Über den Autor
Prof. Dr. Enno Edzard Popkes forscht und unterrichtet zum Themenschwerpunkt ,Geschichte und Archäologie des frühen Christentums und seiner Umwelt‘ an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender der „Kieler Akademie für Thanatologie e.V."
Über das Anliegen der Reihe ,Platonisches Christentum‘
Christliche Theologie wurde seit ihren Anfängen durch Auseinandersetzungen mit dem Platonismus geprägt, die verschiedene Formen eines ,platonischen Christentums‘ inspirierten. Die Beiträge der Reihe ,Platonisches Christentum‘ nehmen diese Entwicklungen auf und stellen einen neuen Ansatz zur Diskussion: Jene Erfahrungsmuster, die heute mit dem (unpräzisen) Begriff ,Nahtoderfahrungen‘ bezeichnet werden, haben bereits die Entstehung des Platonismus und des frühen Christentums geprägt. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen ,Tod‘ im Generellen und mit sogenannten ,Nahtoderfahrungen‘ im Speziellen eröffnen Zugänge zu neuen Formen platonisch-christlicher Religiosität.
Die Erträge der Editionen dienen der Förderung der Forschungsprojekte der ,Kieler Akademie für Thanatologie e. V.‘
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Satz und Layout: Gerhild Schiller
© 2019 Popkes, Enno Edzard
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783750442818
Mit der Edition der Bände ,Platonisches Christentum‘ verfolge ich zwei Anliegen. Einerseits möchte ich in allgemeinverständlicher Sprache die Erträge und die Konsequenzen skizzieren, die sich für mich aus meinen Studien zur Geschichte des frühen Christentums, zum Platonismus und zu sogenannten ,Nahtoderfahrungen‘ ergeben haben. Andererseits möchte ich eine Diskussion anregen, die nur interdisziplinär und transdisziplinär geführt werden kann1. Beide Anliegen verbindet ein Grundgedanke, der vorausgreifend folgendermaßen umschrieben werden kann: Christliche Theologie wurde seit ihren Anfängen durch Auseinandersetzungen mit dem Platonismus geprägt, die verschiedene Formen eines ,platonischen Christentums‘ inspirierten. Die Beiträge der Reihe ,Platonisches Christentum‘ nehmen diese Entwicklungen auf und stellen einen neuen Ansatz zur Diskussion: Jene Erfahrungsmuster, die heute mit dem (unpräzisen) Begriff ,Nahtoderfahrungen‘ bezeichnet werden, haben bereits die Entstehung des Platonismus und des frühen Christentums geprägt. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen ,Tod‘ im Generellen und mit sogenannten ,Nahtoderfahrungen‘ im Speziellen eröffnen Zugänge zu neuen Formen platonisch-christlicher Religiosität.
Die Grundzüge dieses Ansatzes werden in den fünf ersten Teilbänden dargelegt. Zunächst werden die historischen Hintergründe, die Methodik und die Terminologien dargelegt, auf denen alle folgenden Teilbände basieren (Band 1: Platonisches Christentum: historische und methodische Grundlagen). Der zweite Band bringt zur Geltung, wie früh bereits erste Formen eines platonischen Christentums beobachtet werden können. Dies wird an der Deutung der Gestalt und der Botschaft Jesu erklärt, die das Thomasevangelium überliefert (Band 2: Jesus als Begründer eines platonischen Christentums: die Botschaft des Thomasevangeliums). Wesentliche Bezugsgrößen dieses Konzepts werden im dritten Teilband mit einer Skizze der Theologie Platons dargelegt (Band 3: Die Theologie Platons: Hintergründe eines platonischen Christentums). Vor diesem Hintergrund wird erläutert, inwiefern das Thomasevangelium und das Johannesevangelium Kontrastparallelen bilden, die wie in einem Brennglas die Potenziale und Konfliktpotenziale eines platonischen Christentums zutage treten lassen (Band 4: Das Thomasevangelium und das Johannesevangelium: Wiederbelebungen eines frühchristlichen Diskurses). Der fünfte Band eröffnet jene neue Zugangsperspektive zu diesem Themenfeld, die in den Folgebänden ausgestaltet wird (Band 5: Nahtoderfahrungen: platonisch-christliche Deutungen).
Leit-These der Beiträge der Reihe ,Platonisches Christentum‘: Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen ,Tod‘ im Generellen und mit sogenannten ,Nahtoderfahrungen‘ im Speziellen eröffnen Zugänge zu neuen Formen platonisch-christlicher Religiosität.
An der Fertigstellung dieser Bände waren viele Personen beteiligt. Dies gilt nicht nur für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den Mühen des Korrekturlesens ausgesetzt waren. Es gilt auch für viele Freundinnen, Freunde und Familienmitglieder, die ich immer wieder mit der Frage konfrontiert habe, ob ich die mir vertraute wissenschaftliche Sprache in eine allgemeinverständliche Sprache ,übersetzen‘ konnte. Danken möchte ich im besonderen Maße Sarah Perez Kuwald, Swantje Rinker, Jasmin Reschka-Zielke, Femke Schiller, Gerhild Schiller, Ullrich Schiller, Dr. Stephanie Gripentrog-Schedel, Tim Schedel und – last, but not least – meiner Mutter Maria Luise Popkes-Wilts.
Kiel-Kronshagen, im Frühjahr 2019 Enno Edzard Popkes
1 Um eine interdisziplinäre und transdisziplinäre Anschlussfähigkeit zu ermöglichen, werden fachspezifische Diskurse nur in einem eingeschränkten Maße dokumentiert. In Bezug auf detaillierte fachspezifische Diskurse verweise ich auf meine Vorarbeiten und Forschungsprojekte, die im Literaturverzeichnis bzw. in den Fußnoten angegeben sind.
Im ersten Teilband der Reihe ,Platonisches Christentum‘ werden die historischen, methodischen und terminologischen Grundlagen erläutert, auf denen die Folgebände basieren. Zunächst soll skizzenhaft angedeutet werden, wie die mit den Begriffen ,Platonismus‘ und ,Christentum‘ bezeichneten Denkansätze sich in ihrer Geschichte wechselseitig beeinflusst haben und welche Potenziale einem neuen Ansatz zu ihrer Vermittlung innewohnen (2.). Daraufhin wird die historisch-kritische und diskursanalytische Methodik erläutert, mit der die entsprechenden Facetten der Geschichte des frühen Christentums betrachtet werden (3.). Vor diesem Hintergrund kann herausgearbeitet werden, warum ein platonisches Christentum als eine Form einer rationalen Religiosität zu verstehen ist (4.). Abschließend werden die Leit-Thesen der einzelnen Arbeitsschritte nochmals zusammengefasst (5.).
Die Entwicklung des frühen Christentums wurde tiefgreifend durch die Philosophie Platons und platonische Lehrer(innen) und Schulen geprägt2. Seit dem frühen Christentum wird jedoch auch diskutiert, ob es so etwas wie ein ,platonisches Christentum‘ geben kann. Bis in die Gegenwart hinein ist umstritten, inwiefern zwischen Platonismus und Christentum „eine substantielle Unvereinbarkeit zwischen den jeweils zentralen Elementen“3 besteht. Die Diskurse führen zu Einschätzungen, die sich zuweilen diametral widersprechen4. Einerseits kann gefordert werden, dass die „Entplatonisierung des Christentums [...] eine theologische Aufgabe“5 sei. Andererseits lassen sich Stimmen vernehmen, denen zufolge auch für weitere Entwicklungen christlicher Theologie „das Potenzial platonischen Denkens keineswegs als erschöpft gelten“6 darf.
Leit-These 1.1: Bis in die Gegenwart hinein wird diskutiert, ob es ein ,Platonisches Christentum‘ überhaupt geben kann oder ob die mit den Begriffen ,Platonismus‘ und ,Christentum‘ bezeichneten Systeme in zentralen Aspekten nicht miteinander vereinbar sind.
Angesichts derartig gegensätzlicher Einschätzungen soll im folgenden Arbeitsschritt skizziert werden, wie sich die Diskurse geschichtlich entwickelt haben und in welcher Weise sie weiter entfaltet werden können.
Zunächst wird erläutert, warum bereits die Verwendung der Begriffe ,Platonismus‘ und ,Christentum‘ Probleme bereitet (2.1). Daraufhin werden die frühen Formationen der Diskurse und ihre facettenreichen Wiedergeburten skizziert (2.2 bzw. 2.3). Ebenso wird dargelegt, warum jene Bewegungen, die mit den ebenfalls problematischen Begriffen ,Gnosis‘ bzw. ,gnostisch‘ bezeichnet werden, lediglich als Nebenwege der Begegnungen von Platonismus und frühem Christentum zu verstehen sind (2.4). Vor diesem Hintergrund kann skizziert werden, worin der neue Ansatz besteht, der mit den Teilbänden der Reihe ,Platonisches Christentum‘ zur Diskussion gestellt werden soll. Es handelt sich um die Revitalisierung von Diskursen, die bereits die Geschichte des frühen Christentums geprägt haben und die heute neu zu führen sind. Zunächst wird angedeutet, mit welchen Leitgedanken antik-mediterrane und zeitgenössische Diskurse zueinander in Beziehung gesetzt werden sollen (2.5). Daraufhin wird vorausgreifend ein Themenfeld angesprochen, dem im Rahmen der Reihe ,Platonisches Christentum‘ eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, nämlich dem Themenfeld ,Seele‘, ,Seelenwachstum‘ und ,Seelenwanderung‘. Diesbezüglich muss zunächst vergegenwärtigt werden, warum der Begriff ,Seele‘ ein Kristallisationspunkt platonisch-christlicher Diskurse ist (2.6). Ebenso wird zur Geltung gebracht, worin Spezifitäten der Seelenwanderungslehre Platons bestehen, die für das zur Diskussion gestellte Verständnis eines platonischen Christentums von zentraler Bedeutung sind (2.7). Daraufhin werden christliche Auseinandersetzungen mit diesen Zügen platonischen Denkens betrachtet (2.8). Eine besondere Aufmerksamkeit verdient dabei das monumentale Werk des Origenes, das einen diskursanalytischen Sonderfall verkörpert (2.9). Zum Abschluss des Kapitels wird erläutert, warum insbesondere Seelenwanderungsvorstellungen eine Differenzierung zwischen einem ,platonischen Christentum im weiteren Sinne‘ und einem ,platonischen Christentum im engeren Sinne‘ nahelegen (2.10).
Weitere Facetten dieser historischen Grundlagen werden in der Form von Exkursen in die Diskussion eingebracht, und zwar einerseits in Bezug auf das Phänomen eines sogenannten ,Vulgärplatonismus‘ (Exkurs 1) und andererseits in Bezug auf die Begegnungen von Platonismus und Aristotelismus im Kontext christlicher Theologie (Exkurs 2).
In Bezug auf alle Teilbände der Reihe ,Platonisches Christentum‘ gilt es, sich kontinuierlich einen Sachverhalt zu vergegenwärtigen, der auf den ersten Blick paradox erscheinen mag: Den Platonismus gibt es ebenso wenig wie das Christentum. Diesen Begriffen werden vielmehr Schriften, Lehrtraditionen, Vorstellungshorizonte, Diskurspositionen, Diskursträger etc. zugeordnet, die bereits jeweils für sich genommen sehr unterschiedlich sein können. Es handelt sich vielmehr um „Geistesströmung(en)“7, die zuweilen fließend ineinander übergehen.
Leit-These 1.2: Begriffe wie ,Platonismus‘ und ,Christentum‘ sind Kategorien wissenschaftlicher Beschreibungssprache, mit denen die historischen Phänomene oftmals nicht angemessen erfasst werden können.
Die Problematik von Kategorien wie ,Platonismus‘ und ,Christentum‘ kann anhand einer parallelen Fragestellung veranschaulicht werden, welche in der jüngeren Forschungsgeschichte intensiv debattiert wurde, nämlich an den Kategorien ,frühes Judentum‘ und ,frühes Christentum‘. Diesbezüglich wird seit geraumer Zeit zu Recht kritisch hinterfragt, inwieweit religionshistorisch betrachtet überhaupt angemessen von einem ,Parting of the Ways‘ der mit diesen Begriffen bezeichneten Traditionen gesprochen werden kann8. Stattdessen können viele Diskurspositionen, die mit wissenschaftlicher Beschreibungssprache als ,Judenchristentum‘, ,Heidenchristentum‘ oder ,Gnosis-nahes Christentum‘ bezeichnet werden, auch als Teilaspekte einer jüdischen Religionsgeschichte zur Geltung gebracht werden9.
Angesichts dieser methodischen und religionshistorischen Vorbehalte fällt es schwer, Aspekte zu benennen, die ein religiöses System unstrittig als ein ,christliches System‘ erweisen. Einige Diskursteilnehmer(innen) könnten zu der Einschätzung neigen, dass ein solches System einen Bezug zu jenen Worten und Taten haben muss, die mit der Gestalt des frühjüdischen Wanderpredigers Jesus von Nazareth in Beziehung gebracht werden. Doch bereits eine solche Einschätzung sieht sich mit einer Frage konfrontiert, welche die Entwicklungsgeschichte historisch-kritischer Exegese seit ihren Anfängen begleitet, nämlich mit der Frage, inwiefern die Gestalt des sogenannten ,historischen Jesus‘ bzw. ,erinnerten Jesus‘ überhaupt noch greifbar ist bzw. inwiefern die überlieferten Jesus-Bilder nur noch fortgeschrittene Reflexionsebenen widerspiegeln10. So kann z.B. festgehalten werden, dass der Glaube an eine körperliche Auferstehung Jesu und eine damit verbundene sühnetheologische Deutung seines Todes nicht das verbindende Merkmal aller frühchristlichen Systeme war. Gleiches gilt für einen Sachverhalt, der die Problematik von Begriffsdefinitionen veranschaulicht. Selbst die Deutung der Gestalt Jesu als Messias und damit als ,Christus‘ kann nicht als das verbindende Element aller antik-mediterranen Systeme bezeichnet werden, die gemeinhin der Kategorie ,frühes Christentum‘ zugeordnet werden. Ein prominentes Beispiel hierfür ist das Thomasevangelium, welches ein frühes Zeugnis eines platonischen Christentums ist11. In diesem Werk fehlen weitestgehend alttestamentlich-frühjüdische Ansätze einer Deutung der Worte und Taten Jesu. Zuweilen werden sie sogar ausdrücklich abgelehnt (vgl. u.a. EvThom 52; 53). Doch obwohl das Thomasevangelium Jesus nicht als Christus bezeichnet, wäre es religionshistorisch betrachtet unangemessen, es nicht zum Spektrum frühchristlicher Traditionen zu zählen. An einem solchen Zeugnis kann vielmehr erläutert werden, inwiefern Konzepte, die gemeinhin als ,frühchristlich‘ bezeichnet werden, zugleich auch als Teilaspekte platonischer Systeme zur Geltung zu bringen sind. Es handelt sich dabei um frühchristliche Systeme, die jenen Aneignungen platonischer Denkansätze ähnlich sind, die bereits in hellenistisch-jüdischen Traditionen zu beobachten sind (exemplarisch sei verwiesen auf die Werke des Religionsphilosophen Philon von Alexandrien und des Historikers Flavius Josephus).
Die vielfältigen Gestaltwerdungen christlicher Systeme wurden durch Interaktionen mit ihren jeweiligen kulturellen Kontexten inspiriert. Eine besondere Intensität entfalteten in diesen Prozessen wiederum Auseinandersetzungen mit Denkern, Lehrtraditionen, Vorstellungshorizonten, Diskurspositionen etc., die dem antiken Platonismus zugeordnet werden können12. Verschiedentlich wurde die These vertreten, dass die Platonisierung des Christentums ein zentraler Aspekt jener ,Hellenisierung des Christentums‘ sei, ohne welche die Entwicklungen altkirchlicher Lehrbildungen nicht angemessen zu verstehen sind13. Eine solche Einschätzung ist jedoch – um es vermittelnd auszudrücken – nicht unproblematisch. Sie könnte den Eindruck vermitteln, dass es irgendwann einmal eine noch nicht hellenisierte und ,unverfälschte‘ christliche Lehre gegeben haben soll. Dies ist religions- und philosophiegeschichtlich betrachtet unsachgemäß14. Vielmehr gab es seit den Anfängen des frühen Christentums verschiedene Systeme, die mehr oder weniger intensiv durch Auseinandersetzungen mit ,hellenistischen Vorstellungshorizonten‘ geprägt waren15. Bis in die Gegenwart hinein haben sich platonische und christliche Systeme und Denkfiguren aufeinander zu oder voneinander weg bewegt. Die auf diese Weise entstandenen Diskurse betrafen verschiedenste Themenfelder, z.B. das Verständnis von Gott und der Erschaffung der Welt, das Menschenbild, ethische Konzeptionen, das Verständnis erotischer und karitativer Liebe, Vorstellungen von einer postmortalen Existenz etc.16
Die Komplexität der Entwicklungsprozesse tritt noch deutlicher zutage, wenn zwischen impliziten und expliziten Begegnungen von antikem Platonismus und frühem Christentum unterschieden wird.
Leit-These 1.3: Obwohl explizite Auseinandersetzungen mit platonischen Denkansätzen erst in christlichen Zeugnissen des zweiten Jahrhunderts dokumentiert sind, lassen sich implizite Bezugnahmen (Diskursfragmente) bereits auf frühesten Entwicklungsstufen christlicher Theologie beobachten.
Als explizite Begegnungen können Meinungsbildungsprozesse bezeichnet werden, in denen die jeweiligen Diskursteilnehmer(innen) Rekurse auf platonische oder christliche Konzepte unmissverständlich als solche kenntlich gemacht haben. Von impliziten Begegnungen kann gesprochen werden, wenn in entsprechenden Reflexionsprozessen Denkmuster begegnen, bei denen eine christliche oder platonische Herkunft möglich erscheint, aber nicht benannt wurde. Für derartige Phänomene wird zuweilen der Begriff ,Vulgärplatonismus‘ verwendet, der in einem Exkurs erläutert werden soll.
In vielen frühjüdischen und frühchristlichen Zeugnissen lassen sich Analogien zu oder Abgrenzungen von platonischen Denkansätzen beobachten, ohne dass dieselben explizit als solche kenntlich gemacht wurden. Exemplarisch sei verwiesen auf die anthropologischen Züge der frühjüdisch-weisheitlichen Schrift ,Sapientia Salomonis‘ (vgl. u.a. SapSal 8,19f.; 9,15), auf die von Paulus in 1 Kor 15* debattierten und kritisierten Auferstehungsvorstellungen und auf die platonische Deutung der Gestalt und Botschaft Jesu, welche das Thomasevangelium überliefert (vgl. v.a. EvThom 7/49/50/83/84 etc.). In wissenschaftlicher Beschreibungssprache werden derartige Phänomene zuweilen despektierlich als ,Vulgärplatonismus‘ bezeichnet, der einen ,diffundierenden Platonismus‘ widerspiegelt17. Dieser Sachverhalt kann eindrücklich an den sogenannten ,Nag-Hammadi-Kodizes‘ erläutert werden. Auch wenn viele dieser Traktate deutliche Bezüge zu platonischem Gedankengut aufweisen18, so begegnen in ihnen keine explizit kenntlich gemachten Zitate eines platonischen Dialogs oder eines in der Tradition Platons stehenden Denkers. Dies gilt sogar für einen Text wie NHC VI,5, der unstrittig als eine Übersetzung des Mythos von den unterschiedlichen Anteilen der menschlichen Seele identifiziert werden kann, den Platon in seinem Dialog Politeia entfaltet (Platon, Polit. 588 a – 589 b). Diese Übersetzung ist freilich nicht nur ausgesprochen misslungen, sondern sie lässt auch nicht erkennen, dass überhaupt noch bekannt war, auf wen dieser Mythos eigentlich zurückgeht19. Gleichwohl verdienen religionshistorisch betrachtet auch diese Formen einer Wirkungsgeschichte platonischen Denkens Aufmerksamkeit, da sie partiell veranschaulichen, dass entsprechende Welt- und Menschenbilder als subjektiv plausible Denkstrukturen wahrgenommen wurden20.
Signifikante Beispiele für frühe Bezugnahmen auf Platon bzw. platonische Texte, die von christlichen Denkern explizit als solche benannt wurden, finden sich u.a. bei Valentin und Justin, dem Märtyrer21. In ihren Beiträgen zeichnen sich Konstellationen der Diskurse ab, welche in späteren Entwicklungsphasen vielfach variiert wurden. Paradigmatisch hierfür ist jenes von Justin literarisch stilisierte Gespräch, das gemäß seiner lateinischen Überlieferung als Dialogus cum Tryphone Judaeo bezeichnet wird. In diesem Rahmen nimmt Justin nicht nur verschiedentlich auf Platon Bezug, sondern dokumentiert zugleich das Phänomen einer subversiven Aneignung. Einerseits lässt Justin den älteren Gesprächspartner ausgerechnet „in einer Art sokratischem Dialog die Unzulänglichkeit der platonischen Lehre“22 darlegen. Andererseits lassen die von ihm dargebrachten Argumente ihrerseits eine große Nähe zu platonischen Denkansätzen erkennen23.
Eine noch offenere Haltung gegenüber Platon lässt sich demgegenüber bei Valentin beobachten, der für die vorliegende Themenstellung in vielfacher Hinsicht von Relevanz ist. Dies gilt vor allem für die Frage, in welchem Verhältnis die nur fragmentarisch überlieferten Traditionen zu Valentin in die Geschichte sogenannter ,gnostischer Systeme‘ eingeordnet werden können (zur Problematik der Terminologie ,Gnosis‘, ,gnostisch‘ bzw. ,Gnostizismus‘ vgl. Kapitel 2.4). Auch wenn Valentin inzwischen vielfach nicht mehr als der Gründer einer ,gnostischen Schultradition‘ wie dem Valentinianismus gesehen wird, so lassen die mit seinem Namen verbundenen Textfragmente eindrücklich einen „biblischen Platonismus“24 erkennen, der einerseits in der Tradition des frühjüdischen Mittelplatonikers Philon von Alexandrien steht und der andererseits einem christlichen Denker wie Clemens Alexandrinus den Weg bereitet25.
Die skizzierten Traditionslinien führen wiederum zu einer Gestalt, die für das Verständnis impliziter und expliziter Begegnungen von Platonismus und frühem Christentum von besonderer Relevanz ist, nämlich zu Origenes. In der Persönlichkeit und den Werken des Origenes erreichte „die theologische Reflexion des antiken Christentums erstmals das zeitgenössische Niveau fachphilosophischer Diskussionen und die biblische Exegese Standards wissenschaftlicher Textkommentierungen“26. Dass das Werk Platons bzw. platonische Denkansätze dabei wichtige Bezugsgrößen bildeten, lässt sich an vielen Themenfeldern erläutern, und zwar sowohl in Bezug auf kritische Ablehnungen derselben, als auch in Bezug auf produktive Aneignungen27. Einen Sonderfall verkörpert diesbezüglich wiederum das zwischen 245 und 248 n. Chr. entstandene Spätwerk Contra Celsum28, welches in der Geschichte der Begegnung von Platonismus und frühem Christentum eine in mehrfacher Hinsicht außergewöhnliche Diskurskonstellation zu erkennen gibt. Zum einen wäre ohne Contra Celsum die wohl älteste explizite Kritik eines platonisch orientierten Denkers am frühen Christentum nicht mehr bekannt29. Zum anderen formulierte Kelsos in seiner schon zwischen 177 und 180 n. Chr. verfassten Schrift Alethes Logos Kritikpunkte gegenüber christlichen Welt- und Menschenbildern, die inhaltlich-sachlich betrachtet neuzeitliche Entwicklungen vorwegnehmen (zentrale Inhalte „dieses ersten Generalangriffs eines Philosophen auf das Christentum“30 sind z.B. die Vorstellung einer körperlichen Auferstehung, sühnetheologische Deutungen des Todes Jesu, die Jesus zugeschriebenen Wunder und Heilungen, die legendarischen Erzählungen von der Geburt Jesu etc.). Gleichwohl lässt auch die zuweilen scharfe Kritik des Origenes an Kelsos ihrerseits deutliche Züge platonischen Denkens erkennen31. Diese Aspekte sind auch für die diskursanalytischen Zugangsperspektiven der Teilbände der Reihe ,Platonisches Christentum‘ von hoher Relevanz. Denn obwohl seit der Spätantike verschiedene Varianten des Vorwurfs diskutiert wurden, dass Origenes „(zu sehr) Platoniker“ sei, „um noch als rechter Christ gelten zu können“32, ist diskursanalytisch betrachtet unstrittig, dass seine Diskussionsbeiträge wie in einem Brennglas die Potenziale und Konfliktpotenziale derartiger Vermittlungen zutage treten lassen.
Der skizzierte Sachverhalt entspricht der eingangs angesprochenen Frage, inwieweit es so etwas wie einen ,christianisierten Platonismus‘ oder ein ,platonisiertes Christentum‘ überhaupt geben kann. An dieser Frage treten die zuweilen völlig konträren Einschätzungen zutage, in welchem Verhältnis die jeweiligen Systeme eigentlich zueinander stehen. Das Spektrum konträrer Haltungen lässt sich mit Einschätzungen veranschaulichen, die bereits in frühen Formationen des Diskurses formuliert wurden. So konnte z.B. Tertullian, der als der (wohl) erste in lateinischer Sprache schreibende Theologe das Christentum als einen potentiell positiven Bestandteil des Imperium Romanum zu verteidigen versuchte33, eine kritische Gegenüberstellung platonischen und christlichen Denkens formulieren, welche der Sache nach oftmals wiederholt wurde:
Tert., Praescr. VII 8-13: „Was haben also Athen und Jerusalem gemeinsam, was die Akademie und die Kirche, was Häretiker mit Christen? Unsere Unterweisung kommt aus der ,Halle Salomos‘ […], der dazu in eigener Person gelehrt hatte, daß man den Herrn ,in der Einfalt des Herzens‘ suchen müsse […]. Sollen diejenigen für sich zusehen, die ein stoisches, ein platonisches, ein dialektisches Christentum hervorgebracht haben (Viderint qui Stoicum et Platonicum et dialecticum christianismum protulerunt). Für uns ist Wißbegier keine Notwendigkeit seit Jesus Christus, Forschung kein Bedürfnis seit dem Evangelium. Indem wir glauben, verlangen wir, nichts darüber zu glauben. Dies glauben wir nämlich zunächst: daß es nichts gibt, was wir darüber hinaus glauben müßten.“34
Diese Einschätzung, welche sowohl die rhetorische Kunstfertigkeit als auch die polemische Emotionalität der Schriften des Nordafrikaners plastisch vor Augen führt, widerspricht freilich nicht nur weiteren Zügen von Tertullians eigenen Werken, sondern auch der „Wahrheit des geschichtlichen Sachverhaltes“35. Einflüsse platonischen Denkens lassen sich nicht nur inhaltlich-sachlich in vielen altkirchlichen Formierungsprozessen aufweisen, sondern sie werden oftmals explizit als solche begrüßt36. Exemplarisch für einen solchen Kontrapunkt sei auf die Stimme eines Denkers verwiesen, der nicht nur als einer der bedeutendsten und wirkungsmächtigsten Theologen des Christentums verstanden werden kann, sondern der auch die abendländische Philosophiegeschichte maßgeblich prägte und sich seinerseits früh mit platonischen Lehrern und Denkmustern auseinandergesetzt hatte37. Im Rahmen einer Erörterung der Stärken und Schwächen verschiedener Philosophen und ihrer Schulen formuliert Augustinus ein Lob über Platon, welches kaum überboten werden kann:
Aug., De Civitate VIII,5: „Wenn also Platon sagte, weise sei, wer diesen Gott nachahme, erkenne und liebe, und glückselig, wer an ihm teilhabe, wozu dann noch die übrigen durchmustern. Keine anderen sind uns so nahe gekommen wie er und seine Schule. (Nulli nobis quam isti proprius accesserunt).“38
39Praeparatio evangelica