Wer ist der richtige Papst?

Papst Gregor XII. (Angelo Correr) 1406 – 1415

Papst Johannes XXIII. (Baldassare Cosa) 1410 – 1415

Wer hat die Herrschaft in Florenz?

Cosimo de' Medici Il Vecchio 1389 – 1464

Rinaldo degli Albizzi 1370 - 1442

Wer ist der reichste Mann in Florenz?

Palla Strozzi 1372 – 1462

Cosimo de’ Medici Il Vecchio 1389 – 1464

Wer bestimmt in der Medici-Niederlassung in Brügge?

Tommaso Portinari 1428 – 1501 Bankier in der Medici-Bank

Agnolo di Jacopo 1415 Tani – 1492 Bankier in der Medici-Bank

Der blutige Krieg der Rosen

Henry VI. (Lancaster) 1421 – 1471 König von England

Edward IV. (York) 1442 – 1483 König von England

Handelsstreit in der Nordsee

Edward IV. König von England

Hansestadt Danzig

Familie Medici gegen Familie Pazzi

Lorenzo di Piero de‘ Medici Il Magnifico 1449 – 1492

Francesco di Jacopo de‘ Pazzi 1444 – 1478

Feindschaften entstehen

Papst Sixtus IV. (Francesco della 1414 Rovere), – 1484

Die Stadtrepublik Florenz

Wird aus Burgund ein Königreich?

Ludwig XI. König von 1423 Frankreich – 1483

Karl der Kühne Herzog von Burgund und Luxemburg 1433 – 1477

Streit im Burgundischen Erbfolgekrieg

Maximilian I. 1459 – 1519 röm.-dt. König

Die Stadt Brügge in Flandern

Inhaltsverzeichnis

Hamburg, 21.03.2012

»Meine Damen und Herren, ich habe heute alle Ressortleiter zusammengerufen, um einen neuen Themenzweig anzustoßen. Wie wir alle wissen, sind die Entscheidungen und Ergebnisse der Geschichte von mehr oder weniger bekannten Personen abhängig. Damals wie heute sind es immer wieder Männer, aber auch Frauen, die durch ihr Handeln über Krieg und Frieden, Fortschritt oder Vernichtung entscheiden. Es ist mir ein Bedürfnis, die Vergangenheit verständlich, umfassend und hintergründig, aber auch emotional packend darzustellen. Ich stelle mir ein monothematisch konzipiertes Heft vor, in dem eine Epoche oder ein bedeutsamer Abschnitt der Geschichte in ihrem historischen, politischen und kulturellen Zusammenhang beschrieben wird.«

Das Vorstandsmitglied der Verlagsgruppe, Gernot von Westenhausen, strich sich über seinen kurzgeschnittenen grauen Schnauzbart und fuhr dann fort:

»Der Vorstand unserer Verlagsgruppe hat beschlossen, zu unseren erfolgreichen Magazinen „Mensch und Natur“, „Fortschritt und Technik“ ein weiteres Produkt auf den Markt zu bringen, von dem wir erwarten, dass es sich ähnlich erfolgreich einführt wie die anderen. Es soll ein Angebot für unsere Leser mit geschichtlichem Interesse sein.«

Gernot von Westenhausen blickte in die Runde.

»Gibt es noch irgendwelche Fragen?«

Die Teilnehmer schauten erwartungsvoll, ob sich einer vordrängen wollte. Doch keiner wollte sich aus der Deckung wagen und irgendeinen Beitrag oder gar eine Kritik äußeren.

»Dann beauftrage ich Herrn Sven Mittler mit der Übernahme unserer neuen Reihe.«

Er wandte sich dem Genannten zu:

»Sie, Herr Kollege, wählen die geeigneten Leute dafür aus und koordinieren die Recherchen.«

Er blickte in die Runde der Ressortleiterkonferenz.

»Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihre Mitwirkung.«

Er schaute noch einmal in die Richtung von Sven Mittler.

»Herr Mittler, wir treffen uns morgen um 10.30 Uhr zu einem ersten Vorgespräch und bringen Sie Herrn Böhmler mit.«

Die Besprechung war zu Ende, und die Versammlung löste sich mit leisen Gesprächen in kleinen Gruppen, die sich bis in den Flur hinauszogen, auf.

Hamburg, 22.03.2012

Am folgenden Tag erschien pünktlich wie anberaumt Sven Mittler im Vorstandsbüro. Der Chefredakteur Walter Böhmler hatte sich schon vorher eingefunden. Er stand noch wartend an einem großen Panoramafenster und blickte in die Ferne.

»Guten Morgen, mein Lieber. Habe ich gestern die Runde überrollt oder nur verunsichert? Oder täuscht mich mein Eindruck?«, lachte Gernot von Westenhausen zur Begrüßung.

»Nein, ich denke, es ist immer das Neue, das eine Zeit braucht, bis es akzeptiert wird«, gab Sven Mittler in einer philosophischen Floskel als Antwort.

»Nun gut. Setzen wir uns«, meinte das Mitglied des Vorstands, Gernot von Westenhausen, kurz.

Die drei Männer ließen sich in einer bequemen Sitzgruppe nieder.

Böhmler nahm neben dem Chefredakteur auf einer breiten Besuchercouch Platz. Auf dem Tisch standen Getränke und Gläser, doch Gernot von Westenhausen wollte rasch in das Thema einsteigen und vorankommen und bediente sich nicht. Die Besucher waren gezwungen, diesem Beispiel zu folgen und ohne Getränk die Besprechung durchzustehen.

»Ich habe bei meinem Vorschlag an die längst vergangenen Konstellationen gedacht, wie Napoleon und Wellington, Churchill und Hitler, Kennedy und Chruschtschow usw. Aber ich denke bei unserem neuen Projekt an viel frühere Jahrhunderte. Der Vorstand hat meine Idee einstimmig begrüßt und gebilligt. − Was fällt Ihnen zum 15. Jahrhundert ein?«, fragte er, sich unvermittelt an Böhmler wendend.

»Mir fallen sofort Könige, Kaiser, Päpste, Schlachten, Kriege ein«, antwortete Böhmler schnell und ließ sein Wissen aufblitzen.

Der Chefredakteur schmunzelte.

»Ich kann es noch etwas konkreter machen«, sagte Gernot von Westenhausen, der Wortführer.

»Es gab im 15. Jahrhundert sieben deutsche Könige und Kaiser, Rupprecht von der Pfalz, Jobst, beide sind weniger wichtig, dann Sigismund, Albrecht II. auch nicht so wichtig, dann Friedrich III. und sein Sohn Maximilian!.

In dieser Epoche gab es vier französische Könige: Karl VI., Karl VII., Ludwig XI. und Karl VIII.

In England gab es Henry IV und V., Henry VI. und Edward IV., die beiden Rosenkrieger, dann Edward V. und Richard III., dann folgte Henry VII, der erste Tudor.

Nun noch die Päpste jener Zeit: Martin V., Eugen IV., beide hatten jeweils einen Gegenpapst; dann Nikolaus V., Calixtus III., Pius II., Paul II., Sixtus IV., Innozenz III. und Alexander VI., doch der greift schon in das nächste Jahrhundert hinein.

Das habe ich mir alles zusammengeschrieben. Wie Sie sehen, ganz schön viel Personal in einem Jahrhundert. Daher habe ich die wichtigsten auf meinem Merkzettel markiert.«

Er reichte seine Notiz an den Chefredakteur, der sie an Böhmler weitergab.

»Mir wäre aber wichtig, nur einige dieser Herrschaften herauszugreifen, wenn sie für die Geschichte von Bedeutung gewesen sind. Denn ich fokussiere mich auf zwei weniger hochrangige Figuren. Die heißen Tommaso Portinari und Angelo Tani, den Sie auch Agnolo geschieben finden können.«

»Leider habe ich von beiden noch nie etwas gehört«, sagte entschuldigend Böhmler.

»Macht nichts. Muss man auch nicht. Es ist besser, in das Unbekannte der großen Geschichtskiste zu greifen, ohne die geschichtlichen Zusammenhänge im Hintergrund zu vergessen. − Also Tommaso Portinari und Agnolo Tani, um die beiden geht es im Kern, waren zwei Vertreter der Medici-Bank. Auch ihre Väter arbeiteten schon bei der Medici-Bank. Es waren keine einfachen Angestellten, da sie sich auch mit Einlagen an den jeweiligen Niederlassungen beteiligten. Mit diesen beiden Personen geht es auch um zwei Kunstwerke. Aber da werden Sie sicher im Laufe der Zeit selbst darauf stoßen. Mir ist es wichtig, Geschichte an konkreten Personen, in die sich die Leser hineinversetzen können, zu beschreiben. − Jetzt habe ich noch vier wichtige Vertreter dieser Bank vergessen: Giovanni, Cosimo, Piero und Lorenzo de‘ Medici. Daneben gab es noch weniger Wichtige aus dieser Familie.«

Gernot von Westenhausen merkte, dass er sich in die Thematik hineingesteigert hatte und bremste seinen Erzähldrang.

»Von Frauen habe ich überhaupt noch nicht gesprochen, die wirken leider nur sporadisch in der Geschichte oder die Geschichtsschreiber haben das nicht für so wichtig erachtet. Es waren damals andere Zeiten, jedenfalls keine guten für die Frauen. Doch die wirkten oft im Hintergrund. Also viel Arbeit, wie Sie sehen, um zu sichten und auszuwählen. – Aber ich will Sie jetzt nicht weiter von Ihrer Arbeit, die auf Sie wartet, abhalten. Eines noch: Der Vorstand besteht auf die Veröffentlichung der ersten Ausgabe des Magazins zum frühen Herbst. Also dann an die Arbeit!«

Er stand sprunghaft auf. Auch die beiden Besucher erhoben sich sofort. Die Besprechung war zu Ende und Gernot von Westenhausen verabschiedete die beiden Besucher, die sich anschließend in das Büro von Chefredakteur Walter Böhmler begaben.

Das Redaktionsbüro lag im 8. Stock. Durch die großen Fenster konnte der Chefredakteur Walter Böhmler, ohne sich von seinem Schreibtisch erheben zu müssen, die Hafenanlagen, die ein- und ausfahrenden Schiffe, die Schlepperboote, ja den gesamten Schiffsverkehr beobachten. Sein Blick reichte bis zu den Werftanlagen mit den grauen stählernen Gerippen der großen Kräne.

Im Büro angekommen übernahm Böhmler die Gesprächsführung.

»Also, mein Lieber, nun haben Sie miterlebt, wie Arbeit verteilt wird und ehe man sich versieht, hat man ein neues Aufgabengebiet am Hals.« Er lachte etwas gequält zu seiner Bemerkung.

»Ich finde es nicht so schlimm ein neues Aufgabengebiet zu eröffnen. Lassen Sie uns loslegen. Die Uhr tickt schon«, lenkte sein Gesprächspartner ein.

»Ich rate Ihnen, schicken Sie ein paar Leute los, die Ihnen zuarbeiten. Mitunter ist ein Informant vor Ort sehr nützlich. Eine Bitte noch! Es wurde mir von oben geraten eine junge Kunsthistorikerin in diese Aktion einzubinden. Wie gesagt, es geht auch um Kunst. Sie ist schon einbestellt.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Sie wird in einer halben Stunde da sein.«

Dem Ruf der Wechselsprechanlage folgend, ließ er ein trockenes „Soll reinkommen!“ folgen. Es war Dietmar Fischer, ein langjähriger Auslandsreporter, groß gewachsen, sonnengebräunt, im Alter von Anfang fünfzig.

»Endlich seh‘ ich Sie wieder einmal, mein lieber Dietmar. Nehmen Sie Platz! Wo waren Sie denn die ganze Zeit?«

»Ich war für drei Wochen jenseits des großen Teichs. In Cleveland gab es einige Verzögerungen, aber ich habe meine Recherche bereits abgeliefert. Wie ich höre, gibt es neue Aufgaben für mich.«

»Ja, die gibt es, wie Sie sich das denken können. Es ist eine schöne Reise nach Italien, um gleich medias in res zu gehen.«

»Das freut mich. Nicht immer diese USA-Aufträge. Worum geht es denn?«

»Bevor ich Ihnen das verrate, brauchen wir noch eine weitere Person.«

»Wozu? Das können Sie mir auch gleich verraten.«

»Langsam, mein Lieber. Sie sind ein guter Reporter, aber Sie sind nicht in allen Themen gleich gut zu Hause!«

»Wer ist das schon?«, gab Fischer zurück.

»Eben, deshalb gibt es eine weitere Person«, setzte Böhmler dazu.

»Ich brauche dazu noch genauere Auskünfte, um sagen zu können, wen ich für Italien brauchen könnte.«

»Das ist bereits geregelt«, sagte Böhmler mit Deutlichkeit.

Der Redakteur drückte den Knopf der Sprechanlage und sagte:

»Frau Petersen, schicken Sie bitte Frau Weiland herein!«

Es dauerte keine drei Sekunden und an der Bürotür war ein Klopfen zu hören. Nachdem kaum vernehmbaren „Herein“ des Redakteurs, trat eine junge Frau, keine dreißig Jahre alt, in das Büro und blieb neben der Türe abwartend stehen.

»Kommen Sie näher, Frau Weiland«, sagte der Chefredakteur.

Fischer runzelte überrascht die Stirn, denn er war es gewohnt, alleine zu arbeiten. Und jetzt stand da ein „Mädchen“.

Die junge Frau machte einige beherzte Schritte auf den Schreibtisch des Redakteurs zu und blieb neben dem sitzenden Besucher stehen, den sie interessiert anblickte.

»Darf ich Sie bekannt machen? Dietmar, das ist Frau Ines Weiland, Ihre Begleiterin nach Italien. Frau Weiland, das ist einer unser fähigsten Reporter, einsetzbar in der ganzen Welt.«

»Ich verstehe immer noch nicht ganz«, sagte Dietmar Fischer und blickte zu der jungen Frau verwundert hoch.

»Klar«, sagte der Redakteur, »ich erklär‘s gleich. Also, Dietmar, passen Sie auf! Die junge Frau, Ihre Begleiterin auf dieser Reise, ist eine junge Kunsthistorikerin, aber schon eine Fachkraft für Altniederländische Malerei.«

»Aha. Es geht also um Bilder.«

»Gleich um mehrere«, bemerkte erstaunt der Reporter, der die Mehrzahl herausgehört hatte.

»Ja, es geht konkret um zwei Bilder«, ergänzte Böhmler.

»Und um zwei weniger bekannte Personen. Aber das steht alles in diesem Handout«, sagte Böhmler und reichte dem Reporter einen Umschlag.

»Ihre Abreise, Fahrkarten und Hotelbuchung, regeln Sie bitte mit Frau Petersen. Inhaltlich wird Sie Frau Weiland auf die richtige Fährte setzen. Ich verlass mich auf Ihre Fähigkeiten, wie immer.«

Auch für die junge Kunsthistorikerin hielt er einen Umschlag bereit. Er verabschiedete das ungleiche Paar und wünschte eine „gute Reise“.

Hamburg, 26.3.2012

Sie trafen sich im Appartement von Dietmar Fischer.

»Es ist gut, uns vor unserer Florenz-Reise zu besprechen. Es gibt einiges zu besprechen«, begann Frau Weiland das Treffen.

»Ich habe auch einige Bücher besorgt, damit wir nicht ganz unvorbereitet in das Thema hineinstolpern. Wenn Böhmler so auf zwei Außenseiter hinweist, dann werden wir so leicht nicht viel darüber finden. Aber machen wir es uns zuerst einmal gemütlich«, schlug Fischer vor.

Sie nahmen in der Couchecke Platz, dort wo er schon einige Bücher auf das Tischchen vor ihnen platziert hatte.

»Womit fangen wir an?«

»Erst einmal mit einem Getränk«, lachte Fischer. »Was möchten Sie denn gerne?«

»Einen Tee, bitte, wenn es Ihnen keine zu großen Umstände macht.« Ines Weiland hatte schon die Bücher in ihren Blick genommen.

Fischer erhob sich wieder und verschwand in die Küche.

»Ich sehe, hier liegen einige Bücher über die Zeit der Hochblüte der Medici, von 1400 – 1500.«

»Ja, ich denke wir können daraus schon die ersten Informationen entnehmen, da beide ‚Typen‘, um die es Böhmler geht, bei den Medici beschäftigt waren.«

»Gut, erforschen wir zuerst, was wir von den Lebensläufen der beiden herausfinden können.«

Jeder griff sich einen bereits bereitliegenden Notizblock, begann in den Büchern zu blättern und notierte sich nebenher einiges.

Es vergingen nahezu zwei Stunden. Etwas erschöpft klappte einer nach dem anderen die Bücher zu und legten sie auf den Stapel.

»Eine immense Arbeit, ein fast unübersichtliches Feld«, stöhnte Fischer. »Wie können wir vorgehen? Greifen wir uns zuerst die Personen heraus, die Böhmler markiert hat oder gehen wir das Jahrhundert chronologisch durch?«

»Ich denke wir sollten zweigleisig fahren und die Personen in einer Zeitleiste erfassen«, meinte die Kunsthistorikerin.

»Gut, dann beginnen wir chronologisch mit den zentralen Personen: Portinari und Tani,« sagte Fischer entschlossen.

»Können wir wenigstens eine vorläufige Übersicht wagen?«, traute sich die junge Frau das Gespräch zu eröffnen.

»Also, was wissen wir bereits von Tani und seiner Arbeit?«, stieg Fischer in das Thema ein.

»Er war in Brügge und in London tätig«, antwortete die junge Frau.

»Bisher habe ich nur Folgendes herausgefunden: Agnolo Tani wurde 1415, ein Jahr vor Piero de‘ Medici, für den und dessen Nachfolgern er in späteren Jahren bis zu seinem Lebensende tätig war, geboren. Sein Vater, Jacopo di Tommaso Tani, dessen Name in einer Mitarbeiterliste von 1402 der Medici-Bank in Rom notiert ist, war dort unter Ilarione di Lippaccio de‘ Bardi schon in gehobener Stellung tätig.

Agnolo Tani, war anfangs Angestellter und später Minderheitsgesellschafter der Medici-Bank bzw. einer ihrer Niederlassungen. Als tavoliero wechselte er Geld der unterschiedlichsten Herkunft und Ausprägungen im Bereich des Palazzo Medici. Er arbeitete ab 1440 unter Giovanni d’Adoardo Portinari in Venedig. In den Augen der Bankherren in Florenz machte er einen gediegenen und erfolgreichen Eindruck. Vielmehr noch, Tani stand stets loyal und zuverlässig zu ihnen.«

»Welche Geschäfte betrieben die Medici?«, wollte Ines Weiland wissen.

»Die Medici waren nicht nur Geldwechsler, sondern sie betrieben auch Produktionsbetriebe zur Tuch- und Seidenherstellung sowie im Bergwerksgeschäft und später noch in der Goldschlägerei.«

»Und was trieb die Medici nach Brügge?«, fuhr Ines fort.

»Durch den Wollhandel waren Flandern und England wirtschaftlich sehr verbunden. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts war die Medici-Bank durch Repräsentanten dort mit Kaufleuten aus Lucca und Mailand vertreten. Nachdem die „maggiori“, die Chefs in Florenz, mit den Vertretern ihrer Interessen unzufrieden geworden waren, beschlossen sie 1436 einen vertrauenswürdigen und fähigen eigenen Vertreter nach Brügge zu schicken, Bernardo Portinari, der Sohn von Giovanni d‘Adoardo.«

»Und dieser Bernardo eröffnete in London ein Zweigbüro, mit dem er Agnolo Tani betraute, den er gut kannte, da sie beide Seite an Seite in der Faktorei in Venedig tätig gewesen waren.«

»Doch diese Besetzung war nicht zufriedenstellend. Da Tani weder Englisch noch Französisch sprach, kam er nicht recht vorwärts, und als in Florenz beschlossen wurde, die London-Bank von der Brügge-Bank zu trennen, wurde ihm ein anderer vorgezogen, Gerozzo de’ Pigli. Mit ihm wurde ein Vierjahresvertrag abgeschlossen. Tani sollte mit einer höheren Gewinnquote beruhigt und abgespeist werden. Ihm wurde ein Zehntel des Nettogewinns zugestanden. Die maggiori reduzierten dann ihren Gewinn von vier Fünftel auf sieben Zehntel.

Von 1446 bis 1450 arbeitete Agnolo Tani als Assistent von Gerozzo de‘ Pigli. Dann wurde ein Tausch vollzogen, Tani wurde nach Brügge beordert und Simone d‘Antonio Nori wechselte nach London. Tani blieb bis 1468 in Brügge, er war jetzt dort zum Direktor aufgestiegen.«

Fischer fügte hinzu:

»Als Tani geboren wurde, herrschte ein großes Durcheinander in der Kirche, es gab zeitweise drei Päpste gleichzeitig. So bemühte man sich, das seit 1378 andauernde Große Abendländische Schisma in einem Konzil zu beenden. Das Konzil wurde auf Betreiben des römisch-deutschen Königs Sigismund von Gegenpapst Johannes XXIII. einberufen und dauerte von vom 5. November 1414 bis 22. April 1418. Merkwürdigerweise kam nur Johannes XXIII. als einziger Papst selbst nach Konstanz. Die Gegenspieler, der in Rom residierende Papst Gregor XII. hatte das Konzil nicht anerkannt, aber vor seiner Wahl zum Papst einen Eid geschworen, nötigenfalls zurückzutreten, wenn dies zur Beendigung des Schismas dienlich sei. Papst Benedikt XIII. in Avignon weigerte sich dagegen abzudanken und floh nach Spanien. Hauptziele des Konzils waren die Wiederherstellung der Einheit der Kirche, notwendige Reformen innerkirchlicher Zustände durchführen, die Klärung von Fragen der kirchlichen Verkündigung und der Sakramentslehre.

Am 22. April 1418 beendete Papst Martin V. das Konzil von Konstanz, das auch beschloss, sich in zehn Jahren wieder zu versammeln. Die wenigsten Beschlüsse wurden aufgrund der unterschiedlichen nationalen Interessen in diesem Zeitraum umgesetzt. Ein negativer Höhepunkt war, dass, obwohl König Sigismund ihm freies Geleit zugesagt hatte, Jan Hus 1415 verhaftet und als Ketzer verbrannt wurde.«

»Eine unruhige Zeit in die Agnolo Tani hineingeboren wurde.«

»Die Menschen waren jedoch nicht so vernetzt wie heute, so dass sie erst nach einiger Zeit von den Informationen oder gar Ergebnissen und Folgen der Geschehnisse erreicht wurden«, schloss Fischer seine Ausführungen.

Florenz, 29.03.2012

Die Fahrt nach Italien mit einer Zwischenübernachtung in München beanspruchte zwei Reisetage. Die Redaktion hatte keine Flugreise bewilligt. Die beiden Journalisten hatten genügend Zeit, sich über ihr bevorstehendes Programm zu unterhalten. Die Abfahrt von München am späten Vormittag ließ den Tag ohne Hektik angehen. Die Ankunft in Florenz nach einer 8-stündigen Reise kurz vor 20 Uhr war gerade passend für das Abendessen, zu dem sich die Reisenden nach dem Check-in im Hotel verabreden konnten.

Die beiden Einzelzimmer, die sie in einem kleineren Hotel in einer Nebenstraße der toskanischen Hauptstadt, jedoch zentral gelegen, bezogen, waren winzig wie die meisten, die in Italien der mittleren Preisklasse angeboten wurden. Man hielt sich dort nicht gerne lange auf. In der Hotellobby, wo sie sich wieder trafen, ließen sie ihren Unmut über die Unterbringung aus, die ja von Hamburg aus organisiert worden war.

»Verständlich, dass die Italiener lieber auf der Straße oder auf den zahlreichen Plätzen lebten, da auch ihre Wohnungen in den Städten ebenfalls relativ klein waren«, beschrieb Fischer die italienischen Verhältnisse.

»Ein paar Tage werden wir es schon aushalten. Wir sind ja nicht zu unserem Vergnügen hier«, meinte seine Begleiterin, die nicht so sehr an der Unterkunft herummäkelte.

Der nächste Tag war ihr erster Arbeitstag vor Ort. Sie begannen ihn schon sehr früh, die Stadt erwachte erst langsam.

»Wir kümmern uns erst einmal um die Spuren der Familie Portinari. Es gibt beispielsweise eine Straße, einen Palast und eine Kirche, bzw. ein Hospital, das von einem Portinari gegründet wurde. Dem gehen wir jetzt nach«, sagte Fischer, als sich die beiden Deutschen aufmachten, um ihre ersten Erkundigungen einzuziehen.

Die Via Folco Portinari, die über die Via dell‘ Oriuolo vom Domplatz aus, erreicht wird, führt geradewegs auf die Piazza Santa Maria Nuova zu, an der das gleichnamige Ospedale und die dazugehörige Kirche Sant‘ Egidio liegen. Der schöne Platz war jetzt mit einigen Einsatzfahrzeugen des Krankenhauses belegt. Betonabsperrungen und Ketten halten unberechtigte Fahrzeuge fern. Die siebzehn Bögen der Fassade, je drei an den kurzen Seiten und elf an der langen Seite begrenzen den Platz. Im einzigen Obergeschoss wechselen sich Rundbögen und Dreiecksformen über den Fenstern ab.

»Die Portinari müssen schon Geld gehabt haben, um so eine Stiftung machen zu können«, meinte Ines mit Erstaunen.

»Sie taten das auch für ihr Ansehen in der Stadt und um ihr Seelenheil im Jenseits zu sichern«, erklärte Fischer.

Florenz, 30.03.2012

Die Uffizien öffneten pünktlich um 8:15 Uhr. Das Aufsichtspersonal, das gerade erst seine Positionen bezogen hatte, schaute überrascht und argwöhnisch dem Paar nach, das zwar nicht im Laufschritt, aber doch zügig ausschreitend die ersten Säle durcheilten. Einige taten sogar einen Schritt nach vorne, um das Ziel, welches das auffällige Paar wohl ins Auge gefasst hatte, auszumachen. Im Saal 10, der erst durch die Zusammenlegung von fünf Räumen in seiner jetzigen Fläche entstanden war, und der Botticelli-Raum genannt wird, da er mit einer Vielzahl von Botticelli bestückt ist, stießen die eiligen Besucher auf ihr Ziel: den Portinari-Altar. Ein flämisches Werk, das mit seiner Größe Weite und Abstand braucht.

»Im alten Reiseführer von meinem Vater war der Flügelaltar in einem viel kleineren Raum, im Raum 24, untergebracht,« sagte Fischer. »Ich bin froh deswegen, nicht zwei Drittel der riesigen Sammlung durcheilen zu müssen,« fügte er noch an.

Die wenigen Besucher, die schon eingetroffen waren, hatten nur Augen für Botticellis Geburt der Venus und La Primavera, eine Allegorie des Frühlings.

Aber sie standen nun vor dem eindrucksvollen Werk, aus Brügge. Weiland las aus ihrem Führer vor. Die Seite hatte sie schon vorgemerkt, indem sie ihren Daumen an der betreffenden Stelle hineingesteckt hatte:

»Inventar-Nummer 3191, 3192 und 3193, das Mittelteil 253 zu 304 cm, die Flügel 253 zu 141 cm, um 1476, Hugo van der Goes«.

»Hugo van der Goes war also der Maler, kein Italiener, wie ich gedacht habe«, sagte Fischer.

»Richtig. Er stammt aus Gent in Flandern. Sein genaues Geburtsdatum ist unbekannt. Er wurde im Mai 1467 als Meister in die „Malergilde Lucas“ aufgenommen. Von 1474 bis zum 15. August 1476 war er sogar Dekan der Gilde. 1482 verstarb Hugo van der Goes.«

Aufgrund der Höhe des Bildes traten beide Betrachter drei Meter vom Bild zurück. Sie spürten die wachsamen Augen der Aufseher in ihrem Rücken, die sich dann wieder gegenseitig verwundert anschauten. Der Abstand reichte ihnen noch nicht, denn sie mussten die sechs Meter Breite des Bildes immer noch in einem Schwenk erfassen.

»Die Figuren weisen eine beachtliche Größe auf und lassen wohl einen Hang zur Monumentalität des Malers erkennen«, bemerkte Fischer.

»Die Staffelung der Figuren in die Tiefe ist eine der wegweisenden Fortentwicklung nicht nur der flämischen Malerei. „Die Kunst hat seinesgleichen nicht mehr.“«, zitierte Ines Weiland die Inschrift auf seinem Grabstein, von dem sie eine Abbildung in einem kleinen Büchlein über den Künstler fand

»Das darf einen nicht verwundern«, sagte Fischer, obwohl ihm der Schritt im Bildnerischen, wie ihn die Flamen getan hatten, nicht gleich verständlich war.

»Setzen wir uns hier hin«, sagte er zu seiner Begleiterin und deutete auf eine Bank in der Raummitte.

»Zuerst besticht schon mal die Größe, zwei mal drei Meter für die Mitteltafel. Wie viele Bretter hat es da gebraucht? Es sind doch Bretter, keine Leinwand, oder?«, vermutete Fischer.

»Richtig. Zu dieser Zeit malte man noch nicht auf Leinwand, sondern auf Holz. Für eine nicht ganz vergleichbare Größe wie der „‚Columba-Altar“ in München misst, wurden auf einer Gesamtbreite, die beiden Flügel mitgerechnet, vierzehn Bretter benötigt«, erklärte Ines.

»Das ist ja gewaltig viel. Wo ist denn dieser Altar?«

»Jetzt ist er in München in der Alten Pinakothek. Er ist von Rogier van der Weyden, von 1455. Ursprünglich war er für einen Anbau einer Kapelle in der Kirche St. Kolumba in Köln gestiftet worden.«

»Verstehe. Es war die Zeit in der nahezu alle Bilder auf eine Holzgrundlage gemalt wurden«.

Fischer versuchte, sich die Arbeitsweise der damaligen Zeit. vorzustellen.

»Ja, die Paneelen der Bildträger wurden vorbereitet und dann zusammengefügt. Oft wurden sie wieder zerlegt und am Ort, der dafür vorgesehen war, wieder zusammengestellt.«

»Wahrscheinlich so auch bei unserem Portinari-Altar.«

»Ja, die Aufstellung in der St. Jacobs-Kirche in Brügge war einfacher als an seinem vorletzten Ort in San Egidio, der Kirche des Hospitals von Santa Maria Nuova in Florenz. Die Großherzöge der Toskana veranlassten dann, ihn im 16. Jahrhundert mit anderen Werken in die Uffizien zu bringen, die von einem Verwaltungsgebäude zu einem Museum umgewidmet worden waren. Jetzt sitzen wir also davor.«

Ines Weiland war in ihrem Element. Es ist ihr spezielles Fachgebiet.

»Die Mitteltafel zeigt die Anbetung Jesu durch Maria, Josef und eine Gruppe von drei Hirten. Jesus liegt in einem Strahlenkranz nackt auf dem Boden. Im Vordergrund liegt ein Büschel Getreide, eine Anspielung auf die Eucharistie (Brot des Lebens) und eine auf die Bedeutung der Geburtsstadt Betlehem, was Haus des Brotes bedeutet. Zwei Vasen, eine aus Keramik, eine aus Glas, bilden ein kleines Stillleben mit Bezügen zu Eucharistie und Passion. Weizen, Weinblätter und Trauben weisen auf das letzte Abendmahl hin. Die weiße Iris symbolisiert die Reinheit, die orangefarbenen Lilien versinnbildlichen die Passion, die roten Nelken zeigen die blutigen Nägel des Kreuzes Christi. Purpurne Irisblüten und Stängel der gemeinen Akelei stehen für die Demut Mariens und die sieben Sorgen der Jungfrau Maria. In der Gesamtheit der Geburt Christi nehmen die Symbole die folgende Erlösung, die durch seinen Tod erreicht wird, auf.

Der ausgezogene Schuh des Josef ist eine alttestamentliche Anspielung, zu finden im zweiten Buch Mose, Abschnitt drei, Zeile fünf, wo dem Moses vor dem brennenden Dornbusch befohlen wird: „Zieh deine Schuhe aus, denn du stehst auf heiligem Boden“.

Über das ganze Bild ist eine Reihe von Engeln verteilt, bekleidet mit feinen Brokatstoffen. Im Hintergrund sind der Besuch von Maria bei Elisabeth und die Verkündigung an die Hirten durch einen Engel dargestellt.

Im linken Flügelbild finden wir den Stifter Tommaso Portinari kniend mit zwei seiner Söhne, Antonio und Pigello, die sehr klein dargestellt sind, dahinter der Apostel Thomas, der Namenspatron des Stifters, mit seinem Attribut der Lanze und der Hl. Antonius der Große mit einer Glocke, einen Buchbeutel aus Leder und einen T-förmigen Stock, an dem ein Rosenkranz hängt. Weit im felsigen Hintergrund ist der beschwerliche Weg der Hl. Familie nach Bethlehem zu sehen. Josef stützt Maria beim Gehen, der Esel folgt den beiden.

Auf dem rechten Flügel ist Portinaris Frau, Maria di Francesco Baroncelli mit ihrer Tochter Margarita zu sehen, die auch sehr klein gemalt worden ist. Sie trägt ein dunkelviolettes Kleid mit einem breiten Saum, der am Boden weit ausgebreitet ist. Sie kniet auf einem schwarzen Kissen. Ihre Burgundische Haube, Henin genannt, aus schwarzem Samt, deren Schleier weit hinabreicht, trägt die Initialen M und T, für Maria und Tommaso. Kunsthistoriker haben diese Buchstaben auch mit „Maria Tommasis“ interpretiert.

Als Namenspatroninnen stehen dahinter Maria Magdalena im hellen Kleid und schwarzen Mantel mit einem Salbgefäß sowie Margareta von Antiochien im roten Mantel mit einem Buch und stehend auf dem Drachenkopf. Im Hintergrund ist das Herannahen der Weisen aus dem Morgenland abgebildet. Sie nähern sich in einer hügeligen Landschaft mit fast kahlen Bäumen. Die Drei Heiligen Könige mit ihrem Gefolge im Hintergrund haben einen Boten vorausgeschickt, der einen Hirten nach dem Weg fragt.

Wenn die beiden Altarflügel geschlossen sind, sehen wir auf diesen Rückseiten eine geteilte Verkündigungsszene in Grisaille-Malerei, links Maria, über deren Haupt die Taube des Heiligen Geistes schwebt und rechts den Erzengel Gabriel, den Überbringer der Nachricht.

Die riesigen Figuren, die täuschend Steinskulpturen ähneln, sind scheinbar in ihre strengen, gewölbten Nischen eingelassen und in dicke, fließende Gewänder gehüllt. Der gesamte Trompe-l'oeil-Effekt war in der Renaissance-Kunst in Florenz etwas völlig Unbekanntes.

Das Portinari-Altarbild ist wegen der revolutionären Züge eines der bedeutendsten Renaissance-Gemälde. Der Realismus, zu sehen vor allem in den Gesichtern der Hirten, ist eine scharfsichtige und zugleich poetische Beobachtung der menschlichen Gestalten und der Natur. Als das Bild nach Florenz kam und der Maler Domenico di Tommaso Curradi di Doffo Bigordi, besser bekannt unter dem Namen Ghirlandaio, es bewundern konnte, übernahm er die Gruppe der Hirten für sein Bild „Anbetung der Hirten“ , entstanden im Jahre 1485, in der Capella Sassetti in Santa Trinita, eine der ältesten Kirchen der Stadt. Mit der Monumentalität in der Ausführung, der Schaffung großer Raumtiefe und der feinen, farblichen Schattierung in der Malweise war die flämische Malerei wegweisend für die italienischen Maler, die noch den akribischen Naturalismus zu imitieren versuchten.«

»Das sind aber eine Menge an Informationen, mit denen Sie mich überschütten. Jetzt bin ich richtig froh, eine Fachfrau dabei zu haben«, stöhnte Fischer halb im Spaß.

»Den Maler und die Absicht, die dahinter standen, werden wir wohl später noch analysieren müssen. Und auch was das Schicksal des Bildes betrifft.«

Die beiden Deutschen durchstreiften rasch die anschließenden Räume der gewaltigen Bildergalerie und setzten sich in das Café des Museums.

»Wer war nun dieser Portinari und dieser Tani? Der Böhmler hat ja nur Andeutungen gemacht.«

»Ich habe mir zwischenzeitlich weitere Literatur beschafft. Was ich über Tani gefunden habe ist nicht viel. Er war dreizehn Jahre älter als Portinari und arbeitete in der Medici-Bank als banchiero oder tavoliero