Es geschah vor 75 Jahr, Veronika rauft sich das Haar, ach du Graus das Kind will raus. Jetzt aber schnell ins Schwesternhaus. Die Hebamme kommt angesaust. Schon kam ein Schrei und ich war da, ein Mädchen, ach wie wunderbar. Die Mama sagt: »Ich glaub wir nennen sie auch Veronica.« »Nein«, ruft der Papa jetzt recht laut, »Ich nenne es Miriam, denn das gefällt mir sehr.« Schnell war den beiden klar, wir nennen es Miriam Veronica.
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© 2019 Miriam Al Bea
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BoD-Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7504-7794-0
1939 hörte meine Mutter meinen ersten Schrei. Ich war ein Wunschkind, und von der ersten Stunde an Mutters kleine Prinzessin, die man beschützen und verwöhnen musste. Meine Mutter tat das gründlich. Geboren wurde ich im gleichen Krankenhaus in dem 24 Jahre später auch mein Sohn das Licht der Welt erblickte.
Völlig unbekümmert wuchs ich heran, da ich meinem Alter entsprechend nichts von dem Beginn des 2. Weltkrieges mitbekam. Meinen Vater lernte ich noch nicht kennen. Zwei Jahre später wurde mein Bruder geboren. Das war der letzte Fronturlaub meines Vaters. So blieb meine Mutter mit ihrer kleinen Vorkriegsprinzessin und einem weiteren Kriegskind alleine zurück, und machte das Beste aus dieser Situation. Wir drei lebten im Haus von Mutters Schwester, meiner Tante Anna und Ihrem 3 Jahre älteren Sohn Alberto. Im Haus befand sich die Bäckerei meines Onkels, der auch im Krieg war. Meine Großeltern wohnten nur zwei Straßen entfernt. Oma hatte das erst Kind Ihres Sohnes, meine Cousine Vroni, die auch meine Patentante war, angenommen. Somit wurde ich von vielen Frauen verwöhnt.
Die ersten Jahre lebten wir im Parterre in sehr kleinen Zimmern. Später dann im ersten Stock auf der rechten Seite, Tante Anna mit Alberto auf der linken Seite. Im Parterre wurde die Bäckerei wieder in Betrieb genommen, ein Bäcker war eingestellt. Wir hatten eine Küche mit einer Tür ins Elternschlafzimmer. Dort schliefen wir Kinder mit unsrer Mutter im großen Ehebett. Von Vater hörte Mutter nichts mehr, er war vermisst. Später kam er in russische Gefangenschaft in den Kaukasus. Mein Onkel, der Bäcker, war gefallen.
Sehr gut erinnere ich mich an eklige Tierchen, die sogenannten schwarzen Käfer, die Küchenschaben. Immer wenn einer die Küchentür öffnete und Licht anknipste kamen diese Biester aus allen Ecken und rasten kreuz und quer durch den Raum. Für mich gab es nur eine Möglichkeit meine Angst zu bekämpfen, das hieß blitzschnell auf den nächsten Stuhl steigen und nach meiner Mutter zu schreien, die auch sofort herbeieilte um die kleine Prinzessin zu retten. Zu unsrer Wohnung gehörte noch ein Wohnzimmer mit einer Tür zu einem weiteren Zimmer. In diesem Zimmer stand unser Motorrad, Mutter hatte es zu Beginn des Krieges dort in Sicherheit gebracht. Damals wurden ja Autos und Motorräder beschlagnahmt. Von diesem hinteren Raum gingen vier Stufen hoch auf einen sogenannten Speicher. Um in diese hinteren Räume zu gelangen mussten wir von unserer Küche aus einen langen Flur benutzen.
Weil im Krieg das Geld knapp war vermietete meine Mutter in den ersten Jahren das eine Zimmer. Dort wohnten immer irgendwelche Männer. Im Hof war ein kleines Holzhäuschen mit unserem Plumpsklo. Da konnten wir natürlich nachts nicht hin, so mussten wir Nachttöpfe verwenden, was man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Damals war das normal.
Meine Mutter ging zu einem Bauer arbeiten, wir mussten ja leben. Später arbeitete sie noch in einem Lebensmittel Geschäft und pflegte ihre Mutter meine Oma Marie. Wir hatten noch die Oma Annelie, die Mutter meines Vaters. Die beiden Omas waren Welten auseinander. Meine Oma Marie kam aus einem Geschäftshaushalt. Opa hatte eine Schlosserei mit Angestellten und bildete Lehrlinge aus. Meine Mutter ging damals als Schülerin in den Dreikaiserhof, eine höhere Schule. Danach machte sie eine Ausbildung im Konsum (Lebensmittel) und brachte es bis zur Filialleiterin. Als junges Mädchen hatte sie schon ein eigenes Motorrad, was damals überhaupt nicht üblich war.
Wir Kinder hörten immer gerne zu wenn Mutter uns von den Ausfahrten mit ihrer Maschine erzählte, die für die damalige Zeit etwas Besonderes hatte, nämlich eine Karbidlampe. Viele Ausfahrten mit ihren Freunden gingen ins Weiltal. Mutter als Anführerin immer vorneweg.
Bei einer solchen Tour lernte sie unseren Vater kennen, der mit einem Fahrrad unterwegs war. Er war 7 Jahre jünger und kam aus einer anderen gesellschaftlichen Schicht. Klar dass er in Mutters Familie nicht willkommen war. Ab sofort saß er als Beifahrer bei Mutter auf dem Sozius. Die beiden heirateten gegen den Willen meiner Großeltern. Sein Vater war Lumpen und Alteisensammler. An ihn habe ich keine Erinnerung, da er sehr früh verstarb.
Seine Mutter, meine Oma Annelie war eine Engelmacherin. Das alles erfuhren wir natürlich erst als wir das Alter dafür hatten und nachfragen konnten was das ist. Es dauerte lange bis wir das was wir hörten verstanden. Damals war es sicher wichtig dass es Frauen wie Oma gab, denn Abtreibungen waren verboten und uneheliche Kinder undenkbar. So war die damalige Moral. Oma war sehr gefragt, wurde aber trotzdem verurteilt und musste lange Zeit ins Gefängnis. Erst saß sie in Preungesheim in U Haft, danach kam sie nach Darmstadt ins Gefängnis um ihre Haftstrafe abzusitzen. Insgesamt verbrachte Oma 3 Jahre in Haft, das war schon eine lange Zeit.
Ich war immer gerne bei dieser Oma da war es ganz anders als bei Oma Marie. Oma Annelie war sehr herzlich, sie wohnte in einem kleinen einfachen Haus mit Lehmboden. Überall tummelten sich die Ameisen, selbst vorm Kuchen machten sie nicht halt.
Im ersten Stock lebte eine Tante deren Mann verstorben war. In der umgebauten Scheune wohnte einer von Omas Söhnen. Dieser hatte im Krieg einen Schiffsuntergang überlebt und war seitdem geistig stark behindert. Er rannte auf der Straße rum und beschimpfte alles und jeden, schrieb an sämtliche Regierungen lange Briefe. Für uns Kinder war er ein liebenswerter, wenn auch seltsamer Onkel. Wir hatten ihn alle sehr gern.
Mutter sah ihre Aufgabe darin ihrer kleinen Prinzessin alle Wünsche zu erfüllen. Das war auch so wenn ich mal ein Wehwehchen hatte. Es passierte mir einmal dass ich oben an der Treppe zur Straße stand als die Tür zu fiel, mich am Rücken traf, und ich die Treppe runter plumpste. Sofort begann ich jämmerlich nach meiner Oma zu brüllen. Mutter packte mich und lief so schnell sie konnte mit ihrem schreienden Bündel durchs Dorf. Oma konnte mich recht schnell beruhigen. Außer einem fehlenden Zahn war noch alles da. Diesen Zahn fand Mutter später am Fuß der Treppe. Er bekam einen Ehrenplatz, wurde immer mal angeschaut und liegt heute noch in meinem Schmuckkasten. Mein Cousin Alberto ist jetzt 78 Jahre alt und erzählte mir vor kurzem dass alle dachten er habe mich gestoßen. Dafür wurde er vorsichtshalber ordentlich bestraft. Aber es war wirklich nur der Wind, mein Cousin war nicht schuld. Aufregend waren auch die Waschtage. Diese fanden bei Oma Marie statt. Das sah so aus. Mutter lief mit uns Kindern zur Oma. In ihrer Waschküche gab es einen Kupferkessel der von unten beheizt wurde, damit die Wäsche gekocht werden konnte. Danach wurde alles mit einem sehr langen Holzstiel in ein anderes Gerät befördert und dort mit einer Handkurbel durch eine Mangel gepresst. Wenn die Wäsche fertig war durfte ich helfen alles in Körbe zu packen. Diese wuchteten wir auf einen Leiterwagen. Dann ging’s los auf die Bleiche die Wäschestücke teils aufhängen, teils aufs Gras legen. Wir beide mein Bruder und ich waren immer dabei.
Mehrmals am Tag musste die Wäsche gewendet und gegossen werden. Das war meine und Karlis Aufgabe. Wenn alles trocken war holten wir gemeinsam mit Mutter die Sachen heim. Diese Tage waren für mich sehr schön, denn ich durfte endlich mal was helfen. Mein Bruder erzählt heute noch das auch Gänse hüten alleine meine Aufgabe war. Oma Marie erlaubte nur mir ihre kostbaren Gänse die Straße entlang zu treiben bis wir die Wiese erreichten.
Da unser Opa ja eine Schlosserei hatte war es selbstverständlich, dass er, wenn wir Kirmes oder sonst ein Fest hatten, für das Funktionieren der Karussells zuständig war. Für uns Kinder war das super denn wir bekamen immer Freikarten für die Schiffschaukel und zwar so viele wie wir benötigten. Da ich nie genug bekam nutzte ich die Möglichkeit zum Schaukeln oft solange bis es mir total schlecht war und meine Mutter herbeieilte um ihr armes Mädchen heim zu transportieren.
Samstag war unser Badetag. Das war immer eine feine Sache und lief wie folgt ab. Nur für mich gab es frisches Wasser. Dieses wurde auf dem Kohleofen gekocht. Ein Teil davon in einem großen Topf der Rest in dem sogenannten Schiffchen. Dieses Schiffchen war in den Ofen integriert und zwar an der Seite. Es war immer mit Wasser gefüllt. Daraus schöpfte Mutter morgens unser Waschwasser. Auch so eine Sache. Aber erst erzähle ich mal vom Baden.
Eine große Zinkwanne wurde in die Küche geschleppt, mit warmem Wasser gefüllt. Karli wurde ins Schlafzimmer gesperrt, so richtig mit Schlüssel von außen umdrehen, man konnte ja nicht wissen ob er vielleicht mal die Türe öffnen würde und mich nackt sehen könnte. UNDENKBAR!!
Dann durfte ich in die Wanne steigen. Sobald ich sauber und abgetrocknet war kam mein Bruder an die Reihe. Dazu wurde ich ins Schlafzimmer geschickt und die Tür verschlossen. Als letzte badete unsre Mutter im gleichen Wasser, dazu mussten wir beide ins Schlafzimmer. Mit dem Unterschied dass diesmal die Tür nicht abgeschlossen wurde. Dafür gab es einen guten Grund. Denn sobald Mutter im Wasser saß und rief durfte ich aus dem Zimmer um ihr den Rücken zu waschen. Dabei saß sie mit verschränkten Armen in der Wanne und ich stand dahinter. In meine kleinen Hände bekam ich einen großen flauschigen Waschlappen gedrückt. Damit wusch ich mit Eifer Mutters Rücken. Immer wieder schaute ich über ihre Schultern und hoffte das zu sehen was sie da unter ihren Armen versteckte, aber ich konnte nie etwas sehen. Wenn der Rücken schön sauber war lief ich schnell wieder zu meinem Bruder ins Schlafzimmer.
Sobald Mutter kam und uns aus dem Zimmer holte war sie angezogen und wir rätselten weiter. Keiner hat den anderen je nackt gesehen. Ich wusste nur eines, ich hatte oben und unten sowie hinten und vorne, mein Bruder hatte auch noch einen Huju, also ein Teil mehr als ich. Aber was war ein Huju und wie sah so was aus. Ich konnte mir nichts darunter vorstellen. Bekam es auch nie zu sehen. Interessiert hätte uns natürlich auch wie eine Mutter nackt aussieht aber das sahen wir auch nie.
Mutter war sehr auf mich fixiert. Ich wurde geschont wo es nur ging. Ein immer wiederkehrender Ausspruch war: »Unsere Miri kann das nicht« oder »das ist nichts für die Miri« Sie könnte sich ja schmutzig machen, die kleine Prinzessin. Auch mein Bruder hat aufmerksam registriert, dass ich immer im Mittelpunkt stand.
Viele Jahre später hat er mir gestanden, dass er sich oft zurückgesetzt gefühlt hat weil unsere Mutter mich überall mit hinschleppte, sowie alles was ihr Herz bewegte, nur mit mir, wie mit ihrer besten Freundin ausführlich besprochen hat. Heute weiß ich dass sie mich als kleines Mädchen damit total überforderte. Egal wo Mutter hinging, ich musste mit.
Zum Beispiel wenn sie unsere Wäsche aufhängen wollte. Dazu gingen wir über den Flur durch unser Wohnzimmer und das kleinere Zimmer auf unseren Speicher. Während Mutter die Wäsche auf hing stand ich dabei und reichte ihr die Klammern.
In diesem Raum stand unter anderem eine uralte Kommode mit vielen Schubladen. Einmal sah ich dass eine etwas offen stand, die ich nun zuschieben wollte. Ich hatte kaum meine Finger richtig an diesem Fach, da sah ich etwas schwarzes wütendes das sofort anfing zu fauchen mit Pfoten nach mir schlug und mich kratzte. Nachdem ich losschrie lies meine Mutter alles fallen und eilte dem Prinzesschen zur Hilfe. Wir hatten unsere Mühe dieses fauchende Etwas zu beruhigen und anzufassen. Dann sahen wir endlich genau was es war. Ein klitzekleines rabenschwarzes Kätzchen.
Wie immer konnte Mutter mir meinen Wunsch, das Kätzchen zu behalten, nicht abschlagen. Ich taufte es Mohrchen und es gehörte nur mir alleine. Lange rätselten wir wie es in die Kommode kam.
Dann war es klar. Damals wurden oft Katzen gehalten um Mäuse zu fangen. Wir hatten in Tante Annas Haus die Uschi, eine normale Hauskatze. Diese bekam natürlich zweimal im Jahr junge Kätzchen. Das war zu viel, also musste die Geburtenrate geregelt werden, was zu dieser Zeit nicht so einfach war wie heute wo man ein Tier einfach kastriert. Meine Tante hatte ihre eigene Methode. Sobald ein Kätzchen geboren war nahm sie es der Mutter weg, nur eines durfte am Leben bleiben. Wir Kinder sollten nicht merken was mit den kleinen passierte, aber wir fanden Wege es doch zu beobachten. Es war schlimm die kleinen wurden mit voller Wucht gegen eine Wand geschleudert um sie zu töten. Danach endeten die armen Katzenbabys im Plumpsklo. Aber Uschi, die Katzenmutter war schlauer. Sie merkte genau was da passierte und bekam ihre Babys fortan in einem Versteck, und plötzlich liefen halt Kätzchen rum. Ein Versteck war dort wo ich mein geliebtes Mohrchen fand.
Mein Mohrchen war mein ganzer Stolz. Von da an besuchten wir oft zusammen meine Oma Marie. Ich zog dem Katzenkind ein Puppenkleid an, natürlich mein schönstes, das war ein rotes gehäkeltes Kleid meiner Puppe Renate. Meiner allerersten Puppe aus Pappmaschee. Dazu gab’s noch einen Puppenwagen mit großen Rädern, in dem mein Kätzchen saß. So zogen wir los und fühlten uns beide recht wohl. Oft trug ich Mohrchen einfach nur spazieren aber immer im roten Kleid.
Aus irgendeinem Grund passte das alles meinem Bruder nicht, er wollte mein Mohrchen auch mal haben, aber ich behauptete dass es allein meine Katze sei. Da fesselte er mich am Tischbein und schlug wütend auf mich ein. Mein Mohrchen saß ängstlich dabei und miaute jämmerlich. Endlich kam meine Mutter und befreite mich. Das hat Karli nie mehr gemacht er wurde auch ordentlich bestraft. Auch ein Bruder darf eine Prinzessin nicht schlagen.
Ein andermal standen wir beide im Schlafanzug hinter dem Hoftor und schauten den Schafen zu die gerade vorbei liefen. Karli öffnete das Tor, schlüpfte raus und lief mitten in die Schafherde. Man hörte nur noch seine begeisterten Ausrufe »Mähsäfsen, Mähsäfsen«. Zu sehen war er mitten in der stinkenden Schafherde nicht mehr.
Ich entschloss mich dann doch nach längerem überlegen meiner Mutter, die im Hinterhof beschäftigt war, zu sagen, das Karli draußen auf der Straße bei den Schäfchen untergetaucht war. Die lies alles fallen und rannte herbei und rief immer wieder »Karli, Karli …« Als sie ihn endlich inmitten der blökenden Herde entdeckt hatte, kämpfte sie sich zu ihm durch, nahm den völlig verängstigten laut brüllenden Dreijährigen in ihre schützenden Arme, und brachte ihn mühsam und mit Hilfe des Schäfers zurück nach Hause.
Als kleiner Kerl bekam Karli sofort Angst wenn er nach Mutter schrie und sie nicht da war. So erzählte er mir vor kurzem von einem Tag an dem Mutter auf sein Brüllen nicht herbei eilte. Zu dieser Zeit wohnten wir noch im Parterre in den kleinen Kammern, die später als Lagerräume für alles Mögliche genutzt wurden. Er begann nach Mutter zu suchen. Da wir wieder mal eingeschlossen waren, krabbelte er auf den Tisch und stieg im Schlafanzug aus dem Fenster und lief immer nach Mutter schreiend barfuß durch den Schnee auf die Straße, immer weiter weinend rief er »Mutter, Mutter …»Er beruhigte sich erst als unsere Mutter, die nur kurz beim Nachbar war, um Milch für uns zu holen, wieder vor ihm stand.
Wenn ich heute so zurück denke finde ich es schon eigenartig dass wir nie einen Kosenamen für unsre Mutter hatten. Wir kannten das nicht und Worte wie Mutti, Mamma und so weiter waren uns fremd. Wir nannten unsre Mutter einfach nur Mutter. Das find ich heute noch komisch, aber es war halt so.
In unserem Hof gab es auch Stallungen unter anderem einen Schweinestall in dem unser Seppel das Schwein stand. Außerdem hatten wir einen Hühnerstall. In einer anderen Ecke des Hofes war noch eine Mistkaut und davor an der Wand stand unser recht großer Hasenstall in dem viele Stallhasen saßen. An wichtigen Tagen wurde immer einer geschlachtet und gegessen. Überall liefen die Hühner rum. Eine Scheune die wir der Einfachheit halber auch Stall nannten gehörte dazu.
In dieser Scheune stand Tante Annas alte »Nuckelpinne«. Ein dreirädriges Auto Modell TEMPO, das war zu dieser Zeit etwas Besonderes. Wer so etwas nicht kennt, vorne gab es zwei Sitze, hinten eine Ladefläche mit einer großen Tür. In einem anderen Teil des Hofes gab es einen Stall der nur uns gehörte und in dem alles Mögliche gelagert wurde. Zum Beispiel unsere Fahrräder, ein altes Motorrad und viele Ersatzteile für Motorräder . Eine große Werkbank mit allen möglichen Werkzeugen wartete auf Vaters Heimkehr.
Aber zurück zu dem Schweinestall indem unser Seppel, das Schwein stand. Einmal war die Tür nicht richtig geschlossen. Blitzschnell nutzte Seppel die einmalige Gelegenheit und büxte aus um schnell durch das Hoftor zu verschwinden. Mutter, Karl und ich jagten hinter ihm her fast durchs ganze Dorf. Karl schrie plötzlich:
»Ich hab die Wutz, ich hab den Seppel« und wollte ihn schnappen. Bevor er Seppel festhalten konnte drehte dieser sich um und versuchte durch Karls gespreizte Beine zu entwischen. Aber es war unmöglich durch die kurzen Kinderbeine zu schlüpfen. Und schon saß mein Brüderlein rücklings auf dem Schwein und schrie jämmerlich. Mutter und ich rannten nun hinter den beiden her und trieben sie Richtung Hof, kurz davor viel Karl runter ausgerechnet noch in eine Pfütze. Endlich war Seppel auch erschöpft und lies sich ohne weiteren Widerstand in seinen Stall treiben. In Zukunft passten wir besser auf, denn schön war der Ausflug wirklich nicht.
Meine Mutter zog unseren im Krieg vermissten Vater voll in unser Leben ein und vermittelte so, dass er immer an uns dachte. Er vergaß nie an einem Geburtstag oder an Weihnachten seine Kinder. Es kam immer eine Karte und ein kleines Geschenk aus Russland für Karl und mich. Das war spannend, wir warteten ja darauf und wurden nie enttäuscht. Pünktlich an den Geburtstagen oder Weihnachten fanden wir schon am Morgen unser Geschenk hinter der Haustür mitten im Flur. Die Freude war immer riesengroß.
Heute als Erwachsene weiß ich, dass unsre Mutter die Karten schrieb und die Päckchen packte. Sie wollte nicht dass wir unseren Vater, den wir ja eigentlich nicht kannten, vergaßen.
Im Sommer stand manchmal auch Gartenarbeit auf unserem Programm. Dazu zogen wir mit einem Handkarren los zu unserem Krautgarten. Dort gab es eine sehr große Himbeerhecke, Kartoffeln, Tomaten, Möhren, was man halt so hatte. Himbeeren pflücken war noch die schönste Arbeit. Schlimmer war Unkraut zupfen. Allerdings war das für mich nicht das richtige.
Mutter dachte ja, das ist nichts für unsere Miri das arme Kind könnte schmutzige Fingerchen bekommen und auch sonst schmutzig werden. Ach Gott vielleicht fühlt sich die Kleine nicht wohl bei dieser Arbeit und dem Schmutz. Also bekam ich zum Schutz eine weiche Decke untergelegt, auf der ich kniete. Hatte ich die eine Ecke sauber rief ich nach Mutter, die sofort herbeieilte um die Decke wieder neu zu positionieren.
Zum Haus meiner Großeltern gehörte auch ein großer Garten. Dort gab es einen Aprikosenbaum und einen riesengroßen Kirschbaum, viele Himbeeren, Johannisbeeren in allen Farben, Erdbeeren, Kartoffel, Salat und Gemüse. An der Hauswand wuchsen Trauben, am Hang war eine riesige Ligusterhecke, da konnte man sich schon mal verstecken. Im Hof standen zwei große Reineclauden Bäume. In einer Ecke war der Hühnerstall untergebracht. Und überall wunderschöne Blumen.
Diese durften wir nicht anrühren, geschweige auch nur eine pflücken. Das waren heilige Blumen die nur eine Funktion hatten. An Fronleichnam wurden alle gepflückt und auf der Straße verteilt. Durch die stattfindende Prozession waren sie schnell zertrampelt.
Vor dem Haus von Oma Marie gab es einen Bach, an und in dem wir, wenn er nicht viel Wasser hatte, spielen durften. Auch die Straße nutzten wir oft als Spielplatz. Im Sommer liefen wir mit den Rollschuhen auf der Straße und im Winter mit den Schlittschuhen. Das wäre bei dem heutigen Verkehr undenkbar, aber damals im Krieg gab es kaum ein Auto. Weitere Straßenspiele waren Hickelkreis und Ball werfen oder kicken.
Die Oma hatte auch einen Telefon Anschluss, das war in dieser Zeit schon eine Sensation. Im Gegensatz zu heute da ist es normal dass die Kinder schon ihr eigenes Handy haben. Was ich in der heutigen Zeit auch gut finde. Weihnachten war jedes Jahr etwas ganz Besonderes, wir verbrachten alle den Heiligen Abend bei Oma und Opa. Es war immer sehr schön, so richtig gemütlich, man spürte den Zusammenhalt der Familie und die Geborgenheit.
Vor der Bescherung gingen wir in die Kirche, anschließend gab es bei Oma Abendessen für alle. Danach kam das Christkind, das war natürlich für uns Kinder das Schönste. Viel später machten wir uns auf den Heimweg. Wir liefen glücklich und zufrieden durch knirschenden Schnee nach Hause. Eiskristalle glitzerten überall. Als nächstes kam bei Tante Anna das Christkind.
Kaum waren wir in unserer Wohnung angekommen hörten wir schon die Klingel und wussten sofort das Christkind war da, gesehen haben wir es nie, denn es flog immer ganz schnell aus dem Fenster zu vielen anderen Kindern, die ja auch warteten. Mutter hatte stets einen schönen Baum geschmückt unter dem die Geschenke lagen.
Mein Mohrchen saß auch immer unter dem Baum und versuchte mit den Pfoten die Kugeln herunter zu holen. Manche ging dabei zu Bruch. Nur mit dem Lametta hatte Mohrchen viel Mühe, es war nicht so einfach mit den kleinen Pfoten alles vom Baum zu ziehen. Aber geschmeckt hat es meinem Mohrchen, auch wenn ich vergebens versuchte dem Katzenkind das Lametta aus dem Mäulchen zu ziehen. Katzen sind einfach schneller als kleine Mädchen.
Meine Oma Marie hatte Arthritis und konnte kaum laufen. Sie saß in einem Ohrensessel der am Fenster stand. So konnte sie alles sehen was draußen vor sich ging. Meine Patin die Vroni bewohnte mit Bert ihrem Mann ein Zimmer in Omas Wohnung. Die obere Etage war vermietet.
Mutter und ich gingen mehrmals am Tag zu Oma Marie. Sie musste gewaschen und angezogen werden. Das Essen wurde für uns alle gekocht. Dann aßen wir zusammen mit Oma. Danach wurde sie von Mutter wieder ausgezogen und zu ihrem Mittagsschlaf ins Bett gelegt. Die Füße durfte ich hochheben. Endlich konnten wir heim, Mutter arbeitete ja noch beim Bauer und im Konsum. Sobald wir weg, und Opa unterwegs bei Kunden war, wurde Oma aktiv. Sie nutzte die Gelegenheit des Alleinseins und klingelte den Gesellen, die mussten ins Haus kommen und für Oma verschiedene, aber für die alte raffinierte Dame wichtige Dinge, erledigen. Zum Beispiel als erstes die Schnapsflasche suchen, die normalerweise in der Matratzenritze versteckt war. Danach füllten die Gesellen unter Omas Aufsicht Schnaps nach, der wiederum war im Kleiderschrank versteckt. Oder besser gesagt in Sicherheit gebracht. Es handelte sich da um ein besonderes Getränk dass Omas Bruder unser Onkel herstellte. Mutter konnte machen was sie wollte, nichts half Oma war einfach perfekt im Schnaps suchen und finden.
Schlimmer war aber dass die Gesellen Oma auf den Topf setzen mussten, darüber regte Mutter sich täglich auf. Konnte es aber nicht ändern denn Oma war sehr clever. Nachmittags gingen wir wieder hin, die Oma musste ja auch aus dem Bett geholt, angezogen und in Ihren Sessel gesetzt werden. Ich durfte als einzige zu ihren Füßen sitzen und mit ihr reden. Das taten wir zwei täglich und sehr ausführlich. Dabei fühlte ich mich immer richtig wohl und geborgen. Oma Marie konnte nichts selbst machen außer Unfug. Das tat sie gerne und sehr oft. So öffnete sie, wenn keiner da war, das Fenster zur Straße und warf irgendwelchen Leuten die Schlüssel raus und jeder Fremde konnte dadurch ins Haus, vorne dran Zeitungsverkäufer, bei denen sie alles Mögliche bestellte. Mutter hatte genug Mühe diese Verträge rückgängig zu machen.
Da meine Großeltern sehr gläubig waren, gehörte der Kirchgang am Sonntag dazu. Die Familie saß zusammen ordentlich in einer Bank, nur mir passte das nicht, ich wollte partout bei den Nonnen sitzen. Wie so oft erreichte ich auch diesmal mein Ziel. Ach Gott, die kleine Miriam, das Prinzesschen sollte doch da sitzen wo sie sich wohlfühlte. Fortan saß ich zwischen den Nonnen.
Und schon tauchte ein neues Problem auf. Wo sollte ich mit meiner Handtasche hin? Es gab in dieser Bank keine Haken, die Nonnen hatten ja keine Handtaschen dabei. Für Mutter war klar, das Kind musste einen Haken haben. Mein Opa, der ja Schlosser war erledigte das ziemlich bald. So konnte ich schon beim nächsten Kirchgang meine Tasche aufhängen. Vieleicht sollte ich jetzt noch erwähnen dass es ein Luxushaken mit beweglichem Gelenk war?
Der Krieg war zu Ende, auch daran mussten wir uns erst wieder gewöhnen. Es gab kein Sirenengeheul mehr. Plötzlich mussten wir uns nicht mehr im Keller in Sicherheit bringen. Zu jeder Tageszeit konnten wir uns draußen bewegen. Die Amerikaner waren da. Auch bei uns im Ort. In dieser Zeit hatte ich ein ganz besonderes Erlebnis das ich nicht vergesse.
Bei uns um die Ecke gab es ein Gasthaus. In der oberen Etage war ein großer Tanzsaal, der in den letzten Jahren nicht benutzt wurde. Von dort kam uns fröhliche laute Musik entgegen. Meine Mutter war neugierig und wollte mit mir dahin gehen. Dazu machte sie uns schön zurecht und bald liefen wir der Musik entgegen.
Um in den Saal zukommen mussten wir eine breite Treppe hochsteigen. Auf halbem Weg kam von oben ein junger amerikanischer Soldat auf uns zu murmelte etwas und drückte mir eine große braune Papiertüte in den Arm. Ohne einen Dank abzuwarten lief er weiter die Treppe nach unten und weg war er.
Mutter und ich standen erschrocken da ohne zu begreifen was gerade eben passiert war. Neugierig öffneten wir die Tüte und waren überrascht und stumm von dem was wir sahen. Was gab es da für wunderbare Dinge die ich nicht kannte zu sehen: Orangen, Bananen, Bonbons in allen Farben und etwas das bei uns noch unbekannt war - Kaugummi - Für mich als sechsjähriges Mädchen war der Inhalt dieser braunen Tüte wie ein Blick in eine andere Welt, außerhalb der von Lebensmittelmarken und Armut geprägten Wirklichkeit unseres Lebens. Mutter sagte aufgeregt: »Vieleicht wollte der Soldat all diese leckeren Sache einer jungen Frau mitbringen, die dann aber nicht zum Tanzen kam » In meiner Kindheit erlebte ich jedes Jahr einen Schlachttag bei meiner Oma Marie.Dieser Tagliefimmer nach demgleichen Chemaab:
Wir beiden, mein Bruder und ich wurden am frühen Morgen zu Oma gebracht, und im Haus eingeschlossen, weit weg vom Geschehen. Der Metzger kam das Schwein wurde in den Hof gescheucht und festgehalten.
Mittlerweile schafften wir zwei es in das Treppenhaus an ein kleines Fenster zu schleichen, denn wir wollten ja sehen was draußen mit dem Schwein passierte. Die Erwachsenen kämpften mit dem Tier und endlich konnte der Metzger schießen, er zielte und traf sofort. Nachdem der Schlachter das Tier erledigt, ausgenommen und zerteilt hatte wurden wir wieder freigelassen.
Keiner hatte bemerkt dass wir auch das Verbotene gesehen haben. Natürlich hielten wir den Mund denn bei der nächsten Schlachtung wollten wir ja wieder dabei sein. Noch am gleichen Tag wurde die Wurst gemacht, im sauberen Waschkessel gekocht, zum Schluss in der Waschküche aufgehängt. Alsdann gab es tagelang Wurstsuppe mit Mehlklößchen. Eine leckere Sache für uns alle. Gegen Abend trotteten wir todmüde mit unserer Mutter nach Hause und fielen nur noch auf die Couch in unsere Wohnung. Ein erlebnisreicher Tag ging mit frischer Wurst und gutem Brot zu Ende.
Dann im Jahr 1948 veränderte ein Anruf unser ganzes Leben. Was war passiert. Meine Mutter, Karl und ich saßen gemeinsam mit Oma und Opa am Mittagstisch als das Telefon klingelte. Mutter nahm den Hörer ab, lauschte, wurde ganz blass und fing an zu stottern. Ganz leise mit zitternder Stimme sagte sie nur. »Der Heine ist da«
Alle fragten »Was erzählst du denn da, und sahen sie verständnislos an. Langsam wurde uns klar von was Mutter da sprach. Also mein Vater war aus der Gefangenschaft heimgekehrt und lag in einem Lazarett in Bad Hersfeld. Jahrelang gab es kein Lebenszeichen von ihm und jetzt diese Nachricht. Aufgeregt gingen wir mit Mutter nach Hause. Dann war es soweit. An einem bitterkalten Tag mit viel Schnee machten wir uns auf den Weg um diesen plötzlich aufgetauchten Vater zu sehen. Nachdem wir im Lazarett ankamen kümmerte sich eine Schwester um uns und brachte uns in ein Zimmer mit einem Bett.
In diesem Bett lag etwas von dem alle sagten das sei unser Vater. Karl und ich waren uns sofort einig, was nicht so oft vorkam, dieses abgemagerte, verschrumpelte Etwas in diesem Bett konnte unmöglich unser Vater sein, also den wollten wir nicht. Denn unser Vater, den wir nur von Bildern kannten, war ein schöner, großer, dunkelhaariger Mann, und den wollten wir nun auch haben. Mutter blieb aber dabei und sagte immer wieder. Das sei unser Vater.
Wir besuchten ihn sooft es ging, und irgendwann, begriffen wir, dass dieses Etwas doch zu uns gehörte. Als er ein Jahr später zu uns heimkehrte, hatten wir uns damit abgefunden. Jetzt sah er auch schon eher wie ein Vater aus.
In der Zwischenzeit feierten wir meine Kommunion. Durch die Heimkehr meines Vaters bekam die ganze Feier ein anderes Gesicht. Mutter organisierte bei irgendeinem Tauschhandel eine Menge Fallschirmseide und Tante Anna nähte mir ein Kleid. Ich war ein stolzes Kommunionkind mit einem wunderschönen Kleid. Nicht vergessen darf ich meine Handtasche aus Schlangenleder. Wir Kommunionmädchen hatten fast alle die gleiche Tasche, denn ein anderes Modell war damals nirgends aufzutreiben.
Allerdings änderte sich unser Leben komplett. Für meine Mutter blieb ich ihre Prinzessin und Freundin. Für meinen Vater war ich ab sofort NUR ein Mädchen und total unwichtig. Dafür wurde mein Bruder zu Vaters Liebling ernannt. Er war ein Bub mit dem mein Vater mehr anfangen konnte. Karl und ich mussten aus dem Ehebett in ein anderes Zimmer ziehen. Ich bekam ein Bett im Wohnzimmer, Karl kam in das hintere Zimmer. Um dahin zu kommen musste er durch mein Zimmer gehen. In beiden Räumen waren die Fenster vergittert.
Mutter schloss abends sobald wir im Bett waren von außen die Tür ab. So waren wir total isoliert oder besser gesagt eingesperrt. Bei einem Brand hätten wir keine Chance gehabt. Auch hören konnte uns niemand, denn zwischen dem Eltern Schlafzimmer und unseren Zimmern lagen ein langer Flur und die Küche.
Daher wundert es mich nicht, dass ich heute im Alter nirgends schlafen kann sobald eine Tür abgeschlossen wird. In meiner Wohnung sind alle Türen offen, kein Rollladen wird runter gelassen. Selbst die Wohnungstür wird nur abgeschlossen wenn ich weg gehe. Sobald ein Schlüssel umgedreht wird, überfällt mich Angst und Panik.
Mein Vater übernahm jetzt das Regiment, was auch für meine Mutter nicht einfach war. In unserem sogenannten Stall wurde erst mal Ordnung geschaffen. Vater wuselte Tag für Tag rum, und hatte sich bald eine Werkstatt eingerichtet. Sehr schnell schraubte er ein Motorrad zusammen, auch ein passender Beiwagen gehörte bald dazu.
Nachdem Vater wieder arbeiten gehen konnte, leider nicht mehr in seinem Beruf als Ziseleur, ging er jetzt einfach in eine Fabrik. Dort musste er einen Ofen füllen und später wieder leeren. Mehr wurde mir als Mädchen nicht erklärt. Wenn ich fragte hieß es nur: »Du musst nicht mehr wissen, weil du es doch nicht verstehst.«
Bald konnten wir mit unserem Motorrad Ausflüge unternehmen. Mutter saß auf dem Sozius, wir beiden Kinder im Beiwagen. Sicher war das alles für meine Mutter nicht einfach. Denn eine Frau die schon vor dem Krieg eine eigene Maschine fuhr und während des Krieges zwei Kleinkinder durchgebracht hatte, konnte nun nichts mehr selbst entscheiden. Meine Mutter wurde immer stiller und zog sich zurück. Man merkte dass es ihr nicht gut ging, aber gegen Vater konnte sie nichts machen, er war einfach stärker. Vater interessierte das nicht, er lebte sein eigenes Leben. Bald hatte er einige Freundinnen. Wenn er wegging sagte er zu Mutter. »Du willst doch sicher nicht mit« und ging einfach weg. Immer mit Motorrad und Karl im Beiwagen. Viel später erzählte mein Bruder mir, dass sie oft bei einer Greta waren. Diese schickte wenn Vater kam ihren Jungen und Karl in den Hof zum Spielen. Ins Haus durften sie solange Vater da war nicht. Erst als Erwachsene habe ich verstanden was da wohl ablief.
Es gab auch eine Tante Rosa, diese ging bei uns ein und aus, sozusagen eine Freundin der Familie. Mit Arbeitskolleginnen war er viel unterwegs, mal bei Lilo mal bei dieser oder jener. Mutter wusste davon konnte es aber nicht ändern. Das war halt so! Samstagabend ging Vater mit seinen Motorradkumpeln, einer war Onkel Adolf den wir Kinder recht gern hatten, in die Kinospätvorstellung, und danach natürlich noch einen trinken.
Ein einziges Mal durften mein Cousin Alberto und ich mit in eine solche Spätvorstellung. Das war für uns ein ganz tolles Erlebnis, passierte auch nie mehr wieder. Nach der Kinovorstellung hatte Vater genug von uns. Da er mit seinen Freunden noch etwas anderes vorhatte, wollte er uns schnell loswerden, und schickte uns einfach nach Hause. Alberto war drei Jahre älter als ich, also fast erwachsen. Deshalb bekam er die Order gut auf mich aufzupassen.
Wir liefen los Richtung Heimat. Allerdings nicht auf dem direkten Weg. Da Alberto Geld dabei hatte kamen wir auf die Idee in jeder Kneipe an der wir vorbeikamen einzukehren. Egal wo wir strandeten spendierte er mir einen süßen Kirschlikör, auf deutsch er füllte mich regelrecht ab. Mir schmeckte es, ich kannte das ja nicht. Was er trank weiß ich nicht mehr. Auf alle Fälle reichte es um die letzten Meter nach Hause nur noch zu torkeln.
Zuhause angekommen schafften wir es nicht bis ins obere Stockwerk, leise schlichen wir in die Backstube um in den Backmulden zu übernachten. Meine Versuche da rein zu klettern scheiterten alle. Mir wurde so schlecht und alle schönen Getränke kamen wieder raus. Alberto wollte Ordnung schaffen und putzte eifrig hinter mir her, er war ja auch nicht nüchtern. Wir torkelten vorsichtig weiter und irgendwann erreichten wir das Treppenhaus. Dort versuchten wir die Treppenstufen hochzukommen. Selbst das schafften wir nicht mehr. Anscheinend waren wir dabei sehr laut, denn plötzlich gingen oben rechts und links die Türen auf und unsere Mütter kamen raus. Entsetzt schnappte jede ihr eigenes Kind und ruck zuck verschwanden wir in der richtigen Wohnung.
Am nächsten Tag musste ein Arzt kommen da es Albertos Mutter total schlecht ging. Aber mit der richtigen Spritze konnte er meine Tante wieder auf die Füße stellen. Meine Mutter beruhigte sich schneller, sie war heil froh dass ihrem Prinzesschen nichts Schlimmes passiert war. Trotzdem durften wir nie mehr mit wenn die Herren Samstags auf eine solche Tour gingen. Ehrlich gesagt wollte ich auch nicht mehr denn ich habe nicht vergessen wie mies ich mich gefühlt habe. Noch heute betrachte ich Alkohol als meinen persönlichen Feind.
Manchmal half Vater auch mir wenn ich etwas wollte was Mutter partout nicht erlaubte. Ein Beispiel: Meine Klasse fuhr für ein paar Tage in ein Zeltlager auf den Sandplacken, ein Gebiet unterhalb des großen Feldbergs. Nach langem betteln von mir hatte Vater es geschafft Mutter von der Harmlosigkeit zu überzeugen.
Dann ging es los wir kamen mit unserm Begleiter und Aufpasser bald im Lager an und richteten uns ein. Alles war bestens ich war happy auch noch als es zum Schlafen ging. Am nächsten Morgen fingen für mich verwöhntes Kind allerdings schon die Probleme an. Keiner konnte mich so gut kämmen und meine Zöpfe flechten wie ich es von meiner Mutter gewohnt war. Dann fingen auch noch die Buben an mich zu hänseln und an den Haaren zu ziehen.
Dazu muss ich folgendes erklären: Meine Zöpfe waren etwas Besonderes, hingen fast bis an die Knie, jeder im Dorf kannte mich nur als die Becker Miriam mit den langen Zöpfen. Schnell wurde mir klar, dass ich hier in diesem Lager auf keinen Fall bleiben konnte. Ich wollte heim zu meiner Mutter und das sofort. In einem unbemerkten Moment packte ich meine Sachen und machte mich durch Wald und Felder auf den Heimweg. Nachdem ich schon einige Zeit zu Fuß unterwegs war, lief auch die Suche an. Aber ich war clever und schaffte es unbemerkt bis nach Hause. Dort kam ich nachmittags todmüde und hungrig an. Ich wurde nicht freundlich empfangen, aber auch nicht bestraft. Im Gegenteil alle, auch meine Lehrerin, waren froh mich gesund wieder zusehen. Den nächsten Tag konnte ich Gottseidank wie üblich, mit den von Mutter ordentlich gekämmten Haaren genießen. Und schon war für mich meine Welt wieder in Ordnung.
Mein Vater war auch ein begnadeter Kunstradfahrer und 21- mal deutscher Meister in allen Disziplinen. Sein Team nannte man die Gebrüder Becker, es war eine reine Familienmannschaft. Natürlich sollten wir Kinder auch in seine Fußstapfen treten. Bald mussten wir in einen Radfahrclub zum Training. Karli schaffte es im Einer Kunstfahren bis zum Hessenmeister. Mit mir war nicht viel los, notgedrungen fuhr ich Sechser Einrad Reigen, das war etwas Einfaches. Selbst das fiel mir schwer, denn ich hatte einfach keine Lust dazu. Ich wollte lieber daheim bei meiner Mutter und meiner Oma bleiben. Dafür hatte Vater natürlich kein Verständnis. Tapfer ließ ich mich von ihm in die Fahrstunden treiben und übte und übte, aber gut genug für meinen Vater war ich nie.
Zum Glück hatte er ja meinen Bruder mit dem er seine Träume leben konnte. Einen zweiten Versuch startete Vater nochmal mit mir. Er steckte mich in ein Trainingslager für Rollschuhkunstlauf. Das endete nach drei Tagen, da musste er sein heulendes Töchterchen abholen. Von da an hatte ich Ruhe vor seinen sportlichen Aktivitäten. Verwenden konnten die Radfahrer mich trotzdem. Zum Beispiel: Bei Umzügen schön zurechtgemacht im langen weißen Kleid, offenen Haaren, hoch oben auf einem Wagen »ENGEL DES FRIEDENS« Das war schon eher nach meinem Geschmack.
Wir wurden älter, Vater hatte das Zepter voll in der Hand, mein Bruder war für ihn die Hauptperson, Mutter und ich hatten zu spuren. Das schweißte uns noch mehr zusammen. Vater ging oft abends weg oder hatte Spätdienst. Jede freie Minute verbrachte er im Stall an seinem Motorrad, mein Bruder durfte mithelfen. Ich konnte mich immer nur heimlich in den Stall stehlen wenn ich den Geruch von Motoröl genießen oder ein Motorrad anfassen wollte. Denn als nur Mädchen durfte ich das nicht.
Bei diesen heimlichen Ausflügen zu unsren Motorrädern schleppte ich natürlich meine Kätzchen mit. So konnte ich nicht verhindern, dass es auch auf der Werkbank rumturnte. Dabei war es einmal zu stürmisch fiel herunter und landete voll im Motoröl. Da Katzen sich ja nicht so einfach wie ein Hund baden lassen, hatten Mutter und ich ein Riesenproblem mein Mohrchen wieder sauber zu bekommen. Noch heute im Alter genieße ich jedes Motorrad das ich anfassen kann und liebe den Öl Geruch sehr. Es ist mir so vertraut und erinnert mich an meine Kindheit. Mein Spruch ist stets »Wir sind im Öl groß geworden.
Meine Schulzeit ging zu Ende. Ich musste mich für eine Berufsausbildung entscheiden. Von meiner Mutter bekam ich drei Vorgaben. 1.) Eine Lehre im Büro bei einer Firma in unsrer Nachbarschaft. 2.)Schneiderin, was für mich absolut indiskutabel war. 3.) Lehre als Verkäuferin. Nummer drei gefiel mir am besten, ohne zu überlegen entschied ich mich dafür. Meine langjährige Schulfreundin Hilde hatte den gleichen Wunsch. Unsre Mütter machten sich auf die Suche nach einer passenden Lehrstelle. Schon bei unserer ersten Vorstellung wurden wir zu einem Test eingeladen, den wir bestanden. Die Entscheidung war gefallen Hilde und ich konnte unsere Ausbildung in einem der besten Kaufhäuser in Frankfurt, welches noch in Familienbesitz war, beginnen. 3 Jahre in denen wir viele gemeinsame Abenteuer bestehen sollten, lagen vor uns. Nun mussten wir täglich mit der Straßenbahn nach Frankfurt fahren, alleine das war schon ein Abenteuer. Bisher sind wir ja nie alleine so weit von zu Hause weggefahren. Schnell hatten wir alles im Griff. Während unserer Lehrzeit wechselten wir halbjährlich die Abteilung. Am liebsten arbeitete ich bei Lederwaren. Dort blieb ich auch nach der Ausbildung. Das monatliche Gehalt betrug im ersten Jahr 45 DM, im zweiten 55 DM, im dritten 65 DM. Davon erhielt ich pro Woche einen Betrag von 3 DM als Taschengeld, über den ich alleine bestimmen durfte. Es reichte für eine Kinovorstellung am Sonntag plus Cola und Eis.
Die Frankfurter Lehrlinge waren uns in manchen Dingen überlegen, vieles verstanden wir nicht. Da war zum Beispiel die Sache mit der verlorenen Unschuld, darunter konnten wir uns absolut nichts vorstellen. Zumal eine Kollegin ihre Unschuld auf der Kellertreppe verlor. Es wurde immer mysteriöser. Keiner erklärte uns irgendwas, wir zwei hinkten ständig hinter her.
Dann plötzlich änderte sich unsere Situation. Alles war anders an diesem Tag. Hilde und ich kamen mit der Straßenbahn an unserer Station an und wollten, wie immer, den restlichen Weg laufen. Da beobachteten wir, dass vor einem großen Haus Polizei, Krankenautos und ein Leichenwagen standen, eine Leiche wurde herausgetragen. Natürlich blieben wir stehen und verfolgten das Geschehen sehr genau. An unserem Arbeitsplatz angekommen erzählten wir das alles haarklein den Kollegen. Diese informierten uns aufgeregt dass die berühmteste Frankfurter Prostituierte ermordet wurde. Und wir zwei hatten ihren Abtransport aus der Nähe gesehen.
So richtig verstanden wir das das ganze Brimborium und die Aufregung trotzdem nicht. Wir hatten ja keine Ahnung was eine Prostituierte ist und welchen Job sie hat. Es war sicher etwas ganz Besonderes, denn von diesem Tag an gehörten wir dazu und wurden von den anderen Lehrlingen voll akzeptiert.
Nachdem ich meine Lehre begonnen hatte, durfte ich endlich meine Zöpfe abschneiden lassen. Ich bekam wie damals üblich warme Dauerwellen. Das war eine langwierige Prozedur. Der Frisiersalon wurde von meiner Tante geführt, die mit Vaters jüngstem Bruder verheiratet war. Von da ab gehörte regelmäßiger Friseurbesuch zu meinem festen Programm. Das war auch immer etwas ganz besonders. Nach der Arbeit fuhr ich nach Stierstadt, ließ mich verschönern und danach von meinem Onkel nach Hause bringen. Auf dem Heimweg machten wir oft Pausen, unter anderem in einem geheimen Lokal. Wir klingelten, wurden überprüft dann durften wir rein. Wieder etwas das ich nicht so richtig verstand. Auch war mir nie klar was da abläuft. Der Raum war verdunkelt und überall Pärchen. Wir tranken etwas blieben eine Weile dann brachte mein Onkel mich heim.
In Bad Homburg gab es ein ähnliches Lokal welches als Nachtbar bekannt war. Dort kehrten wir auch manchmal ein. Ich durfte leckere Sachen trinken, die ich nicht kannte und die mich lustig machten. Dadurch bekam ein Friseurbesuch immer den Hauch von etwas verbotenem. Mir gefiel das solange bis mein Onkel mir zu viel zu trinken gab und mir ganz elend wurde. Er setzte mich zu Hause hinter dem Hoftor ab und verschwand. Vorher klingelte er noch meinem Vater, der mich mit lauten Worten in Empfang nahm. Von diesem Tag ab war es vorbei mit Friseurbesuch nach der Arbeit und nächtlichen Ausflügen. Fazit: Ich hab es nicht verstanden, aber schön war es immer. Das war mein zweites Erlebnis mit Alkohol. Heute kann mir egal wer Alkohol anbieten, oder wie üblich sagen. »Ach komm ein kleiner Schluck schadet nichts« Ich rühre nichts mehr an, so groß ist meine Angst vor der Übelkeit und dem Gefühl dass der Boden schwankt. Dafür habe ich ein anderes Laster. Ich kann mich nicht beherrschen wenn es etwas Süßes gibt.
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In den Urlaub fuhr Vater gerne mit uns Kindern alleine. Mutter blieb immer zu Hause. Eines Tages wollte er mit uns an die Nordsee. Zu dieser Zeit durfte Karli schon auf dem Sozius sitzen, ich kam in den Beiwagen. Unterwegs fing es an zu regnen und hörte nicht mehr auf. Wir kamen bis Bremen, da waren wir schon total nass. An eine Weiterfahrt war nicht zu denken.