1. PROSTITUIERTE, DIE ORGANE STEHLEN: MYTHEN, SPRACHE UND ANDERE MAUERN ZWISCHEN CHINA UND DER WELT

九零后jiǔ líng hòu: Die Generation, die China als die »Nach-90er« bezeichnet. Manchmal auch »Netzgeneration«, »Ich-Generation« oder »Erdbeergeneration« genannt – weil ihre Angehörigen unfähig sind, »Bitteres zu essen«.

Als Philip, mein chinesischer Patenonkel, erfuhr, dass ich vorhatte, in den Zug nach Shenzhen zu steigen, schickte er mir eine Nachricht, um mich vor den dort lauernden Gefahren zu warnen.* Er ließ mir oft solche Mitteilungen zukommen: Direkt nach unserer ersten Begegnung hatte er mir geschrieben, dass er meinen Geburtstag in seinem Kalender markiert habe. Einige Wochen später meldete er sich bei mir, um mich an die Grippeimpfung zu erinnern. Kurz darauf schickte er eine weitere Mitteilung, in der er mir riet, mich ernsthaft mit Bok Choy als Vitaminquelle zu beschäftigen, die ich als Student gut gebrauchen könne. Einmal bekam ich eine besonders schöne Nachricht, in der er mir mitteilte, es wäre ihm eine Ehre, mir seinen Enkel vorstellen zu dürfen.

Sein jüngstes Schreiben enthielt eine Warnung vor Shenzhen, der chinesischen Metropole, die an Hongkong angrenzt. Philip hielt es für nötig, mich auf drei Gefahren hinzuweisen: Zunächst waren da Taschendiebe und gefälschte Produkte, die meine Rückkehr nach Hongkong erschweren könnten. Und dann kam die dritte:

Lass dich unter keinen Umständen mit Straßennutten ein. Abgesehen davon, dass du dir eine Krankheit einfangen und ausgeraubt werden könntest, werden sie wahrscheinlich auch deine inneren Organe stehlen.

Mit den besten Wünschen

Philip, dein chinesischer Pate

Ich war eher zufällig in Hongkong gelandet. An der Columbia University, an der ich eingeschrieben war, muss man ausgezeichnete Fremdsprachenkenntnisse nachweisen, um im Ausland studieren zu können. Hongkong war ein sprachliches Schlupfloch. Da ich als Studienanfänger ein Semester Chinesisch belegt hatte, kam ich für eine Bewerbung an der Universität Hongkong infrage. Ich war noch nie in Asien gewesen. Trotz meiner schlechten Erfahrungen mit dem Chinesischen – ich hatte für diesen Kurs mehr Zeit aufgewandt als für alle anderen und trotzdem die schlechteste Note während meines gesamten Grundstudiums bekommen – wollte ich das Land kennenlernen, von dem viele sagen, hier fände die Zukunft statt.

Doch wenige Wochen nach meiner Ankunft war ich zu meiner Enttäuschung zu der Überzeugung gelangt, dass das Leben in Hongkong für einen Amerikaner keine besondere Herausforderung darstellte. Hongkong war so etwas wie ein Schaufenster für das übrige China. Der Stadtstaat war mehr als ein Jahrhundert eine britische Kolonie gewesen und erst 1997 nach Ablauf des Pachtvertrags an China zurückgegeben worden. Die Leute sprachen Englisch. Viele von ihnen waren stolz darauf, vollkommen verwestlicht zu sein. Zu Hause in den Vereinigten Staaten hatte mir jeder erzählt, die Zukunft liege in China, aber alle meine Professoren in Hongkong schienen zu sagen, dass Hongkong nicht China war.

Hinter der Grenze lag Shenzhen, das zum wirklichen China gehörte. Die Stadt war früher einmal eine Ansammlung von Fischerdörfern gewesen; bis Mitte der 1970er-Jahre lebten im Mündungsgebiet des Perlflusses lediglich etwa 30 000 Menschen. Unter Maos Führung hatte das chinesische Regime bewusst darauf verzichtet, die wirtschaftliche Entwicklung des Gebiets voranzutreiben: Es diente als Pufferzone zwischen dem kommunistischen China und dem kapitalistischen Hongkong. In den 60er-Jahren, auf dem Höhepunkt von Maos Herrschaft, begab sich Philips Familie in Lebensgefahr, als sie sich über die Grenze in die New Territories von Hongkong aufmachte, um in der »Perle des Orients« ein besseres Leben zu finden. Philip war damals noch ein Kind.

Im Jahr 1976 starb Mao; zwei Jahre später öffnete China seine Tore zur Welt und für das westliche Kapital. Mein Wirtschaftsprofessor an der Universität Hongkong drückte es so aus: »Die Sonderwirtschaftszone Shenzhen wurde zum Versuchsfeld für jede Menge wirtschaftliche Experimente. Die meisten funktionierten.« Innerhalb eines Jahrzehnts vervierfachte sich die Bevölkerung von Shenzhen und schwoll auf zwölf Millionen Menschen an. Das Gebiet verwandelte sich von einem rückständigen Außenposten des Reichs in die viertgrößte Wirtschaftsmetropole Chinas, die in der Rangliste der größten Wirtschaftszentren der Welt auf den 23. Platz kletterte und so den Beinamen »Über-Nacht-Stadt« erwarb. Zu jener Zeit machte der Witz die Runde, die Universität Shenzhen habe keine historische Fakultät, weil sie nur die Zukunft kenne. Ich hatte großen Respekt vor Philip, aber er konnte mich nicht davon abbringen, Chinas aufstrebende Metropole zu besuchen.

Die Ausstattung des Zugs, der auf der Strecke zwischen Hongkong und Shenzhen verkehrte, ähnelte der eines typischen U-Bahn-Wagens: Kunststoffsitze und metallene Haltestangen. Wie jeden Tag überquerten zahlreiche Pendler im Anzug die Grenze. Mein Sitznachbar hatte in einer Tasche auf seinem Schoß zwei große Milchpackungen. Er erzählte mir, auf dem Festland bezahlten die Leute viel Geld für Milchprodukte aus Hongkong, da die Milch in China verunreinigt sei. Mir gegenüber saß ein Mädchen, das mich neugierig anstarrte. Seine Mutter wies es zurecht. Ich winkte ihm zu, und das Kind lachte. Die Zeit verging wie im Flug.

Als wir nach einer Stunde am Bahnhof von Shenzhen ausstiegen, wurden wir getrennt: Es gab Schlangen für Ausländer, Festlandchinesen und Einwohner Hongkongs, die immer noch ein Einreisevisum brauchten. Ein Beamter stempelte meinen Pass ab und winkte mich durch in die Bahnhofshalle von Shenzhen Luohu, durch die jedes Jahr acht Millionen Grenzgänger geschleust werden.

Als ich aus der Zollabfertigungshalle trat, brach eine Sturzflut aus Körpern und Stimmen über mich herein. Verkäufer, die alles Mögliche anpriesen, von Obst über Anzüge bis hin zu Ratschlägen zu internationaler Versandlogistik und Fabrikflächen samt Quadratmeterangaben, belagerten die Reisenden beim Ausgang. Eine Handvoll »Milchhändler« bedrängte den Mann, der neben mir gesessen hatte, und wenige Augenblicke später verschwand er mit ein paar Geldscheinen in der Hand in der Menge. Ich war wie benommen von dem lärmenden Gewimmel. Ich sah Schilder in englischer Sprache und fragte auf Englisch nach dem Weg, aber anders als in Hongkong sprach hier niemand Englisch. Ich versuchte, in der Unterkunft anzurufen, in der ich ein Zimmer gebucht hatte, aber mein Handy funktionierte auf dem Festland nicht. Ich wollte eine Coca-Cola kaufen, um mich für einen Moment hinzusetzen und mich zu sammeln, aber nach einer scheinbar vielversprechenden Geschäftsverhandlung wurde mir stattdessen eine Schachtel mit 20 Packungen Taschentücher ausgehändigt.

Das Schlimmste war, dass ich immerzu an Philips Warnung denken musste. Ich wurde den Gedanken nicht los, dass all diese Menschen – die Frau, die einen mit Orangen gefüllten Weidenkorb trug, die Taxifahrer, die mich mit Handzeichen zum Einsteigen aufforderten, die Frauen mittleren Alters, die mir zu verstehen gaben, dass ich in ihre Uhrenläden kommen sollte – in Wahrheit Prostituierte waren, die sich verschworen hatten, meine inneren Organe zu stehlen.

Nachdem ich eine Stunde auf dem Bahnhofsplatz gesessen hatte, beschloss ich, nicht umzukehren. Ein Kommilitone hatte mir die Adresse meiner Unterkunft in chinesischer Schrift auf einem Zettel notiert, den ich nun einem Taxifahrer hinhielt. Er hatte Mühe, den nicht in der auf dem Festland gebräuchlichen vereinfachten Schrift, sondern in traditionellen chinesischen Schriftzeichen verfassten Text zu entziffern. Nachdem er sich mit ein paar Kollegen beratschlagt hatte, rief er »Very good!« und bedeutete mir, in sein Taxi zu steigen. Ich begann, mir Sorgen zu machen, als er jede meiner Fragen mit »Very good!« beantwortete. Nach einer halben Stunde Fahrt hatte ich meine Berechnungen abgeschlossen: Bei diesem Tempo würde ich mir schlimmstenfalls einen Arm brechen, wenn ich auf der Stadtautobahn aus dem dahinkriechenden Wagen sprang. Mein Arm würde wieder heilen. Meine Nieren hingegen würden nicht nachwachsen.

Drei Stunden später saß ich am Stadtrand im Künstlerviertel von Shenzhen mit drei Studenten der örtlichen Universität an einem Tisch. Es waren zwei junge Männer und eine junge Frau. Ich hatte mein Ziel unversehrt erreicht. Das Künstlerviertel war hip und modern, eine Mischung aus Brooklyn und Seoul. Den Studenten war aufgefallen, dass ich in einem Restaurant allein an einem Tisch saß; also hatten sie mich aufgefordert, mich zu ihnen zu gesellen. Sie trugen Fliegerjacken, Cabans und enge Jeans. Einer der jungen Männer trug einen Hut verkehrt herum auf dem Kopf und hatte sich das Wort FREEDOM aufs Handgelenk tätowieren lassen. Die anderen beiden waren ein Paar. Sie saßen eng beieinander, ihre Hand auf seinem Arm, seine Hand auf ihrem Knie.

Die Kommunikation war mühsam. Bevor sie eine Frage in Englisch stellten, berieten sie sich jedes Mal mehrere Minuten. Und ich konnte nur einen verständlichen chinesischen Satz sagen: »Ich will nicht.« Das Gespräch war nicht sehr ergiebig – es war eine rudimentäre Diskussion über Filme –, und wir aßen die meiste Zeit in einer sonderbaren, glücklichen Stille. Sie bemühten sich, gute Gastgeber zu sein, und beschränkten sich in Ermangelung einer Unterhaltung darauf, mir die schmackhaftesten Stücke auf den Teller zu legen. Sie wollten mich unbedingt einladen. »Du bist zu Gast in unserem Land.« Wir verabschiedeten uns mit einem Lächeln und winkten einander zu. Das war alles. Keine Taschendiebe, keine Betrüger, keine Prostituierten. Ich verließ Shenzhen in der Gewissheit, dass China nicht den Beschreibungen entsprach, die man mir gegeben hatte, aber ich fühlte mich auch wenig gerüstet, um die Unterschiede zu verstehen.

In meiner Zeit an der Universität Hongkong – ich verbrachte dort die ersten sechs Monate des Jahres 2011 – unternahm ich mehrere Reisen und bemühte mich, mehr vom Land zu sehen. Ich besuchte mit einem Robotikteam die Computerzentren von Shenzhen und staunte über die technologischen Kenntnisse von 14-Jährigen, die an mit Motherboards und Schalttafeln beladenen Klapptischen saßen und einen Computer in wenigen Minuten auseinandernehmen konnten. Ich schlenderte durch Internetcafés, in denen Teenager und 20-Jährige in langen Reihen vor Bildschirmen saßen und sich stundenlang wortlos durch verschiedene Realitäten klick-klick-klickten. Ich besichtigte als »Qualitätssicherungsexperte« Fabriken, in denen E-Zigaretten hergestellt wurden (der Vetter eines Freundes verkaufte sie in Großbritannien und bat uns, in einen Anzug zu schlüpfen und seine Lieferanten zu besuchen), und nahm an einem Start-up-Treffen mit 20-Jährigen teil, die die Welt verändern wollten. Worüber sprachen sie, wenn sie unter sich waren? Wie prägte es einen Menschen, in einer Stadt wie Shenzhen aufzuwachsen? Wovon träumten meine chinesischen Altersgenossen?

Ich verstand China nicht besser, als ich es besser kennenlernte. Stattdessen wurde ich mit immer neuen Geheimnissen konfrontiert. Klar war, dass das China, das ich erlebte, nicht das China war, von dem man mir erzählt hatte. Das wirkliche China schien hinter einem Vorhang zu liegen, und ich sah nur seinen Schatten. Die Große Mauer, die Skyline von Shanghai, die Kanäle, die sich durch Suzhou schlängeln, und sogar der Bahnhof Luohu in Shenzhen – all diese Orte gaben mir das Gefühl, ein Postkartenfoto von China zu betrachten, ein faszinierendes, aber sehr oberflächliches Bild. Die Abschottung von der Welt war eines der wesentlichen Merkmale des chinesischen Großreichs gewesen, und sie war auch ein Charakteristikum des modernen Landes. Die Chinesische Mauer mochte kaum geeignet gewesen sein, Invasoren fernzuhalten, aber sie war ein Sinnbild für Chinas Einstellung gegenüber der Außenwelt: Sie sollte draußen bleiben.

Nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten stellte ich fest, dass China in meiner Heimat einen noch schlechteren Ruf hatte als in Hongkong. Wann immer ich jemanden fragte, was er über die Chinesen wisse, bekam ich eine Abfolge von Schlagworten zur Antwort, von Menschen, die Maserati fuhren, Hunde aßen und in leeren, bevölkerungsarmen Städten lebten, aber von hinten angeschoben werden mussten, um in überfüllte U-Bahn-Wagen zu passen. In den Augen der Amerikaner waren die Chinesen arm und mussten schon als Kinder hart arbeiten, kauften gleichzeitig jedoch mehr Kleidung von Kate Spade und Michael Kors als irgendein anderes Volk. Die Widersprüche erinnerten ein wenig an Philips Warnung vor Shenzhen, aber ich wusste nicht, wie ich das China-Bild meiner Landsleute korrigieren sollte. Also entschloss ich mich, nach China zurückzukehren und seine Geheimnisse zu ergründen.

Nachdem ich mein Studium abgeschlossen hatte, verließ ich im Jahr 2012 New York und brach nach China auf. Im Gepäck hatte ich die Adresse einer Unterkunft und die Telefonnummer einer Sprachschule. Ich beherrschte die Sprache nicht, kannte niemanden in China und hatte keinen Job. Mein Plan war schlicht und einfach, einen Weg durch diese Mauer zu finden.

Im Jahr 2008 präsentierte China der Welt ein neues Bild von sich. Viele Leute sahen zum ersten Mal mehr von seiner Kultur als Kung-Fu-Filme, Restaurants oder National-Geographic-Reportagen. Es war Chinas großer Auftritt als modernes Land, und er begann mit 2008 Trommlern, aufgereiht auf der Bühne eines der beeindruckendsten Sportstadien der Welt, das aussah wie ein riesiges Vogelnest aus Eisen und Stahl. Die Trommler trugen allesamt identische, blassgelbe chinesische Seidenkostüme. Vor jedem stand die gleiche reich verzierte Eisentrommel. An Stahlseilen hängende Kameras fuhren ihre akkuraten, geschlossenen Reihen ab. Dann begannen die Trommler in perfektem Einklang einen komplexen Rhythmus zu schlagen. Es war gleichermaßen betörend wie verstörend, Tausende Menschen zu sehen, die sich vollkommen koordiniert wie eine Ameisenarmee bewegten.

Das war der erste Akt der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Peking. Viele internationale Berichterstatter und Experten waren sich einig: Umfang, Technologie, Koordination und Komplexität der Inszenierung – an einem Punkt widersetzten sich 58 Artisten der Schwerkraft und liefen horizontal auf einer mehrere Stockwerke hohen Kugel – machten diese Feier zur vermutlich größten Show in der Geschichte der Menschheit. Das Bild makelloser Synchronie hat die Vorstellung geprägt, die sich viele Menschen in aller Welt von China machen: Ein einheitliches, homogenes Land gleitet in perfekter Choreografie in die Zukunft.

Die Eröffnungszeremonie war Ausdruck eines chinesischen Ideals: der Auflösung des Individuums im Kollektiv. In solchen Vorführungen gibt es selten einen Protagonisten oder Helden; die Schönheit liegt vielmehr in der Harmonie aller Akteure. Der Held ist die Ausgewogenheit des Ganzen. »Das ist unser neues Land«, sagte China der Welt, »eine ausgeglichene und geeinte Nation, die im Gleichschritt in die Zukunft marschiert.«

Die Realität sieht anders aus. Vor einem Jahrhundert beschrieb Sun Yat-sen, der Vater des modernen China und Führer des Landes nach der Abdankung des letzten Kaisers im Jahr 1911, China als »Platte losen Sandes«: 一盘散沙 (yī pán sǎn shā).** Nach Jahrtausenden war die Herrschaft der Kaiser beendet, das Land ins Chaos abgeglitten. Sun Yat-sen leitete den mühsamen Übergang von der jahrtausendealten Monarchie zu einem modernen Regierungssystem. Unter seiner Schirmherrschaft stiegen Chiang Kai-shek und Mao Zedong zu politischen Führern auf, die bald unversöhnliche Feinde wurden. Chiang übernahm nach Suns Tod die Führung Chinas, brachte das Land jedoch nie ganz unter seine Kontrolle. Nach dem Zweiten Weltkrieg lieferten sich die von Chiang geführte Kuomintang (Nationale Volkspartei Chinas) und die Kommunisten unter Maos Führung einen Bürgerkrieg, dessen Sieger über die Zukunft des Landes entscheiden würde. Obwohl sie ihren Gegnern eigentlich unterlegen waren, setzten sich die Kommunisten dank unglaublicher Willensanstrengungen durch. Der »Große Vorsitzende«, wie Mao sich später nennen ließ, gründete 1949 die Volksrepublik China. Sowohl chinesische als auch ausländische Historiker sehen seine größte Leistung in dem Versuch, die »Platte losen Sandes« in ein stabiles Land zu verwandeln.

China ist auch heute noch fragmentiert. Mehr als 95 Prozent seiner Bevölkerung leben auf nur 40 Prozent seines Territoriums.*** China hat mehr als 600 Milliardäre, und die Vermögen sind so ungleich verteilt wie in kaum einem anderen Land der Welt.1 Die Städte an der Ostküste und die Metropolen rund um das Mündungsgebiet des Perlflusses mit Shenzhen an der Spitze haben sich rasch entwickelt, aber das Landesinnere und die westlichen Gebiete versuchen erst in jüngerer Zeit aufzuholen. Unterschiedliche Dialekte vertiefen die Kluft zwischen den Regionen noch, insbesondere bei den Angehörigen der älteren Generationen.

Etwa 400 Millionen Chinesen wurden zwischen 1984 und 2002 geboren. Dies sind die chinesischen Millennials, nur dass sie in China nicht so genannt werden. Dort werden die Generationen nach Jahrzehnten unterteilt: Es gibt die »Nach-50er« (jene, die zwischen 1950 und 1959 geboren wurden), die »Nach-60er« und so weiter.2

Doch diese einfachen Etikettierungen sagen nichts über die sehr unterschiedlichen Erfahrungen der Generationen aus. Die Nach-50er kamen unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkriegs und der Gründung der Volksrepublik auf die Welt. Damit war diese Generation die erste, die in den modernen chinesischen Nationalstaat hineingeboren wurde. Die letzten Mitglieder dieser Generation und die ersten Nach-60er wuchsen in einer Welt extremer Entbehrungen auf: Zwischen 1958 und 1961 fielen Dutzende Millionen Chinesen dem »Großen Sprung nach vorn« zum Opfer; die meisten von ihnen verhungerten. Als die Modernisierungsanstrengungen des Regimes in den 60er-Jahren schließlich scheiterten, stürzte Mao das Land in die Kulturrevolution, gestand der Bauernschaft einen höheren Stellenwert als den übrigen Gesellschaftsschichten zu und entwickelte einen Personenkult um den »Großen Vorsitzenden«. In der Kulturrevolution, die gleichermaßen antiintellektuell, antimodern und antihistorisch war, wurde ein Großteil der traditionellen chinesischen Literatur, der historischen Bauwerke des Landes und der besten Köpfe jener Generation vernichtet.

Es folgte ein Wendepunkt in der Entwicklung des modernen China. Die ersten Mitglieder der Nach-80er wuchsen unter besonders radikalen Bedingungen auf: Im Jahr 1978 öffnete die chinesische Führung das Land für ausländische Investoren und setzte eine rasante industrielle Entwicklung in Gang. Etwa zur selben Zeit wurde die Ein-Kind-Politik eingeführt, um das explosive Bevölkerungswachstum zu bremsen: Von nun an durften chinesische Paare nur noch ein Kind haben. Zur Durchsetzung dieser Regel griff der Staat auch auf erzwungene Abtreibungen und Zwangssterilisationen zurück.

Dann kamen die Nach-90er. Eine wachsende Protestbewegung, die sich auf dem »Platz des Himmlischen Friedens« (dem Tiananmen) in Peking versammelte und demokratische Reformen forderte, wurde gewaltsam niedergeschlagen. In einem Augenblick der nationalen Identitätskrise änderte die Partei das landesweite Bildungsprogramm, um das Selbstverständnis dieser Generation neu zu bestimmen: Im Mittelpunkt standen nun nicht mehr die »großen Leistungen« Maos, sondern Chinas politische und kulturelle Machtstellung in der Geschichte. Der Niedergang des Landes in der Neuzeit wurde mit seiner inneren Schwäche und nach außen gerichteten Aggression erklärt. Dann pflanzte Deng Xiaoping, der Architekt des chinesischen Wirtschaftsaufschwungs, in Shenzhen einen Baum als Symbol für das Wachstum, das er der Region bringen wollte.

Anderthalb Jahrzehnte spektakulären Wachstums verwandelten das Fischerdorf in ein Produktionszentrum mit mehreren Millionen Einwohnern, und das arme, rückständige Land mauserte sich zu einer modernen Macht, die sich anschickte, die Weltbühne zu betreten. Die Parteiführung wollte aus den Olympischen Spielen in Peking 2008 das offizielle Debüt Chinas als moderne wirtschaftliche und kulturelle Macht machen. Im Jahr 2011 lebte bereits mehr als die Hälfte der chinesischen Bevölkerung in Städten, und vier Jahre später wurde mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts im Dienstleistungssektor erwirtschaftet, der das produzierende Gewerbe als Motor der Wirtschaft abgelöst hatte.3

Die Generationen nach Jahrzehnten einzuordnen, ist nicht perfekt, aber es hilft China, sich selbst und die großen Unterschiede zwischen den Generationen zu verstehen. Die jungen Menschen, mit denen ich mich in diesem Buch beschäftige, wurden in einem Land geboren, das vor Anspruch und Ehrgeiz nur so strotzte. Die Generationen der Nach-90er und Nach-2000er sind bereits Teil der globalen Mittelschicht. Sie sind die ersten Generationen im neuzeitlichen China, die sich nicht mehr allein mit der Befriedigung der Grundbedürfnisse beschäftigen müssen, sondern sich um ihre Wünsche kümmern können, insbesondere um die Frage »Wer wollen wir sein?«. Diese Generationen werden definieren, was es bedeutet, in der modernen Welt Chinese zu sein.

Wie mein chinesischer Pate hatte auch mein letzter Mitbewohner in China einen englischen Namen angenommen. Er hatte sich für den Namen Tom entschieden. Tom ist 1993 geboren, drei Jahre nach mir. Er wuchs ganz anders auf als ich. Zu jener Zeit war es still geworden um die chinesische Demokratiebewegung und die staatlichen Repressionen auf dem Tiananmen-Platz. China steckte mitten in einer ganz anderen Art von Revolution. Bei dieser Revolution ging es um das Kühlen von Lebensmitteln: Für die 1,1 Milliarden Einwohner gab es nur 30 Millionen Kühlschränke.4 Tom zählte nicht zur privilegierten Minderheit, die ein solches Gerät besaß. »Wir waren ein ganz normaler Haushalt, wir gehörten nicht zu den Reichen«, erzählte mir seine Mutter. Toms Familie lebte zwar in einer Stadt, aber drei Viertel seiner Generation wurden noch auf dem Land geboren.5 In seinem Geburtsjahr eröffnete in Shenzhen der erste chinesische McDonald’s-Laden, aber Shenzhen war von Toms Heimatprovinz Sichuan weit entfernt. Einer seiner Onkel, der Arbeit in einer Fabrik in Shenzhen gefunden hatte, hatte einmal in dem amerikanischen Fast-Food-Restaurant gegessen und berichtete seiner Familie von dieser Erfahrung. Den Geschmack eines Big Mac beschrieb er als »verwirrend«.

Toms Familie war arm, sehr viel ärmer als die meisten Menschen auf der Welt: In China lag das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen zu jener Zeit bei etwa 375 Dollar im Jahr – das war weniger als in Burkina Faso, Ruanda und Lesotho, nur geringfügig mehr als in Indien und meilenweit entfernt vom amerikanischen Durchschnittseinkommen von fast 23 000 Dollar im Jahr. Die beiden asiatischen Riesen China und Indien, ein kommunistisches und ein demokratisches Land, werden in China oft miteinander verglichen. Bei besagter symbolischer Pflanzung eines Baums in Shenzhen verkündete Deng Xiaoping: »Sozialismus ist nicht gleichbedeutend mit Armut. Es ist wunderbar, reich zu sein.«6 Toms Eltern und Großeltern deuteten diese Worte als Signal für die Entkriminalisierung der Privatwirtschaft. Sie nahmen sie als Aufforderung und begannen, an ihrem sozialen Aufstieg zu arbeiten. Toms Großeltern und Lehrer bemühten sich, neben ihrem örtlichen Dialekt Mandarin zu lernen. Seine ältere Cousine erzielte in der Englischprüfung das fünftbeste Ergebnis der Stadt und brach nach Shanghai auf, um Arbeit bei einem ausländischen Unternehmen zu finden. Sie war das Gesprächsthema in der Nachbarschaft.

Die Chinesen bekamen damals wenig von der Außenwelt zu sehen. Kaum jemand hatte einen Fernseher. Internetzugang gab es nicht (in den Vereinigten Staaten verfügten im Jahr 1996 bereits 20 Millionen Erwachsene über einen eigenen Internetanschluss).7 Tom erinnert sich dunkel daran, dass im Jahr 1996, als er drei Jahre alt war, die Leute in einer öffentlichen Veranstaltungshalle zusammenkamen, um zu erleben, wie die chinesische Mannschaft bei den Spielen in Atlanta 16 Goldmedaillen gewann. Das war die erste Liveübertragung aus Amerika, die Tom im Fernsehen sah. Seine Eltern starrten ehrfürchtig auf die Leinwand und sagten: »Sieh dir das an, Sohn, das ist das großartigste Land der Welt.« Als Kind kannte Tom niemanden, der eines der 5,5 Millionen Autos besaß, die es in China gab. Auf den Straßen wimmelte es von Fahrrädern nahezu identischer Bauart, den allgegenwärtigen »Flying Pigeons« (Fliegenden Tauben). Fast alle Menschen waren mager. Ein Visum für Auslandsreisen zu bekommen, war so gut wie unmöglich. Die meisten Botschaften – einschließlich der chinesischen – gingen davon aus, dass chinesische Familien illegal auswandern würden, wenn sie die Chance dazu bekämen. Im Alter von fünf Jahren fuhr Tom einmal mit seiner Familie in eine Nachbarstadt und stand drei Stunden lang in einer Schlange, um Brathähnchen bei Kentucky Fried Chicken zu essen. Es war seine erste Begegnung mit der westlichen Küche. Die Textur des Kartoffelpürees fand er wunderbar – nicht ganz wie Tofu, nicht ganz wie Haferbrei, aber buttrig und weich. Er aß auch zum ersten Mal in seinem Leben Butter und litt tagelang unter Durchfall.

Tom lernte, dass China in anderen Ländern als »der kranke Mann Asiens« bezeichnet wurde. In seinen Geschichtsbüchern las er vom »Jahrhundert der Demütigung« (18391949) und dem Niedergang des einst starken und wohlhabenden Reichs der Mitte unter der Herrschaft der Qing-Dynastie (1644 1911). Im geschwächten China hatten die westlichen Kolonialmächte die wichtigsten Städte des Landes unter sich aufgeteilt und ihre Häfen für den Handel mit Tee und Seide genutzt. Sie hatten die Bevölkerung durch den illegalen Opiumhandel niedergedrückt und zu Bürgern zweiter Klasse im eigenen Land gemacht. Er las von der Besetzung des Landes durch die Armeen des kleinen Inselstaats Japan. Die Japaner hatten China von 1937 bis 1945 in Geiselhaft gehalten, seine Frauen vergewaltigt und biologische Waffen an seinen Bauern getestet. Toms Land war zu schwach gewesen, um sie aufzuhalten.8

Spulen wir einige Jahre vor. Als Tom die Oberschule besuchte, war Chinas Pro-Kopf-BIP auf das Zehnfache des Betrags angeschwollen, den die Chinesen erwirtschaftet hatten, als er ein Kind war. Mittlerweile war die Wirtschaftsleistung Chinas dreimal so hoch wie die Indiens. Toms Familie konnte es sich nun leisten, ins Restaurant zu gehen. Die jungen Chinesen konsumierten dreimal so viel Schweinefleisch wie in ihrer Kindheit. Die Kalorienaufnahme hatte sich seit den Tagen, als Toms Großeltern Teenager gewesen waren, verdoppelt. (Die geringe Kalorienaufnahme der Großeltern-Generation erklärt, warum ihre Angehörigen so klein waren: Die Mangelernährung hatte ihr Wachstum gebremst.) Tom und seine Klassenkameraden mussten im Sportunterricht über die Gefahren des Übergewichts aufgeklärt werden.9 Im Alter von 15 Jahren jubelte Tom den Sportlern seines Landes zu, die bei den Olympischen Spielen in Peking 51 Goldmedaillen einsammelten, 15 mehr als die Vereinigten Staaten. Seine Eltern konnten es nicht glauben. Tom dachte: Warum nicht?

Ein Jahrzehnt später stand China im Zentrum jedes Gesprächs über die Weltlage. Tom und seine Freunde sahen, dass die Welt stöhnte, wenn Chinas Wirtschaft einmal nicht rundlief. So ermutigend die Zukunftsaussichten des Landes waren, so beängstigend war der Wettbewerb innerhalb der chinesischen Gesellschaft geworden. Tom absolvierte ein Universitätsstudium. Gleichzeitig mit ihm beendeten 7,5 Millionen andere junge Chinesen ihr Studium – heute kommt China auf mehr Universitätsabsolventen als jedes andere Land –, und wenn Tom eine Chance auf einen guten Job haben wollte, brauchte er einen guten Abschluss.


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