Auf einem Schrottplatz wird im Kofferraum eines Autos die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie wurde brutal ermordet. Hauptkommissarin Verena Dohr und ihr Team übernehmen die Ermittlungen. Schnell fällt der Verdacht auf Leon Berger, einen jungen Mann, der gerade erst eine Haftstrafe abgesessen hat.
Polizeiseelsorger Martin Bauer ist froh, dass er endlich nichts mehr mit Leichen und Mordfällen zu tun hat. Er ist in Elternzeit. Doch dieser Fall lässt ihm keine Ruhe. Als Einziger ist er von Leons Unschuld überzeugt. Schon bald wird klar: Bauer ist Leons letzte Hoffnung. Und Leon hat Todesangst.
Kriminalroman
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage April 2020
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
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ISBN 978-3-8437-2314-5
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Er trug eine Waffe. Sie spürte sie unter seiner Achsel. Aber sie hatte alles unter Kontrolle.
Sie ließ die Hand über seine Brust gleiten, bis sie die Ausbuchtung unter seiner Jacke ertastete. Es kam ihr vor, als könnte sie die Waffe mit ihren Fingerkuppen sehen. Als hätte sie Supersinne. Es war geil. Sie hätte Kokain schon viel früher probieren sollen.
Er schob ihr Kleid hoch, packte sie an den Hüften und hob sie mit einem Ruck auf die Küchenzeile. Sie lachte laut auf, schlang die Beine um ihn und zog ihn an sich. Wenn ihre spießigen Bürokollegen sie so sehen könnten! Sie fühlte die Edelstahlrippen der Spüle unter ihrem Po, roch den Tequila in seinem Atem, hörte den Lärm durch die Wände, als wären sie aus Papier. Die lauten, betrunkenen Stimmen, das Klirren von Gläsern und Flaschen, das dumpfe Poltern, als etwas Schweres zu Boden fiel, nahm sie ebenso deutlich wahr wie das Sirren der Leuchtstoffröhre in der Deckenlampe über ihr.
Seine Lippen wanderten über ihren Hals, seine Hände zerrten an ihrem Slip. Das dünne Gewebe zerriss. Er drängte sich an sie. Sie schob ihn weg und nahm einen großen Schluck aus der Flasche. Er funkelte sie an. Er war gefährlich. Dieser Ort war gefährlich. Karla hätte sich vor Angst in die Hose gemacht, sie hatte schon in Amsterdam Schiss gehabt. Dabei war es nur ein harmloser Wochenendtrip gewesen. Das hier war der echte Thrill.
Sie stellte die Flasche ab, streifte die Träger ihres Kleides von den Schultern und zog es dann langsam herunter. Sie spürte seine Blicke auf ihren Brüsten. Sie legte die Hand auf die Ausbuchtung unter seiner Jacke.
»Zeig sie mir.«
Er stutzte. Dann verstand er. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er seine Waffe. Das mattschwarze Metall schien das Licht der Deckenlampe zu schlucken. Sie griff nach seiner Hand, führte sie an ihr Gesicht. Er grinste sie an und strich ihr mit dem Lauf über die Wange, ganz leicht, dann über den Hals. Die Berührung jagte Schauer über ihren Körper. Sie lehnte sich zurück, folgte mit geschlossenen Lidern der elektrischen Spur auf ihrer Haut, durch die kleine Kuhle über ihrem Schlüsselbein hinab zu ihrer linken Brustwarze, dann langsam den Bauch hinunter bis zum Nabel.
Das Kribbeln riss ab. Sie schlug die Augen auf. Der Lauf der Waffe hatte den Hautkontakt verloren und wanderte über ihr hochgeschobenes Kleid. Er sah sie nicht mehr an, starrte nur noch auf die Waffe in seiner Hand, verfolgte gebannt ihren Weg abwärts. Etwas in ihr zog sich zusammen. Sie achtete nicht darauf.
Sie war unzerstörbar.
Das Schwein hing da wie gekreuzigt. Leon hatte oft genug zugesehen und alles genauso gemacht wie der Alte. Er hatte die Rippen aufgebogen und mit der Axt vom Rückgrat getrennt, den Brustkorb flach gedrückt, die Beine auseinandergezogen, sie kurz über den Fußgelenken mit Draht an die Querstreben gebunden und die Schwarte rautenförmig eingeritzt. Dann hatte er das Kreuz aufgerichtet, am Rand der Feuerstelle in den Boden gerammt und die Buchenscheite aufgeschichtet.
Er betrachtete den ausgeweideten Körper. Dunkelrotes Muskelfleisch, blasses Fettgewebe, helle Sehnen und Knochen. Das Spanferkel wog sicher fast zwanzig Kilo. Es zu garen würde eine Weile dauern. Sollte er die Scheite schon anzünden? Normalerweise waren Feuer und Fleisch Chefsache, niemand durfte da heran. Aber heute war nichts normal. Leon hatte den Auftrag bekommen, das Asado vorzubereiten.
Der Alte war einmal über die Panamericana durch Südamerika gefahren. Seitdem hielt er das Grillen am offenen Feuer, wie die argentinischen Gauchos es praktizierten, für die einzig richtige Zubereitungsart von Fleisch. Seine Erzählungen von dem wochenlangen Roadtrip auf der Harley hatten Leon als Sechzehnjährigen fasziniert. Fünf Jahre war das her. Eine Ewigkeit. Der Knast schien die Zeit gedehnt zu haben. Es gab ein Davor und ein Danach. Dabei hatte er nur ein paar Monate eingesessen. Es hatte alles verändert.
Er schleppte den verbeulten Militärkanister heran, drehte den Deckel auf und goss Benzin auf das Brennholz. Dann ließ er sein Zippo aufschnappen, griff zu einer zusammengerollten Zeitung, zündete sie an und warf sie auf die Scheite. Eine Feuersäule verpuffte meterhoch. Doch schnell wurden die Flammen kleiner, und das Holz fing an zu knacken.
Der Anruf hatte ihn irritiert. Aber wenn der Präsident des Chapter eine Anweisung gab, fragte man nicht nach. Leon hatte sich sofort auf den Weg gemacht. Das Spanferkel hatte im Clubhaus auf dem Tresen gelegen. Genug Fleisch für eine Vollversammlung. Aber es war niemand da gewesen.
Er sah über den dunklen Hof zum Tor und hatte das Gefühl, in ein aufgerissenes Maul zu starren. Er schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch und zog den Kopf zwischen die Schultern ein. Es durchfuhr ihn wie ein Stromschlag: Yildiz! Erschrocken blickte er sich um, konnte sie aber nirgends entdecken. Natürlich nicht. Er hatte nur ihren Geruch wahrgenommen. Sein Pullover roch nach ihr. Sie liebte es, seine Sachen anzuziehen. Er sah sie vor sich, mit nichts auf dem Leib als einem seiner T-Shirts. Es flatterte um ihren Körper wie ein viel zu weites Kleid. Sie tanzte durch das schäbige Wohnmobil und sang: Je ne parle pas français. Dabei war sie in Französisch immer die Beste gewesen. Wie in allen anderen Fächern auch.
Er verdrängte das Bild. Er wollte sie nicht hier haben. Sie gehörte in eine bessere Welt.
Er ging zum Tor und blickte die Straße hinunter. Feiner Nieselregen wehte durch die Lichtkegel der Straßenlaternen. Der nasse Asphalt war aufgeplatzt. Tagsüber rumpelten im Sekundentakt Lkw auf ihrem Weg zum Hafen vorbei. Jetzt war alles still. Zu still.
Wo blieben sie? Sonst hingen um diese Zeit meistens schon Biker im Clubhaus rum. Andererseits, wenn der Alte wirklich eine Vollversammlung angesetzt hatte, noch dazu mit Asado, würde es richtig spät werden. Vielleicht hatte er nur vergessen, am Telefon davon zu erzählen. Nein! Er hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant. Er vergaß nie etwas.
Hatten sie ihn durchschaut? Dann war er ein toter Mann. Konnte es sein? Bereitete er gerade seinen eigenen Leichenschmaus vor? Der Präsident des Chapter hatte ein Talent für die große Inszenierung. Es hatte ihm dabei geholfen, an die Spitze zu kommen und sich seit nunmehr dreißig Jahren dort zu halten. Das und seine Härte. Gegen andere und sich selbst. Ja, es war möglich. Der Alte hätte für die Riders seinen Sohn geopfert, wenn es nötig gewesen wäre. Nur hatte er keinen Sohn. Er hatte Leon.
Leon stakste zurück zur Feuerstelle. Seine Beine fühlten sich steif an. Wie im Traum, wenn man wegrennen wollte, aber nicht konnte. Als kleiner Junge hatte er das oft geträumt. Er war schon im Kindergarten der Größte und Stärkste gewesen. Die anderen Jungen hatten sich mit ihm messen wollen. Er hatte versucht, ihnen aus dem Weg zu gehen. Doch sie hatten ihn nicht in Ruhe gelassen. So hatte er meist am Rockzipfel seiner Lieblingserzieherin gehangen. In der Schule hatte er keine Beschützerin mehr gehabt. Er hatte begonnen, sich zu wehren. Seine Klassenkameraden hatten sich sehr bald nicht mehr an ihn herangewagt. Doch einige von ihnen hatten große Brüder. So hatte er nicht nur gelernt zu kämpfen, sondern auch einzustecken. Mit vierzehn war er ein erfahrener Straßenschläger und musste in seinem Viertel kaum mehr jemanden fürchten. Aber es gab noch andere Viertel. Darum war er in einen Kickboxverein eingetreten. Die Kämpfe auf der Straße waren erst kürzer, dann weniger geworden. Aufgehört hatten sie aber nicht.
Die Buchenscheite glühten nun in einem hellen Orange, er spürte die Hitze auf seinem Gesicht. Er blickte zu seiner Maschine hinüber. Die Sportster 883 war doppelt so alt wie er. Er hatte Wochen gebraucht, sie flottzumachen. Seitdem hatte sie ihn nie im Stich gelassen. Sie würde sofort anspringen.
Er wandte sich wieder dem Feuer zu und schob die Glut mit einer Schaufel an das Asadokreuz. Selbst wenn er es gewollt hätte, er konnte nicht weglaufen. Nicht nur, weil er es verlernt hatte. Es sollte sein letzter Kampf sein. Ganz bestimmt war es sein schmutzigster. Er würde ihn zu Ende bringen. So oder so.
Bauer fuhr Rad. Im Auto saß er nur noch selten. Mit der Geburt seiner zweiten Tochter Marie vor vier Monaten hatte sich sein Alltag grundlegend verändert. Seitdem hatte er das Präsidium nicht mehr betreten. Ebenso lange hatte er keinen Toten mehr gesehen und keine Zigarette mehr geraucht. Seine Arbeit als Polizeiseelsorger hatte ihm noch nicht einen Tag gefehlt. Darüber wunderte er sich selbst am meisten.
Er glitt dahin, durch das frühe Novemberdunkel, die Räder surrten über den Asphalt, der Fahrtwind wehte ihm ein kitschiges Gefühl von Freiheit ins Gesicht. Dieses Gefühl hatte er zum ersten Mal als Vierjähriger verspürt – auf einem Tretroller. In seiner Jugend, als er überall nur noch Zwänge gesehen hatte, war es immer kostbarer für ihn geworden, und er hatte begonnen, ihm nachzujagen. Erst auf einem 12-Gang-Rennrad, das er zur Konfirmation bekommen hatte, später, mit sechzehn, auf einer 125er-Honda Rebel, für die er sechs harte Wochen lang bei der Sachtleben-Chemie malocht hatte. Am ersten Tag der nächsten großen Ferien hatte die Jagd geendet – tödlich. Er war mit seiner Moped-Clique unterwegs zum Zelten nach Holland gewesen. Sie waren über Land gefahren. Kurz hinter Xanten hatte sein bester Freund in einer Kurve die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Er war gegen einen Baum geprallt und in Bauers Armen gestorben. Seitdem hatte Bauer nie wieder am Lenker eines Motorrads gesessen. Nur einmal noch war er als Sozius mitgefahren, Jahre später, als er längst Pfarrer einer kleinen Kirchengemeinde gewesen war und eine katholische Biker-Wallfahrt nach Kevelaer begleitet hatte.
Er trat in die Pedale. Er fühlte sich fit wie lange nicht mehr. Auf den sechs Kilometern bis zum Ruhrorter Hafen würde er kaum richtig warm werden. Er fuhr täglich ein bis zwei Stunden, meist um die Mittagszeit und mit einem Kinder-Fahrradanhänger im Schlepp. Darin lag dann Marie in einer Babyschale, die wie eine Hängematte befestigt war. Seit sie auf der Welt war, fand seine Tochter nur schwer in den Schlaf. Im sanft schaukelnden Anhänger jedoch fielen ihr binnen Sekunden die Augen zu. Nachdem Bauer dies herausgefunden hatte, waren die Radtouren für ihn und Marie zur festen Routine geworden. Er genoss die Zeit auf dem Rad, und seine Frau Sarah war dankbar für die regelmäßigen Auszeiten, denn Marie wollte auch nachts alle drei Stunden gestillt werden. Das Baby bestimmte den Tagesablauf der Familie. Sogar Nina, die ein Schulhalbjahr in Mexiko verbrachte, hatte sich dem Rhythmus ihrer kleinen Schwester angepasst. Zwei- bis dreimal pro Woche skypten sie. Dafür stand Nina morgens um fünf Uhr mexikanischer Zentralzeit auf. Denn dann war in Duisburg später Vormittag und Marie am agilsten. Nina sagte oft, sie vermisse ihr Zuhause, aber Bauer wusste, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Sie hatte sie getroffen, als er und seine schwangere Frau getrennt gelebt hatten. Die Belastungen, die der Beruf des Polizeiseelsorgers und vor allem die Art, wie Bauer ihn ausübte, mit sich brachten, hatten Sarah an ihrer Ehe zweifeln lassen. Doch kurz vor Maries Geburt war sie zu ihm zurückgekehrt. Nina hatte ihr Auslandshalbjahr trotzdem angetreten, und in jedem Videoanruf sah Bauer, wie gut ihr Freiheit und Selbstständigkeit taten. Seit ein paar Wochen blickte er nicht mehr in das Gesicht eines Teenagers, sondern in die Augen einer jungen Frau. Auch wenn ihn das mit einer gewissen Wehmut erfüllte, war doch alles so, wie es sein sollte. Jedenfalls glaubte er das. Er wollte es glauben.
Der Fahrradweg bog zur Friedrich-Ebert-Brücke ab. Bauer legte sich in die Kurve und nahm den Schwung mit auf die sanfte Steigung. Er fuhr ohne Anhänger, Marie lag längst im Bett. Sarah ebenfalls, sie hatte ihren Schlafrhythmus dem ihrer Tochter angepasst. Normalerweise würde er nun mit einem Tee oder einem Bier in der Hand die Abendnachrichten im Fernsehen anschauen. Obwohl es ihm immer schwerer fiel, die Bilder aus Kriegsgebieten oder von Flüchtlingen auf überfüllten Booten oder die Berichte über den Klimawandel, der nicht mehr zu stoppen war, auszuhalten. Oft schaltete er schon nach wenigen Minuten ab und griff zu einem Buch oder hörte Musik. Hatte er aufgegeben? War er ein Feigling geworden? Er wusste es nicht. Er lebte mit seiner Frau und diesem perfekten kleinen Menschen wie auf einer Insel, die er nicht mehr verlassen mochte.
Er überquerte den Fluss. Kälte stieg vom Wasser herauf, das schwarz unter ihm lag. Autos zischten vorbei, ihre Rücklichter verschwammen in der feuchten Luft, wie auch die Gefahrenfeuer des Schornsteins, der am gegenüberliegenden Ufer aufragte. Er gehörte zum Kraftwerk »Hermann Wenzel«, in dem Koksgas aus den Hochöfen von ThyssenKrupp verfeuert und der Strom für das angrenzende Stahlwerk erzeugt wurden. Im höchsten Gang sauste Bauer zwischen den beiden alten Brückentürmen hindurch auf die andere Rheinseite. Er fuhr schnell, weil ihm kalt war, nicht weil er es eilig hatte. Niemand erwartete ihn. Der Ort, zu dem er wollte, war keiner, an dem man sich ankündigte, und den Mann, den er dort anzutreffen hoffte, kannte Bauer nur von einem Foto. Die Freundin des Mannes hatte es ihm gezeigt.
Er hieß Leon Berger, war 21 Jahre alt und vor vier Wochen aus der JVA Duisburg-Hamborn entlassen worden. Dort hatte er eine mehrmonatige Haftstrafe wegen Fahrerflucht abgesessen. In dieser Zeit hatte er Yildiz versprochen, sein altes Leben hinter sich zu lassen und mit ihr zusammen ein neues anzufangen. Sie hatte ihm geglaubt. An seine Liebe glaubte sie immer noch. Aber nicht mehr daran, dass er es aus eigener Kraft schaffen würde, sich von seiner Vergangenheit zu lösen. Darum hatte sie Hilfe gesucht – zunächst nicht bei Bauer, sondern bei seiner Frau.
Sarah kannte die junge Türkin seit Jahren. Als Teenager war sie Stammgast im Jugendtreff des Bürgerzentrums gewesen, das Sarah leitete. Inzwischen studierte Yildiz an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen Soziale Arbeit. Ein Paradebeispiel gelungener Integration, auch dank Sarahs tatkräftiger Unterstützung. Heute hatte Yildiz vor ihrer Tür gestanden und nach seiner Frau verlangt. Irgendetwas hatte nicht gestimmt, die junge Frau war aufgewühlt und den Tränen nahe gewesen. Gerade als er mit Marie zur täglichen Schlummertour hatte aufbrechen wollen, hatte Sarah ihn zu dem Gespräch dazugeholt.
Die Straße zum Amtsgericht Ruhrort zweigte rechts ab, Bauer ließ sein Rad geradeaus rollen. Vor sechs Monaten war Leon Berger in dem denkmalgeschützten Gebäude verurteilt worden. Ungewöhnlich hart, Fahrerflucht ohne Personenschaden wurde normalerweise mit einer Geldstrafe geahndet. Offenbar hatte sich Leons Vorgeschichte bei der Urteilsfindung negativ ausgewirkt. Nun hatte er sich anscheinend mit einer Gang eingelassen, mit Männern, die gefährlich waren. Bauer war auf dem Weg zu ihrem Hauptquartier.
Yildiz vermutete, dass ihr Freund dort die Abende verbrachte, an denen er nicht mit ihr zusammen war. Bauer hatte sich aufs Rad gesetzt, nachdem Sarah mit dem Baby ins Bett gegangen war. Er war nicht sicher, ob sie versucht hätte, ihn von der Fahrt abzuhalten, trotzdem hatte er kein schlechtes Gewissen. Immerhin hatte sie ihn gebeten, sich einzumischen, und ihr musste klar sein, dass dies nicht ohne persönliches Risiko möglich war. Bis vor ein paar Monaten war das der große Streitpunkt in ihrer Ehe gewesen. Nun schien Sarah bereit, das Risiko mit ihm zu tragen. Das machte ihn glücklich.
Dabei hatte er gar nicht vor, sich in Gefahr zu begeben, ja nicht einmal, mit dem Mann zu reden – falls er überhaupt dort war. Für ein Gespräch gab es weniger bedrohliche Orte. Bauer wollte Yildiz’ Verdacht überprüfen. Und sich ein Bild von den Männern machen, von denen Leon anscheinend nicht loskam. Oder die ihn nicht losließen.
Er fuhr durch einen Kreisverkehr. An der Ausfahrt, die er nahm, wies ein Schild den Weg in Richtung Schrottinsel, Kohleninsel, Stahlinsel und Ölinsel. So wurden die Landzungen zwischen den Hafenbecken bezeichnet, nach den Gütern, die darauf umgeschlagen wurden.
Der Radweg wurde schlechter. Riesige Hallen rechts der Straße, kleinere Gewerbebauten links. Er passierte die Einfahrt zum Freihafen. Kurz darauf bog Bauer von der Hauptroute in eine Seitenstraße ab. Sie führte an einer Kleingartensiedlung vorbei in Richtung Ölinsel. Der Beschilderung nach begann das Hafengelände hinter einer Eisenbahnunterführung. Davor lag ein von einer stacheldrahtbewehrten Mauer umgebenes Gelände. Es grenzte direkt an die Bahntrasse. An der Einfahrt stand ein Fahnenmast, an dem eine schwarze Flagge schlaff herabhing. Der Totenschädel darauf war auch in der Dunkelheit zu erkennen. Bauer hatte sein Ziel erreicht.
Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus blickte er durch das offene Tor auf eine niedrige Ziegelsteinhalle. Auf dem Hof davor brannte ein Lagerfeuer. Die Feuerstelle war mitten in den Betonboden gestemmt worden. Ein Spanferkel brutzelte an einer Art Metallkreuz, das dicht am Feuer senkrecht im Boden steckte. Daneben stand ein Mann, das Gesicht abgewandt. Seine athletische Statur entsprach Yildiz’ Beschreibung. Selbst aus der Entfernung wirkte er groß. Er trug eine Lederjacke. Aber keine Kutte.
Bauer schaute zu der Halle. Hinter den wenigen blinden Fenstern brannte Licht. Er konnte jedoch keine Bewegungen ausmachen, und vor dem Gebäude parkte nur ein einziges Motorrad. Der Mann am Feuer bereitete das Fleisch bestimmt nicht nur für sich zu. Aber noch war er allein, und das aufgespießte Ferkel sah nicht aus, als wäre es bald gar. Bauer stieg vom Rad und schob es in die Büsche. Dann überquerte er die Straße.
Er durchschritt das Tor. Der Mann starrte ins Feuer. Die dicken Holzscheite knackten in den Flammen. Als Bauer nur noch drei Schritte entfernt war, machte er sich bemerkbar.
»Guten Abend.«
Der Mann drehte sich um. Bauer musste zu ihm aufsehen. Leon Berger. Er hatte nicht nur auf dem Foto ein gutes Gesicht. Es strahlte Ruhe und Stärke aus. Auch jetzt zeigte seine Miene weder Schreck noch Überraschung. Doch hinter der äußeren Gelassenheit spürte Bauer eine Anspannung, die er nicht einordnen konnte.
»Sie können hier nicht rein«, sagte Leon. »Das ist Privatgelände. Bitte gehen Sie wieder.«
Er klang routiniert. Yildiz hatte erzählt, dass er als Türsteher arbeitete.
»Mein Name ist Martin Bauer. Ich möchte mit Ihnen reden. Ich bin Pfarrer.« Er streckte die Hand aus.
Leon machte keine Anstalten, sie zu ergreifen. Er musterte Bauer überrascht. »Pfarrer?«
»Evangelischer Seelsorger«, erklärte Bauer. »Bei der Duisburger Polizei.«
Schlagartig veränderte sich Leons Körperhaltung. »Sie sind Bulle?«
Bauer zog seine Hand zurück. »Nein. Aber ich bin für Polizisten da, wenn sie mich brauchen.«
»Was wollen Sie dann von mir?«
»Meine Frau ist eine gute Bekannte Ihrer Freundin. Yildiz macht sich Sorgen um Sie.«
Bauer sah, dass er einen Treffer gelandet hatte. Leons Miene spiegelte sein schlechtes Gewissen wider. Doch schon im nächsten Moment wurden seine Züge hart.
»Verschwinden Sie!«
»Sie haben ihr etwas versprochen«, setzte Bauer nach, »und Sie sehen nicht aus wie jemand, der sein Wort bricht.«
Leon schnaubte. »Netter Versuch. Sie wissen gar nichts über mich!«
»Sie halten die Death Riders wahrscheinlich für Ihre Familie. Aber das sind sie nicht. Wenn Sie eine richtige Familie haben wollen, gehen Sie zu Yildiz. Jetzt gleich.«
Leon schwieg. Es arbeitete in ihm. Sein Blick wanderte zum Tor.
Bauer erhöhte den Druck. »Sie müssen sich entscheiden. Die Death Riders oder Yildiz – was ist Ihnen wichtiger?«
»Verpissen Sie sich!«
»Wollen Sie Ihr Leben lang mit einem Bein im Knast stehen? Sie sind noch kein Member, Sie tragen keine Kutte. Als Prospect kommen Sie noch ohne große Probleme hier raus. Ich verstehe, wenn Sie Angst haben, aber ich kann Ihnen helfen.«
»Ich habe keine Angst! Und schon gar nicht vor meinen eigenen Leuten«, behauptete Leon. Doch seine Augen verrieten ihn. Wieder ging sein Blick über Bauers Schulter hinweg in Richtung Tor.
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Es ist mir scheißegal, was Sie glauben. Sie machen jetzt ’nen Abgang!«
Leon kam drohend auf Bauer zu. Doch plötzlich stoppte er mitten in der Bewegung und starrte erschrocken an ihm vorbei. Bauer drehte sich um. Nichts zu sehen. Dann hörte er es. Ein Geräusch wie ein fernes Donnergrollen. Es kam näher. Doch es war kein Gewitter. Es waren Motoren. Viele.
»Hauen Sie ab!«, stieß Leon hervor. »Na los!«
Bauer schüttelte den Kopf. »Ich habe eine bessere Idee: Ich rede mit Ihrem Präsidenten. Jetzt gleich.«
Leon riss die Augen auf. »Sind Sie irre?«
»Für einen Prospect, der sein Chapter verlassen will, riskiert kein Rocker ernsthaften Ärger mit der Polizei. Nicht mal mit einem Polizeipfarrer. Vertrauen Sie mir.«
Bauer war überzeugt von dem, was er sagte. Doch die Panik, die in den Augen des jungen Mannes aufflackerte, irritierte ihn. Leon wirkte ganz und gar nicht wie ein Feigling. Hatte er wirklich so große Angst vor seinen – wie er sie nannte – »eigenen Leuten«? Oder war da noch etwas anderes? Fragen konnte Bauer nicht mehr, denn schon tanzten Scheinwerferkegel über den rissigen Betonboden. Im nächsten Moment donnerte ein gutes Dutzend schwerer Motorräder auf den Hof, gefolgt von einem schwarzen Mercedes-AMG GT. Die Kolonne rollte an die Feuerstelle heran. Bauer unterdrückte den Impuls zurückzuweichen. Der Fahrer an der Spitze stoppte seine Harley Zentimeter vor Bauers Füßen, die anderen hielten rechts und links neben ihrem Anführer. Die Biker trugen Kutten mit Totenkopf-Logo und dem Namen ihres Clubs darunter: Death Riders, Chapter Duisburg. Auch der Mann, der aus dem Mercedes stieg, war so gekleidet. Eine Frau auf High Heels begleitete ihn.
Der Lärm der Motoren erstarb. Bauer spürte, wie sich alle Blicke auf ihn richteten. Selbst wenn er gewollt hätte, einfach davonspazieren konnte er nicht mehr. Vor ihm stand eine Wand aus Männern und Motorrädern.
Der Anführer stieg von seiner Harley. Eins der Patches auf seiner Kutte trug die englische Aufschrift »President«. Während er ohne Eile seinen Helm abnahm, der aussah, als stammte er aus Wehrmachtsbeständen, ließ er den Seelsorger nicht aus den Augen. Auch die anderen Biker kamen heran und bauten sich vor Bauer auf. Keiner von ihnen sagte etwas. Sie warteten darauf, dass ihr Präsident das Gespräch eröffnete.
Bauer kam ihm zuvor. »Guten Abend. Sie sind hier der Chef, nehme ich an?«
Der Rockerpräsident blickte an ihm vorbei zu Leon. »Wer ist der Kerl?«
Leon zögerte. Wieder nutzte Bauer die Chance.
»Mein Name ist Martin Bauer. Ich bin …«
Weiter kam er nicht. Er sah die Bewegung aus den Augenwinkeln und riss die Deckung hoch. Aber der Hieb war zu schnell. Wie ein Ziegelstein krachte die Faust gegen seine Schläfe. Bauer taumelte, doch er fiel nicht, er nahm den Kopf zwischen die Arme und suchte seinen Angreifer, aber als er ihn ausmachte, war es schon wieder zu spät. Zwei Haken schlugen unter seiner Deckung ein, einer auf die Leber, einer auf den Solarplexus. Er hörte ein scharfes Zischen, es drang aus seinem eigenen Mund. Er knickte ein, und seine Knie prallten auf den schrundigen Betonboden. Dann kam der Schmerz. Wehrlos erwartete Bauer den finalen Schlag, doch Leon wandte sich ab. Bauer fiel vornüber auf die Unterarme.
»Junge, was ist hier los?«, hörte er den Präsidenten fragen. »Was will der Kerl?«
»Ärger machen«, stieß Leon hervor. »Aber dem Pisser werd ich’s zeigen! Diese verkackten Kleingärtner gehen uns nicht mehr auf den Sack!«
Bauer verstand nicht. Er drehte den Kopf, sein Gesicht schrammte über den Boden. Er sah Leon am Feuer nach einem Kanister greifen. Panik stieg in Bauer hoch, er versuchte, sich aufzurichten, verzweifelt rang er nach Luft, doch schon klatschte es aus dem Kanister auf ihn herab – Benzin! Es brannte in seinen Augen, drang scharf in seine Nase, verätzte seine Kehle. Spuckend und hustend versuchte er wegzukriechen, doch ein Tritt traf ihn in die Seite und schleuderte ihn auf den Rücken.
Leon beugte sich zu ihm herunter, in der Hand ein Sturmfeuerzeug. Er ließ es aufschnappen und seinen Daumen über den Feuerstein gleiten. Das Zippo flammte auf. »Willst du noch irgendwas sagen?«
Bauer starrte wie gelähmt auf die zuckende Flamme vor seinem Gesicht.
Sie liebte ihn. Das wusste sie, seit sie vierzehn war. Seit sie ihn zum ersten Mal geküsst hatte, in der Laube ihrer Eltern. Seit Timur ihn verprügelt und er sich nicht gewehrt hatte, um ihren großen Bruder nicht zu demütigen. Er hatte die Schläge eingesteckt und sich von ihm vor der ganzen Schule einen Feigling nennen lassen – wegen ihr.
»Tut mir leid, Kindchen. Er ist schon vor einer Stunde auf seiner Maschine vom Hof gedonnert.« Die Frau hinter der Verkaufstheke lächelte sie bedauernd an. »Möchtest du auf ihn warten?«
Yildiz nickte. Leni drehte sich zum Schlüsselbrett an der Wand hinter ihr um. Dort hingen die Schlüssel für die Toiletten und Duschen sowie ein einzelner Autoschlüssel. Keiner mit Fernentriegelung im Kunststoffgriff, sondern ein alter Metallschlüssel mit eingestanztem Mercedesstern. Leni reichte ihn Yildiz und hielt dabei mütterlich besorgt ihre Hand fest.
»Du bist doch schon wieder dünner geworden! Wann hast du zuletzt etwas Vernünftiges gegessen?«
»Heute Mittag in der Mensa«, verteidigte sich Yildiz.
Leni schüttelte nur missbilligend den Kopf. Welche Art Essen sie für »vernünftig« hielt, verrieten ihre Körperformen. Hätte das Michelin-Männchen neben der Kasse eine geblümte Kittelschürze getragen, es wäre als eine Miniatur der Autohofchefin durchgegangen.
»Ich habe noch Gulasch vom Mittagstisch übrig. Soll ich es dir aufwärmen? Ist auch ›kussecht‹.« Leni zwinkerte ihr zu. »Heute muss sich bei mir keiner Sorgen um sein Liebesleben machen.«
Die deftige Küche der Autohofchefin war nicht nur bekannt für die großen Portionen, sondern auch für ihren Knoblauchgehalt. Freitags jedoch verzichtete sie auf die geruchsintensive Zutat. Dies war ihr Beitrag zur berufsbedingt schwierigen Beziehungspflege der Fernfahrer, die ihre Frauen nur am Wochenende sahen. Im Grunde ihres großen Herzens war die resolute Mittfünfzigerin hoffnungslos romantisch.
»Vielen Dank, aber falls ich wirklich noch Hunger bekommen sollte, gibt es ja einen Kühlschrank im Wohnmobil.«
»Einen Männerkühlschrank!«, polterte Leni. »Was soll da schon drin sein außer Bier?«
Yildiz war froh, dass in diesem Augenblick die Türglocke des Verkaufsraums ertönte.
»Guten Abend, schöne Frau.« Der Mann, der hereinkam, sprach mit starkem osteuropäischem Akzent.
»Petko! Dich habe ich ja ewig nicht gesehen!« Leni kam mit ausgebreiteten Armen hinter der Theke hervor, drückte den Fernfahrer an ihren mächtigen Busen und rümpfte gleich darauf die Nase. »Du brauchst dringend eine Dusche.«
»Bin ich seit drei Tagen unterwegs«, entschuldigte sich der Mann. »Hast du Essen für mich?«
»Gulasch. Bei dir zu Hause heißt das Gjuwetsch, richtig?«
Die müden Augen des Mannes leuchteten überrascht auf. »Lecker.«
»Da staunst du, oder? Ich spreche auch Bulgarisch.« Leni grinste. »Ich wärme dir was auf. Aber erst wird geduscht!«
Wieder wandte sich Leni dem Schlüsselbrett zu. Yildiz nutzte den Moment und schlich sich aus dem Tankstellenshop. Draußen roch es nach Herbst und Benzin. Sie stieg in ihren Wagen, fuhr an den Zapfsäulen vorbei und bog auf den Parkplatz ab. Über hundert Lkw aus ganz Europa standen dort dicht an dicht. Der Autohof nahe dem größten Binnenhafen der Welt war im Stadtgebiet der einzige Rastplatz, wo die Fahrer in ihren Brummis übernachten konnten. Wer nicht am Straßenrand in einem Gewerbegebiet schlafen wollte, sondern Wert auf ein Mindestmaß an Komfort legte, kam hierher. Es gab Duschen, die täglich gereinigt wurden, reichhaltige Hausmannskost, sogar eine Waschmaschine samt Trockner – und natürlich Leni.
Yildiz rollte in ihrem Polo an den riesigen Trucks vorbei. Ihr Vater hatte ihr den Kleinwagen, natürlich musste es ein deutsches Fabrikat sein, zum Beginn ihres Studiums geschenkt, damit sie auf dem Weg von Ruhrort zum Essener Campus nicht auf die Bahn angewiesen war. Sie liebte ihre Eltern und war liberaler erzogen worden als alle ihre türkischen Freundinnen. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – hatte sie ausziehen und auf eigenen Beinen stehen wollen wie andere Studenten. Nach dem großzügigen Geschenk jedoch hatte sie ihren Plan verworfen, ohne ihn auch nur anzusprechen. Sie hatte sich eingeredet, dass es vernünftiger war, jeden Tag zu pendeln. Bei ihren Eltern wohnte sie umsonst, und mit dem Auto dauerte die Fahrt nach Essen nur eine halbe Stunde. Erst vor einem Jahr hatte sie den Mut gefunden, ihren Wunsch durchzusetzen. Nachdem sie Leon wiederbegegnet war.
Am Wochenende nach dem ungehörigen Kuss in der Laube hatten ihre Eltern sie und ihren Bruder ins Auto gepackt und waren in die Türkei gefahren. Ihr Vater hatte sich schon am nächsten Tag auf den Rückweg nach Duisburg gemacht. Aber ihre Mutter war mit ihr und Timur die ganzen Sommerferien bei den Großeltern am Marmarameer geblieben. Ihre Eltern hatten nie mit ihr über den Kuss geredet. Es war nicht nötig gewesen. Yildiz hatte gewusst, was von ihr erwartet wurde. Sie war nicht nur ein türkisches Mädchen, sondern auch Einser-Schülerin, und Leon war der Klassenschläger. Nach den Ferien hatte er ein paarmal versucht, sie anzusprechen. Aber sie hatte ihn nicht einmal angesehen, das ganze neunte Schuljahr über. Dann war er abgegangen. Schon damals hatte sie sich vorgemacht, vernünftig gehandelt zu haben. Dabei war sie nur zu klein gewesen und das Gefühl zu groß.
Sie steuerte den hintersten Winkel des Parkplatzes an. Dort grenzte die asphaltierte Stellfläche an eine von wilden Gräsern und Büschen überwucherte Industriebrache. Yildiz manövrierte den Polo durch eine schmale Schlucht zwischen zwei Vierzigtonnern und holperte auf das unbefestigte Gelände. Gleich hinter den Sattelzügen stand versteckt ein alter, zum Wohnmobil umgebauter Mercedes T2. Darin lebte Leon.
Sie parkte ihren Polo neben dem Wohnmobil und steckte den abgegriffenen Schlüssel ins Schloss. Die Schiebetür glitt geschmeidig zur Seite. Yildiz kletterte hinein. Der vertraute Geruch umfing sie. Leons Geruch.
Als sie sich von Leon das erste Mal mit »nach Hause« hatte nehmen lassen, war sie mehr als skeptisch gewesen. Dass er in einem alten Lieferwagen hauste, hatte ja noch romantisch geklungen. Aber warum kampierte er auf einem Autohof? Gab es keine schöneren Plätze? Schon wenige Wochen später hatte sie ihre rhetorische Frage klar verneint. Und war den ganzen Sommer geblieben. Oft waren sie schon morgens an der Ruhr entlangspaziert, bis zu ihrer Mündung in den Rhein, und hatten auf den Wiesen gefrühstückt. Sie hatten Ausflüge auf seinem Motorrad gemacht. Abends hatten sie vor dem Wohnmobil gesessen, mit Truckern aus Spanien, Bulgarien oder Polen gegrillt und sich deren Geschichten angehört, und in der Nacht hatten sie sich geliebt.
Dann war der Herbst gekommen. Der Unibetrieb war wieder angelaufen, und sie hatte viel nachholen müssen, den ganzen Stoff, den sie in den Semesterferien hatte lernen wollen. Auch Leon hatte sich in Arbeit gestürzt. Tagsüber half er auf dem Autohof, an den Abenden und vielen Wochenenden jobbte er als Türsteher in dem Club, wo sie ihm wiederbegegnet war. Ihre alten Duisburger Freundinnen hatten sie zum Tanzen mitgenommen. Sie hatte ihn sofort erkannt, aber nichts gesagt. Auch er hatte sich nichts anmerken lassen. Sie hatte sich gefragt, ob er sich überhaupt an sie erinnerte. Am nächsten Wochenende war sie wieder in den Club gegangen. Er war freundlich zu ihr gewesen, aber nur so wie zu jedem anderen Gast. Sie hatte eine Weile getanzt und war dann nach draußen gegangen, um ihm Gelegenheit zu geben, sie anzusprechen. Er hatte sie nicht beachtet. Ein anderer Mann umso mehr. Nachdem er sie zuvor schon penetrant angetanzt hatte, war er ihr auf den Parkplatz gefolgt. Sie hatte ihn abgewiesen, doch er hatte die Arme um sie gelegt. Wie aus dem Nichts war Leon aufgetaucht. Er hatte sie die ganze Zeit im Auge behalten, ohne dass sie es bemerkt hatte.
Neben der Tür leuchtete ein kleines Display. Auf den Profilbrettern der Wandverkleidung wirkte es wie ein futuristischer Fremdkörper. Es steuerte die Gasheizung, das einzige neue Teil im Wohnmobil, dessen Inneneinrichtung den Charme eines heruntergekommenen Siebzigerjahre-Partykellers verströmte. Leon hatte die Heizung im letzten Winter eingebaut und gestrahlt wie ein Junge unterm Weihnachtsbaum, als er sie mit fast tropischen Temperaturen überrascht hatte. Sie erinnerte sich genau an den Tag. Am nächsten Morgen hatte er ihr erzählt, dass er für ein paar Monate »einfahren« werde. Erst hatte sie nicht verstanden, was er meinte. Sie hatte von dem Prozess gegen ihn nichts mitbekommen. So wenig, wie sie am Anfang geahnt hatte, dass seine Biker-Freunde, zu deren Treffen er sie nie mitnahm, einer Rockergang angehörten. Nur zufällig hatte sie erfahren, dass der Chef der Security-Firma, für die er als Türsteher arbeitete, Präsident der Death Riders war. Wochenlang hatten sie immer wieder gestritten. Leon hatte alle ihre Argumente trotzig als Vorurteile gegen Rocker abgetan, und sie hatte genauso trotzig darauf beharrt, bis sie erschöpft eine Art Waffenruhe eingingen. Doch die Unbeschwertheit des Sommers war endgültig verschwunden.
Yildiz stellte die Heizung an, schlüpfte aus ihren Kleidern, streifte ein getragenes T-Shirt von Leon über, kletterte auf das Bett unter dem Hochdach und zog die Decke über sich. Sie hatte nicht erwartet, Leon anzutreffen, sie hatte es nur gehofft, gegen jede Vernunft. Aber sie wollte nicht mehr nur vernünftig sein, sie wollte an Leon glauben und an das Versprechen, das er ihr während seiner Haft gegeben hatte. Ein ganzer Monat war seit seiner Entlassung vergangen, und er hatte es noch immer nicht erfüllt. Er brauche Zeit, müsse den richtigen Moment finden, es sei alles nicht so einfach. Er redete sich heraus. Das kannte sie nicht von ihm.
Doch da war noch etwas anderes. Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, lag ein Schatten auf seinem Gesicht. Erst hatte sie geglaubt, es wären dunkle Erinnerungen an die Zeit im Gefängnis. Aber darüber konnte sie mit ihm reden. Es war etwas anderes, das er nicht preisgab. Erst hatte sie es nicht benennen können, doch sie hatte es immer deutlicher gespürt, und es hatte ihr Angst gemacht. Dann hatte sie begriffen, dass es gar nicht ihre eigene Angst war, die sie fühlte, sondern Leons. Der Mann, der sich sonst von nichts und niemandem einschüchtern ließ, fürchtete sich. Sie hatte keine Ahnung, wovor. Und er würde es ihr nicht sagen.
Sie drehte sich auf den Rücken und blickte durch die Dachluke. Der Himmel ein schwammiges Dunkel im Widerschein der Stadt. Keine Sterne. Sie schloss die Augen.
Vielleicht bekam der Pfarrer etwas aus ihm heraus.
Hoffentlich.
Es hatte angefangen zu regnen. Leon kniff die Augen zusammen. Sein Jethelm besaß kein Visier, sein Gesicht war ungeschützt dem Trommelfeuer platzender Tropfen ausgesetzt. Er sah die Fahrbahn nicht mehr, er konnte sie nur noch erahnen. Er gab Gas. Aber so schnell er auch fuhr, die Bilder in seinem Kopf ließen sich nicht abschütteln.
Etwas Bitteres stieg aus seinem Magen hoch und schnürte ihm die Kehle zu. Er ließ den Gasgriff los, wollte das Motorrad auf der menschenleeren Straße ausrollen lassen, doch schon verkrampfte sich sein Körper im Würgereiz. Reflexartig stieg er auf die Bremse, das Hinterrad brach aus, er versuchte gegenzulenken, geriet auf den Rasenstreifen neben der Fahrspur, die Harley rutschte unter ihm weg und legte sich auf die Seite. Er drückte die Maschine mit den Füßen von sich weg, schlitterte hinter ihr her über das nasse Gras, trudelte kurz vor einer Baumreihe aus, kam hoch auf alle viere und erbrach sich, bis er nur noch Galle spuckte.
Als die Krämpfe nachließen, kroch er zu seinem Bike, richtete sich mühsam auf und atmete ein paarmal tief durch. Dann stemmte er die fünf Zentner schwere Sportster wieder auf die Räder. Er hatte Glück gehabt. Sie war auf die linke Seite gestürzt. Wäre sie auf der anderen durch den Rasen gepflügt, hätte er nun die beiden Rohre des Doppelauspuffs einsammeln müssen. Notdürftig befreite er die Maschine von schlammigen Grassoden, saß auf und startete den Motor. Der sprang problemlos an.
Den Rest der Strecke fuhr er langsam. Das Adrenalin, das der Sturz durch seine Adern gejagt hatte, verebbte. Die Jeans klebten ihm kalt an den Beinen, und der Regen drang längst auch durch seine aufgeweichte Lederjacke. Er war froh, als er die rote Neonreklame des Autohofs sah.
Noch war alles ruhig auf dem Parkplatz, aber schon in ein, zwei Stunden würden die ersten Trucks vom Hof rollen. Er steuerte sein Motorrad durch eine Lücke zwischen zwei Sattelzügen. Dann sah er den Polo. Abrupt bremste er ab. Er blickte zum Wohnmobil. Alles dunkel. Wahrscheinlich lag sie in seinem Bett und schlief. Wenn er sich dazulegte, würde sie aufwachen. Sie würde sofort merken, dass etwas mit ihm nicht stimmte, sie merkte es immer, und sie würde Fragen stellen. Er konnte es ihr nicht erklären. Er würde wieder lügen müssen. Aber dazu hatte er nicht die Kraft, nicht nach dieser Nacht, nicht mit diesen Bildern im Kopf, nicht nach dem, was er getan hatte.
Eilig versuchte er zu wenden. Zu spät. Im Wohnmobil ging das Licht an. Sie hatte ihn gehört. Verdammte Harley! Er liebte ihren typischen Sound, aber in diesem Moment hätte er sie sofort gegen eine vollverkapselte Japan-Schüssel eingetauscht. Er war drauf und dran, einfach Gas zu geben. Da glitt auch schon die Schiebetür auf.
»Leon?«
Sie trug eines seiner alten Shirts, natürlich. Durch den dünnen Stoff sah er ihren Körper wie einen Schattenriss in dem hellen Türausschnitt. Nein, sie musste hier weg. Weg von ihm. Sofort.
Er stellte den Motor ab und stieg von der Harley.
»Hey«, begrüßte sie ihn leise.
Im Gegenlicht konnte er ihre Miene nicht sehen. Aber das war auch nicht nötig. Es lag alles in dem einen Wort: Liebe, Vorwurf, Sorge, Hoffnung. Er musste nicht nach der Wut suchen, die er brauchte.
»Du hast mir einen Pfaffen auf den Hals gehetzt!«
Sie zögerte. »Willst du nicht erst mal reinkommen? Du bist doch bestimmt nass bis auf die Haut.«
»Warum machst du so einen Scheiß?« Er schrie sie an, sah, wie sie zusammenzuckte. Als hätte er sie geschlagen.
»Es tut mir leid, ich …« Sie stutzte. Und starrte auf seine Kutte. »Was hast du da an?«
Scheiße! Er hatte vergessen, sie auszuziehen. Er hatte sie heute bekommen. »Wonach sieht’s denn aus?«
»Du hattest mir was versprochen.« Ihre Stimme zitterte.
Sie starrte ihn an. Er schwieg. Abrupt drehte sie sich um. Er rührte sich nicht vom Fleck. Durch die offene Tür beobachtete er, wie sie sich sein T-Shirt vom Leib riss, wütend ihre Sachen zusammenraffte und nur das Nötigste überstreifte. Dann stürzte sie aus dem Wohnmobil. Ohne ihn noch einmal anzusehen, stieg sie in ihren Wagen und fuhr davon.
Er stand da und sah die Rücklichter zwischen den Lkw verschwinden.
Karl Stankowski liebte das Novemberwetter. Die Kollegen hatten es lieber trocken. Sie hielten ihn für bescheuert. Wie konnte man darauf stehen, bei Regen, Hagel oder Schnee mit dem Schneidbrenner alte Grubenwagen oder Heizkessel auseinanderzuschneiden? Oder im Führerstand des großen Greifkrans zu hocken, wenn einem der Wind um die Ohren pfiff und man die Hand kaum vor Augen sehen konnte? Doch je mieser das Wetter, desto mehr Spaß machte Stankowski der Job. Er fühlte sich lebendiger. Warum, wusste er selbst nicht. Wenn er zu Hause war, hasste er das Scheißwetter wie jeder andere auch.
Er war nicht gern zu Hause. Nicht seit Elly ihre Koffer gepackt hatte. Diese scheiß Auswandererserien waren schuld. Vielleicht wäre sie noch da, wenn sie die nicht ständig geguckt hätte.
Wenigstens konnte er jetzt in seiner Küche rauchen. Stankowski steckte sich die dritte Zigarette an und starrte hinaus in den trüben Morgen.
Er musste Überstunden abfeiern. Der Platzmeister hatte ihm keine Wahl gelassen. Von allen Kollegen hatte Stankowski die meisten Überstunden angesammelt. Sie machten sich schon lustig über ihn. Hatte er kein Zuhause? Hatte er nicht. Nicht mehr, seit Elly weg war. Die andern wussten das. Sie wussten, dass sie abgehauen war und dass er lieber auf dem Platz war als in seinen siebzig Quadratmetern. Sie verstanden es.
Er knüllte die leere Zigarettenschachtel zusammen, zielte auf den Mülleimer, warf daneben, zog seine Regenjacke an und ging runter zum Automaten. Als er die Packung in seine Tasche steckte, beschloss er, sich den Tag nicht selbst zu vermiesen. Er würde gemütlich frühstücken, allein. Er ging zum Edeka zwei Ecken weiter, kaufte Brötchen, Schinken, Butter und die BILD.
Ob es auf Mallorca jetzt wohl auch regnete? Wahrscheinlich nicht. Bestimmt saß sie gerade in einem Café in der Sonne und schlürfte Cappuccino oder was sie sonst brauchte, um sich selbst zu verwirklichen.
Er brach das Brötchen in zwei Hälften, drückte die Butter in das weiche Innere, klemmte drei Scheiben Schinken dazwischen und biss hinein.
Irgendwie verstand er sie. Er war im Viertel geboren, hatte immer hier gelebt. Seit er von der Schule abgegangen war, arbeitete er auf dem Platz. Mehr brauchte er nicht. Was sollte er auf Mallorca?
Auf dem Spielplatz mit den rostigen Klettergerüsten schräg gegenüber schlurfte eine Gestalt von einem Papierkorb zum anderen und stocherte mit einem alten Regenschirm darin herum. Rohde, Hartz IV, suchte Pfandflaschen. Hoffte wohl, so früh am Morgen würde ihn keiner dabei sehen.
Vielleicht war auch der verdammte Spielplatz schuld. Jeden Tag die Kinder da unten. Vielleicht war sie nicht mehr damit klargekommen. Sie hatten auch Kinder gewollt. Hatte aber nie geklappt. Irgendwann waren sie zum Arzt gegangen. Zuerst er, aber bei ihm war alles okay. Dann sie. Diagnose: verklebte Eileiter. Man konnte nichts machen. Ein Gottesurteil sozusagen, aber er glaubte nicht an Gott. Der Arzt hatte was von Möglichkeiten erzählt, künstliche Befruchtung und Labor, aber das hatten sie nicht gewollt, er jedenfalls nicht. Man sollte nicht alles erzwingen.
Er dachte oft daran, wenn er allein war. Auf der Arbeit nie. Keine Ahnung, wieso er ausgerechnet jetzt darauf kam. Ach ja, Rohde, der auf dem Spielplatz den Müll durchsuchte.
Immer noch ein Scheißtag, dachte er.
Sein Handy vibrierte auf dem Wachstuch des Küchentischs. Holthusen, der Platzmeister, sein Chef. Eine Viertelstunde später war Stankowski unterwegs. Mit seiner alten Kreidler brauchte er für die drei Kilometer nur fünf Minuten. Routiniert suchte er sich seinen Weg über den von Kippladern zerpflügten, mit Pfützen übersäten Hauptweg des Schrottplatzes. Vor dem Flachbau mit der Umkleide hielt er an.