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Originalausgabe
1. Auflage 2020
© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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Redaktion: Susanne Schleußer
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
Umschlagabbildungen und Bildteil: alle Bilder © Michael Dianda
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print 978-3-7423-1195-5
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0851-8
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0852-5
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Prolog
Ein Leben vor dem Urwald
Als sich alles veränderte
Ankommen im Urwald
Die Goldgräberin
Existenz im Urwald
Die Entführung
Aufwachsen im Urwald
Erkenntnisse und eine Entscheidung
Die Macht der Natur
Ganz weit weg
Die Planänderung
Wohin jetzt?
Exploration und Expedition
Aufbruch in ein eigenes Leben
Steinzeit, Zivilisation oder beides
Epilog
Bildteil
Ich wusste, wie eine Buche aussah und konnte eine Kastanie identifizieren. Aber bis vor sieben Tagen war mir die Natur egal gewesen. Ich bin im Allgäu aufgewachsen und wollte nie Bäuerin werden. Niemals hätte ich mich auch freiwillig abends vor den Fernseher gesetzt und eine Tierdokumentation geschaut. Ich empfand keine Sehnsucht nach der Natur, zumindest dachte ich das. Ich war ein Stadtmensch, der in diesem Moment im peruanischen Urwald fernab jeglicher westlichen Zivilisation ausgesetzt worden war.
Zunächst nahm ich die tief von den Ästen hinabhängenden Blätter wahr. Sie sahen aus wie Herzen. Am Boden verlief eine Ameisenstraße, und die kleinen Wesen transportierten auf ihren schmächtigen Rücken verhältnismäßig gigantische Blätter. Ich hörte die Stimmen der Vögel. Sobald es irgendwo raschelte, flog gleich ein ganzer Schwarm hoch. Da war auch das Zirpen der Grillen, das Grunzen eines Wildschweins. Der Sound des Urwaldes. Dann wurde es auf einmal ganz still. Wussten die Tiere, dass ich da war?
Mein Blick glitt an den Baumstämmen entlang bis hinauf zu den Kronen, und ich spürte die Kraft, die hier vereint war. Eine Kraft, die mich nicht bedrängte, nicht auf mir lastete. Stattdessen war da etwas Übermächtiges. So erhaben erschien mir der Urwald. Ich beobachtete jetzt nicht mehr. Ich fühlte. Es war ein unglaublicher Moment für mich: Ich spürte den Urwald.
Worüber hatte ich mir zuletzt eigentlich Gedanken gemacht? Dass mein Handgepäck auf der Flugreise nach Peru geklaut worden war? Ob ich mich nach der Scheidung wieder auf einen Mann einlassen wollte? Nichtige Gedanken, gemessen an dem, was sich hier ereignete. Ich verschmolz geradezu mit der Heiligkeit dieser Natur. Es war ein Gefühl, als hätte ich eine Kathedrale betreten. Gläubig war ich nie gewesen, hier aber hatte ich zum ersten Mal im Leben den Eindruck, es gäbe doch einen Gott und ich wäre ihm ganz nah. Der Urwald war mächtig und er hatte mich in seinen Bann gezogen.
Natürlich war ich mir auch der Brutalität bewusst, mit der sich die Natur zu ihrem Recht verhalf. Auch Tiere töten, aber wenn sie Brutalität an den Tag legen, dann hat es seinen Sinn und geschieht nicht, um sich dem Konsum hinzugeben oder sich persönlich zu bereichern. Warum ließ ich mich von einem solchen Rhythmus nicht treiben? Warum lief ich noch immer hektisch einem Leben hinterher, an dem ich selbst zunehmend zweifelte?
In den vergangenen Wochen hatte ich sehr viel über einen alternativen Weg gelernt. Mit meinem neuen Freund Michael war ich in Peru unterwegs. Er wollte mir das Land zeigen, das seit einigen Jahren für ihn zu einer zweiten Heimat geworden war. Er plante, hier künftig noch mehr Zeit zu verbringen. Bis zu diesem Tag war es für mich ein Urlaub gewesen. Ich hatte nur beobachtet. Jetzt aber begann ich Michael zu verstehen, und dieser spezielle Urwaldmoment, den ich nur für mich allein erlebte, hatte mir dabei geholfen.
Gewiss war nicht alles auf dieser Reise so romantisch gewesen, aber sie hatte mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet. Für Schmuck war ich nie sonderlich zu haben gewesen. Ich besaß zwar eine feine goldene Kette mit einem in Gold gefassten Onyxanhänger, dazu die passenden Ohrringe – Geschenke meines Vaters. Außerdem hatte ich von meiner Mutter ein feingliedriges goldenes Armband und einen Diamantring bekommen. Zu Hause in Deutschland lag in einer Schublade auch noch mein Ehering. Nach Peru hatte ich kein Teil dieser überschaubaren Sammlung mitgenommen, natürlich nicht. Michael hatte mich zuvor gewarnt: Mit Schmuck am Körper ginge man das Risiko ein, eine Südamerikareise nicht unbeschadet zu überstehen. Meinen Ehering hatte ich ohnehin schon vor längerer Zeit abgelegt.
Aber auch in der Zeit, als ich ihn trug, hatte ich mir keine Sekunde Gedanken darüber gemacht, woher das verarbeitete Gold stammte und unter welchen Umständen es gefördert worden war. Welches Leid es für andere Menschen und die Natur vielleicht bedeutete.
Die Faszination des Goldes hatte nicht nur die Spanier vor knapp 500 Jahren auf Raubzüge in diesen Teil der Welt gebracht, Gold hatte bereits zuvor die Kriege im Heiligen Römischen Reich finanziert. Für die Menschen war Gold eine wichtige Währung geblieben, und das hielt einige weiterhin kaum davon ab, anderen unfassbare Schäden zuzufügen und in der Natur zu wüten. Michael hatte es mir erzählt, aber wahrscheinlich musste ich es erst mit eigenen Augen sehen: die Kinder, die mit physischen Fehlbildungen zu leben hatten, wie Beinen, die zu Schwänzen deformiert waren, und gespaltenen Fingern. Mit geistigen Behinderungen. Es waren die Folgen des Quecksilbers, das hier wie selbstverständlich bei der Goldwäsche zum Einsatz kam und dessen Dämpfen die Arbeiter ausgesetzt waren. Das Gift konnte sich in den Organen absetzen und über die Plazenta auch zum Fötus gelangen.
Ich musste bei diesem Anblick auch an mein eigenes Kind zu Hause denken, an meine süße, lebensfrohe fünf Jahre alte Tochter Gisa. Und daran, dass es ja eine Alternative gab. Michael hatte in den vergangenen Jahren als Goldwäscher gearbeitet, ohne den Einsatz von Chemikalien.
Dass Goldabbau auch Kinderarbeit, Sklaverei und Zwangsprostitution bedeuten konnte, ganz abgesehen davon, dass dafür ganze Berge abgetragen werden mussten und so ebenfalls hochgiftiges Zyanid zum Einsatz kam, das ins Grundwasser sickerte und Unbeteiligten großes Leid zufügte, wurde mir erst hier richtig bewusst. Ich war fassungslos, dass man das einfach so hinnahm, dass der Einsatz von Quecksilber sogar noch gefördert wurde. Von Gold würden die Menschen auch weiterhin fasziniert sein. Wenn man ihnen also den Rohstoff anbieten konnte, ohne dabei die Natur, aus der man ihn entnahm, zu schädigen, dann wäre das vielleicht doch ein Schritt in die richtige Richtung.
Als Michael mir zuvor gesagt hatte, entscheidend für ihn sei, im Urwald leben zu können, nicht das Geld, das er dort mit der Goldgewinnung verdiente, hatte ich ihn nicht so recht verstanden. Was genau zog ihn in die Wildnis? Jetzt aber spürte auch ich die enorme Anziehungskraft dieses Ortes auf unserem wunderschönen Planeten. Hier wollte ich bleiben. Nicht nur für einen Urlaub, sondern länger. Und nicht aus Habgier, sondern um im Einklang mit der Natur mein Leben zu bestreiten, zu fühlen, was Leben im ursprünglichen Sinn bedeutet.
Ich schaute noch einmal bis hoch in die Baumkronen und konnte mich kaum lösen. Mit meinen Fingern berührte ich die raue feste Rinde des Stammes. Allein dieser Baum war eine Welt für sich. An seinem Stamm krabbelten Käfer, jederzeit musste man mit Baumsteigerfröschen rechnen, vor denen mich Michael so gewarnt hatte. So eine Schönheit durfte man nicht zerstören. Aber vielleicht konnte man ja mit ihr zusammenleben.
Zwei Männer und eine Frau saßen mir auf der dritten Etage eines Gebäudekomplexes am Stadtrand von Düsseldorf gegenüber. Ich hatte ein Vorstellungsgespräch bei einer Modeagentur. Die Anzeige hatte ich in der Rheinischen Post gelesen. Gesucht wurde eine Verkäuferin für den Textilhandel. In diesem Job sah ich mich. Das würde passen. Es dauerte keine zwei Minuten, bis mir einer der beiden Männer die unerfreuliche Nachricht überbrachte: »Tut uns leid, die Stelle ist schon vergeben.«
Was für ein Blödsinn, dachte ich. Warum sitze ich dann überhaupt hier? Das hätten sie mir auch gleich an der Tür sagen können. »Aber ziehen Sie mal bitte Ihren Mantel aus«, sagte die Frau. »Und laufen Sie eine Runde. Einmal nach vorne und wieder zurück.« Etwas perplex und überrumpelt ließ ich mich auf das Spiel ein, rückte meinen Stuhl zur Seite und lief einmal vor bis zum Fenster. Als ich mich wieder dem Konferenztisch zuwandte, sah ich, wie einer der beiden Männer nickte und die Frau zufrieden lächelte. Es machte die Situation nicht weniger skurril.
»Alles klar, das passt«, sagte die Frau. »Am Gangbild müssen wir ein bisschen arbeiten, aber Ihre Maße stimmen. Wir würden Sie gerne als Hausmodel engagieren.« »Was, ich?« Ich konnte nicht anders, als überrascht zu reagieren, obwohl ich noch immer bei einem Vorstellungsgespräch war. »Als Model?« Die drei verzogen keine Miene. Sie schienen das ernst zu meinen. »Ja, nicht für Röcke«, sagte einer der drei. Ich habe eher stabilere Beine. Aber für Trenchcoats, für Hosenanzüge und Hüte sei ich perfekt.
Eine Woche später fing ich als Hausmodel bei der Modeagentur an, die im Gebäude des Düsseldorfer Einzelhandelszentrums Imotex ihren Sitz hatte. Ich war zu diesem Zeitpunkt vieles und schon vieles gewesen. Zunächst einmal war ich 28 Jahre alt und Mutter eines drei Jahre alten Kindes. Ich war eine Ehefrau, die sich in ihrer Ehe zunehmend unwohl fühlte. Ich war im Allgäu aufgewachsen, mit einer sechs Jahre älteren Schwester und einer Mutter, die an gewissen Konventionen festhielt und andere für völlig überholt hielt. Sie war alleinerziehend, hatte sich aber selbst in unserem urkonservativen, erzkatholischen bayerischen Dorf mit ihrer Lebensweise in den 1960er-Jahren, nach dem Umzug aus Düsseldorf, Respekt verschafft. Wir waren zu dritt dorthin gezogen. Mama, Gaby und ich. In den Siebzigern, nach der Realschule, diskutierten Mama und ich über meine Zukunft und Berufspläne. Ich wollte nach Indien! Das war nicht so einfach. Meine Mutter sagte, ich solle zur Polizei gehen. »Auf gar keinen Fall«, schoss es aus mir heraus. »Buchhaltung«, schlug ich vor. »Buchhalterin, bist du verrückt«, rief meine Mutter. »Grafikerin«, sagte ich, hatte dann aber nicht genug Mut für einen Beruf, in dem ich über Jahrzehnte jeden Tag auf neue kreative Lösungen kommen musste.
Schlussendlich entschied ich mich für eine Ausbildung zur Hotelfachfrau. Es war sowieso das Einzige, was man hier in einem bayerischen Dorf realistisch machen konnte. Trotzdem stand fest, dass ich nach der Ausbildung wegmusste, wenn ich Karriere machen wollte. Bei uns gab es ausschließlich Familienbetriebe, und wenn einem der im Hintergrund fehlte, kam man nicht weit. Mir passte das gut, denn ich wollte weg.
Zunächst zog ich nach Sindelfingen und arbeitete als Assistentin der Geschäftsführung in einem Hotel. Die Nähe zu Stuttgart machte den Ort schon mal etwas urbaner. Doch ich wollte mehr. Als Mensch, der sich schnell langweilt, landete ich schon ein halbes Jahr später in Düsseldorf, wo mein Vater eine gut laufende Werbeagentur aufgebaut hatte. Ich nahm mir schnell eine eigene Wohnung und arbeitete in verschiedenen Hotels, verdiente nicht viel und schmiss die Läden häufig alleine.
»Warum machst du dich nicht selbstständig«, fragte mein neuer Freund Heinz, den ich in Düsseldorf gerade kennengelernt hatte. Wir schauten uns um. Das Hotel »Haus Oberkassel« stand zur Pacht, heruntergekommen und viel zu teuer. Ich hatte 1000 DM auf der hohen Kante und Heinz wollte weitere 1000 beisteuern. Ich brauchte aber 45 000 DM und weitere 12 000 DM für die Mietkaution. Ich fragte daraufhin meinen Vater. »Werd du erst mal 30«, entgegnete er auf meine Bitte um Geld. »Du bist gerade mal 20, in dem Alter macht man sich nicht selbstständig.« Meine Entscheidung war allerdings längst getroffen. Wenn ich mir über etwas klar geworden bin und dafür das Für und Wider abgewogen habe, dann ziehe ich es anschließend auch durch. Ich versetze mich in solchen Situationen selbst in Person A und Person B und führe Selbstgespräche. So stand mein Entschluss unumstößlich fest, dass das mit dem Hotel genau das Richtige für mich sein würde. Meine Oma half mir, meinen Vater zu überzeugen. Kurz darauf erschien er mit einem schweren Aktenkoffer in dem Hotel, in dem ich gerade arbeitete. Er stellte ihn auf den Tresen am Empfang und sagte: »Mach so etwas nie wieder.« Papa war verärgert, dass ich seine Mutter da mit hineingezogen hatte.
Geld gab er mir trotzdem, es war als zinsloses Darlehen gedacht. Und er ging daraufhin mit mir zur Bank. Dort verhandelte mein Vater für mich, und ich unterschrieb wenig später einen Kreditvertrag. Am 1. April 1980 eröffnete ich mein eigenes Hotel, mit gerade mal 21 Jahren. Bereits am 1. Dezember konnte ich der Bank die 45 000 schon wieder zurückzahlen.
Es lief. Ich war erfolgreich. Lebte in der Großstadt, dort, wo ich immer sein wollte. In meinem Hotel war immer etwas los, Messegäste kamen, die umliegenden Unternehmen quartierten regelmäßig ihre Gäste, Geschäftspartner, Kunden oder Mitarbeiter bei mir ein.
Nach wenigen Jahren sehnte ich mich trotzdem nach mehr, nach Familie. Ich liebte die Großstadt, aber merkte, wie ich dort zunehmend vereinsamte. Die Beziehung zu Heinz war nach zwei Jahren in die Brüche gegangen. Ich lernte Mohsen kennen und ließ mich sehr schnell auf ihn ein. Zu heiraten und Kinder zu bekommen, ein Familienleben aufzubauen, das war meine Triebfeder. Beruflich hatte ich für mich zum damaligen Zeitpunkt alles erreicht.
Mohsen war im Iran aufgewachsen und mit 18 Jahren nach Deutschland gekommen. Hier hatte er Medizin studiert und arbeitete als Oberarzt in Grevenbroich. Es dauerte nicht lange, bis ich schwanger wurde. Seit Mai 1983 waren wir ein Paar, im Dezember fand die Hochzeit statt, am 28. August 1984 kam unsere Tochter Gisa zur Welt. Wir hatten uns wahnsinnig auf sie gefreut, sie war ein absolutes Wunschkind. Ein Wonneproppen mit einem dicken schwarzen Haarbüschel auf dem Kopf. Das Hotel unterhielt ich weiterhin und wohnte mit Gisa in Oberkassel. Gisa war kein einfaches Baby, in den ersten drei Monaten folgte eine Kolik auf die andere, sie schrie viel. Meine Arbeit im Hotel beeinträchtigte das aber kaum. Trotzdem merkte ich, dass die Situation – Mohsen in Grevenbroich, ich mit Gisa im Hotel – kein Dauerzustand sein konnte. Ein Jahr nach ihrer Geburt entschied ich, das Hotel aufzugeben und zu ihm zu ziehen. Das war meine Entscheidung gewesen. Mohsen hatte mich nicht dazu gedrängt, ganz im Gegenteil. Aber für die Familie tat ich es gerne.
Wir lebten beengt in seiner Wohnung in Grevenbroich. Das Schlafzimmer gestalteten wir zum Büro um, von dem aus ich mich zunächst um die organisatorischen Aufgaben kümmerte, denn inzwischen arbeitete mein Mann als ambulanter Anästhesist. Wir schliefen im Wohnzimmer. Es dauerte nicht lange, bis es zwischen uns kriselte. Als Tochter von getrennt lebenden Eltern dachte ich immer, dass es bei mir mal ganz anders laufen würde. Weit gefehlt. Wir versuchten es trotzdem. Mohsen kaufte ein Haus in beschaulicher Lage in Meerbusch-Ilverich mit großem Garten und großem Vorplatz an einer verkehrsberuhigten Straße mit lauter frei stehenden Einfamilienhäusern und Nachbarn mit Kindern. Gisa würde sich aussuchen können, wo und mit wem sie künftig spielen wollte. Ein paar Hundert Meter weiter war man direkt am Rhein. Dieser Ort war ein einziges Idyll inmitten von Pferdekoppeln und Feldern, an dem Menschen lebten, die keine nennenswerten Sorgen im Leben hatten. Bis Düsseldorf war es trotzdem nicht weit. Hier sollten wir glücklich werden. Wir feierten Einweihung und luden dazu auch die Nachbarn ein. Ich buk Pizza mit Zwiebeln nach sizilianischer Art. Die Frauen hier mussten so etwas zuvor noch nie gegessen haben, sie waren jedenfalls begeistert. »Du solltest einen Partyservice eröffnen«, schlugen sie vor. Ich bemühte mich tatsächlich darum, eine andere Tätigkeit zu finden. Ausschließlich für Mohsen zu arbeiten, das tat mir nicht gut und unserer Ehe schon gar nicht. Ich wollte finanziell unabhängig sein. So wie mein Auto vor der Tür stehen musste, bedeutete auch eigenes Geld für mich Freiheit. Dann entdeckte ich die oben erwähnte Anzeige in der Rheinischen Post, und so wurde ich das Hausmodel der Modeagentur. Das war auch für mich ein überraschender Karriereschritt. Als ich Mohsen davon erzählte, freute er sich für mich. Vielleicht konnte sich ja so endlich alles fügen.
Dem Familienleben half es leider nicht, die Ehe war eine Sackgasse. Fünf Monate nachdem wir unser Zuhause in Ilverich bezogen hatten, gestand ich mir das ein und verließ meinen Mann. Ich zog mit Gisa ein paar Kilometer weiter nach Osterath und suchte mir eine zweite Anstellung als Model. Weil ich nun die alleinige Verantwortung zu tragen hatte, nahm ich zusätzlich zwei Putzstellen in Privathaushalten an. Dafür war ich mir nicht zu schade, denn es ging darum, finanziell unabhängig zu sein. Gisa war im Kindergarten versorgt. Vormittags war ich Putzfrau, nachmittags Model. Wenn ich am Wochenende arbeiten musste, konnte sich Mohsen um seine Tochter kümmern.
So hart der Anfang auch war, es sollte besser werden. Mohsen bot mir an, im Haus in Ilverich wohnen zu bleiben und selbst in die Wohnung nach Osterath zu ziehen. Aber ich wollte nicht zurück dorthin. Der Ort kam mir vor wie ein Gefängnis. An das Haus waren für mich viel zu viele Verpflichtungen geknüpft. Die Wohnung war überschaubarer, und ich richtete sie uns schön ein. Ich war jetzt Single und glücklich, verdiente gut. Für Gisa und mich hatte ich es geschafft. Ein Mann sollte mir so schnell nicht mehr ins Haus kommen.
Ich glaubte nicht mehr an die ewige Liebe. Wenn ich das Bedürfnis nach einem Mann hatte, dann nahm ich mir einen als One-Night-Stand. Gelegenheiten dafür ergaben sich immer, denn ich hatte einen großen Bekanntenkreis, zu dem auch öfter neue Leute stießen. Für länger als eine Nacht konnte es mir aber niemand recht machen, ich sah immer zu, dass es dabei blieb, denn dafür war ich viel zu überzeugt von meinem Singleleben. Das genoss ich auch, selbst wenn die Vorstadt einem Familienparadies glich. Über Konventionen habe ich mich noch nie definiert. Ich respektiere und achte jeden. Auch meine Mutter konnte als alleinerziehende Mutter in einem kleinen Dorf gut leben.
In Osterath zu leben war praktisch, denn Gisa konnte weiter in den Kindergarten gehen, und ihr Vater lebte nicht weit entfernt. Wie ein Zuhause fühlte sich dieser Ort allerdings nie für mich an. Gisa war glücklich, das war wichtig. Ich verdiente gut und konnte mir alles leisten, was ich mir wünschte. Superteure Unterwäsche war kein Problem. Daran erfreute ich mich eine Woche. Dann war der Spaß vorbei. In den Ferien konnten wir in die Toskana fahren. Ja, super. Schön. Alle waren dort glücklich, und ich war es auch. Aber irgendwas fehlte doch, und es war kein Mann. Es fehlte etwas anderes, und mit der Zeit stellte sich bei mir eine leichte Melancholie ein. Es war nicht direkt Traurigkeit, mir machte eher der Stillstand zu schaffen. Ich war jetzt 30 Jahre alt und stellte mir elementare Fragen wie: »Was ist das Leben?« und: »Soll das alles gewesen sein?« Vielleicht musste mein Leben für eine Weile in solch geordneten Bahnen verlaufen, damit ich es wieder neu hinterfragen konnte. Und im Hinblick auf meine Karriere stellte ich mir zunehmend die Frage: »Bist du echt auf der Welt, um als lebendiger Kleiderbügel zu arbeiten?«
Ich begann zu schwitzen, wenn er in meine Nähe kam. Das war sehr untypisch für mich, denn eigentlich schwitzte ich nie. Selbst wenn ich mit meinen Freundinnen in die Sauna ging, begann ich erst nach dem dritten Aufguss leicht zu transpirieren. Auf Michael reagierte ich heftiger als auf Hitze. Ausgerechnet auf einen Mann. Dieser aber brachte zunächst meinen Körper und anschließend meine Gefühle durcheinander. Mein Leben und meine Überzeugungen – alles sollte sich mit Michael von Grund auf ändern. Zugleich konnte ich meine innere Stimme nicht überhören, die eindringlich warnte: Vorsicht!
Wir hatten uns auf einer Modenschau kennengelernt. Ein verrückter Tag. Ich war für zwei verschiedene Veranstaltungen gebucht. Alles begann am Nachmittag mit einer Schau für Pelzjacken. Bei der überschaubaren Gesellschaft dauerte es nicht lange, bis ein Mann den anderen Models besonders auffiel, ein fremdes Gesicht unter den vielen Einkäufern, die einem nach einer Weile in dem Geschäft schon bekannt waren. »Habt ihr den gesehen? Wer ist denn das?«, tuschelten die Kolleginnen backstage. Aufgrund meiner starken Kurzsichtigkeit war mir der Mann entgangen – ich vertrage keine Kontaktlinsen, und eine Brille kam für mich als Model eh nicht infrage. »Was ihr immer seht«, tat ich den Tratsch ab, denn vor meinen Augen verschmolzen die Zuschauer sowieso zu einer schwarzen Masse.
Unterdessen ahnte ich nicht, dass sich dieser gewisse Mann in der Menge genau dieselben Fragen im Hinblick auf meine Person stellte. Er nahm zufällig an der Modenschau teil, da der Veranstalter ein Freund von ihm war. Besagter winkte mich im Anschluss an die Präsentation herbei. »Ariane, darf ich dir Michael vorstellen. Ein guter alter Freund von mir.« Längere Haare, die ihm wirr ins Gesicht hingen, ein Wildlederjackett, so stand Michael vor mir.
Wir schauten einander an. Ich war schon im ersten Moment verwirrt. Michael sah wirklich supertoll aus, aber ich spürte, dass da noch mehr war. Zugleich glaubte ich ja nicht mehr an die große Liebe, schon gar nicht an das Konzept von Liebe auf den ersten Blick. Ich versuchte mich möglichst zügig aus dieser Dreierrunde zu lösen. »Entschuldigt bitte, ich habe noch einen Termin, eine andere Schau am Abend.« »Wie wäre es denn anschließend noch mit einem Treffen?«, fragte Michael. Seine Stimme klang ungewöhnlich hoch. Aber sein Blick war ruhig. Er schaute mir tief in die Augen.
Ich sagte spontan zu und ließ einfach auf mich zukommen, was sich aus diesem Date entwickelte. Ich war es gewohnt, mit Männern zu spielen. »Halb zehn am Hotel Hilton«, mit diesen Worten lief ich hinaus. Die zweite Pelzschau an diesem Tag wartete nicht. Ich freute mich auf das Wiedersehen und darauf, diese Nuss zu knacken.
Michael erwartete mich bereits. »Komm, lass uns von hier weg«, sagte ich. In der Hotellobby befanden sich noch genug Modeleute, die nicht mitbekommen mussten, dass ich gerade auf dem Weg zu einem Date war. In einer nahe gelegenen Bar nahmen in schweren Clubsesseln Platz und bestellten Kaffee, den ich nach den zwei Veranstaltungen jetzt brauchte. Anstrengung und Müdigkeit fielen schnell von mir ab, und es trat eine gewisse Aufregung an ihre Stelle.
Michael saß einfach da, den Ellenbogen so aufgestützt, dass er sein Kinn in die Handfläche legte, den Blick auf mich geheftet. Wir redeten und redeten – stundenlang. Über mich, über ihn, über Südamerika, wohin er unbedingt bald zurückwollte. Vor sehr vielen Jahren war er mal Teil der Modewelt gewesen und hatte ein Label geführt. Doch nach einer Weile hatte er begonnen, zunehmend mit dieser Welt zu fremdeln. Er begann, sich mit Gartenbau zu beschäftigen, und legte für andere Leute Landschaften an. In jeder freien Minute fuhr er in die Natur, raus zum Angeln. Doch auch das hatte ihm nicht gereicht. Er musste erst elf Jahre als Goldgräber in Südamerika verbringen, um sich zu finden. Seine Zukunft, so eröffnete er mir an diesem Abend, liege im Urwald. Er plane, dort weiterhin nach Gold zu schürfen.
Während wir redeten, schaute er mich nur an, und ich brannte lichterloh – für ihn.
Der Abschied verlief dann ganz anders als erwartet. Kein Kuss, kein Telefonnummerntausch, Michael öffnete nur seinen Kofferraum und reichte mir daraus sein neues Buch, das er über seine Zeit in Südamerika geschrieben und gerade druckfrisch erhalten hatte. Der Titel: Das letzte große Abenteuer. Und er sagte: »Ich werde immer an dich denken.«
Das war alles? War nicht ich diejenige, die sonst mit den Männern spielte? Da hatte ich einen Mann jetzt viel näher an mich herangelassen, als ich es jemals wieder vorgehabt hatte, und wurde so verabschiedet? Unglaublich! Er brachte mich noch zu meinem Auto, das auf einem Parkplatz in der Nähe stand, und mit gemischten Gefühlen machte ich mich auf den Heimweg.
Natürlich fand ich in der Nacht keinen Schlaf. Stattdessen nahm ich mir sein Buch zur Hand. Es handelte von seinen Jahren in Südamerika, von den Umweltproblemen, die sich im Regenwald abzeichneten und mit denen wir uns früher oder später alle auseinandersetzen müssten. Er entwarf darin ein Szenario, wie viel Bestand im Regenwald aufgeforstet werden müsse, um eine weltweite Steigerung der Durchschnittstemperatur zu verhindern. Dazu kamen Aufnahmen von Stränden, an denen sich der Plastikmüll türmte. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag: Vor dem bist du gerade in der Pelzjacke aufgetreten!
Am nächsten Tag klingelte das Telefon: Michael. Meine Nummer hatte er aus dem Telefonbuch, und es war der Beginn seiner Eroberungsaktion. In Osterath hatten Gisa und ich eine Wohnung im ersten Stock, und eines Morgens fand ich auf dem Balkon eine Tüte mit Brötchen und Brezeln, die er hinaufgeworfen hatte. Darin befand sich ein Zettel: »Zeit zu frühstücken.« Es folgten Telegramme und Blumen. Und ich ließ diesen Mann entgegen meinen Vorsätzen einfach so einen Platz in meinem Leben einnehmen, zunächst allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wir trafen uns nur in meiner Wohnung. Immer noch bekam ich Schweißausbrüche, wenn er vor meiner Tür stand, ja selbst bei dem bloßen Gedanken an ihn durchfluteten mich Hitzewellen.
Wir waren keine drei Wochen zusammen, da machte er mir einen ernsthaften Heiratsantrag. Ich lehnte ab, da ich ja noch nicht einmal geschieden war, stellte ihm aber im Gegenzug Gisa vor als Zeichen, dass es auch mir mit ihm ernst war. Zugleich stand das große Thema »Urwald« im Raum, der Ort am anderen Ende der Welt, an den Michael unbedingt zurückwollte. Früh sprach er mich darauf an, ob ich mir vorstellen könne, dort mit ihm zu leben. Das konnte ich natürlich überhaupt nicht. Dem Landleben im Allgäu, der Kuh direkt vor meinem Fenster, war ich erfolgreich entkommen. Ich gehörte in die Stadt. Auf keinen Fall wollte ich mich auf ein Leben im Zelt einlassen. Einlassen konnte ich mich hingegen auf Michaels Vorschlag, zusammen mit ihm für drei Wochen Peru zu bereisen. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch nie außerhalb Europas gewesen. Peru, Urlaub mit meinem Freund in trauter Zweisamkeit für einen begrenzten Zeitraum – das klang spannend.
Gisa blieb bei meiner Schwester, und so machten Michael und ich uns auf zum Flughafen nach Luxemburg. Wir hatten viel zu viel Gepäck und fragten die anderen Gäste, ob sie uns etwas von ihrem Kontingent abgeben könnten. Am Ende blieben noch 46 Kilogramm Handgepäck, eine riesige Reisetasche, in der wir einen Generator transportierten und meine teuren Kleider. Der Platz in den Koffern war durch Geschenke für Michaels Freunde in Peru, ebenso mit Ausrüstung wie Zelt und Schlafsäcken belegt. Die Aeroflot-Maschine kam aus Moskau, und Landungen in Kanada und auf Kuba lagen noch vor uns. Beim ersten Zwischenstopp stiegen wir aus, während der Flieger neu betankt wurde. Wir waren nun seit einigen Monaten ein Paar, aber redeten noch immer ohne Unterbrechung. So war es auch jetzt in der Cafeteria. Den Aufruf, dass alle Passagiere wieder zurück an Bord kommen mögen, überhörten wir einfach. Es mussten an diesem Tag erst zwei kanadische Polizeibeamte vor uns stehen, die fragten, ob wir vorhatten, Asyl zu beantragen, bis wir wieder in die Realität zurückfanden und uns schleunigst auf den Weg zum Flieger machten.
Während des zweiten Zwischenstopps auf Kuba ging die Reisetasche verloren. Da man sie aufgrund ihrer Schwere und Sperrigkeit nicht im Gepäckfach hatte verstauen können, stand sie vorne bei der Crew. Als diese in Kuba wechselte und auslud, war anschließend auch die Reisetasche weg. Unser Handgepäck mitsamt meinen teuren Sachen. Einzig ein Overall blieb mir, der im Koffer lag. Nach der Landung in Lima war das die erste Erkenntnis. Die zweite: Es war unglaublich, wie viel Müll auf den Flüssen auf dem Weg vom Flughafen ins Stadtzentrum trieb, mehr Dreck als Wasser, und über dieser Kloake kreisten die Geier. Herzlich willkommen in Lima.
Dass ich schlechte Erfahrungen mit der Liebe gemacht hatte, wusste Michael natürlich. Dass ich die Entscheidung, an diesem Ort künftig zu leben, nicht zuletzt deshalb unabhängig von ihm treffen musste, war ihm bewusst. Ich musste auf dieser Reise für mich selbst herausfinden, ob ich mir in diesem Land ein Leben mit Kind vorstellen konnte. An meiner Seite war mein neuer Freund, der sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ich mit ihm für längere Zeit als nur für einen Urlaub hierherkäme. Aber allzu großen Druck bereitete mir diese Situation in diesen Tagen nicht. Ich musste mich hier mit gar nichts identifizieren. Mein Leben spielte in Düsseldorf, und dort lief es, abgesehen von dem Gefühl der Leere, ganz gut.
Peru bedeutete erst einmal Urlaub: durch Lima schlendern, Fünfuhrtee einnehmen, aus der großen Brieftasche leben, Ella kennenlernen, die Betreiberin des Hostels, in dem Michael in seiner Zeit hier schon öfter abgestiegen war. Sie war eine kleine, schmale, disziplinierte Person, die trotz ihrer mehr als 80 Lebensjahre die Geschäfte am Laufen hielt. Zusammen mit ihrem vor Jahren verstorbenen Mann, einem Ingenieur, war sie aus Italien nach Peru ausgewandert. Ihre Tochter hatte einen Diplomaten geheiratet. Sehr schnell realisierte ich die große Kluft zwischen Arm und Reich, und sie schockierte mich. Auf der Straße sah ich Kinder, deren Eltern ihnen Gliedmaßen abgetrennt hatten, damit sie erfolgreicher betteln konnten. Hinter den schweren Eisentoren von Miraflores, einem der wohlhabenden Viertel von Lima, traf ich hingegen Menschen, die in die Schweiz zum Skifahren flogen.
Wir verbrachten ein paar Tage in Lima und machten uns anschließend auf den Weg nach Cusco. Machu Picchu sollte unser Ziel sein. Das typische Touristenprogramm. Michael hatte sich für den sanften Peru-Einstieg für mich entschieden. Zunächst bekam ich die Eindrücke mundgerecht serviert, und mit den Routen und Points of Interest orientierte er sich am vorgeschlagenen Programm eines Reiseführers, mit der einen oder anderen Sondereinlage, auf die nur ein Ortskundiger wie er kommen konnte. Doch schon bald änderte sich unser Kurs. Von Cusco aus ging es nach Puerto Maldonado. Von dem Ort heißt es, er sei das Tor zum Urwald. Mein erster Eindruck: Es roch hier anders. Sobald die Crew die Tür des Flugzeugs geöffnet hatte, strömte die Tropenluft herein, eine extrem feuchte Schwüle, die innerhalb von Sekunden auf dem Körper lastete. Wenn wir bis jetzt Urlaub gemacht hatten, war jetzt augenblicklich Schluss damit. Es begann die Urwalderfahrung, auf die ich von Anfang an bestanden hatte. Wie sonst sollte ich eine belastbare Entscheidung pro oder contra Urwald treffen? Los ging es hier, in Maldonado, einem Ort, an dem zwei Flüsse zusammenfließen: der schlammig-braune Río Madre de Dios und der ein wenig klarere Río Tambopata. Wenn der Río Tambopata in den Río Madre de Dios mündet, ergibt sich ein wunderschönes Farbspiel.
Der Ausblick von unserer auf einem Hügel gelegenen Lodge war ein einziges grünes Meer. Dazu Bananenstauden, Kakaopflanzen und Kaffeesträucher – ich bekam eine ganze Flut an neuen Eindrücken. Schrittweise ließen wir die Zivilisation hinter uns. Wir machten noch ein paar notwendige Besorgungen, denn dafür würde es dann später keine Gelegenheit mehr geben. Michael organisierte das noch fehlende Equipment wie Batterien, eine Machete, Plastikplanen für das Zelt. Mir trug er auf, mich auf dem Markt um den Proviant für eine Woche zu kümmern. Natürlich standen Reis und Nudeln ganz oben auf der Einkaufsliste. Aber für unseren ersten Abend wollte ich ihn mit etwas Besonderem überraschen. Die Paprika sahen hier ganz anders aus als bei uns, aber Paprikagemüse gelang mir immer gut. Das konnte man dünsten, dazu Hühnchen. Ich kaufte ein, voller Vorfreude auf das, was ich damit kochen würde. Und voller Vorfreude auf das, was da noch kommen sollte. Michael hatte jemanden organisiert, der uns mit seinem Peque-Peque-Boot am nächsten Morgen den Madre de Dios zwei Stunden flussabwärts Richtung Bolivien bringen sollte. In aller Herrgottsfrühe ging es los, und immer wieder passierten wir Stellen, an denen die Menschen gerade ihren Tag begannen. Sie putzten sich am Fluss die Zähne, wuschen sich die Haare oder badeten die Kinder. Der Fluss mit seinem Wasser, das auf mich als zivilisierte Westeuropäerin nicht gerade einen sauberen Eindruck machte, war fester Bestandteil ihres Lebens. Ich trug meinen Overall und ein Halstuch, das man nach Bedarf ins Wasser tauchen konnte, um den Nacken zu kühlen und den Kreislauf in Schwung zu halten. Nach gut zwei Stunden Fahrt stiegen wir an einer Uferböschung an Land. Alles war zugewuchert und weit und breit keine Lagune in Sicht, wie Michael sie angekündigt hatte. »Wir folgen dem Trampelpfad«, sagte er. »Warte nur ab.«
Ich bekam Angst, als mir klar wurde, dass wir jetzt in den Wald reinmussten. Vor allem vor Schlangen hatte Michael mich gewarnt. Was, wenn ich gleich auf eine trat? Michael schulterte den schweren Seesack mit unserem Equipment und lief voran. Ich hinterher, auf dem Rücken ebenfalls einen Rucksack. Ich bemühte mich, ausschließlich in seine Fußstapfen zu treten, so ging es mal bergauf, mal bergab, über Baumstämme. Michael lief schnell. Als er merkte, dass ich ihm folgen konnte, erhöhte er das Tempo. Hätte ich ihn besser gekannt, hätte ich ihm zugerufen, ob er noch ganz bei Sinnen sei, so schnell zu laufen. Aber die natürliche Hemmschwelle zwischen frisch verliebten Paaren hinderte mich daran. Also lieber Schritt halten, als mich zu blamieren. Die Strecke, für die man normalerweise zweieinhalb Stunden gebraucht hätte, bewältigten wir in gut 50 Minuten. Als wir an der Lagune ankamen, war ich fix und fertig, rang nach Luft, und Schweiß lief mir die Schläfen herunter. Vor mir allerdings lag ein Ort, der jedes bisschen Anstrengung wert gewesen war: eine wunderschöne und unglaublich romantische Lagune. Hinter dem blaugrünen Wasser erstreckte sich das grüne Urwaldpanorama. Ein paar Häuser standen am Ufer, und Michael ging los, um uns ein Kanu zu organisieren. In der Zwischenzeit beeilte ich mich, meinen Handspiegel aus dem Rucksack zu holen und mein Äußeres zu kontrollieren. Ohne Schminke ging es für mich auch hier nicht. Seit meinem 14. Lebensjahr legte ich Wert darauf, dass mein Augen-Make-up saß. Ich erschrak darüber, was ich jetzt sah: Wimperntusche und Kajalstrich waren total verwischt, um meine Augen herum lauter schwarze Flecken, der Kopf hochrot. Ich war noch nicht fertig mit den Instandsetzungsmaßnahmen, da kam Michael schon zurück, nahm mich zunächst von hinten fest in den Arm und gab mir einen Kuss. »Du bist so schön.« Er meinte damit nicht mein Äußeres. Das wusste ich.
Das Kanu lag bereit zum Ablegen. Es sollte noch einen besseren Ort an dieser Lagune geben als jenen, an dem wir uns befanden. Sobald mein Freund im Kanu saß, bemerkte ich, wie er sich veränderte. Seine Bewegungen waren nicht mehr kantig, sondern geschmeidig. Wie das Kanu übers Wasser glitt er in seine Welt, für ihn bedeutete der Urwald Freiheit. Wir näherten uns dem anderen Ufer. Ich saß vorne. Auf einmal trieb ein Baumstamm direkt vor dem Kanu entlang. Ich dachte, Michael hätte ihn nicht gesehen, und stupste ihn kräftig aus dem Weg. Nach ein paar weiteren Metern hörte ich von hinten Michaels unaufgeregte, aber bestimmte Stimme sagen: »Weißt du, was du da gerade weggeschoben hast? Das war ein Krokodil.«
Ich schrie auf. Urwald war für mich kein Urlaub, das merkte ich spätestens jetzt. Ich musste erst lernen, mich in dieser Welt zu bewegen. Nichts war mehr selbstverständlich. Nach einer guten Dreiviertelstunde kamen wir zum anderen Ufer, obwohl von einer Uferzone oder einem Zugang nicht viel zu sehen war. Alles war grün und zugewuchert. Im Heck des Bootes stehend entfernte Michael grobe Sträucher mit der Machete, sodass das ganze Kanu wackelte. Das Unterholz schlug er mit der Machete frei, um unser Lager zu errichten, das Zelt aufzustellen und Feuer zu entfachen. Es war schon später Nachmittag, bald schon sollte es dunkel werden, und so machte ich mich ans Kochen. Während ich die Paprika zerkleinerte und das Hühnchen grillte, hörte ich Michael im Hintergrund singen. Er war glücklich, das spürte ich. Und mir ging es in der Fremde den Umständen entsprechend auch ganz gut. Der Fußmarsch und die Krokodilbegegnung waren vergessen. Wir nahmen ein Bad in der Lagune und genossen die Abkühlung. Als Michael mir allerdings eröffnete, dass es hier Piranhas gab, schwamm ich fluchtartig wieder an Land.