend als willkommene Spielorte. Die Luft riecht nach einer Mischung aus verbranntem Eisen, frischem Zement, verbranntem Holz und anderem Undefinierbarem. Geatmet wird trotzdem. Die Luft schmeckt nach verbranntem Eisen und lässt Zähne knirschen.
Auf allen Hinterhöfen der Ruhrgebietsstädte schichtet sich der graue Staub aus den feuerspeienden Hochöfen der Stahlwerke. Kinder spielen. Unter ihnen: der siebenjährige Bruno. Häufig sind die spielenden Kinder im Hof farblich kaum voneinander zu unterscheiden. Auch Bruno nicht. Oft erkennt man die Kinder nur an der unterschiedlichen Lautstärke ihres Krächzens oder an den ebenso unterschiedlichen Hustentönen. Nicht umsonst machen die zugehörigen Eltern irgendwann keinen Unterschied mehr zwischen den Dreckspatzen auf den Fenstersimsen und den Dreckspatzen auf dem Hof. Manche von ihnen haben auf diese Weise das Leben in anderen Familien kennenlernen können und nach einigen Tagen feststellen müssen, dass es auch nicht besser war als im eigenen Zuhause. Bruno erinnert sich im Laufe seiner familiären Neuerfahrung an den mittäglichen Pfiff seiner Großmutter, speist ihn wieder in die ehemalig zugehörige Zelle seines Gehirns ein und folgt fortan dem altbekannten Ruf des Pfiffes.
„Bruno! - Mittagessen!“ Oder: „Raufkommen … die Lichter gehn schon an!“
Brunos Oma ist großartig. Wo andere auf dem letzten Loch pfiffen, konnte sie sowohl auf vier, gar auf zwei Fingern pfeifen. Waren die Finger zuvor anderweitig beschäftigt und in der Folge schmutzig, genügte ihr Zungendruck an den Zähnen. Die herausgepresste Luft durch ihre kleine Zahnlücke war trotzdem im gesamten Wohnareal zu hören. Gellend und wie der warnende Pfiff des Eichelhähers, der damals als ‚Polizist des Waldes‘ tatsächlich noch den Wald bevorzugte. Vermutlich, weil ihm die Stadtluft die Luft zum Pfeifen genommen hätte. Damals. Es war ein Vorteil für alle aus dem Viertel, einen Eichelhäher zu haben. Jeder wusste:
„Bei Traut jibt et Mittachessen“ oder „Die Lichter müssen wohl jrad anjejangen sein.“
Manche der Neuzugezogenen, die gegenüber der Turmuhr wohnten und einen freien Blick darauf hatten, vergewisserten sich mit einem prüfenden Blick auf die Uhrzeit. Die Uhr ging exakt nach Trautchens Vorgabe. Beide Zeiger ruhten sich auf der Zwölf aus.
Eltern und Großeltern aus den umliegenden Wohnungen hatten ihren Sprösslingen eingebläut, den auffordernden, vielleicht auch warnenden Pfeifklängen bei deren Erklingen, unbedingt Folge zu leisten - wie es Bruno artig tat. Aber bitte darauf achten, den eigenen Hauseingang zu benutzen.
Neben den spielenden Kindern trocknet auch die eingelaugte, gewaschene Wäsche auf gespannten Drähten in dem verstaubten Areal. Frisch gewaschene weiße Hemden nehmen während der Trocknung den stetig herunterrieselnden grauen Staub gerne auf. Im Übrigen macht der Staub keinerlei Ausnahme bei Kindern oder Wäsche. Selbst Henkels Persil, das angeblich reiner waschen sollte als andere Waschmittel, versagte bereits an den nur kurzfristig wie weiß aussehenden Geweben, wenn diese gerade aus den Weidenkörben das ergraute Licht der Welt erblickt hatten. Mit Persil konnten gerne auch braune Flecken entfernt werden. Kein Mensch ärgert sich über diese schöne einheitliche Farbe. Man kennt ja nichts anderes. Wer nur flüchtende weiße Farbe kennt, vermisst keine bleibend blendendweiße Reinheit. Und von Flucht konnten viele der Altvorderen ein Liedchen singen – oder pfeifen.
Was die Waschfrauen immer wieder ärgert, sind allenfalls die Fußballabdrücke der aus Tuch- und anderen Fetzen zusammengeknüllten, mit aus Hanf gezwirbelten Wäscheleinen zusammengehaltenen Fußbälle. Entsprechende Bälle aus braunem Leder sind für die jungen Fußballbegeisterten unerschwinglich teuer und nur bei der deutschen Fußball-Nationalmannschaft zu sehen. Ein Wunschtraum verstaubter Jungen. Großäugige Blicke treffen auf Schwarzweiß-Fotografien mit den weltmeisterlichen, Adidas beschuhten Füßen von Fritz Walter, Max Morlock oder Helmut Rahn. Es sind die Fotos, die der heimlichen Sehnsucht Ausdruck geben. Abgestellte Füße auf ruhenden Bällen. Bruno ist das alles egal. Er wird nur im allerhöchsten Notfall gezwungen, sich einer Gruppe anzuschließen, die gegen die Kugel tritt. Also allerhöchstens dann, wenn es einen Spieler zu wenig gab, um eine „Mannschaft“ eine solche nennen zu können. Bruno kann nur Bananenflanken, und das auch noch lange bevor dieser Begriff durch die hohe Kunst des Manfred Kaltz beim Hamburger Sportverein kreiert, verfeinert und in einer späteren Nationalelf von ihm zur gefürchteten Flankenvariante perfektioniert werden wird. Brunos Flanken hingegen verweigern konsequent jede Flugbahn in Richtung gegnerischem Tor. Sie bevorzugen die entgegengesetzte Richtung. Bruno hatte „Erbsen inne Schuhe“. Eine größere Verachtung für falsch eingehängte Füße konnte einem Jungen kaum bis gar nicht widerfahren. Bruno wird in seinem Leben nie mehr gegen einen Ball treten, und sei dieser aus dem besten Leder genäht und mit Luft aufgepumpt. „Kein Traum, ein Trauma“, sagt er heute.
Manchmal, wenn es hieß, „die Lichter gehen schon an“, rief die Oma schon mal in freundlichem Ton dem kleinen Bruno zu:
„Un bring dinge Ball mit!“
Es bleibt stets das gleiche Problem. Wenn Bruno schon mal einen dieser Plastikbälle geschenkt bekommen hatte, war es so sicher wie Omas Amen in der Kirche: Brunos Ball war bereits von den fußballspielenden Jungs konfisziert. Wie gewonnen, so zerronnen.
Und was ist mit dem Gedanken an staubfreie Lungen bei Kindern? Nichts! Kein Mensch macht sich Gedanken darüber. Unwissend ob der chronischen Langzeitwirkung in deren Lungenflügeln. Es wird in den 2010er Jahren und später noch über die Gefährlichkeit von Feinstaub debattiert werden. Es wird einige sogenannte Feinstaubfilter in Autos und Industrieanlagen geben. Hurra! Aber die stetig steigende Anzahl von Kraftfahrzeugen wird weiter Feinstaub durch Reifenabrieb produzieren. In mehr als zwei nachfolgenden Generationen wird das Resultat gleich null sein! Wer sollte das nach dem Krieg wissen? Keiner! Der Langzeitwirkung gefährlicher Stäube in den Lungen der Kinder aus den Nachkriegs- und den sogenannten Wohlstandsjahren wird nicht nur keine Bedeutung beigemessen, sondern sie wird einfach ignoriert werden. Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß.
Was haben die Menschen jener Zeit gemacht? Sie haben Farbunterschiede festgestellt und darauf reagiert. Die Frauen kaufen ihren Männern graue Unterhemden. „Da sieht man wenigstens nicht alles drauf.“
Gehen wir also zurück in die Zeit der Grautöne. Frauen tragen Kittelschürzen und lassen nackte Oberarme unbedeckt. Und das nicht nur zu Hause. Sie tragen ihre ärmellosen Kittelschürzen auch beim Einkaufen. Ihre nur einmal in der Woche gewaschenen Haare, in der Regel also „aus dem Lot“ geraten, also vom Staub statt Haarfestiger in helmgleiche Formen gebracht, also struppig. Das Waschen der Haare verlieh nur sehr kurzzeitig ein Gefühl der generellen Sauberkeit. Durchgerubbelt bis an die Grenze der Feuchtigkeitsaufnahme eines handelsüblichen Handtuches, muss die Restfeuchte einer Lufttrocknung ausgesetzt werden. Ein Föhn ist so unbekannt wie Kolumbus. Aber es freut den Staub in der Luft, der sich sogleich wieder über den frischen Duft legt.
Kopf und Haare werden beim Einkaufen und beim sonntäglichen Spaziergang mit Kopftüchern bedeckt. Die Frauen sehen aus wie die spätere englische Königin Lisbeth bei ihren Pferden im Stall. Und die Queen darf das immer noch. Kopftücher haben damals niemanden erregt! Man kann’s kaum glauben, obwohl es in heutiger Zeit Diskussionen über das Tragen von Kopftüchern gibt. Bei anderen - und vor allem - fremden Religionen wird das kritisiert und geächtet. Bei den Frauen in den Nachkriegsjahren war das normal. Mit der Zeit ändern sich geschichtliche Gepflogenheiten und mit ihnen das geschichtliche Gedächtnis. Die damit verbundene und notwendige Relativierung und das Gefühl für Gleichbehandlung zerbröselt und wird zu Staub. Mit Verlaub, sagt Bruno heute:
„Auch die Frauen in den aufkommenden Wiederaufbau- und anschließenden Wohlstandsjahren konnten nicht in die Zukunft schauen.“
Das ging noch nicht. Es war eine andere Zeit. Eine Zeit, in der den Vornamen der Frauen gerne ein „chen“ angehängt wird. Verniedlichung als Ausdruck einer Wohn- und Lebensgemeinschaft, die gefühlt den Krieg verloren, nicht den Frieden gewonnen und sich nun dem Wiederaufbau gewidmet hat. Aus Gertrud wird „dat Trutchen“ oder „Trautchen“, aus Josefine wird „dat Finchen“. Es gibt sie, die „Gustchen“ genannte Auguste, das „Ännchen“ oder, wenn es streng werden sollte, die Änne. Das „Hildchen“ für die Hilde, die einige Jahre später keinem „geschenkten Gaul ins Maul“ schauen wird. Die Männer haben hingegen Glück. Sie werden mit ganzem Namen gerufen. Es sei denn, sie heißen Johann und wohnen auf rheinischem Gebiet, das einst von Napoleons Franzosen in den Anfängen des 19. Jahrhunderts annektiert worden war. Da ist der Johann ein französisch klingender Jean, den die Rheinischen „Schäng“ aussprechen und die phonetische Variante bevorzugt in den Alltag haben einfließen lassen. Damals wie heute.
Und das allgemeine Aussehen? Männer und Frauen, die heutzutage aussehen wie achtzig, wären Ende der 1940er und den 1950er Jahren gut und gerne als „ungefähr fünfzig“ geführt worden. Wohlstand macht nicht nur dick. Wohlstand macht die Haut glatt und faltenlos. Wohlstand macht auch die Haare schön.
Die Stromleitungen liegen in sichtbaren Röhrchen versteckt auf dem Wandputz und bilden mit der darüber geklebten Blümchentapete eine wellig-knubbelige Einheit. Die schwarzen Drehschalter aus Bakelit sitzen „auf Putz“. Die fußbetriebene Adler-Nähmaschine ist Möbelstück und Handwerksgerät in einem. Zur Benutzung werden bei Bedarf die Deckchen mit den angehäkelten Rändern entfernt, die Maschine herausgeklappt, fixiert, der lederne Antriebsriemen auf das Schwungrad geschwungen, die Nadel in den Nähkopf eingeführt, der Faden von der Rolle auf der Maschine über geheimnisvolle Einfädelwege, die nur der Näherin bekannt sind, der Öse in der Nähnadel zugeführt. Wenn alles klappt, kann es losgehen. Es rattert die Nadel in geraden oder in gezackten Linien über den Stoff, aus dem sich am Ende der Mühsal ein Hemd, ein neuer Hemdenkragen oder eine Manschette gebildet hat.
Manchmal ist es ein neues Kleidchen für die Tochter. Manchmal wird nur der Saum aufgetrennt und erst in verkürzter und später in verlängerter Form wieder zusammengenäht. Das Kleid wird dem Wachstum der Tochter folgen.
„Dä Stoff is immer noch jut!“
Da ist sich Trautchen völlig sicher. In der verkürzten Form des von Finchen geliebten Kleides in ihrer Lieblingsfarbe rot, wird der Saum doppeltgelegt eingenäht und das so entstehende Kleidchen sinnigerweise „Kleidchen“ genannt. Wenn es Jahre später in die andere Richtung gehen wird, der Saum also für eine Verlängerung herhalten muss, die aber leider gerade noch bis knapp oberhalb der Knie reichen wird, wird auch das einstige Kleidchen kurzerhand zum „Fummel“ umbenannt werden. Oder gleich ein Rock daraus geschneidert. Ein Auf und Ab wie die Bewegung der Nähmaschinennadel, die hin und wieder einen Fadensalat in „dä jute Stoff“ fabriziert, den „mer widder aufdrösele mutt.“ Meist war es die rote Garnrolle, die ihren Faden nicht gerne akkurat herzugeben schien. Dann musste Trautchen den Faden entwirren und den neuen Faden wieder aufnehmen. Das ärgerte sie jedes Mal. Außerhalb ihrer Nähmaschine verlor sie gerne mal den Faden, den sie allerdings ebenso gerne gefühlte Jahre später wieder aufzunehmen weiß.
Aus ihren leise vor sich hin gebrummelten Worten vor dem Fadensalat sitzend, war im Augenblick schlechterdings kein Fluchen zu erkennen. Es sei denn, jemand interpretierte ihr „verdorri nomma“ als Fluch. Wenn ihr Enkelsohn Bruno viele Jahre später ihr Grummeln hören wird, wird er sich allerdings ziemlich sicher sein, dass ihr Herrgott dies nicht als einen Fluch angesehen haben kann.
„Ich glaub‘, et war im Mai“, hat Brunos Mutter auf seine Frage geantwortet, wann sie den Vater ihrer Kinder kennengelernt habe. Das war 1948, glaubte sie zu wissen.
Ihre Eltern hätten Besuch erwartet, ohne ihr zu sagen, wer denn käme. „Wirste schon seh’n.“
Großes Geheimnis.
Trotz staubbedeckter Häuser mit Löchern und Kratern von Querschlägern der Bombardierungen, trotz der Häuserreste, die als Backsteinabraumgebiete oder als - streng verbotene - Abenteuerspielplätze für Kinder herhalten müssen, trotz der von Staub erblindeten Fensterscheiben, trotz der Hinterhöfe mit den grauen Hemden und den ebenso grauen Kindern, trotz all dieser äußeren Umstände erwarten Trautchen und Schäng Besuch. Der Versuch einer Verkupplung von Tochter Finchen, mittlerweile 25 Jahre alt, nichts ahnte. Fine ist ein ansehnliches, ja hübsches Wesen. Das Röckchen („dä Fummel“) gerade bis zum Knieansatz tragend und dennoch auf dem besten Wege, eine alte Jungfer zu werden. Junge Frauen, die mit achtzehn, neunzehn oder zwanzig Jahren noch nicht verheiratet waren, trieben den Eltern gern schon mal eine gehörige Portion Angst ein. Das Kind könnte ja sitzenbleiben, ein Mauerblümchen werden oder unbefruchtet im Haushalt der Eltern verstauben. Dieser Zustand hatte sich allerdings auch und gerade in den Zeiten nach dem Krieg weiter verschärft. Die zwecks einer Verehelichung taugliche Anzahl von Männern hatte sich leider ziemlich verringert. Krieg und Gefangenschaft hatten Opfer gekostet, die nun auf dem Markt fehlten. Oder sie liefen einbeinig an Krücken durch die zertrümmerte Welt. Oder ihnen fehlten andere Extremitäten. Anderen fehlte das Werkzeug zur Fortpflanzung. Was wiederum häufig erst in der Hochzeitsnacht festgestellt wurde. Wo andere nicht gerne die Katze im Sack kauften, hatten einige Frauen das Pech, eine Katze ohne Sack gekauft zu haben. Trotz alledem: Es gab Hoffnung. Vor allem, wenn sie nicht aufgegeben wurde. Und Trautchen gab nie die Hoffnung auf, trotz der zwei im Krieg verlorenen Söhne. Der dritte Sohn war ja zurückgekommen, und sie hatte noch ihr jüngstes Kind, ihre Tochter Fine. Eine um fünfzig Prozent reduzierte Kinderschar war ihr immerhin geblieben.
„Dä Herrjott hät et su jewollt.“
Ihr Herrgott, das war völlig klar, trug weder eine dunkle Rotzbremse, noch fettig geölte Haare. Ihr Herrgott trug weiß. Weiße Kutte, weiße, lange Haare, weißer, langer Bart. Ihr Herrgott saß auf einer weißen Wolke und zeigte mit ausgestrecktem Arm und angehängtem Zeigefinger nach unten. Hinab auf die Welt, die er innerhalb von sieben Tagen erschaffen hatte – wie gerne behauptet wird.
„Dat is nich janz richtisch“, korrigiert Trautchen, wenn’s ihr nötig erschien.
„Dä Herrjott hät dat in sechs Tare jemaat. Am siebte hät dä sich usjeruht.“
Sie kannte sich aus in der Weltliteratur. Die Bibel lag auch nachts unter ihrem Kopfkissen. Und wehe, wenn jemand entgegen ihrer Wahrheit behauptete, der Herrgott habe am siebten Tag wohl so einiges verschlafen. Gnade ihm Gott.
Bruno wird viel später in seinem Leben davon mehr und mehr überzeugt sein, dass sie wirklich geglaubt hat, der Herrgott habe alles so gewollt. Bruno wird sogar glauben, es zu wissen, dass sie unter dem Verlust ihrer Söhne sehr gelitten hat. Und er wird glauben, dass sie dieses Leiden ihren Enkelkindern gegenüber nur nie gezeigt hat. Es sei allerdings durchaus möglich, dass die Enkelkinder ihre Tränen gar nicht wahrgenommen haben oder wahrnehmen wollten, wenn die Oma mit verstohlenem Blick auf die über der Adler-Nähmaschine aufgehängten beiden Ölgemälde ihrer gefallenen Söhne blickte.
„Dä Herrjott hät et su jewollt.“ Basta!
Sei’s drum: Heute steht die Realität im Vordergrund. Finchen muss dringend unter die Haube. Allerhöchste Eisenbahn. Schängs junger Kollege Julius Kallenbach scheint dafür durchaus ein passender Kandidat zu sein. Freundlich, ernst, zurückhaltend, etwas eitel und Wert auf gutaussehende Kleidung legend. Ein guter Arbeiter. Von Krieg und französischer Gefangenschaft äußerlich unversehrt, sieht er insgesamt doch recht passabel aus. Er also ist der erwartete Besuch, für den auch noch Bohnenkaffee hätte aufgebrüht werden können, um zu zeigen, dass es ihn gibt – den Bohnenkaffee. Ganz abgesehen davon, dass es den Tchibo-Kaffee ansonsten und ausschließlich an einem Sonntag gäbe. Für Besuch! Nicht für die Nachbarn. Selbstverständlich. „Dat Zeuch is ze duer.“
Es war so: Das Zeug war sogar sehr teuer. Bohnenkaffee war für einen ungelernten Walzwerksarbeiter mit kärglichem Wochenlohn von 26 Reichsmark1 bei einer 48-stündigen Arbeitswoche noch nahezu unerschwinglich. Ein Luxusartikel, der kollektiv und nur einmal im Jahr direkt bei Tchibo in angemessener Auflage bestellt werden musste. Wenn überhaupt. Luxus, den man sich allenfalls leistete, wenn die Verwandtschaft am ersten Weihnachtstag zu Besuch erschien. So verwandtschaftlich hoch wird der heutige Gast allerdings nicht eingestuft, als dass die Geldbörse übermäßig hätte strapaziert werden müssen. Es bleibt beim Muckefuck, diesem Gerste-Malzgemisch2.
Für den Luxusartikel Bohnenkaffee musste schon kräftig gespart werden. Für die vielen luxusfreien Tage des Jahres gab es halt und ausschließlich Muckefuck, der angeblich auch noch wie Kaffee schmecken soll, es aber in der Wirklichkeit regelmäßig vermasselte. Das Gemisch machte eher seinem Namen als Ersatzkaffee tatsächlich alle Ehre. Gemahlene Eicheln wären vielleicht noch gegangen, nicht aber gemahlene Feigen oder Möhren.
„Su jet jiddet bei uns nit“, ist Trautchens rigorose Abwehrhaltung gegen diese Geschmacksverirrungen, „dat schmeckt jo wie kaal Fööß.“
Und wer wollte schon an kalten Füßen schmecken wollen? Die bevorzugte Marke blieb ‚Lindes Kornkaffee mit Zichorie‘, mit dem nicht ganz glaubhaft versehenen Hinweis, dass dieses Getränk natürlich gut sei.
Schäng verweist allerdings immer wieder gerne darauf, dass Bohnenkaffee „vill ze duer“ sei und in diesem Falle der junge Gast froh sein könne, mehr als das durchsichtige Kommissgesöff aus den Blechnäpfen der Kriegszeit zu bekommen. Ganz abgesehen von der Frage, ob sich der Einsatz überhaupt lohnen würde, und ganz abgesehen von der Feststellung, „dat dä Jung kinne Bunnekaffee kenne däät.“ Natürlich lag hier eine Vermutung zugrunde, dass der junge Mann gar keinen Bohnenkaffee kennen würde. Schäng glaubte an seine Vermutung. Vor allem glaubte er daran, dass hinter den sieben Bergen keinerlei Kenntnis über das Vorhandensein solcher Genussmittel existieren konnte.
Dafür darf sich der Besuch auf das „jute Jeschirr“ und das „jute Zeuch“ freuen. Wenn er es denn zu schätzen wisse. So viel mehr weiß Schäng von dem jungen Mann nun auch wieder nicht. Man macht sich halt nur so seine Gedanken.
Das gute Geschirr ist weiß, mit stuckähnlich aussehenden Verzierungen. Die Kaffeekanne bezaubert durch einen wohlgeformten Schwanenhals, der auch diesen Namen trägt. Überhaupt: das Porzellan. Es macht etwas her, wenn es aus „Meißner Porzellan“ hergestellt ist. Das ist bei Trautchens Keramik leider nicht der Fall. Auch hier: „Zu duer.“ Trautchens verbal geäußerter Echtheitshinweis lautet:
„Dat hat an Meißner Porzellan jelejen.“
Das musste als Echtheitszertifikat ausreichen.
Das gute Zeug sind die selbstgenähten und selbstbestickten, schneeweißen Tischdecken. Vom Allerfeinsten. Wie geschaffen für die Aussteuer der Tochter, mitsamt den gestapelten Biberbetttüchern und dem gut sortierten Mokka-Kaffeeservice. Alles durch und über den Krieg hinweg gerettet und bombensicher verstaut. Man hatte ja sonst nichts.
Den Tropfenfänger, angebracht am Ausgussende des Schwanenhalses, hat Trautchen übrigens aus reiner Not erfunden. Sie hat sich immer wieder darüber geärgert, dass sich nach dem Eingießen des Kaffees in die extra dafür bereitgestellten Tassen mindestens ein Tröpfchen, oft gar zwei, als hässliche braune Flecken auf den schneeweißen Tischdecken wiederfanden. Tischdecken, die sich unter Zuhilfenahme von „Hoffmann’s Stärke“ und durch die Mangel gezwungen, zu Tablett förmigen Steifgebilden geformt, wiederfanden. Kaffeeflecken waren nun nur noch möglich durch schlabbernde Gäste oder andere Flegel, die sich nicht benehmen konnten.
„Dat jute Zeuch“ wurde anschließend wieder gewaschen und steifgestärkt - natürlich mittels Hoffmanns Stärke. Selbstverständlich; denn:
„Der alte deutsche Hoffmann spricht: Ohne Stärke geht es nicht!“ So lautet der Werbeslogan.
Dieser Werbespruch hatte sich in den Köpfen vieler deutscher Hausfrauen fest- und durch permanente Anwendung verstärkt umgesetzt. Nicht anders war es bei Trautchen.
Johann, ihr 54-jähriger Ehemann, hat zum Tropfenfänger das Gummibändchen und den Haken aus Hand gebogenem Draht erfunden. Vereint hielten Gummiband und Haken von nun an gemeinsam den Fänger stramm unterhalb des Schwanenhalsausgießers. Was diese Konstruktion in seiner genialen Zusammenarbeit und zum Erstaunen aller auch tat - der verdrahtete Tropfenfänger. Trautchen setzt diese Konstruktion allerhöchstens zweimal im Jahr ein, wobei sie die bereits benutzte Seite des Röllchens einfach zum Kannenausguss dreht. Die nun sichtbare Seite ist ja noch jungfräulich rein, sodass der kleine Nachteil dieser Konstruktion stillschweigend hingenommen werden kann. Denn schon am gleichen Abend, wenn die Kaffeetropfen im Löschpapier den Prozess der Trocknung vollendet hatten, veränderte sich auch die Form des Röllchens. Es schrumpfte trotzig etwas ungleich an befleckter Stelle ein und verhärtete sich zusehends zu einem unansehnlichen Klumpen. Zum Glück ist diese Stelle nicht sogleich zu sehen, verbirgt sie sich doch in anschmiegsamer Form knapp unterhalb des weißen Schwanenhalsausgießers. Man musste noch nicht einmal wegsehen. Zwischen den beiden Arbeitseinsätzen konnte durchaus schon mal ein ganzes Jahr liegen, was allerdings wiederum eine Auswirkung auf die Farbe des Löschpapierröllchens hatte. Aus dem ursprünglichen blass-rosa ist dann ein schmuddeliges Staubgrau geworden, mit flüchtig und zufällig hinein gesprenkelten rosa Pünktchen. Gottlob wird diese grandiose Erfindung nicht bei jeder Kaffeetafel eingesetzt. Nein. Haben sich nur gewöhnliche Nachbarinnen zum Kaffee eingeladen, reicht es, einen möglichst soeben noch gebrauchten Spüllappen zur Hand zu haben und sowohl beim als auch nach jedem Eingießen mindestens einmal über den sowieso versauten Schwanenhals zu wischen. Hygiene pur – und: „Dreck reinicht dr Mare.“ In jedem Fall war diese Art von Hygiene bedeutend besser, als abgehackte Armstümpfe in heißem Öl abzuschrecken. Im Übrigen wird es wohl weniger der Dreck gewesen sein, der den Magen reinigte. Es werden eher Bakterien gewesen sein, von denen Trautchen wohl nicht wusste, dass es sie gab. Was hierbei die Reinigung betreffen könnte, muss an dieser Stelle offen bleiben.
Zurück zum Besuch im Allgemeinen. Ist nämlich ein wichtiger oder für wichtig gehaltener Gast angesagt, dann, ja dann muss alles tipptopp sein. Dann wird das ‚gute Geschirr‘ aus dem Wohnzimmerschrank geholt und dem Gaste ebenso stolz präsentiert wie die gestärkte und durch die Mangel gezogene Tischdecke.