Aus der Tiefe meines Herzes sage ich allen Dank,
von denen ich lernen durfte!
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© 2019 Murat Cicek
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Idee, Text & Illustration: Murat Cicek
Umschlaggestaltung: Murat Cicek & Dennis Weißenfels
Fotoaufnahmen: Justin Rathert; außer in Abb. 58, 67 (tw.), 74, 77, 78 Stephan Kösters
Fotobearbeitung: Murat Cicek; außer in Abb. 58, 67 (tw.), 74, 77, 78 Dennis Weißenfels
Redaktion & Layout: Murat Cicek
Herstellung & Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783749494125
In dem vorliegenden Werk werden philosophische Erkenntnisse geschlussfolgert sowie technische und/oder taktische Beschreibungen, Umsetzungmöglichkeiten, Hinweise, Empfehlungen u.Ä. aufgezeigt, die sich auf das Praktizieren von Karate und/oder auf den Alltag übertragen lassen.
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Es wird hiermit ausdrücklich betont, dass die in diesem Werk dargebotenenen Informationen ohnehin die grundlegende Intention haben, die Persönlichkeit des Übenden1 in positiver Weise weiterzuentwickeln und in keinster Weise zu schädigen. Die Wahrung der ethischen Regeln des Karate-Dō ist in jedem Fall einzuhalten, insbesondere die der Kontrolle und des rücksichtsvollen Umgangs, vor allem in Bezug auf die Gesundheit der eigenen Person und die anderer.
Es wird empfohlen, jegliche Anwendung bzw. Umsetzung zwecks adäquater Kontrolle in Bedachtheit und zu Beginn in einer langsamen Geschwindigkeit und geringen Intensität sowie unter der fachlichen Leitung eines kompetenten Lehrmeisters durchzuführen.
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1 Zwecks besserer Lesbarkeit benutze ich in dem vorliegenden Werk i.d.R. die männliche Form, was jedoch auch das weibliche Geschlecht mit einschließt; andernfalls wird an entsprechender Stelle darauf hingewiesen.
Irgendwie ist man nie ganz fertig, immer gibt es noch weitere Aspekte, die es in einer Kata zu entschlüsseln gilt! Dennoch freue ich mich ganz besonders, dass ich die Entscheidung getroffen habe, hier einen Schnitt zu machen und das Buch nun zu veröffentlichen.
Es gibt gute Gründe dafür, warum ich ausgerechnet die Meikyō ausgesucht habe, um darüber zu schreiben. Seitdem ich diese Kata zum ersten Mal in Aktion sah, hat mich ihre Ästhetik dermaßen beeindruckt, dass sie zu meiner Lieblingskata (Tokui Kata) wurde. Irgendetwas an ihr hat mich seit diesem Tag an gefesselt und nicht mehr losgelassen. Später habe ich erkannt, dass sie nicht umsonst so heißt, wie sie heißt. So habe ich damals begonnen, mich mit der Philosophie des Karate-Dō im Allgemeinen zu beschäftigen. Im Rückblick muss ich feststellen, dass sich die Art meiner Technikausführung u.a. dadurch zunächst unmerklich, aber doch stetig verwandelt hat.
Als ich einmal auf einem Lehrgang von Kyōshi Lothar Ratschke heraushörte, dass dieser der Kata Meikyō im Rahmen des Karate-Dō einen besonderen Stellenwert zuerkannte, war das für mich damals der Impuls gewesen, mich eingehender mit dieser Kata, speziell auch mit ihrer inhärenten Philosophie und Systematik auseinanderzusetzen. Dōmo arigatō gozaimashita Sensei, für diesen Impuls!
Während ich mich der Kata-Philosophie widmete, erkannte ich, welche Konsequenzen dies für das Kata-Bunkai mit sich bringen würde. Dabei wurde mir bewusst, dass die Wandlung meiner Technikausführung und der Art, wie ich inzwischen Karate betreibe, hauptsächlich mit der Philosophie der Meikyō zusammenhängt. Wie schon ein schlauer Kopf mal sagte: „So schließt sich der Kreis!“2 Auf der Grundlage der Meikyō-Philosophie konnte ich nun Prinzipien für Kata-Anwendungen (Oyo) erschließen, die damit systematisch konform gehen und meinen Weg des Karate wiederspiegeln.
Hat man einmal die Prinzipien begriffen, sind die Möglichkeiten unendlich. Doch dazu ist eine intensive Beschäftigung mit nur einer Kata über einen längeren Zeitraum unbedingt erforderlich.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass sich mir Vieles aus der Meikyō nicht erschlossen hätte, hätte ich mir nicht dafür genug Zeit genommen.
Es ist nun über vier Jahre her, seitdem ich mich ernsthaft und tiefgründig hauptsächlich nur mit der Meikyō und der damit zusammenhängenden Rōhai auseinandergesetzt habe.
Mit zunehmender Zeit habe ich mich spiralförmig mehr und mehr der Wahrheit dieser Kata genähert; ihr Bild ist nun klarer, das Wissen umfangreicher und tiefer.
Doch nach so vielen Jahren intensiver Beschäftigung mit der Meikyō gelange ich zur Einsicht, dass ich mich wieder am Anfang befinde, am Anfang eines neuen Kreises, einer neuen Spirale.
Neue Türen öffnen sich!
2 Das sagt oft meine Schwester Seydi, wenn sie in Ereignisse Zusammenhänge mit anderen Ereignissen erkennt. Irgendwie scheint sich doch alles in der Natur in ähnlicher Weise, kreisförmig, zu wiederholen.
Wenn ich zurückblicke auf meinen Werdegang im Rahmen der Kampfkünste, dann wird mir eines klar: Karate-Dō hat meinen persönlichen Weg unglaublich bereichert und nach und nach sehr viele Bereiche meines Lebens mit Sinn erfüllt. Anfangs war mir diese umfassende Entwicklung nicht einmal direkt bewusst, aber im Nachhinein erkenne ich im Vergleich früher – heute, wie viel es mir geschenkt hat.
Verschiedene Kampfkünste und Kampfsportarten ausprobierend, landete ich schließlich im Karate-Dō, das ich dann als meine Hauptkampfkunst betrieb. Das Karate-Dō begann ich damals beim fachkompetenten Karate-Großmeister Achim Keller, der insbesondere großen Wert auf Koordination, Technik und Bunkai legte. Genaues Zuhören sowie genaue Beobachtung und vor allem das Selbststudium über Jahre hinweg halfen mir dabei, Dinge im Shōtōkan-Karate-System richtig einzuordnen und so eine fundierte Basis aufzubauen. Die ersten Jahre konzentrierte ich mich hauptsächlich auf das intensive Karate-Training. Wissbegierig wie ich war, versuchte ich in jedem Trainingstag und auf jedem Seminar alles aufzusaugen, was ich konnte, und setzte nach und nach die Bausteine des Shōtōkan-Karatesystems wie Puzzleteilchen zusammen, bis sich mir allmählich das Bild immer mehr erschloss. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich zuhause die Techniken so lange wiederholte, bis ich den Verlauf der Technik besser begriff und über das Ausprobieren von Variationen den effektivsten Weg zu ermitteln suchte. Auch an Orten, wo ich das Karate nicht körperlich ausüben konnte, war ich sehr oft damit beschäftigt, Kihon-Kombinationen oder Kata geistig durchzuspielen. Es war in der Tat eine Zeit, in der ich Karate-Dō unerbittlich übte, Tag ein, Tag aus. Wenn ich es aber ehrlich reflektiere, dann habe ich Karate damals knallhart, mechanisch und mit äußerster Spannung ausgeführt. Je mehr ich allerdings übte und je mehr ich über die dahinterliegende Philosophie las, desto mehr wirkte sich dies auch auf meine Art, Karate auszuüben, aus. Interessanterweise wirkte es auch bis in meinem Alltag hinein: Ich begegnete Aggressionen oder verbalen Angriffen meiner Person gegenüber weniger mit Gegenkraft, sondern versuchte sie abzuleiten; ich nahm viele banale Dinge nicht mehr so ernst, wie ich es früher tat. Mein Blick eröffnete sich zunehmend für die kleinen Details, die ich verstehen wollte. Die intensive Beschäftigung mit Kata-Bunkai hatte mich wohl dazu gebracht, dass ein tieferer Blick in die Materie durchaus gewinnbringend ist. Als ich die Grundlagen des Karate festigte, begann ich während meines Studiums der Fächer Sportwissenschaft, Geschichte und Physik weitere Kampfkünste und Kampfsportarten zu erlernen. Im Rahmen meines Sportstudiums kam ich beim Sportdozenten Helmut Boy mit Jūdō in Berührung und konnte in vielen Jūdōtechniken mehr oder weniger starke Bezüge zu einigen Kata-Bewegungen des Karate herstellen, wodurch sich mein Spektrum an Bewegungsmöglichkeiten erweiterte. Mein Einsatz als Tutor im Jūdōbereich war für mich impulsgebend für eine noch intensivere Beschäftigung mit dieser Kampfkunst, die sich zwar als Wettkampfsportart auf viel Kraft fokussiert, aber im Wesen eigentlich Weichheit und Flexibilität betont, wie es der Jūdō-Großmeister Mifune Kyuzo beeindruckend umzusetzen vermochte.
In meiner Examensarbeit führte ich im Bereich der Biomechanik Studien an Karateprobanden durch und untersuchte den Einfluss des Leistungsniveaus auf die Gewichtsverlagerung bestimmter Stände sowie auf die Wahrnehmungssensibilität der Füße.
Darüber hinaus belegte ich im Freizeitbereich des Hochschulsports Kurse wie Capoeira oder Aikidō. Capoeira war sehr nützlich für die Entwicklung meiner Athletik und für die Erkenntnis, wieviel Dynamik eine schwungvolle Technik besitzen kann. Aikidō faszinierte mich deshalb stark, weil es mir anfangs in der Bewegungskoordination relativ kompliziert erschien. Diese Kampfkunst trainierte ich aber dann auch außerhalb des Hochschulsports hauptsächlich beim Aikidōmeister Michael Wefers und lernte auch von den anderen Trainern dort. Hier lernte ich die Prinzipien des Aikidō näher kennen: Irimi und Tenkan. Michaels Training hatte immer einen roten Faden, er nutzte metaphorische Bilder zur Erklärung von Techniken und Prinzipien und war geprägt von einer ernsthaften, aber freundlichen Geisteshaltung. Die erlernten Hebeln und Bewegungen aus dem Aikidō konnte ich nun viel besser mit einigen Bewegungen in den Karate-Kata vernetzen. Neben dem Nutzen der Wurftechniken aus dem Jūdō konnte ich dank Aikidō nun auch Hebeltechniken im Kata-Bunkai des Karate noch besser erschließen.
Zunehmend interessierte ich mich nun auch für die inneren Kampfkünste wie Tàijíquán und Qìgōng, was ich u.a. beim Tàijí-/Wshù-Meister Dieter Kießwetter lernte, der mit seiner ruhigen, aber humorvollen Art Bewegungen anschaulich erklären und einleuchtende Parallelen zum Karate aufzeigen konnte.
Um Karate noch tiefer verstehen zu können, trainierte ich auch mit verschiedenen Kobudō-Waffen. So erhielt ich Einblicke im Umgang mit Schwert (Ken) und Stock (Jō) beim Aikidō-Großmeister Rainer Brauhardt und beim Karate-Großmeister Achim Keller, mit Nunchaku bei Nunchakumeister Andreas Bosse und mit Modern Arnis bei Datu Dieter Knüttel und Guro Peter Rutkowski. Dabei lernte ich, dass die Techniken genauso gut auch mit leerer Hand ausgeführt werden können. Ich verstand, dass sich zwar alle Kampfkünste mit und ohne Waffen in ihrer Ausprägung mehr oder weniger stark voneinander unterschieden, aber grundsätzlich immer denselben oder ähnlichen Prinzipien folgen.
So konnte ich die unterschiedlichen Facetten des Karate-Dō mit Hilfe verschiedener Meister aus dem Karate-Dō, aber auch aus anderen Kampfkünsten umfassender erschließen.
Die Beschäftigung mit den Geheimnissen des Kyusho Jitsu schließlich bereicherte mein Wissen um die fernöstliche Philosophie immens. Ich erkannte nun den besonderen Stellenwert der geistigen Komponente in den Kampfkünsten. In einer fundierten, systematisch aufgebauten Ausbildung lernte ich Kyusho Jitsu zunächst hauptsächlich bei dem brillanten Karatemeister und Kyushopionier Gebhard Lämmle bis zum 1. Dan Kyusho Jitsu. Als er dann leider verstarb, setzte ich mein Studium des Kyusho Jitsu bei Großmeister Paul Bowman fort, der es in seinem Zendoryu-System weitergibt, das wiederum dem DKI3 von Großmeister George Dillman angegliedert ist. Der 5. Dan, den ich von Großmeister Paul Bowman nach intensiver Vorbereitung und erfolgreicher Prüfung erhielt, wurde mir für Kyusho Jitsu vom DKV4 anerkannt. Ich fühle mich geehrt, dass ich nun vor kurzem bei Großmeister Paul Bowman die Prüfung zum 6. Dan Karate / Kyusho Jitsu erfolgreich bestehen konnte. Ein Budō-Meister mit einem enormen Wissensstand und einer hochwirksamen praktischen Anwendung! Daneben habe ich auch vom Kyusho-Aiki-Jutsu von Großmeister Toni Kauhanen immens profitiert, der das effektive Aiki-Prinzip in sein Kyusho-System eingebunden hat. Kyusho Jitsu verlangt ein vertieftes Wissen um die menschliche Anatomie und um die chinesisch- philosphischen Hintergründe wie Yīn und Yáng u.v.m. Es ist als hoch wirkungsvolles add-on zu verstehen, das erst bei einer fundierten Grundlage der eigenen Kampfkunst empfohlen wird. Wer eine Kampfkunst ausübt, trägt eine große Verantwortung, da unkontrollierte Techniken verheerende Wirkungen im menschlichen Körper anrichten können. Daher ist die Vermittlung der richtigen Geisteshaltung in den Kampfkünsten von enormer Bedeutung für die Entwicklung eines Kampfkunstübenden. In diesem Kontext möchte ich besonders die Großmeister Hanshi Fritz Nöpel, Kyōshi Lothar Ratschke und Kyōshi Fritz Oblinger hervorheben, von denen alle das Karate-Dō wirklich vorleben. Die Art und Weise, wie ernsthaft sie Karate-Dō selbst betreiben und mit wie viel Feuer sie es anderen vermitteln, der freundschaftliche, ehrliche und respektvolle Umgang mit ihren Mitmenschen hat mich tief beeindruckt und mir gezeigt, dass Karate-Dō weit über die Technik hinausgeht. Es ist für mich daher eine große Ehre, meine Prüfung zum 4. Dan Karate-Dō bei Kyōshi Lothar Ratschke und Kyōshi Fritz Oblinger bestanden zu haben. Diese Prüfung beeinflusste meine Vorbereitung derart, dass ich mich mit der Kata Meikyō äußerst intensiv beschäftigt habe und darüber hinaus bis heute immer noch weiter beschäftige.
Auf einem ihrer Karate-Lehrgänge in C’an Picafort, Spanien sind auch fast alle Fotoaufnahmen in diesem Buch entstanden, die dankeswerterweise Justin Rathert bereitwillig und ohne Gegenleistung übernahm. Ein paar nachträglich aufgenommene Fotos verdanke ich in ähnlicher Weise Stephan Kösters. Außerdem sei auch Dennis Weißenfels gedankt, der mich bei der Bearbeitung einiger Fotos unterstützt hat.
Alles in Allem konnte ich auf meinem Weg in diversen Seminaren und Trainingseinheiten sowie mit Hilfe etlicher Fachbücher und Internetseiten von vielen herausragenden nationalen und internationalen Meistern diverser Kampfkünste lernen, so dass ich sie an dieser Stelle nicht alle aufzählen kann.
Des Weiteren hat mir der freundschaftliche Austausch mit Budōka wie Jürgen Pünner, Helmut Müller, Michael Schöneck und Dr. Gerhard Kerscher, deren Karate-Dō eine Lebenseinstellung darstellt, deutlich gezeigt, wie wichtig die Menschlichkeit im Budō ist.
Allen hier genannten und nicht genannten Personen möchte ich an dieser Stelle von Herzen danken, da ich in irgendeiner Art und Weise von jedem einzelnen lernen durfte! Dadurch hat sich mein Karate-Dō in eine Richtung gewandelt, die explosive und knallharte Techniken mit fließenden und nachgebenden Bewegungen vereint. Eine Entwicklung hin zu einem vertiefteren Verständnis von Yīn und Yáng, körperlich wie auch geistig.
Meine hier vorliegende Ausarbeitung zur Kata Meikyō/Rōhai ist nur ein kleiner Teil dessen, was ich nun in großer Dankbarkeit und Demut zurückzugeben versuche.
3 DKI = Dillman Karate International ist ein weltbekannter Karate-Verband, der sich hauptsächlich mit der ehemals streng geheimen Lehre des Kyusho Jitsu beschäftigt; zahlreiche hochgradig kompetente Kyusho-Meister sind daraus hervorgegangen.
4 DKV = Deutscher Karate Verband, ist einer der einflussreichsten Karate-Verbände in Deutschland.
Kata kommt aus dem Japanischen und bedeutet im Karatekontext verkürzt so viel wie Form oder Choreographie. Jede Kata besteht aus einer bestimmten Kombination an Kampfkunsttechniken, welche gegen einen imaginären Gegner oder mehreren durchgeführt werden. Diese Techniken werden auf vorgegebenen Raumlinien vollzogen, sprich jede Kata hat ein ganz bestimmtes Schrittdiagramm – Enbusen –, das genau einzuhalten ist, welchem aber leider viel zu wenig Beachtung geschenkt wird. Zudem wird eine Kata nach einem bestimmten Rhythmus vorgetragen, so dass einige Techniken blitzschnell und explosiv, andere langsam und ruhig erfolgen; einige Techniken in einem entspannten Zustand, wieder andere in völliger Anspannung, mit der entsprechend passenden Atmung.
In den diversen Karaterichtungen gibt es eine Unmenge an Kata, die sich in ihren Kampfauffassungen sowie aber auch ihren stilistischen Ausprägungen voneinander unterscheiden. Auch differiert die in den jeweiligen Stilen geübte Anzahl der Kata. Funakoshi Gichin stellte schon damals fest: „The ancient masters remained narrow but deep, while practitioners today are broad and shallow.“5 Es scheint heute so, als hätte sich diese Problematik noch mehr verstärkt und als würden die meisten Karatekas danach trachten, sich soviele Kata wie nur möglich anzueignen, immer auf der unstillbaren Suche nach Neuem und nicht wirklich begreifend, was schon eine einzige Kata zu bieten hat und in sich birgt.
Es kann durchaus wichtig sein, viele Kata und Karatestile zu kennen, um ihre Unterschiede zu erforschen, doch sie haben alle miteinander viel mehr Gemeinsamkeiten als die meisten ahnen. Der stilistische Ausdruck und die individuelle Interpretation mögen auseinander gehen, doch die tiefen Lehren des Weges der leeren Hand sind dieselben. Die wirkliche Tiefe des Karate bleibt denen verborgen, die sich ausschließlich der Breite widmen und bloß an der Oberfläche kratzen (Omote). In den meisten Fällen kommt es nämlich dadurch zwangsläufig zu einer oberflächlichen Betrachtung, die der jeweiligen Kata unmöglich gerecht werden kann. Da die Geheimnisse und wertvollen Erkenntnisse (Okuden) einer Kata meist verschlüsselt wurden, lässt sich ihre tiefere philosophische Struktur erst über einen langen intensiven Weg erschließen, so dass einem aufwändige Recherchen sowie Zeit, Beharrlichkeit und Geduld nicht erspart bleiben.
Nachdem ich diese Erfahrung über mehrere Jahre mit der vorliegenden Kata Meikyō eingegangen bin, wird mir klar, warum früher die Beschäftigung mit einer einzigen Kata nach dem Budō-Grundsatz „Hito kata san nen […]: Eine Kata in drei Jahren“6 abverlangt wurde. Es gibt Budō-Meister, die sich sogar zeitlebens (fast) nur einer einzigen Kata widmen und daraus dennoch mehr als genug an Wissen schöpfen. Eine lange Kata-Arbeit erfordert eine gewisse Leidenschaft und „[…] zeigt, dass offensichtlich Antworten auf die Geheimnisse der jeweiligen Kata nicht schnell zu finden sind und Zeit benötign.“7
Gewisse historisch und kulturell bedingte Hindernisse erschweren einem zusätzlich den Weg bei der Suche nach der Wahrheit. Da es wechselseitige Beeinflussungen innerhalb der Hauptströmungen des Karate gab, findet man beim Vergleich in einigen Kata Parallelen und stellt fest, wie ein und dieselbe Kata in verschiedenen Stilen eine andere Ausprägung erfahren hat. Abhängig von den jeweiligen Karatemeistern und ihrem Wissen und ihren Erfahrungen wurde eine Kata über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg immer wieder ein wenig modifiziert. Dabei kann es schon vorkommen, dass Techniken bzw. Techniksequenzen einer Kata von der ihrer Ursprungskata derart abweichen, dass sie auf den ersten Blick kaum zu erkennen sind bzw. nur noch eine verzerrte und verschwommene Ähnlichkeit zu ihrem Original aufweisen. Zu hoffen ist, dass in einer veränderten Kata zumindest die Grundidee der ursprünglichen Kata weiterhin erhalten bleibt. Da in der Regel in früheren Zeiten eine Kata nur selten schriftlich, sondern hauptsächlich praktisch und mündlich sowie ihr tieferer Sinngehalt „von <<Herz zu Herz>> (Ishin-denshin)“ 8 vermittelt wurde, ist es sehr schwer, ihren wirklichen Ursprung auszumachen und insbesondere herauszufinden, welcher Meister wann und warum Stellen in der Kata verändert, ausgelassen oder hinzugefügt hat. In den meisten Fällen bleiben daher historische Forschungen auf diesem Gebiet Interpretationen, die leider ein unvollständiges Bild hinterlassen. Um diesen Umstand wissend, erhebe ich in meiner Ausarbeitung keinen Anspruch auf Korrektheit und Vollständigkeit. Dennoch sind solche Recherchen und Interpretationen wichtig, weil man sich infolge der Auseinandersetzung mit einer Kata eine Fülle an Wissen aneignet und zu Erkenntnissen gelangt, die für die eigene Entwicklung bahnbrechend sein können.
Um die vorliegende Kata Meikyō erschließen zu können, werde ich versuchen, mein angesammeltes theoretisches Wissen und die Reflektion meiner praktischen Erfahrungen sinngebend in diese Arbeit einfließen zu lassen. Dabei hoffe ich, dass mir die Kombination von Wissen bzw. Erfahrungen aus dem beruflichen Studium verschiedener Fachgebiete wie Sportwissenschaften, Physik und Geschichte auf der einen Seite sowie aus der leidenschaftlichen Beschäftigung mit Kampfkunst und Philosophie auf der anderen Seite zu einem ganzheitlichen Blick verhelfen und Geheimnisse offenlegen, die bis dato gar nicht oder - wenn überhapt - kaum thematisiert wurden.
Den damaligen Kontext mit der prägenden Philosophie der damaligen asiatischen Kultur beachtend, versuche ich die Kata Meikyō einer entsprechenden Analyse zu unterziehen. Dabei ist es außerordentlich wichtig, nicht nur das Gesagte oder Geschriebene verschiedener Meister und Autoren einfach nur aufzunehmen, sondern den eigenen Verstand einzuschalten, bestimmte Punkte kritisch zu hinterfragen und dabei systematisch vorzugehen. Nur wenn man sich die Mühe macht, nicht bloß blind zu übernehmen, sondern selbst nachzudenken, erhält man einen tieferen Einblick in die Seele einer Kata und erkennt unter Umständen sich selbst darin wieder. Einen größeren Gewinn kann es nicht geben!
Nach einem kurzen historischen Abriss werde ich den Namen der Kata unter die Lupe nehmen. Daraus werde ich dann die Philosophie erschließen, die damit kongruent geht. Darüber hinaus soll die der Kata Meikyō zugrunde liegende Struktur samt der damit verbundenen philosophischen Aspekte aufgedeckt werden.
Dabei werden auch Prinzipien vorgestellt, die aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen hervorgehen.
Sowohl die Erkenntnisse als auch die darauf basierenden Prinzipien sollen die eigene Kampfkunst nach vorne bringen und dazu befähigen, das Bunkai dieser Kata in effektiver und ökonomischer Weise gestalten und anwenden zu können.
Eine Kata in ihrer Tiefe verstanden zu haben, bedeutet auch, dass es einem den Zugang zu anderen Kata aufgrund des Transfers erleichtern kann. Dennoch soll hier festgehalten werden, dass jede Kata ihre eigene Systematik hat und ihre Erschließung nicht so einfach vonstattengeht.
Am Ende hoffe ich, dass man gewisse Prinzipien auch in den Alltag transferieren und so, auch menschlich gesehen, daran wachsen kann. Denn gemäß der 8. Regel aus dem Verhaltenskodex Shōtō-Niju-Kun von Funakoshi Gichin geht Karate über das Training im Dōjō hinaus: „Karate findet nicht nur im dōjō statt.“9
Das vorliegende Buch birgt tiefe Erkenntnisse in sich. Einige von ihnen werden dann richtig wertvoll, wenn man die entsprechende Erfahrung damit eingeht. Daher ist nicht alles, was ich hier niedergeschrieben habe, jedem Lesenden in seiner tiefer gehenden Tragweite erfassbar. Des Weiteren habe ich in einigen wichtigen Aspekten die jeweiligen Schlüssel bereitgestellt und oft damit auch die dazugehörigen Räume eröffnet. Jedoch habe ich nicht jedes Detail des jeweiligen Raumes schriftlich festgehalten, wohl aber Hinweise dazu gegeben. Jedes Detail komplett offen zu legen, würde keine wirkliche Entwicklung nach sich ziehen, sondern bloß eine Nachahmung ohne eigene Reflektion. Es empfiehlt sich, dieses Buch nach einiger Zeit wieder zu lesen. Denn mit der wahren Entwicklung eines Budōka entwickelt sich auch sein Verständnis vom Geschriebenen.
5 S. Funakoshi: Karate Jutsu, 2001, S. 26.
6 Vgl. Habersetzer: Koshiki Kata, 20164, S. 59.
7 S. Passmann / Antkowiak: Karate in Anwendung, 2017, S. 19.
8 Vgl. Lind: Budo, 20045, S. 88.
9 S. Schlatt: Enzyklopädie des Shotokan-Karate, 20164, S. 218.
Aus dem Buch von Hironishi Motonobu „Me de miru. Karate Nyūmon“ aus dem Jahre 1955 geht hervor: „‘Die Kata Meikyō [ ] wurde früher Rōhai [ ] genannt […]‘“. 10 Obwohl Gichin Funakoshi die Kata Meikyō nicht in sein im Jahre 1935 veröffentlichtes Buch Karate-Dō Kyōhan behandelt hat, erwähnt er sie unter ihrem ursprünglichen Namen „Rōhai“ in seinen ersten Büchern „Ryūkyū Kempō Karate“ (1922) und „Rentan Goshin Karate Jutsu“ (1925).11 Das Veröffentlichen des zuletzt genannten Buches ist laut John Teramoto mehr dem Umstand geschuldet, die im Erdbeben von 1923 zerstörten Druckplatten von Funakoshis erstem Werk kompensieren zu wollen, was erklärt, warum diese beiden Werke in Text und Inhalt nahezu identsich sind.12
Trotz der Tatsache, dass Meikyō (Rōhai) in Funakoshis späterem Mastertext von 1935 keine Erwähnung mehr findet, hat er sie dennoch selbst praktiziert und auf den ersten Demonstrationen in Japan präsentiert.13
Eine alte Videoaufnahme die mit „dem irreführenden Titel ‚Funakoshi Gichin. 1924 Vintage Footage‘“ versehen wurde, von Henning Wittwer jedoch auf das Jahr 1932 verortet wird 14, zeigt Funakoshi Gichin15 bei der Ausführung der Kata Meikyō.
Nach dem II. Weltkrieg hatten sich laut Nakayama Masatoshi unterschiedliche, eigentümliche und subjektiv gefärbte Ausführungsinterpretationen der Shōtōkan-Kata herausgebildet.16 „1948 trafen sich Abgesandte der Keio-, Waseda- und Takushoku- Universität mit Meister GICHIN FUNAKOSHI in der Waseda-Universität, um über eine Standardisierung in der Ausführung der verschiedenen Shōtōkan-Katas zu diskutieren. […] Die Katas, so wie sie NAKAYAMA in seiner neusten Buchreihe ‚Best Karate Bd. 1-11‘ vorstellt, basieren auf dem Standard, der damals entwickelt wurde.“17 Die Standardisierung würde in diesem Fall auch Meikyō betreffen. Eine gewisse Abweichung lässt sich dennoch in der Version von Hironishi Motonobu erkennen, der einen größeren Fokus auf den Kiba-Dachi setzt.18
Kai Diestel unterstützt in seinem Buch die in der Karate-Gemeinschaft verbreitete Annahme, dass Funakoshi Gichin und/oder sein Sohn Yoshitaka diese Kata aus der von Itosu Ankō, einem seiner Lehrer entwickelten Rōhai-Reihe, insbesondere aus der Rōhai Nidan selbst gestaltet haben soll/en.19 Hirokazu Kanazawa nach sei es unklar, wann die Meikyō aus der Rōhai hervorging.20
Itosus Grundlage für die Entwicklung der Kata-Serie Rōhai Shodan, Rōhai Nidan und Rōhai Sandan sei wohl eine chinesische Kata namens Rōhai bzw. Lorei.21 Die Entwicklung der Rōhai 3er-Serie wird vielerorts Itosu Ankō zugesprochen, so auch im Shitō-Ryū von Mabuni Kenei und Nakahashi Hidetoshi.22 Sowohl Mabuni Kenwa als auch sein Sohn Kenei waren direkte Schüler von Itosu Ankō, so dass der Aussage von Mabuni Kenei große Gewichtung zuerkannt werden kann. Allerdings weist Henning Wittwer darauf hin, dass laut Sakagami Ryūshō (Schüler von Mabuni Kenwa) diese Kata-Serie entweder von Itosu Ankō selbst kreiert worden sein könnte oder aber in der Shuri-Region bereits Bestand haben und von einem anderen zu ihm gelangt sein könnte.23 Die Ausführungen von Henning Wittwer vermitteln den Eindruck, dass er tendenziell eher vermutet, Itosu Ankō habe die Rōhai-Serie ähnlich wie bei der Tekki- oder Pinan-Serie aus einer ursprünglichen Version entwickelt.24 Diese Argumentation ist auch aus meiner Sicht stichhaltig.
Roland Habersetzer zählt die Rōhai zu den Koshiki Kata, zu jenen Kata, die mündlich überliefert wurden und die „als unendliche Schätze“ altes philosophisches Wissen der Chinesen in sich tragen.25 Doch schreibt er dazu: „Die Rōhai wurde im Tomari te überliefert, aber die genaue Abstammungslinie dieser alten Kata ist nicht bekannt.“26
Sowohl Funakoshi Gichin als auch Hironishi Motonobu gebrauchen für die Bezeichnung dieser Kata keine Kanji, sondern die lautsprachliche Schreibweise von Rōhai27, was darauf hindeuten könnte, dass die Bedeutung des Namens dieser alten Kata unbekannt war. Dadurch wird die historische Erforschung der Rōhai erschwert, so dass verschiedene Autoren zu unterschiedlichen Auffassungen gelangen und diese Kata mit entsprechenden Kanji versehen. Kinjō Akio sowie Tokashiki Iken vertreten die Theorie, dass die Rōhai aus dem Arhan-Boxen „aus der Stadt Fouchou in der [süd]ostchinesischen Provinz Fukien“ stammt, in der Arhan-Boxen mundartsprachlich als Lohai-Ch’üan bezeichnet wird. 28 Neben der mundartsprachlichen Nähe des Namens dieser Kampfkunst zu dem der Kata Rōhai werden auch technische Zusammenhänge zwischen Stil und Kata gezogen.29 Während Kinjō Akio daher für die Kata Rōhai das Kanji mit der Bedeutung „Arhan“ wählt, nutzt Nakasone Genwa aufgrund einer abweichenden Meinung das Kanji mit der Bedeutung „Schild eines Reihers“, die damit eine andere Herkunftstheorie postuliert, nämlich die des Kranich-Boxens.30 In diesem Kontext können auch weitere Namensbedeutungen für die Kata „Rōhai“ eingeordnet werden, wie etwa „Vision des weißen Reihers“ bzw. „Bild eines Kranichs“31.
Tomoyori Ryūichirō, der der Herkunftstheorie des Kranich-Boxens folgt, „könnte von Gima Shinkin gestützt werden, der die Meinung vertritt, dass Rōhai von Wu Hsien-Kei aus dem Weißer-Kranich-Boxen oder von T’ang T’ai-Chi aus dem Tiger-Boxen nach O-kinawa überliefert worden sei“.32 Aufgrund der relativ glaubwürdigen schriftlichen Aussage von Motobu Chōki, dass diese Kata bereits vor 1879 in Tomari praktiziert wurde, schließt Wittwer Wu als Übermittler dieser Kata aus.33 Dies ist aber kein Anlass dafür zu meinen, dass Rōhai nicht doch von einem anderen aus dem Kranich-Boxen weitergegeben worden ist.
So folgt auch Werner Lind der Theorie, dass diese Kata „vermutlich von chinesischen Meistern des Bai he quan nach Okinawa gebracht [wurde].“34 Es wird vermutet, dass dies wahrscheinlich im Rahmen der damaligen chinesischen Delegationen geschah, wobei der Name des tatsächlichen Überbringers im Dunkeln bleibt.35 Doch auch der andere Weg, wie eine ursprünglich chinesische Kata nach Okinawa gelangt sein könnte, ist möglich: Ein Okinawaner könnte in China die Kata gelernt und anschließend in Okinawa weitergegeben haben.
Laut den Angaben auf der Internetseite der ATWO (Ahnan Tomari-Te World Organization Europe) soll der taoistisch-chinesische Mönch Lao Leong („[i]n den Erinnerungen von Gichin Funakoshi als ‚Schiffbrüchiger von Ahnan‘ […] bezeichnet“) im 19. Jahrhundert im Fisherort Tomari angekommen sein.36 Dort soll er sich bis 1860 aufgehalten haben, wo er Machimora (Matsumora) Kōsaku chinesische Fomen, u.a. die Ursprungsform der Rōhai beigebracht haben soll, deren chinesiche Bezeichnung mit „Kuan Muan“ angegeben wird. 37 Die ATWO beruft sich auf A. Flane Walker, der von seinem Meister Kushubi Matsuetsu unterrichtet wurde, welcher wiederum in Okinawa u.a. von seinem Vater Itosu Ankō und später in China (Fúzhōu) von seinem chinesischen Onkel und dort auch von seinem Großvater Lao Leong gelernt habe.38
Den Aussagen von Motobu und der daraus gezogenen Schlussfolgerung von Wittwer nach wurde im Königreich Ryūkyū die Kata Rōhai wohl bis zur Meiji-Restauration 1879 tatsächlich nur in Tomari ausgeübt und gelangte erst danach auch in verschiedene Stile des Shuri-Te.39 So könnte die Rōhai von Matsumora Kōsaku an Itosu Ankō nach Shuri übermittelt worden sein; Wittwer nach könnte es aber auch möglich sein, dass Itosu Ankō von seinem anderen, ebenfalls aus Tomari stammenden Lehrer Gusukuma eine der Meikyō eher entsprechenden Rohai-Variante erhalten haben könnte.40
Die Motivation für Funakoshi Gichin, die älteren chinesischen Namen diverser Kata zu japanisieren, liegt vermutlich im historischen Kontext begründet: Aufgrund der damals angespannten Beziehung zwischen Japan und China, erhoffte er sich wohl durch einen solchen Schritt, als Okinawaner in Japan eine bessere Akzeptanz und Integration zu finden.
Dennoch waren die Namensgebungen mit einer entsprechend passenden Bedeutung versehen: Funakoshi veränderte die Kata-Namen, wie er sagt, „after considering the figurative nature of the old masters' descriptions of the kata and my own study of them.“41 So ist es nicht verwunderlich, dass einige Autoren der Idee Funakoshis folgen und Begriffe wie „Vision“ bzw. „Bild“ in Rōhai zum Ausdruck bringen, die eine gewisse Nähe zum Begriff „Spiegel“ in der Meikyō aufweisen.
„The name Meikyō […] is what this kata is called within the Shōtōkan style, a name that was assigned by Master Gichin Funakoshi around the time that he changed the characters used to write ‚karate‘.“42 Die damalige Änderung des Schriftzeichens „kara“=China aus dem Begriff „Karate“ in „kara“=leer wird von seinem Schüler Nakayama Masatoshi folgendermaßen begründet: „Funakoshi wählte diese Deutung bewußt [sic] wegen ihres Sinngehaltes in der zen-buddhistischen Philosophie.“43
Zwar verweist Patrick McCarthy, darauf hin, dass eine solche Änderung der Schriftzeichen bereits 1905 von Hanashiro Chōmo, einem Schüler von Matsumura Sōkon, in „Karate Kumite“ veröffentlicht wurde. 44 Dennoch trug Funakoshi hauptsächlich mit zur Verbreitung der neuen Bezeichnung „leere Hand“ bei, da er in Japan zunehmend an Bekanntheitsgrad und Anerkennung gewann.
Im Rahmen dieser Bedeutungsveränderung des Schriftzeichens Karate-Dō können auch Namensänderungen vieler Kata verstanden werden. So kann ein wesentlicher Grund für die Änderung des Kata-Namens Rōhai in Meikyō darin gelegen haben, dass Funakoshi die Philosophie der reflektierten Selbstbetrachtung betonen wollte. Dem Karatemeister und Lehrer Funakoshi ging es bei der Ausübung von Karate-Dō hauptsächlich um die Vervollkommnung des menschlichen Charakters, das für ihn Bescheidenheit bzw. Zurückhaltung, aber in einem Notfall auch Mut bzw. Zivilcourage bedeutet hat: „In fact, true Karate-dō places weight upon spiritual rather than physical matters […]. True Karate-dō is this: that in daily life, one’s mind and body be trained and developed in a spirit of humility; and that in critical times, one be devoted utterly to the cause of justice.“45 In diesem Sinne kann der Spiegel metaphorisch für den Blick in die eigene Seele betrachtet werden, um, sich dabei der eigenen Fehler und Schwächen bewusst werdend, nach einer Persönlichkeitsentwicklung zu streben.
Neben diesem Beweggrund für die Namensgebung der Kata Meikyō hat sich Funakoshi eines der drei wichtigsten Insignien des japanischen Kaisertums, dem Spiegel, bedient. Der Mythologie nach soll mit Hilfe des Spiegels die Sonnengöttin der Shintō-Anhänger Amaterasu aus ihrem dunklen Versteck hervorgelockt worden sein, um die Erde wieder mit Licht zu erfüllen.46 Interessant ist hierbei auch, dass der bekannte Meisterschüler von Funakoshi, Masatoshi Nakayama, seine favorisierte Kata Meikyō in Beziehung zu einem damit zusammenhängenden Volkstanz setzt.47 „Diese Anspielung auf den Spiegel findet sich in einem sehr alten heiligen Tanz des Shintō in Japan.“48
Die Karate-Kata Meikyō wird oft im Rahmen der Shōtōkan-Kata an letzter Stelle aufgezählt; so erscheint sie auch bei Nakayama als lezte Kata im letzten Band der „Best Karate“-Reihe.49 Dieser Karate-Meister bezeichnet die Kata in den letzten Bänden 9, 10 und 11 als „fairly advanced“.50 Bedenkt man dabei, dass die Basis-Kata an erster Stelle genannt werden und die Kata Meikyō an letzter Stelle, wird klar, dass Nakayama damit der Kata Meikyō das höchste Meister-Niveau zuerkennt. Dies ist Anlass für die zunächst naheliegende Vermutung von Rob Redmond, Nakayama favorisiere diese Kata Meikyō deshalb, weil er sie selbst aus der Rōhai entwickelt haben könnte.51 Nach intensiver Beschäftigung mit dieser Kata, muss ich jedoch dagegenhalten, dass einige Argumente diese Spekulation gänzlich aushebeln. Die alte Videoaufnahme von der Meikyō im Jahre 193252 lässt Zweifel an obiger Vermutung aufkommen, wenn man berücksichtigt, dass der 1913 geborene Masatoshi Nakayama zwar in frühen Jahren aufgrund seiner Familiengeschichte mit Budō vertraut gewesen war, aber erst 1932 nach seinem Eintritt in die Takushoku-Universität mit dem Karate unter Funakoshi Gichin und Yoshitaka begonnen hatte.53 Des Weiteren bedarf die Entwicklung einer solch hochgraduierten und ausgereiften Kata, wie ich später darlegen werde, einer langjährigen Karate-Praxis und philosophischen Beschäftigung. Daher erachte ich es als unwahrscheinlich, dass der damals noch relativ junge Karate-Anfänger dazu imstande gewesen wäre, selbst wenn er bereits ein paar Jahre Karate betrieben hätte.
An einigen Stellen habe ich auch die Annahme gehört, dass Itosu Ankō die von Funakoshi in Meikyō umbenannte Rōhai-Version entwickelt haben könnte, was ich hier ebenfalls als wenig haltbar betrachte. Warum sollte Itosu die Kata Rōhai in drei Kata aufsplitten, um diese drei danach wieder in einer neuen Kata zusammenzuführen?