»Katja Oskamp braucht nicht viele Worte, um ein ganzes Leben zu erzählen. Normale
Leute, ein kaum beachteter Ort — spektakuläre Geschichten.« Bov Bjerg
Katja Oskamp ist Mitte vierzig, als ihr das Leben fad wird. Das Kind ist aus dem Haus,
der Mann ist krank, die Schriftstellerei, der sie sich bis dahin gewidmet hat: ein
Feld der Enttäuschungen. Also macht sie etwas, was für andere dem Scheitern gleichkäme:
Sie wird Fußpflegerin in Berlin-Marzahn, einst das größte Plattenbaugebiet der DDR.
Und schreibt auf, was sie dabei hört — Geschichten wie die von Herrn Paulke, vor vierzig
Jahren einer der ersten Bewohner des Viertels, Frau Guse, die sich im Rückwärtsgang
von der Welt entfernt, oder Herrn Pietsch, dem Ex-Funktionär mit der karierten Schiebermütze.
Geschichten voller Menschlichkeit und Witz, Wunderwerke über den Menschen an sich
— von seinen Füßen her betrachtet.
Katja Oskamp
Marzahn mon amour
Geschichten einer Fußpflegerin
Hanser Berlin
Für Doris und Hartmut Eisenschmidt, meine Eltern
, in denen du weder jung noch alt bist, sind verschwommene Jahre. Du kannst das Ufer nicht mehr sehen, von dem du einst gestartet bist, und jenes Ufer, auf das du zusteuerst, erkennst du noch nicht deutlich genug. In diesen Jahren strampelst du in der Mitte des großen Sees herum, gerätst außer Puste, erschlaffst ob des Einerleis der Schwimmbewegungen. Ratlos hältst du inne und drehst dich dann um dich selbst, eine Runde, noch eine und noch eine. Die Angst, auf halber Strecke unterzugehen ohne Ton und ohne Grund, meldet sich.
Ich war vierundvierzig Jahre alt, als ich die Mitte des großen Sees erreichte. Mein Leben war fad geworden — das Kind flügge, der Mann krank, die Schreiberei, mit der ich es bisher verbracht hatte, mehr als fragwürdig. Ich trug etwas Bitteres vor mir her und machte damit die Unsichtbarkeit, die Frauen jenseits der vierzig befällt, vollkommen. Ich wollte nicht gesehen werden. Aber ich wollte auch nicht sehen, ein Überdruss an Köpfen, Gesichtern und gut gemeinten Ratschlägen. Ich tauchte ab.
Am 2. März 2015, wenige Tage nach meinem fünfundvierzigsten Geburtstag, packte ich Kleidungsstücke, Schuhe, Handtücher und ein Spannbettlaken in eine große Tasche und fuhr damit von Friedrichshain nach Charlottenburg. Als ich den S-Bahnhof verließ, fürchtete ich, die Literaturagentin zu treffen, die in der Nähe ihr Büro betrieb und mir zuletzt nur Absagen übermittelt hatte — meine Novelle war von zwanzig Verlagen abgelehnt worden. Ich ging ein paar Umwege, schlich um die Ecken; ich war viel zu früh. Als ich das Haus Nummer 6 erreichte, standen da Frauen vor dem Eingang, ebenfalls mit großen Taschen oder kleinen Rollkoffern, Frauen wie ich, nicht mehr jung, nicht mehr schlank. Ich fragte zögerlich, ob ich hier richtig sei. Sie nickten. Wir lächelten schwach. Ja, noch einmal etwas Neues wagen, wer weiß, ob es das Passende ist. Mit einer verhärmten Arzthelferin aus Spandau rauchte ich eine Zigarette. Dann wurde es Zeit, ins Haus zu gehen. Der Fahrstuhl fasste nur zwei Leute. Wir gingen alle zu Fuß, stiegen die Stufen hinauf; jedem Stockwerk folgte ein weiteres. Der Frauentrupp schnaufte unter der Last des Gepäcks, erreichte schweigend das Dachgeschoss. Eine Frau stand in der Tür, dürr und lang, in weißer Kleidung.
»Gitta«, sagte sie, lächelte nicht, gab jeder von uns die magere Hand. »Zieht euch um und breitet die Spannbettlaken über die Stühle, auch über die Armlehnen.«
Wir drängten uns in die Umkleideecke, packten unsere Utensilien aus, achteten darauf, nicht zu viel Platz zu beanspruchen, schämten uns unserer in die Jahre gekommenen Körper, als wir die dunklen Hosen abstreiften und in weiße stiegen. Wir zerrten die Laken über die Stühle und stellten uns ungeschickt an. Wir wollten keine Fehler machen. Wir waren Schülerinnen. Wir hatten den Kurs Fußpflege A in einer Schule für Heilberufe und Kosmetik gebucht, die sich hochtrabend Akademie nannte. Gitta war unsere Lehrerin.
Wir machten viele Fehler. Wir vergaßen die Fußanalyse, das Handtuch auf dem Schoß, die Polster für die Kniekehlen. Wir verwechselten Krallen- mit Hammerzehen, Haut- mit Eckenzangen, Desinfektionslösung mit Alkohol. Wir schlampten bei den Hygienevorschriften. Wir verschwendeten Nagelhautweicher, setzten das Skalpell falsch an, kriegten die Klinge nicht in den Hobel. Wir waren zu vorsichtig, zu brutal, zu gründlich, zu flüchtig, zu langsam, zu schnell. Wir verletzten uns gegenseitig. Manchmal blutete eine und musste verarztet werden. Wir verziehen einander alles. Wenn wir Gittas Fragen nicht beantworten konnten, drucksten wir herum wie Stümper, Pfuscher, Idioten. Ihre spitze Stimme versteifte uns die Nacken.
In den Pausen stiegen wir die Treppen hinab, standen vor dem Haus Nummer 6, aßen unsere Stullen, rauchten.
Eine blonde Russin war dabei, die golddurchwirkte Strickpullover trug und die hübscheste Arbeitskleidung von allen, einen taillierten Kasack mit schräg angeordneten Zierknöpfen. Ihre schwarzgetuschten Wimpern bogen sich nach oben; die Kontaktlinsen gaben ihren blauen Augen einen schimmrigen Glanz. Sie war hier, um sich von der halbwüchsigen Rasselbande zu erholen, die ihr zu Hause die Haare vom Kopf fraß, vielleicht auch wegen der eigenen angegriffenen Füße. Sie hatte drei Schwangerschaften auf hohen Absätzen verbracht.
Die kleine Dralle stammte aus Georgien, lebte aber schon lange in einer Kleinstadt im Erzgebirge. Sie fuhr morgens drei Stunden mit dem Zug nach Berlin, abends drei Stunden zurück. Alles sei besser, als zu Hause zu sitzen, sagte sie, und dass sie sich jetzt, da ihr Sohn fünfzehn war, von dem erzgebirgischen Mann, mit dem sie verheiratet war, trennen würde. Ich sagte ihr einmal, dass sie sehr gut Deutsch spricht; sie sagte, sie habe früher als Übersetzerin gearbeitet. Ein andermal zeigte sie uns ihre Zunge, der ein Stück fehlte: »Ich hatte schon mal Zungenkrebs.«
Die verhärmte Arzthelferin aus Spandau arbeitete Vollzeit und hatte Urlaub genommen, um den Kurs zu absolvieren. Ihr vierzehnjähriger Sohn litt an einer seltenen, unheilbaren Krankheit, die ihn, je älter und schwerer er wurde, immer unbeweglicher machte. Sie schaffe es bald nicht mehr, ihn herumzutragen, die Schmerztabletten für den Rücken seien inzwischen wirkungslos. In zwei Jahren gehe ihr Chef in Rente, spätestens dann wolle sie sich selbstständig machen. Ob in eigener Praxis oder zu Hause, um bei ihrem Sohn zu sein, blieb offen.
Dann kamen die Modelle, meistenfalls ältere Herrschaften, die drei Stunden Zeit mitbrachten, um sich von ungeübten Anfängerinnen umsonst die Füße pflegen zu lassen. Ich sah die Schweißperlen auf der Stirn der kleinen Drallen, das Haar unter der Schutzhaube, die Augen hinter dem Plastikvisier, die untere Gesichtshälfte hinter dem weißen Mundschutz verschanzt, als zöge sie in den Krieg. Ich sah den Hobel zittern in der behandschuhten Hand der verhärmten Arzthelferin, bevor sie die Ferse eines Modells blutig hackte. Ich sah die blauen Augen der blonden Russin tränen vom Geruch eines Nagelpilzes im dritten Stadium. Wir verkrümmten und verkrampften uns, immer Gittas spitzen Blick über der Schulter, ihren spitzen Finger am wunden Punkt, ihre spitze Stimme im Ohr, das rot glühte vor Aufregung.
Keine von uns war auf direktem Wege hier gelandet, jede zuvor irgendwo abgeprallt, steckengeblieben, nicht weitergekommen. Wir wussten, wie Scheitern sich anfühlt. Wir waren demütig und bescheiden und kleinlaut geworden, bereit, unsere Vorgeschichten zu vergessen, unsere Leistungen auszuradieren und uns wie unbeschriebene Blätter zu verhalten. Wir waren ganz unten bei den Füßen angelangt, an denen wir, nichtsdestotrotz, scheiterten. Gitta merkte sich unsere Namen nicht. Wir würden verschwinden, die nächsten würden kommen, Frauen wie wir, mittelalte Mütter, bemüht und brav, namenlose Vertreterinnen eines namenlosen Mittelfelds, degradiert zu Fußnoten des eigenen Lebens.
Zu Hause lernte ich die Namen der achtundzwanzig Fußknochen auswendig, den Aufbau des Nagels, die Fußdeformitäten und wie eine Thrombose entsteht. Ich prägte mir die Materialien für Fräserköpfe ein, die Wirkungen pflanzlicher Stoffe, die Hautkrebsarten, den Unterschied zwischen Viren, Bakterien und Pilzsporen. Die Besonderheiten des diabetischen Fußes und die Definition von Fissuren, Rhagaden und Krampfadern. Mein Mann fragte mich ab, wenn wir abends im Bett lagen, begraben unter Zetteln voller Mitschriften und Fußskizzen.
Im Dachgeschoss des Hauses Nummer 6 schrieben wir die theoretische Prüfung. Eine Ärztin kam in die Akademie, um die praktische Prüfung abzunehmen. Wir bestanden alle, die blonde Russin im zweiten Versuch. Wir waren erleichtert und sogar stolz. Gitta überreichte uns ein Zertifikat und schüttelte jeder von uns die Hand. Sie lächelte. Sie war eine gute Lehrerin gewesen. Wir trennten uns nach einem Kaffee nahe dem S-Bahnhof Charlottenburg, zerstoben in alle Winde mit einem zarten Aufbruchsgefühl. Ich weiß nicht, was aus den anderen Frauen geworden ist.
Wenn du unsichtbar geworden bist, kannst du schreckliche Dinge tun, wundervolle Dinge, abseitige Dinge. Es sieht dich ja keiner. Ich erzählte zuerst niemandem von meiner Umschulungsaktion. Als ich es dann doch tat und lachend mit dem Zertifikat wedelte, schlugen mir Ekel, Unverständnis und schwer zu ertragendes Mitleid entgegen. Von der Schriftstellerin zur Fußpflegerin — ein fulminanter Absturz. Mir fiel wieder ein, wie sie mir auf die Nerven gegangen waren mit ihren Köpfen, Gesichtern und gut gemeinten Ratschlägen.
Ich konnte nicht auf sie warten. Ich hatte zwei gesunde Hände, die einer nützlichen Arbeit nachgehen würden. Der Anfang würde nicht einfach sein, aber schön wie jeder Anfang.
Du bist in einem Alter, in dem dich die Jugend deines Kindes noch an deine eigene erinnert und dich die Krankheit deines Mannes schon von der Geliebten zur Pflegerin gemacht hat. Du kannst, da du in der Mitte des großen Sees auftauchst und weiterschwimmst, viel sehen, viel verstehen und dir noch mehr vorstellen. Du bist in einem Alter, in dem sich, wenn ein Abenteuer beginnt, der Gedanke an dessen Ende bereits klammheimlich einschleicht. Die mittleren Jahre, in denen ich als Fußpflegerin in Marzahn gearbeitet habe, werden gute Jahre gewesen sein.
Mit der Straßenbahnlinie M6 fahre ich vierzehn Stationen nach Osten, an den Berliner Rand. Die Reise dauert einundzwanzig Minuten. Ich steige aus und registriere den Temperaturunterschied. Wie immer kommt mir das Wetter in Marzahn, einst die größte Plattenbausiedlung der DDR, intensiver vor als in der Innenstadt. Die Jahreszeiten riechen stärker.
Unser Kosmetikstudio ist keine zwei Gehminuten von der Haltestelle entfernt. Der Erdgeschosslage verdanken wir viele Kunden mit Krücken, Rollatoren und Rollstühlen. Ich kippe den Kopf in den Nacken, und zuverlässig erfasst mich das Zwergengefühl ob der achtzehn Stockwerke, die auf dem Studio lasten. Hier, am Fuße dieses gewaltigen Gebäudes, gehe ich der Fußpflege nach.
Ich ziehe die weiße Arbeitskleidung an, trage das Stullenpaket in die Küche, koche mir einen Kaffee, bereite meinen Arbeitsplatz vor, studiere im Terminbuch, ob jemand abgesagt oder sich kurzfristig angemeldet hat.
Und da klingelt es schon. Neun Uhr fünfundvierzig. Ich eile zur Tür, drehe das Schild von Geschlossen (rot) auf Geöffnet (grün), schließe auf und rufe: »Frau Guse! Hereinspaziert!«
Frau Guse parkt den Rollator, hängt die Jacke an den Garderobenständer, atmet schwer. Mit ihrer Einkaufstasche wackelt sie in den Fußpflegeraum. Sie setzt sich auf den Fußpflegestuhl; ich helfe ihr, Schuhe und Strümpfe auszuziehen, kremple die Hosenbeine hoch. Zusammen stellen wir ihre Füße ins vorbereitete Fußbad. Ich zupfe zwei Handschuhe aus der Packung und streife sie über, Frau Guse zugewandt, die erwähnt, dass sie Brustkrebs hatte, was sie jedes Mal an dieser Stelle tut, worauf ich nicke und sage, was ich jedes Mal an dieser Stelle sage, dass die Operation bald sieben Jahre zurückliegt und dass die Tabletten, die sie seither einnehmen muss, schreckliche Nebenwirkungen zeigen, zum Beispiel Atemnot und Durchfall. Auf einen ahnungslosen Anfänger mag es hirnrissig wirken, dass ich Frau Guse ihre eigenen Beschwerden aufzähle, die sie natürlich kennt; der Profi hingegen weiß, dass nur ein Bruchteil jeder Kommunikation dem reinen Informationsaustausch dient, der große Rest ist etwas anderes, und in diesem großen Rest tummeln Frau Guse und ich uns in virtuoser Verquickung. Auf mein zur rechten Zeit gefallenes Stichwort Durchfall sagt sie erwartungsgemäß, dass sie sich manchmal gar nicht aus dem Haus traut, aus Angst, sich in die Hosen zu machen. Frau Guse und ich könnten sogar die Texte tauschen; ich jedenfalls beherrsche beide Parts auswendig, denn wir führen alle sechs Wochen exakt das gleiche Gespräch.
Das sei aber blöd, antworte ich, und nun nickt Frau Guse und lächelt ihr selig schiefes Lächeln, das sie noch bei den schaurigsten Themen beibehält, was mich stets verwundert und beeindruckt, und dann sagt sie, als hätte sie es noch nie gesagt: »Allet seit de Operation, seit de Operation, erst seit de Operation, vorher hatt ick dit nich, seit de Operation erst, vorher nich, erst denn, seit de Operation.«
Wobei sie, weil sie sieht, wie ich das Peeling in den Händen verteile, ihr Handtuch auf dem Schoß bereitlegt, das mitgebrachte, das die wahre Stammkundin auszeichnet, die nämlich immer ein Handtuch dabeihat, wofür sie selbstverständlich ein Lob von mir bekommt, und indem ich erkläre, dass wir, also meine Kolleginnen und ich, dankbar sind für diese freundliche Mitarbeit der Kundschaft, die uns hilft, den Wäscheberg zu minimieren, wechseln wir elegant von den Krankheiten zum Haushalt, und ich kauere mich vor Frau Guse und die Schüssel, muss nur die Hände öffnen, schon hebt Frau Guse den linken Fuß aus dem Wasser, hält ihn mir hin, und ich bearbeite Ferse, Sohle, Längsgewölbe, Spann, fahre mit den Fingern zwischen die Zehen, schrubbe die alten Hautschüppchen ab, wie es Magdalena einst mit den Füßen von Jesus tat, wobei biblische Motive nicht unbedingt das zentrale Thema in der Unterhaltung zwischen Frau Guse und mir bilden und ich Frau Guses Füße auch nicht mit meinen Haaren abtrockne, sondern mit dem Handtuch, dem mitgebrachten, und zwar gründlich.
»Ab jetzt dürfen Sie faul sein«, sage ich, damit Frau Guse wohlig seufzen kann, was sie planmäßig tut, um wiederum selig lächelnd von der Brustprothese zu sprechen, die sie zwar hat, aber nie benutzt, womit wir wieder die Krankheiten schrammen, was ich durch ein Lob für ihre luftige Bluse galant auffange, welche so leger falle, dass man nichts von der fehlenden Brust merke. Jawohl, gesteht Frau Guse mit kokettem Augenniederschlag, sie kleide sich gern locker, leicht und farbenfroh. Das ist der Moment, in dem ich die Kundin endgültig zur Königin mache: Ich trete mit dem Fuß auf die Pedalerie, und leise surrend fährt Frau Guse samt Fußpflegestuhl — der pinkfarbene Thron in weißem Ambiente — in eine Höhe, die uns wie immer zu dem Scherz animiert, dass Frau Guse demnächst durch die Decke stößt. Ich fahre den Rollschrank heran, knipse die Lupenlampe an, richte ihren schwenkbaren Arm so aus, dass das Licht gleißend auf die Füße fällt, und jetzt, nachdem Frau Guse ihre königliche Höhe erreicht hat, kriege auch ich als ihre Dienerin meinen Sitzplatz, indem ich mir den weißen Rollhocker unter den Hintern ziehe. Brille uff und ran anne Buletten. Zuerst kommt der Kopfschneider fürs Grobe zum Einsatz.
»Wenn’s wehtut«, sage ich.
»Denn schrei ick«, sagt Frau Guse.
Nun widme ich mich den Rollnägeln, die an den Seiten einzuwachsen drohen, und schneide kleine Dreiecke heraus, greife alsdann zur Sonde und pule Verhorntes unter den Kanten und aus den Falzen hervor. Sanft schiebe ich an der Matrix die Nagelhaut zurück, zehn Mal. Ich stecke den Fräser ins Handstück, wähle eine geringe Umdrehungszahl und schalte das Fußpflegegerät ein. Zwischen Frau Guse und mir surrt es, das Motoren- und Absauggeräusch; spätestens jetzt bin ich genauso schwerhörig wie meine königliche Kundin. Wegen des Lärms schweigen wir. Ich schaue Frau Guse über den Brillenrand an, sie lächelt ihr schiefes Lächeln, mild und still.
Geboren 1933 in Berlin-Prenzlauer Berg, Acht-Klassen-Abschluss, keine Berufsausbildung. Kurzzeitig als ungelernte Raumpflegerin tätig. 1953 Heirat. Bis 1966 fünf Kinder. 1973 Tod des Mannes mit fünfundvierzig. Sie zog die Kinder allein groß, alle haben einen Beruf gelernt: Maurer, Schlosser oder Verkäuferin. Frau Guse übersiedelte 1993 von Prenzlauer Berg nach Marzahn. Ihre Beerdigung hat sie bereits bezahlt (»Viertausend Euro«), die Urne ausgewählt (»Eichenlaub«), die Trauermusik bestimmt (»Nabucco«), die Grabstätte gepachtet: auf dem Friedhof neben ihrem Mann.
Frau Guse betrachtet zufrieden ihre blitzblank gefrästen Nägel. Ich schalte den Motor aus, gebe den Fräser in die Desinfektionslösung, setze die Brille ab, greife nach dem Hornhautpaddel.
Jetzt ist es wieder still im Raum.
»Hufe auskratzen«, sage ich.
»Bin doch keen Pferd«, sagt Frau Guse.
Ich beginne mit der groben Seite der Feile, Frau Guse hilft mit, indem sie Feuerhakenfüße macht und mir die Fersen hinhält. Leise rieseln die Schüppchen. Bald wende ich die Feile auf die feine Seite. Frau Guse hat kaum Hornhaut, benutzt ihre Füße nicht mehr viel.
Wenn ich sie frage, woran ihr Mann so jung gestorben ist, sagt sie stets, er sei am Magen operiert worden. Das ist keine Todesursache. Und ich sehe in ihren Augen, dass sie noch heute, fünfundvierzig Jahre später, nicht versteht, warum er gestorben ist, sie versteht es mit den Jahren sogar immer weniger. Sie hat auch Mühe, die Namen ihrer fünf Kinder aufzuzählen, aber letztendlich fallen sie ihr ein: Lothar, Bärbel, Joachim, Uwe, Christine. Frau Guse ist nicht dement. Sie entfernt sich nur langsam und im Rückwärtsgang von der Welt, in der sie sich auskannte: Kinder, Küche, Kaufhalle.
»Was gibt’s denn heute zu essen, Frau Guse?«
»Dit wollnse wieda wissen, wa?«
Wir kichern; Frau Guse gibt sich verschmitzt, ich gebe mich wissbegierig und ungeduldig. Mit Frau Guse kann man schäkern.
»Heute jibt et, heute mach ick, heute hol ick, nachher gleich, wenn ick hier fertig bin, hol ick … n halbet Hähnchen!«
Kess sagt sie das, richtig clever. Früher war Frau Guse bestimmt eine gute Köchin, inzwischen variiert ihr Menüplan nach meinem Eindruck zwischen Döner, Hähnchen und Chinapfanne. Aber am Wochenende kocht sie ordentlich wie eine Hausfrau. Und was? Kassler! Jeden Samstag gibt es bei Frau Guse Kassler. Wie macht sie den? Mit Kartoffeln und Sauerkraut. Und das Fleisch? Gleich kommt’s, meine allerliebste Stelle in der gesamten Sitzung.
»Mit de Brotschneidemaschine, den Kassler koof ick im Stück, und denn schneid ick den mit de Brotschneidemaschine, mit de Brotschneidemaschine schneid ick den schön in Scheiben, den Kassler, ja, da staunse, mit de Brotschneidemaschine mach ick dit.«
»Mit der Brotschneidemaschine?«, rufe ich begeistert, bin perplex und von den Socken, absolut platt und total baff.
»Ja«, sagt sie wie eine Adlige, »mit de Brotschneidemaschine.«
Derweil wir Frau Guses Kasslerschnitttechnik gebührend abfeiern, wische ich ihr mit dem Handtuch den Staub von den Fersen, die glatt sind wie zwei Kinderpobacken. Sie dürfe sich eine Creme wünschen, Rose oder Lavendel oder lieber Propolis? Frau Guse wünscht sich gar nichts, sie vertraut mir und will, dass alles so ist wie immer. Ich drücke aus dem Spender einen Klecks in die Hand und bearbeite die Füße, erst den linken, dann den rechten. Andächtig und stumm verfolgt sie mein Tun, denn ich mache etwas mit ihren Füßen, was niemand sonst je mit ihren Füßen macht. Den Spann ausstreichen, die Zehengrundgelenke einzeln bewegen, um die Knöchel kreisen, die Achillessehne dehnen, mit der Faust über die Sohle hobeln, den Vorfuß spreizen, die Fersen kneten.
»Dit hamse aba wieda schön jemacht.«
Wir betrachten mein Werk. Frau Guse ist fünfundachtzig, ihre Füße sind jetzt, nach der Behandlung, das Jüngste an der ganzen Frau.
Ich ziehe die Handschuhe aus, fahre den Thron ins Erdgeschoss und die Beinstützen ein, lege das Handtuch zusammen, helfe Frau Guse, die Strümpfe und die Schuhe anzuziehen.
Sie schwankt kurz, als sie sich erhebt, hält sich an der Armlehne fest, stabilisiert sich in der Aufrechten. Nimmt die Einkaufstasche, lässt das Handtuch hineinrutschen, wackelt aus dem Raum.
»Denn zahl ick ma«, ruft Frau Guse.