David Carradine (sprich: Kärre-dien), geboren am 8. Dezember 1936 in Hollywood, gestorben am 3. Juni 2009 in Bangkok, erlangte durch seine Verkörperung des Kwai Chang Caine in der Fernsehserie Kung Fu Weltruhm. Mit der Nachfolgeserie Kung Fu – Im Zeichen des Drachen gelang es ihm Mitte der 1990er-Jahre an diesen Erfolg anzuknüpfen. Er hat an insgesamt über 140 Film- und Fernsehproduktionen mitgewirkt und feierte erst jüngst einen neuen großen Erfolg in Quentin Tarantinos zweiteiligem Splatter-Action-Epos Kill Bill. Für seine Paraderolle als Shaolin-Priester Caine fing er an, sich der Kampfkunst zu widmen und kam seitdem nie mehr wirklich davon los. Mit Spirit of Shaolin legt er ein Handbuch vor, das die Absicht hat, das wahre Wesen des Kung Fu zu beleuchten. Denn die Selbstverteidigung ist nur ein unbedeutender Nebeneffekt des großen Ganzen.
Jano Rohleder, Jahrgang 1985, lebt in Groß-Gerau und studiert Amerikanistik und Deutsch an der Universität Mainz. Seit 2003 arbeitet er als freiberuflicher Übersetzer für den Egmont Ehapa Verlag, wo er u. a. am wöchentlichen Micky Maus Magazin und dem monatlich erscheinenden Donald Duck Sonderheft mitwirkt. Spirit of Shaolin ist seine erste eigenständige Buchübersetzung und Veröffentlichung. Die Idee dazu entstand bei einem Treffen mit David Carradine im Dezember 2004. Bei Erscheinen dieses Buches ist bereits ein weiteres in Planung: David Carradines Autobiografie Endless Highway.
www.jano-rohleder.net
www.carradine-buch.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
Die Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel
»Spirit of Shaolin – A Kung Fu Philosophy«
bei Tuttle Publishing, Boston.
Deutsche Erstausgabe
Aus dem Amerikanischen von Jano Rohleder
Überarbeitete und komplett durchgesehene dritte Auflage.
Gesamtwerk:
© 1991, 1993, 2006 by David Carradine
Für die deutsche Ausgabe:
© 2006-2019 by Jano Rohleder
Satz, Umschlagdesign und Gesamtbearbeitung: Jano Rohleder
Coverfoto: Warner Bros. Distributing, Canada
Stance-Zeichnungen: Ken Hay
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany.
Alle Rechte der deutschen Ausgabe vorbehalten.
All rights reserved. No part of this publication may be reproduced,
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without prior permission from the author.
ISBN 978-3-7504-4280-1
dedicated to the
immortal spirit of
David Carradine
– J. R.
Ausgehen ist Leben, eingehen ist Tod.
Gesellen des Lebens gibt es drei unter zehn,
Gesellen des Todes gibt es drei unter zehn.
Menschen, die leben
und dabei sich auf den Ort des Todes zubewegen,
gibt es auch drei unter zehn.
Was ist der Grund davon?
Weil sie ihres Lebens Steigerung erzeugen wollen.
Ich habe wohl gehört, wer gut das Leben zu führen weiß,
der wandert über Land
und trifft nicht Nashorn noch Tiger.
Er schreitet durch ein Heer
und meidet nicht Panzer und Waffen.
Das Nashorn findet nichts, worein es sein Horn bohren kann.
Der Tiger findet nichts,
darein er seine Krallen schlagen kann.
Die Waffe findet nichts, das ihre Schärfe aufnehmen kann.
Warum das?
Weil er keine sterbliche Stelle hat.
– Laozi
Inspiriert und angeregt von
Shifu Kam Yuen,
ohne den es nicht
hätte geschrieben werden können
für Jeff
und alle »Rock Benders«
Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen
ohne die Hilfe, Energie und Inspiration
von mehr Menschen, als ich nennen kann,
manche davon schon Tausende von Jahren tot.
Ich bin euch allen dankbar.
Ich bin besonders der Welt dafür dankbar,
dass sie dieses Buch benötigt und gewollt hat.
Das ist euer Geschenk an mich.
– D. C.
Ich suche nicht danach, die Antworten zu wissen,
sondern die Fragen zu verstehen.
– Caine
Zu wissen ist nicht das, was uns wichtig ist.
Sogar lernen ist nicht so wichtig.
Was wichtig ist, ist zu studieren.
– Der Weise
Vom Unwirklichen führe mich ins Wirkliche;
Vom Dunkeln führe mich ins Licht!
Vom Tode führe mich zur Unsterblichkeit!
– Brihad-Aranyaka-Upanishad
Wenn Sie dieses Buch in Händen halten, sind seit der Idee zur deutschen Veröffentlichung des vor über fünfzehn Jahren in den USA erschienenen Spirit of Shaolin knapp zwei Jahre vergangen. Sie entstand spontan nach einem Treffen mit David Carradine bei einer Signierstunde in Hamburg im Dezember 2004.
Auf einen solchen – zugegebenermaßen doch etwas verrückten – Plan kann man wohl nur kommen, wenn man einige persönliche Voraussetzungen erfüllt. Erstens muss man wirklich Fan des Autors sein. Ansonsten käme es sicherlich niemandem mit halbwegs gesundem Menschenverstand in den Sinn, ein nicht ganz dünnes Buch freiwillig auf eigene Kosten zu übersetzen und zu publizieren. Dann sollte man sehr viel Zeit haben, sehr viel Lust und am besten keine genaue Planung, wann das fertige Buch erscheinen soll. Sonst kommt es doch nur zu nervigen Verschiebungen, über die man sich selbst am meisten ärgert. Ja, ich spreche da aus Erfahrung. Dass einem die Sache auch noch halbwegs Spaß machen muss, versteht sich von selbst.
Noch eine kurze Anmerkung: Es handelt sich bei diesem Band um eine originalgetreue Übersetzung der amerikanischen Ausgabe und somit um das, was der Titel schon besagt – ein Handbuch über die Philosophie des Kung Fu. Da ich selbst Fan von DC bin, war die hinter der Übersetzung steckende Absicht aber vor allem, es den deutschen Fans zu ermöglichen, dieses Buch zu lesen.
Außerdem sei nochmals darauf hingewiesen, dass der Ursprungstext im Jahr 1989 entstanden ist. Die biografischen Informationen zu David Carradine sind also nicht auf dem neuesten Stand, ganz im Gegenteil. Dort, wo mir Informationen vorlagen und es mir nötig erschien, habe ich die jeweiligen weiteren Ereignisse in DCs Leben und Karriere als kurze Fußnote hinzugefügt. Am eigentlichen Text wurden jedoch natürlich keine bedeutenden Änderungen vorgenommen. Die Rechtschreibung versucht der amtlichen Neuregelung mit Stand Herbst 2006 zu folgen. In extremen Zweifelsfällen, bei denen sich kein Referenzbeispiel finden ließ, habe ich so geschrieben, wie es mir logisch erschien.
Sollte Ihnen der Text stellenweise etwas konfus erscheinen, ist das auf das amerikanische Original zurückzuführen. David Carradine schreibt manchmal ein wenig wirr und bringt oft Quergedanken mit ein. Derartige Kuriositäten des Stils habe ich – zur Wahrung der Authentizität – in die deutsche Fassung übernommen.
Ich wünsche nun allen Lesern bei der Lektüre dieses Bandes so viel Freude, wie ich sie bei der Erstellung der Übersetzung hatte. Schicken Sie mir doch, wenn Sie dieses Buch gelesen haben, eine kurze (oder auch lange) eMail an jano.rohleder@gmx.de – ich bin auf Ihre Kommentare und Meinungen gespannt. Fragen beantworte ich natürlich ebenfalls gerne.
Zum Schluss möchte ich noch all denen besonderen Dank aussprechen, die mich bei meinen Übersetzungen generell und bei der Arbeit an diesem Buch unterstützt oder inspiriert haben, in welcher Form auch immer, sei es bewusst oder unbewusst. Das sind: meine Eltern, meine Redakteure bei Egmont, einer der besten deutschen Autoren: Walter Moers, MacGyver, die meisten meiner früheren Englisch-Lehrer von der Luise-Büchner- und der Prälat-Diehl-Schule in Groß-Gerau (Herr Lemke-Koch, Herr Dertwinkel, Frau Armstrong-Arndt und Frau Ait-Ahmed).
Jano Rohleder
Groß-Gerau, Oktober 2006
Anmerkung zur Neuauflage (Oktober 2019):
Die vorliegende Ausgabe vom Oktober 2019 ist komplett durchgesehen und korrigiert worden, die Qualität der Abbildungen wurde deutlich verbessert und die Schreibweise von Fachbegriffen auf den neuesten Stand gebracht. Allen Suchenden wünsche ich weiterhin viel Spaß und Freude mit diesem Buch! – J. R.
Das Schöpferische bringt
unvergleichlichen Erfolg,
durch Ausdauer fördernd.
– Yijing
Vor einigen Jahren hatte ich eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter, die von Shifu Kam Yuen stammte, meinem spirituellen Lehrer und Meister der letzten 18 Jahre. Ich rief ihn zurück und er sagte: »David, ich möchte, dass du ein Buch über das wahre Wesen des Kung Fu schreibst. Durch die vielen Filme, die das Kämpfen verherrlichen, hat jeder ein völlig falsches Bild von Kung Fu. Die Leute verbinden es mit Gewalt und Aggressivität. Sie haben die geistigen und philosophischen Aspekte völlig aus den Augen verloren. Ich weiß jedoch, dass du nie dazu kommen wirst, deshalb werde ich das Buch schreiben und deinen Namen daraufsetzen. Dieses Buch wird dringend benötigt.«
Ab und an stellt mir der Meister eine Aufgabe und ich muss sie erfüllen oder darunter leiden, dass ich es nicht getan habe. Trotzdem habe auch ich dem Meister hin und wieder etwas beigebracht. Wir sind Seite an Seite gewachsen.
Also sagte ich ihm: »Shifu, ich habe dir immer bei allem zugestimmt, was du gesagt oder geschrieben hast, aber wenn es meine Aufgabe ist, dann muss ich es auch tun. Wirst du mir dabei helfen?«
Nach einigem Nachdenken stimmte Shifu Kam Yuen zu. »In Ordnung, David. Aber lass dir nicht zu lange Zeit. Die Welt braucht dieses Buch.«
Es stellte sich heraus, dass diese Aufgabe eine umfangreichere war, als wir beide erwartet hatten. Fünf Jahre vergingen nach besagtem Tag, bis ich das Buch endlich fertiggestellt hatte. Manchmal war Shifu schon so verzweifelt, dass er fast die Hoffnung in mich aufgegeben hätte. »Geduld, Meister«, sagte ich. »Wir haben die Ewigkeit.«
»Du vielleicht«, antwortete er. »Aber ich nicht.«
Es hat in unser beider Leben und in unserer Kunst viele Einflüsse gegeben; zu viele, um über sie alle in diesem kleinen Vorwort zu sprechen. Lassen Sie mich nur so viel sagen: Wenn ich ein Buch über das wahre Wesen von irgendetwas schreiben soll, muss ich zuerst sagen, dass alles eins ist und dass alle Wege der Weg sind.
Ich kann meine Aussagen nicht auf diejenigen beschränken, die sich direkt auf die Kampfkunst des Kung Fu beziehen, denn das Wesen von irgendetwas ist das Wesen von allem. Ich werde meine gesamten Erfahrungen, die ich auf dieser Erde gesammelt habe, hinzuziehen müssen, um mich dem wahren Wesen des Kung Fu, so wie ich es verstehe, auch nur annähern zu können. Und so wie ich es verstehe, ist alles von Bedeutung.
Ich werde versuchen, alles, was ich weiß, hier zu erzählen, doch das Thema, mit dem mich mein Meister beauftragt hat, ist Kung Fu. Deshalb wird es nur wenige Passagen über Jesus Christus geben. Oder über meine gefeierte Familie. Oder Thomas Jefferson. Oder Ludwig van Beethoven. Oder Rock ’n’ Roll. – Nicht etwa, weil ich etwas gegen diese Dinge hätte. Sie sind alle wichtig für mich. Aber dieses Buch handelt von Kung Fu.
Es gibt viele andere Menschen, die geeigneter dafür wären, dieses Buch zu schreiben, aber die Aufgabe ist mir zugefallen. Ich bin kein Meister des Kung Fu. Auch kein Jünger und noch nicht mal ein richtiger Schüler, wenn es nach dem Maßstab einiger Leute geht. Und doch habe ich den Weg des Kriegers mein Leben lang studiert. In gewisser Weise habe ich meine gesamte Existenz damit verbracht, mich darauf vorzubereiten, ein Botschafter der Kunst in ihrer wahren Form zu sein.
Nun, hier ist sie. Ob gut oder schlecht, es ist das Beste, was mir möglich ist. Mehr können wir nicht tun.
Ja, Meister. So sei es.
Niemand hat behauptet, es würde einfach werden, Baby!
– Die Faust der Rebellen
Geduld, Stärke, innere Kraft.
– Shifu Kam Yuen
Die Absicht dieses Handbuchs ist es, das Wissen zu vermitteln, das aus Shifu Kam Yuens fünfunddreißig Jahren des Studierens und Lehrens von Kung Fu gewonnen wurde; ferner aus meiner achtzehnjährigen Verbindung mit seinen Lehrmethoden – und aus meinem Training und Studium für die Rolle des Kwai Chang Caine und darauffolgende. Ich schreibe es, um den Bedarf zu erfüllen, die wahren Lehren und die wahre Philosophie hinter der Kunst des Kung Fu sowie seine Bedeutung für die moderne Welt zu verbreiten. Vieles in dieser Darstellung ist lediglich eine erneute Bestätigung der Prinzipien, die allen echten Martial Artists bereits bekannt sind.
In einer Zeit, in der die Kampfsportarten (oder vielmehr Kampfkünste) wegen ihrer Gewalt stark kritisiert werden, ist es eine zwingende Notwendigkeit, die andere Seite ihrer Entwicklung – nämlich die positiven Aspekte der Künste – aufzuzeigen und einen Plan anzubieten, der den Suchenden zu diesen Wahrheiten führt.
Das wirkliche Wesen des Kung Fu ist nicht Selbstverteidigung, sondern Philosophie. Ich werde versuchen, in diesem Buch das wahre und wirkliche Wesen zu vermitteln, also wird es hauptsächlich um Philosophie gehen. Falls Sie ein Anleitungsbuch mit Illustrationen suchen, die zeigen, wie man mit Räubern und Einbrechern fertig wird, liegen Sie mit diesem hier falsch. Sind Sie jedoch wahrhaft auf der Suche nach Sinn und Bedeutung, auf dem Weg zu Aufklärung und Erleuchtung, dann ist dieses Buch für Sie.
Das Lernen der Kampfkünste verfeinert die menschliche Bewegung, erhöht Geschicklichkeit, Koordination, Entspannung, setzt den Körper klüger ein und vermeidet Verletzungen, schafft eine lebenslange Freiheit der Körperbewegung, stellt den natürlichen Rhythmus wieder her, der durch die modernen Lebensweisen unterdrückt und gehemmt wird. Kung Fu bietet klare Techniken, die jedem dabei helfen können, sein oder ihr Potenzial auszuschöpfen, ein vollkommener Mensch zu werden.
Die Selbstsicherheit, die das Wissen über den Einklang von Körper und Raum dem Schüler geben kann, wird die Furcht für immer vertreiben. Dies ist die wahre Natur der Selbstverteidigung. Sie ist ein kleines Nebenprodukt des wirklichen Studiums von Kung Fu. Kung Fu ist eine vollständige Lebensart, von der Personenkampf der am wenigsten bedeutende Teil ist.
Der geistige Teil des Lehrens wird weit über die körperlichen Aspekte des Kung Fu hinausgehen, alle Vorzüge vergrößern und noch viele mehr bieten: den Einklang mit und das Verständnis von der wahren Natur des Kosmos, in dem wir leben; den Triumph über die meisten menschlichen Probleme – Krankheit, Leid und sogar Tod. Dem möglichen Gewinn für den Schüler sind keine Grenzen gesetzt. Was man hineinsteckt ist das, was man herausbekommt.
Glück hängt von geistiger Gesundheit und innerem Frieden mehr ab als von jeglichen äußeren Faktoren. Das Studium von Kung Fu steigert inneren Frieden, geistige Gesundheit, Stärke, innere Kraft, Geduld.
Kung Fu ist kein Allheilmittel und der Unterricht kann dabei versagen, diese Qualitäten zu vermitteln. Doch vorausgesetzt, dass die Last auf dem Schüler liegt, kann Kung Fu Glück, ein langes Leben ohne Drogen oder andere Plagen, Erfolg, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen bringen; den Geist befreien, um mit äußeren Zwängen besser fertig zu werden; Verständnis lehren und Verwirrung und Frustration beseitigen. Erfolg in allem, was man anstrebt, ist das Ergebnis.
Wahre Meisterschaft des Shaolin-Kung-Fu kann nicht allein durch das Üben und Lernen von Bewegungen und Tänzen erlangt werden. Auch kann der Shifu (der Meister) nicht die vollständige Informationsquelle sein. Dies reicht für den Anfang oder das flüchtige Lernen, ist aber für den ernsthaften Schüler unzureichend. Der Schüler ist auf sich selbst und andere Quellen angewiesen, um sein Wissen zu vervollständigen. Philosophie, Religion, Medizin, Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaft (speziell Physik) muss nachgegangen werden, bis der Suchende ein einigermaßen vollkommenes Verständnis dieser Dinge erlangt hat. Der Schüler muss seinen eigenen Weg gehen. Scheint dies alles zu viel des zu Erreichenden zu sein, sollte man vielleicht seine Ziele noch einmal überdenken und herausfinden, ob man den Willen hat, der dazu nötig ist, das Streben fortzusetzen.
Wie kommt es, dass Ihr diese Dinge hört?
– Grünschnabel
Wie kommt es, dass du sie nicht hörst?
– Meister Po
Im Herbst des Jahres 1971 ist mir etwas ganz Besonderes passiert. Wie außergewöhnlich es sein sollte, wusste ich zu dieser Zeit noch nicht. Niemand tat das.
Ich war gerade aus Arkansas zurückgekommen, wo ich einen Film namens Boxcar Bertha1 gedreht hatte. Die Hauptdarstellerin war Barbara Hershey, Regie führte Martin Scorsese. Es war meine erste große Hauptrolle in einem Kinofilm. Saul Krugman, mein Manager und alter Freund, rief mich an und meinte: »Ich schicke dir ein Drehbuch für einen TV-Film rüber. Allerdings hängt eine Serie mit dran.«
Ich sagte ihm: »Saul, du weißt, dass ich nicht noch eine Serie machen will.« Er antwortete: »Ja, das weiß ich, aber du solltest lieber zuerst dieses Drehbuch lesen.«
Zum besseren Verständnis: Meine Faszination für nicht-westliche Philosophie und exotische Sportarten fing an, als ich etwa fünf Jahre alt war und herausfand, dass mein großer Bruder Bruce – der stärkste Junge, den ich kannte, und der von mir sehr bewundert wurde – zum Teil amerikanischer Ureinwohner war. (Damals nannten wir das »Indianer«.) Ab diesem Zeitpunkt fiel mir alles auf, was indianisch war und ich studierte es und war hoffnungslos süchtig danach.
Kurz bevor ich mein Teenageralter erreichte, war ich wieder von etwas fasziniert – dem Tanzen. So wie ich es in den Filmen sah. Judy Garland, Ray Bolger, Vera-Ellen, Dan Dailey. In der Schule schauten wir jeden Donnerstagabend einen Film. Es war immer entweder ein Western oder ein Musical. Die Western fesselten mich, aber die Tänzer waren ich.
Damals, auf den Bürgersteigen von New York, tanzte ich mir meinen Weg durch Straßenkämpfe und Bandenkriege. Ich nutzte mein Mittagessensgeld, um die Schule ein wenig zu verkürzen und stattdessen ins Kino zu gehen. Ich blieb den ganzen Tag dort. Im Dunkeln, am Broadway, im Paramount oder dem Roxi oder dem Rivoli, sah ich jeden Film mit Fred Astaire und Gene Kelly, den es gab. Dann tanzte ich nach Mitternacht nach Hause, an den Straßenräubern und anderen Gestalten im Central Park vorbeispringend, dem Verkehr auf dem Columbus Circle schnell ausweichend. Meine Steppschuhe machten mich unverwundbar.
Ich bat meinen Vater um Tanzstunden. Doch er erklärte mir: »Keiner meiner Söhne wird seinen Lebensunterhalt mit seinen Füßen verdienen!« Ich fand Geld und nahm heimlich Stunden. Sie hätten mich fast verdorben. Kein großer Stepptänzer hat je von einem Lehrer gelernt. Bill Robinson? James Cagney? Ruby Keeler? Sie haben sich alles selbst ausgedacht. Das Beste, was die Lehrer können, ist zu versuchen dir beizubringen das nachzumachen, was sie selbst nicht verstehen. Ich überlebte die Tanzstunden. Selbst in der Army tanzte ich. In Fort Benning, Georgia; Fort Bragg, North Carolina und Fort Eustis, Virginia war ich ein Star. Ich war damals fünfundzwanzig und tanzte zusammen mit einer »Unterhaltungsdivision«, die ich gegründet hatte. Als ich 1962 entlassen wurde, war ich ein schlanker, zäher Killer-Stepptänzer.
Ich trampte nach Manhattan, wo ein Haufen Wehrdienstverweigerer (die die letzten zwei Jahre versucht hatten, am Broadway vorwärts zu kommen) als Konkurrenz auf mich wartete. Sie sahen meinen Armeehaarschnitt und meine Steppschuhe und lachten. Aber das war mir egal. Ich wusste, wer ich war. Ich hatte meinen letzten Geburtstag damit verbracht, auf dem Bauch im Schlamm eines Übungsgeländes herumzurutschen – mit echten Maschinengewehren, die Leuchtspurgeschosse über meinem Kopf abfeuerten. Mir wurde klar, dass der Broadway einfach nur ein weiterer Hindernislauf war. Ich war Amerikas Kampfmaschine. Diese Typen wussten doch nur, wie man faul auf dem Sofa lag oder sich in der Arbeitslosenschlange bei Jobagenturen anstellte. Und dann war da noch meine indianische Liebe – ich hatte den Donnervogel auf meinem Rücken und er war eins mit mir; ich konnte mich in den Kojoten verwandeln, wenn es sein musste; ich hatte die Klapperschlange um meinen Arm gewunden; ich konnte mit den Augen des Adlers sehen. Der Broadway? Ein Kinderspiel.
Kurz vor meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag trat ich dann am Broadway auf. Es war ein Stück über die Eroberung von Peru – The Royal Hunt of the Sun, in dem ich die Rolle des Atahualpa Capac, dem Häuptling der Inkas, spielte. Sie war mein erster großer Erfolg. In ihr konnte ich alles anwenden, was ich wusste; und das tat ich auch. Ich hatte mich mit Philosophie und Geschichte befasst, Fähigkeiten als Schauspieler und Musiker erworben sowie Kenntnisse in verschiedenen physischen und mystischen Disziplinen erlangt.
Glücklicherweise saß Jerry Thorpe im Publikum – der Mann, der sechs Jahre später der Produzent und Regisseur des Pilotfilms von Kung Fu werden sollte. Als die Story auf seinem Schreibtisch lag, dachte er an mich.
Einige Jahre lang versuchte ich meiner Faszination für die Dritte Welt zu entfliehen, indem ich solche Rollen ablehnte. Ich weiß gar nicht, ob wir diesen Begriff damals schon hatten: »Dritte Welt« – vermutlich nicht. Doch dann, an einem schicksalhaften Tag, ich war gerade draußen in den Wäldern von Arkansas, entschied ich mich um. Wenn es eine fortschrittliche Funktion innerhalb der Gesellschaft gäbe, die ich dadurch erfüllen könnte, dass ich diese Rollen annahm, und anscheinend gab es keinen anderen dafür, und anscheinend wollte jeder, dass ich ja sagte; tja, wer wäre ich dann gewesen, nein zu sagen?
Als das Drehbuch Kung Fu – Im Zeichen von Drachen und Tiger bei mir ankam, wusste ich, dass es das Drehbuch war. Nicht wegen der Martial Arts – darüber wusste keiner von uns auch nur ein bisschen. Sie waren lediglich der Aufhänger des Films. Genauso gut hätte es Basketball oder Skifahren sein können. Es war »das Drehbuch«, weil es eine tolle Geschichte war. Es ging darin um wichtige Dinge und es konnte einen bedeutenden Film ergeben. Und es hatte dieses »Dritte-Welt-Etwas«, nach dem ich gerade suchte. Die Figur des Caine war ganz offensichtlich perfekt für mich.
Zu dieser Zeit hatte ich die Worte »Kung Fu« erst zweimal gehört und ich wusste über östliche Kampfkunst nichts außer dem, was ich in den Filmen gesehen und worüber ich ab und zu etwas gelesen hatte. Ich war jedoch ein Athlet, einigermaßen auf dem Gebiet der Leichtathletik, der Akrobatik und des Turnens erfahren und ich hatte viele Disziplinen der westlichen Kampfkunst kennengelernt: Straßenkampf, Pistolen, Schwerter, Messer, Bogenschießen und Langstock. Und ich hatte etwas Training im Tanzen.
Es ist gut möglich, dass keiner auf diesem Planeten auf so viele verschiedene Weisen wie ich darauf vorbereitet war, die Rolle des Caine zu spielen. Alles, was ich bis zu diesem Zeitpunkt getan hatte, führte mich in gewisser Weise dazu hin.
1 dt.: Die Faust der Rebellen (Anm. des Übersetzers.)
Schwierigkeit am Anfang
bringt unvergleichlichen Erfolg.
– Yijing
Ohne es zu wissen, hatte ich jahrelang dafür gearbeitet, diesen Job zu bekommen. Aber als es dann so weit war, musste ich zweimal vorsprechen, um die Rolle zu ergattern.
Das erste Treffen war mit Jerry Thorpe, Produzent und Regisseur (er machte Die Unbestechlichen); Alex Beaton, Aufnahmeleiter und dafür vorgesehen, der Produzent zu werden; Herman Miller, der Autor und spätere Story-Editor (der das originale Drehbuch von Ed Spielman, das sechs Jahre zuvor geschrieben worden und wegen mangelnden Interesses in der Ablage von Fred Weintraubs Büro verschwunden war, fürs Fernsehen überarbeitete) und David Chow, der chinesische Berater für Geschichtliches und Kampfkunst – ein ehemaliger Judo-Champion und der Mann, der hauptverantwortlich dafür war, dass in kalifornischen Colleges Judo-Kurse eingeführt wurden. David war außerdem Schauspieler und Promoter – er sollte für die Theatralik sorgen, die nötig war, um ein übersättigtes und uninformiertes Publikum für die Künste zu interessieren.
Jerrys Büro befand sich in dem alten Jack-Warner-Bungalow, der, denke ich, ein Anzeichen dafür war, welchen Status er zu dieser Zeit bei Warner Bros. genoss. Ich kam zu dem Treffen mit rasiertem Kopf. Das war vollkommen unbeabsichtigt. Ich hatte mir die Haare aus einem Grund abrasiert, der mit dem Treffen in keinerlei Zusammenhang stand; obwohl ich mich heute natürlich darüber wundere. Für Die Faust der Rebellen musste ich mir mehrere Stellen auf meinem Kopf rasieren, auf die Narben kommen sollten, und danach noch andere, damit ich alt aussah. Am Ende sah ich total bescheuert aus und entschied mich deshalb dafür, alles abzurasieren. Ich kam in der Eingangshalle an David Chow vorbei und er schaute mich an, als würde er einen Geist sehen. Jahre später erzählte er mir, dass er sofort wusste, dass ich der Richtige war.
Mir wurde gesagt, ich solle mich rechts ins Büro setzen und warten. Anscheinend war ich früh (was ungewöhnlich für mich ist). Ich fragte jemanden, wo die Herrentoilette sei, und wurde zu einem schwarz gekachelten Raum – etwa in der Größe eines Tennisplatzes – mit Whirlpool, Sauna und all solchem Schnickschnack geschickt. Auf dem Weg zurück kam ich an einer Art Sitzungssaal voller beschäftigter Mitarbeiter vorbei, der mit riesigen Kristallkronleuchtern ausgestattet war. Sie stammten, wie mir später gesagt wurde, noch aus der Zeit, als Jack Warner den Raum als offiziellen Speisesaal benutzte.
Ich durchquerte den Lärm bis hin zurück zu Jerry Thorpes Heiligstem und setzte mich in einen braunen Sessel in diesem vollkommen braunen Büro. Ein paar Minuten unterhielt ich mich mit Alex Beaton über irgendetwas Unbedeutendes. Dann fuhr ein brauner Lincoln Continental vor und herein kam Jerry Thorpe. Der Raum wurde plötzlich etwas dunkler. Dort stand dieser riesige Mann, komplett in braun gekleidet, mit einem Vandyke-Bart, offensichtlich leicht außer Atem (nun, wie ich sagte, ich war früh – vermutlich musste er von irgendwoher rüberhetzen). Seine durchdringenden braunen Augen brannten sich durch mich hindurch. Als ich ihn das erste Mal sah, war ich mir sicher, dass er der Teufel höchstpersönlich war. Tut mir leid, aber das war eben das, was ich dachte. Ich wurde diesen ersten Eindruck von Jerry nie wirklich los. Mein Verlust.
Jerry Thorpe sah aus wie der mächtigste und wichtigste Mann, den man hoffen konnte zu treffen. Dies stellte sich später als die absolute Wahrheit heraus. Er war ein strenger Meister. Dazu entschlossen und daran gewöhnt, seinen Willen zu bekommen, erwartete er von jedem das Maximum, und wir gaben es oder hatten unter den Konsequenzen zu leiden. Jerry war der Fels, auf dem die Serie gebaut war, und der Mann, der es mir durch seinen persönlichen Mut und Einsatz möglich machte, Berühmtheit zu erlangen. Bis heute würde ich sofort an seine Seite eilen, wenn er mich riefe.
Das erste Treffen war sehr seltsam: Ich mit meinem rasierten Kopf – ich glaube, ich hatte sogar meinen Hund dabei – machte auf Jerry vermutlich den gleichen Eindruck, den er auf mich machte. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt mir ein, dass ich wahrscheinlich barfuß war. Ich hatte mich bereits tief in die Rolle des Caine hineinversetzt.
Jerry übernahm den Großteil des Redens. Er sagte mir, wie sehr ich ihm in The Royal Hunt of the Sun am Broadway gefallen hätte, aber über das Kung-Fu-Drehbuch sprachen wir nur ein wenig. Sie fragten mich, wie ich die Sache mit den Kampfszenen der Show erledigen wolle. Ich sagte: »Wofür gibt’s denn Stuntmen? Und außerdem … ich glaube, ich kriege das schon hin.« Zum Beweis sprang ich in die Luft und berührte den Türpfosten in etwa zwei Metern Höhe mit beiden Füßen. Eigentlich bloß eine akrobatische Tanzbewegung – ein Überbleibsel der Verehrung von Gene Kelly und Fred Astaire aus meiner Kindheit –, aber dadurch überzeugte ich sie von meiner Fähigkeit.
Die Abdrücke meiner nackten Füße sollten für Jahre an dem Türpfosten bleiben. Währenddessen ging ich, ohne zu wissen, ob ich die Rolle bekommen hatte.
zu sehrmögen