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BEWEGLICHKEIT
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MOBILITY-TRAINING FÜR EINSTEIGER
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
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Wichtiger Hinweis
Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle medizinische Beratung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie medizinischen Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte einen qualifizierten Arzt. Der Verlag und der Autor haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.
Originalausgabe
1. Auflage 2020
© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Susanne Schneider
Umschlaggestaltung: Catharina Aydemir
Umschlagabbildungen vorn und hinten: Nils Schwarz, www.nilsschwarz.com
Layout: Katja Muggli, www.katjamuggli.de
Model: Annika Lindner von Elace Sportmodels, München
Satz: Satzwerk Huber, Germering, Melika Mahmoudi
Druck: Firmengruppe APPL, aprinta Druck, Wemding
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-7423-1314-0
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1010-8
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1011-5
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.rivaverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
Bewegung – mobil ein Leben lang
Kapitel 1: Beweglichkeitstraining als Tür zur Gesundheit
Was ist Gesundheit?
Wieso bewegen wir uns?
Kapitel 2: Wofür Beweglichkeitstraining gut ist
Mobility als Bestandteil des Aufwärmens
Chronische Schmerzen
Haltung ist ein dynamisches System
Übungen für eine gute Haltung
Ist Dehnen wirklich sinnvoll?
Die Lücke zwischen Beweglichkeit und Mobilität
Krafttraining als Beweglichkeitstraining
Kapitel 3: Bewegung und unser Gehirn
Neuroplastizität – Beweglichkeit für lebenslanges Lernen
Bewegung ist Treibstoff für das Gehirn
Trainiere abwechslungsreich – gehirngerechte Tipps für mehr Beweglichkeit
Kapitel 4: Dein Training – die Grundlagen
Welche Parameter dich weiterbringen
Führe deine Mobility-Übungen langsam aus
Nur drei Minuten für deine Gesundheit
Nutze das Microbreaking
Traktion, Kompression und Zentrierung
Muskelfunktionstest für die Halswirbelsäule
Isolation, Integration und Improvisation
Kapitel 5: Die Wahrnehmung schulen
Spüren geht der Bewegung voraus
Propriozeption – Basis des Mobility-Trainings
Gleichgewichtssinn – zuständig für die Balance
Kapitel 6: Sicher und entspannt fühlen mit Beweglichkeitstraining
Stress reduzieren
Warum Schmerzen und Stress sinnvoll sind
Optimale Atmung beim Training
Wie wichtig Entspannung ist
Was Schmerz mit Bewegung zu tun hat
Kapitel 7: Beweglichkeit neu betrachtet
Rhythmus und Bewegung
Training mit dem Metronom
Lineare und nicht lineare Bewegungen
Der Infinity Walk
Dual Tasking
Weitere Herausforderungen schaffen
Fortbewegung am Boden
Dank
Über den Autor
Glossar
Quellenverzeichnis
Bildnachweis
Alle Übungen im Überblick
Der Mensch benötigt viele Jahre, um sich körperlich zu entwickeln. Babys benötigen etwa vier Monate, bevor sie über den Boden rollen können, mit sechs Monaten können sie sich hinsetzen und mit etwa neun bis zwölf Monaten stehen. Mit etwa einem Jahr beginnen Babys zu laufen. Obwohl bereits ein Jahr vergangen ist, steht die körperliche und motorische Entwicklung noch in den Startlöchern. Zu diesem Zeitpunkt besitzen Kleinkinder noch keine eigenen Überlebensmechanismen und sind daher immer auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen. Sie können sich nicht selbst füttern oder versorgen und benötigen mehrere Jahre bis zur Selbstständigkeit. Viele Tiere hingegen entwickeln sich weitaus schneller. Enten können beinahe direkt nach ihrer Geburt schwimmen und Fohlen können nach der Geburt aufstehen und selbstständig laufen. Wieso braucht der Mensch so lange, um sich zu entwickeln?
Die Zeit, die der Mensch für seine Entwicklung braucht, ist für eine optimale Entwicklung seines Gehirns notwendig. Die motorischen Fähigkeiten entwickeln sich parallel zu komplexen Systemen im Gehirn, die zur Problemlösung, Kommunikation und sozialen Interaktion notwendig sind. Je länger die Zeit andauert, die ein Kind in diese Entwicklung investiert, desto besser ist die Funktionsweise des Gehirns später. Die lange Zeit, die ein Mensch für seine Entwicklung zur Verfügung hat, ist im Vergleich zu anderen (Säuge-)Tieren ein Luxus. Während viele Tiere nach der Geburt schnell auf den Beinen sein müssen, um möglichen Jägern entkommen zu können, besitzt der Mensch keinen solchen natürlichen Feind. Das Kleinkind kann sich behütet ganz auf seine Entwicklung konzentrieren.
Diese Entwicklung findet unter anderem im präfrontalen Kortex statt, was relevant für die Funktion des Gehirns im späteren Alter ist. Der präfrontale Kortex ist ein Teil des hinter der Stirn gelegenen Frontallappens der Großhirnrinde und steht in Verbindung mit der Integration von Gedächtnisinhalten und Emotionen. Die Entwicklung findet vergleichsweise langsam statt, aber auf lange Sicht ist sie extrem wichtig für die kognitive Entwicklung. Hier entwickeln sich komplexes Denken und die Fähigkeit zur Handlungsplanung. Die langsame Entwicklung unserer Motorik und die kognitiven Fähigkeiten weisen darauf hin, dass beide Mechanismen eng miteinander verbunden sind. Bewegung ist nicht nur wichtig für unser Überleben, sondern auch für Handlungskompetenz und dafür, dass wir überhaupt fähig sind, Probleme zu lösen.
Uns frei bewegen zu können – sowohl körperlich als auch geistig –, ist ein Geschenk. Wir sind nicht so sehr auf bestimmte Eigenschaften spezialisiert wie viele Tiere, sondern sind variabler in unseren körperlichen Fähigkeiten. Es gibt kein Tier auf der Welt, das in seinem Bewegungsrepertoire derart vielfältig ist wie der Mensch. Die Grundlage für unsere Bewegungskompetenz schaffen wir in der frühkindlichen Entwicklung. Wir sind geboren, um zu rennen, zu klettern und Millionen von anderen Dingen zu tun. Als Kind lernen wir dies durch Spielen. Das Spiel ist unser Weg der motorischen Entwicklung, die beste Möglichkeit zu lernen, auf unsere Umwelt zu reagieren, und es bietet uns den optimalen Rahmen, uns in ihr nicht nur zurechtzufinden, sondern uns ihr auch anzupassen. Die Variabilität der Bewegung ermöglicht gleichzeitig Flexibilität in Bezug auf die unmittelbare Umgebung.
Spiele ermöglichen Kindern, sich nicht nur körperlich, sondern auch sozial zu entwickeln. Dies beginnt bereits sehr früh in Kindergruppen und wird bis in den Sportunterricht im Jugendalter fortgesetzt. Leider ist der Sportunterricht die Unterrichtsstunde, die laut Statistik am häufigsten in Deutschland ausfällt. Während Spiel und Bewegung im frühkindlichen Alter noch ganz selbstverständlich zur Entwicklung des Menschen dazugehören, scheint dieser Aspekt nach Erreichen der Selbstständigkeit schnell wieder vergessen zu werden. Daraus resultieren Probleme mit der Gesundheit, die sich bis in das hohe Alter ziehen können.
Dieser Umstand wird begleitet von einer Vielzahl von Erkrankungen auf körperlicher und mentaler Ebene. Chronische Schmerzen und neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer stehen im deutlichen Zusammenhang mit Bewegungsarmut und sich daraus entwickelndem Übergewicht. Als Lösungen werden neue Fitnesstrends entwickelt, die jedoch nicht unseren natürlichen Spieltrieb berücksichtigen. Diese Ideen und Trends legen den Fokus auf Maschinen, die uns die Arbeit abnehmen, auf sichere Trainingsgeräte, die ein Mindestmaß an motorischen Fähigkeiten erfordern. Auf der anderen Seite entwickelt unsere Kultur immer mehr Athleten, die sich früh einem Sport verschreiben. Frühe Spezialisierung in einer Sportart führt unweigerlich zu Höchstleistungen in der jeweiligen Disziplin, aber gleichzeitig auch zu einer hohen Verletzungsquote und einem frühen Ausscheiden aus dem Profisport. Unsere Spezialisierung geschieht oft auf Kosten unserer Gesundheit.
Doch zwischen Bewegungsmangel und Profisport gibt es viele Zwischenstufen. Das Beweglichkeitstraining ist in seinen Inhalten so umfassend wie das Spielen von Kleinkindern. Ziel ist es, exploratorisch die Grenzen der eigenen körperlichen Fähigkeiten zu erfahren und dabei seine Grenzen auszuloten. Nicht umsonst wird Mobilitätstraining häufig als eine »kontrollierte Gelenkbewegung innerhalb einer möglichst großen Bewegungsamplitude« definiert. Dabei ist Mobilitätstraining nur ein Teilbereich aus dem Beweglichkeitstraining. Beweglichkeitstraining basiert auf der Idee, dass jedes Erlernen oder jede Schulung von Bewegungsabläufen dich beweglicher macht, weil deine gesamte Koordination dadurch besser wird. Neben dem Mobilitätstraining ist das Training der Flexibilität ein weiterer wichtiger Teilbereich. Flexibilitätstraining steigert deine Beweglichkeit im Umfang, während es bei der Mobilität immer auch um Kontrolle geht, also vielmehr um die Qualität der Bewegung. Beweglichkeit ist also eine Kombination aus Flexibilität, Mobilität und koordinierten Bewegungen, und Beweglichkeitstraining bedeutet nicht primär, dass du deine Beweglichkeit quantitativ maximierst, sondern dass du deine koordinative Leistung verbesserst.
Dieses Buch beschäftigt sich mit dem Beweglichkeitstraining im Allgemeinen und dem Mobilitätstraining im Speziellen. Ich zeige dir, dass Mobilität von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig ist, wie von unserer Wahrnehmung und der damit verbundenen sensorischen Leistung – wie unsere Sinne die Welt wahrnehmen –, sowie von unserem aktuellen Stressniveau und sogar von unserer Atmung. Ich möchte dir einen ganzheitlichen Ansatz präsentieren, der über die Ausführung von Mobilitätsübungen hinausgeht und zeigt, dass wir nicht nur als Kleinkind kleine Wunder in Sachen Beweglichkeit sind, sondern dass sie uns ein Leben lang erhalten bleiben und begleiten sollte, als fester Bestandteil unseres Alltags.
»Es gibt keine falsche Bewegung.
Es gibt jedoch einen Mangel an Vorbereitung und einen Mangel an Bewusstheit.«
Ido Portal
Gesundheit wird häufig als die Abwesenheit von Erkrankung definiert. Ist die Erkrankung nicht messbar, liegt objektiv betrachtet auch keine Erkrankung vor. Ich betone dies, da ich in meiner praktischen Arbeit immer wieder die Erfahrung mache, dass Kunden mit Beschwerden und Einschränkungen zu mir kommen, jedoch von ihrem behandelnden Arzt gesagt bekommen haben, ihnen würde nichts fehlen, sie seien kerngesund. Dennoch hat der Patient Beschwerden, die der Arzt jedoch keiner spezifischen Ursache zuordnen kann. Beispielsweise werden Rückenschmerzen ohne klaren Befund häufig als Lendenwirbelsäulensyndrom, kurz LWS-Syndrom, oder als idiopathisch, also als ohne erkennbaren Auslöser entstanden und unabhängig von irgendwelchen Krankheiten, wenn der Arzt keine Ursache feststellt, abgetan. Es ist nachvollziehbar, dass diese Situation für die meisten Patienten frustrierend ist, da sie nicht nur keine spezifische Diagnose erhalten, sondern meistens auch keine adäquate Behandlung bekommen. Diese Diskrepanz wird bei chronischen Schmerzen besonders deutlich (Kapitel 2 ab Seite 21).
Wenn Patienten unter anhaltenden Schmerzen leiden, aber keine Ursache erkennbar ist, wird der Patient häufig mit der Aussage »Ihnen fehlt nichts« abgespeist. Das spiegelt jedoch eher die Unwissenheit des Behandlers wider, als dass die »Diagnose« dem zugrunde liegenden Phänomen näher kommt. Statt wahrheitsgemäß zuzugeben: »Ich habe keine Ahnung, was Ihnen fehlt«, ignoriert oder bestreitet der Arzt ein gesundheitliches Problem einfach. Schmerzentstehung ist als Prozess kompliziert und beruht nicht zwingend auf einer strukturellen Schädigung. Diese Tatsache sollte definitiv bei jeder Anamnese berücksichtigt werden. Leider ist das medizinische Personal häufig überfordert, wenn es um chronische Schmerzen geht.1
Gesundheit sollte vielmehr leistungsorientiert definiert werden. Nicht als Abwesenheit von Erkrankung, sondern als Zustand der Fitness, der Leistungsfähigkeit oder der Resilienz, unserer Widerstandsfähigkeit. Doch diese »Zustände« sind nur wenig greifbar und schwer messbar. Da sich Mediziner mit Erkrankungen beschäftigen, nicht jedoch mit Leistungsfähigkeit, ist es auch nachvollziehbar, dass dies keine medizinische Relevanz besitzt. Viele Menschen hingegen definieren Leistung als Gesundheit, nicht die Abwesenheit einer Erkrankung. Es reicht nicht aus, morgens aus dem Bett zu steigen, nicht krank zu sein. Wer sich trotzdem müde und schwerfällig durch den Tag schleppt, fühlt sich weder fit noch gesund. Wir wollen vital ans Werk gehen, morgens ohne Schmerzen aufstehen und zufrieden abends wieder ins Bett fallen können. Wir wollen gesund altern, mit unseren Enkeln im Garten spielen und aktiv am Leben beteiligt sein. Wir werden zwar immer älter, aber wir werden nicht gesund älter. Nicht nur, dass uns oft chronische Erkrankungen lange begleiten, wir werden auch beinahe das ganze Leben von sogenannten muskuloskelettalen Problemen begleitet – das ist alles, was den Stütz- beziehungsweise Haltungs- und Bewegungsapparat betrifft, also alles, was mit den Muskeln und dem Skelett zu tun hat – und von weiteren Dysfunktionen und Bewegungsdefiziten. Doch erst dann einzuschreiten, wenn aus Bewegungsdefiziten ernsthafte Erkrankungen werden, ist zu spät. Wir müssen uns präventiv um unseren Körper kümmern und weniger rehabilitativ. Je mehr Fokus wir auf die Gesunderhaltung und Leistungsfähigkeit unseres Körpers legen, desto weniger sind wir im Alter damit beschäftigt, ein geschädigtes System wiederaufbauen zu müssen.
In diesem Buch lernst du ein Beweglichkeitstraining kennen, das den Schwerpunkt auf das Training der Mobilität legt. Dieser Ansatz soll dir helfen, mehr Bewegung in dein Leben zu bringen, womit du deiner Gesundheit etwas Gutes tust. Mache deinen Körper leistungsfähig und resilient, bevor du irgendwann gezwungen bist, defekte Stellen reparieren zu müssen. Getreu dem Motto »Je mehr du im Training schwitzt, desto weniger musst du im Gefecht bluten«.
Mobility-Training hat unter anderem die Aufgabe, uns beweglicher zu machen oder uns zumindest beweglicher zu fühlen. Ein Grund, mit dem Mobility-Training zu beginnen, ist das Gefühl, in der eigenen Beweglichkeit eingeschränkt zu sein. Langes Sitzen oder Stehen reduziert langfristig unsere aktive Beweglichkeit. Wir kommen uns steif und unbeweglich vor, wenn wir nach langem Sitzen aufstehen. Dies ist primär jedoch nur ein Gefühl, das nichts mit unserer tatsächlichen Beweglichkeit oder deren Verlust zu tun haben muss. Der Eindruck, »steif« zu sein, ist nur eine Empfindung, eine Art Symptom und kein festgelegter Zustand. Das Gefühl der Steifigkeit kann teilweise recht schnell geändert werden – je nach Ursache. Beweglichkeitstraining oder Mobilitätstraining kann dir dabei helfen, dass du dich weniger steif und beweglicher fühlst sowie tatsächlich beweglicher wirst.
Dass wir uns steif und »eingerostet« vorkommen, ist häufig der Anlass dafür, dass wir uns übermäßig viel und (zu) häufig dehnen. Man schiebt die schlechte Bewegungsqualität primär auf die Struktur, auf myofasziale Verklebungen, und vermutet, es handele sich um Geweberestriktionen, also um eine Einschränkung der Beweglichkeit eines Gewebes, die man durch häufiges und intensives Dehnen beseitigen könnte. Während Dehnen sicherlich einen psychologischen Effekt hat, scheint es aber eher nutzlos in Bezug auf die Wirkung des myofaszialen Gewebes zu sein (dazu mehr im Abschnitt Ist Dehnen wirklich sinnvoll? ab Seite 41). Das Gefühl der Steifigkeit lässt sich häufig auf einen erhöhten Muskeltonus zurückführen, der wenig mit dem faszialen Netz zu tun hat, da der Muskeltonus von kortikalen und subkortikalen Bereichen – Bereiche der Großhirnrinde und unterhalb derselben – gesteuert wird, wie dem Hirnstamm und dem Kleinhirn, also primär von unserem Gehirn.
Fasziales Gewebe besitzt teilweise auch kontraktile Eigenschaften, doch stellt diese Fähigkeit, sich zusammenziehen zu können, keinen wirklichen Vergleich zu den muskulären Eigenschaften der Kontraktion dar. Ein Muskel kann sich anspannen (kontrahieren) und entspannen (relaxieren), fasziales Gewebe kann dies nicht. Bindegewebe kann zum Beispiel bei mangelnder Hydration – der Anreicherung mit Wasser – verkleben. Es wird weniger gleitfähig, was zu einer Bewegungseinschränkung führen kann. Des Weiteren führt Bewegungsarmut zu einem »Verfilzen« des Gewebes, was ebenfalls die Bewegungsqualität herabsetzen kann. Die Tatsache, dass wir uns steif fühlen, kann folgende Ursachen haben:
Jeder kann sich mal steif vorkommen, unabhängig davon, wie beweglich er tatsächlich ist. In meiner Praxis habe ich bereits eine Vielzahl von Athleten erlebt, die durchaus sehr beweglich waren, aber sich dennoch steif gefühlt haben. Morgens aus dem Bett zu kommen und sich steif zu fühlen, ist völlig normal. Einmal den Körper in Gang gebracht, lässt das Gefühl meist im Laufe des Tages nach. Dazu braucht es noch nicht einmal bestimmte Mobility Drills (Mobilitätsübungen), sondern nur Bewegung an sich, die das Gefühl der Steifigkeit reduziert. Dies ist auch der Grund, wieso wir dazu neigen, uns morgens zu recken und zu strecken – wir haben das Bedürfnis nach Bewegung und Aktivierung. Recken und Strecken aktiviert Rezeptoren in unseren Gelenken, die uns Auskunft über die Gelenkstellung zueinander geben. Es ist wie eine morgendliche Voraktivierung, um das System Körper vor der Belastung des Tages abzuchecken. Akzeptiere daher, dass vor allem das morgendliche Gefühl der Steifigkeit normal ist und nicht deiner tatsächlichen Beweglichkeit entspricht.
Doch ein Eindruck täuscht nicht: Je älter wir werden, desto geringer scheint unsere Beweglichkeit und Mobilität zu werden. Es liegt zum einen an dem Alterungsprozess unseres Gewebes, dass sich die Zellen nicht mehr optimal erneuern können. Hauptsächlich liegt es jedoch am zunehmenden Bewegungsmangel, an unserem zunehmend inaktiveren Lebensstil. Als Kleinkind erkunden wir unsere Umgebung durch Bewegung. Beim Spielen und beim Sport treten wir mit anderen Kindern in Interaktion und lernen, uns zu sozialisieren. Viele Menschen verlieren diese Fähigkeit zur Interaktion durch körperliche Aktivität, wenn sie älter werden, aus dem simplen Grund heraus, dass sie sich viel weniger bewegen. Schauen wir uns ein wenig um, so könnten wir uns fragen: Wieso machen Tiere kein Beweglichkeitstraining? Tiere benötigen keine Faszienrolle, um geschmeidig zu bleiben und ihre Beweglichkeit aufrechtzuerhalten. Sie bewegen sich einfach immer so, wie ihre Umwelt das erfordert, und behalten dadurch ihre natürlichen Fähigkeiten.
Wir funktionieren nach dem simplen »Use it or lose it«-Prinzip. Was wir nicht benutzen, verkümmert langfristig. Wenn wir durch häufiges und langes Sitzen Hüftschmerzen bekommen oder unsere Gesäßmuskulatur nicht mehr optimal ansteuern können, liegt das nicht daran, weil sich unsere Hüftmuskulatur verkürzt, sondern weil wir verlernen, die betreffenden Muskeln adäquat arbeiten zu lassen. Je mehr wir uns bewegen und je mehr wir auf körperlicher Ebene unsere Umwelt erfahren, desto eher erhalten wir auch unsere Mobilität und Beweglichkeit bis ins hohe Alter. Wenn wir jedoch unsere Bewegungen immer weiter reduzieren, werden wir zum Opfer der Zeit und somit auch Opfer der Beschwerden, die mit Bewegungsmangel einhergehen. Doch es ist nie zu spät, um mit dem Training loszulegen.
Ich bin bereits kurz auf die Unterscheidung zwischen Flexibilität und Mobilität eingegangen. Da eine maximale Bewegungsamplitude primär im Flexibilitätstraining relevant ist, möchte ich an dieser Stelle kurz darauf eingehen, wie viel quantitative Beweglichkeit tatsächlich notwendig ist. Häufig werde ich gefragt, welche Bewegungsamplitude (ROM = Range of Motion) normal ist. Dabei finde ich die Suche nach einer »normalen« ROM wenig zweckdienlich, da man sich dadurch höchstens mit dem Durchschnitt vergleichen kann. »Tatsächliche Beweglichkeit« und »das Gefühl der Beweglichkeit« sind individuell und sollten auch so betrachtet werden. Daher sollte sich jeder eher fragen: »Wofür bin ich beweglich?« Die Zielsetzung ist immer wichtiger als der Vergleich mit anderen, erst recht der Vergleich mit dem Durchschnitt der Bevölkerung. Es gibt keine ultimative Beweglichkeit, da diese immer spezifisch ist, also kontextbezogen. Es gibt keine optimalen Werte für die Beweglichkeit der Gelenke. Die Werte, die zum Beispiel in der Physiotherapie benutzt werden, sind nur statistische Messgrößen, basierend auf der Arbeit mit Patienten im therapeutischen Zusammenhang. Wir können nicht pauschal sagen, welcher Mensch welche Beweglichkeit benötigt. Doch je größer unsere Fähigkeit, uns zu bewegen, ist, desto besser kommen wir mit Alltagsbelastungen klar und können besser mit neuen Anforderungen in unserem Leben umgehen.
Ein weiterer guter Grund für das Mobilitätstraining ist die Verletzungsprophylaxe. Dr. Eric Cobb, ein weltweit führender Experte auf dem Gebiet neurologisch ausgerichteter Rehabilitations- und Sportprogramme, sagt: »Ein gestörtes Gelenk führt zu einem gestörten Muskel.« Mobility-Training fördert die Fähigkeit zur Ansteuerung der Muskulatur. Dies wird primär durch die Aktivierung der Rezeptoren in den Gelenken erreicht, die für die Wahrnehmung zuständig sind. Die aktivierten Rezeptoren wirken sich positiv auf die Muskelkontraktion aus. Untersuchungen mit EMG-Messungen (Elektromyografie ist ein Diagnostiktool in der Neurologie, um elektrische Muskelaktivität zu messen) konnten aufzeigen, dass sich die Aktivität von Muskeln durch Mobilisationsübungen der an den Muskeln ansetzenden Gelenke verbessern ließ. Komplexe Bewegungen, wie zum Beispiel dreidimensionale Mobility Drills, fordern zudem die Aktivität des Kleinhirns, das unter anderem für die Feinmotorik zuständig ist. Mobility Drills reduzieren die Verletzungswahrscheinlichkeit, da sie die Koordination unmittelbar verbessern, was zu einem besseren Bewegungsverhalten führen kann, denn eine Koordinationsverbesserung bedeutet direkt eine verbesserte Steuerung der Beweglichkeit.
»Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.«
Arthur Schopenhauer
Warum wir unsere Beweglichkeit trainieren sollten, hast du nun erfahren. Nun möchte ich dir zeigen, wann das Mobilitätstraining sinnvoll zum Einsatz kommen kann. Hier steht an erster Stelle der Beginn eines jeden Trainings: das Aufwärmen. Die meisten Aufwärmprotokolle fokussieren sich auf physiologische Effekte, die durch das Warm-up entstehen, wie zum Beispiel ein erhöhter Blutfluss in die Extremitäten, die verstärkte Produktion der Gelenkschmiere oder die Erhöhung der Viskoelastizität der Muskulatur. Doch häufig wird der zentralnervöse Effekt außer Acht gelassen, wie zum Beispiel die verbesserte motorische Leistung, die durch das Aufwärmen entsteht. Denn das Aufwärmen vollzieht sich nicht nur auf der physiologischen Ebene, sondern auch auf der neuronalen. Das Mobility-Training als Bestandteil des Aufwärmens erhöht die kortikale Aktivität, was sich unmittelbar auf die Motorik auswirkt. Daraus ergibt sich ein verbessertes Bewegungsverhalten beziehungsweise eine verbesserte Bewegungssteuerung. Statisches Dehnen führt demgegenüber eher zu einer Reduktion der muskulären Ansteuerung und kann unmittelbar bei sportlichen Aktivitäten die Verletzungswahrscheinlichkeit sogar erhöhen. Außerdem reduziert statisches Dehnen auch die Maximalkraft im Training.
Der Hauptunterschied in der Wirkung basiert auf der aktiven beziehungsweise passiven Bewegung. Eine aktive Bewegung wie Mobilitätstraining aktiviert den Motorkortex stärker, was sich unmittelbar in der bereits erwähnten Verbesserung der Bewegungsqualität zeigt. Passive Bewegungen wie das Dehnen wirken verstärkt auf den Parietallappen, das ist der Teil des Gehirns, der für die Wahrnehmung von sensorischen Informationen zuständig ist. Obwohl sensorische Fähigkeiten selbstverständlich auch wichtig für die Motorik sind, ist der beweglichkeitsfördernde Effekt durch das Mobilitätstraining stärker als bei passivem Beweglichkeitstraining. Diese Unterscheidung ist primär jedoch nur relevant unmittelbar vor der sportlichen Belastung. Grundsätzlich können auch passive Beweglichkeitsmaßnahmen durch ihre sensorische Wirkung einen positiven Effekt auf die Verletzungsprophylaxe beim Sport haben, doch die passiven Maßnahmen sollten nicht unmittelbar vor einem sportlichen Wettkampf erfolgen.
Sie sind komplex in ihrer Entstehung und noch komplexer in der Behandlung: chronische Schmerzen. Untersuchungen zeigen, dass Schmerzen zum Verlust von motorischen Fähigkeiten führen können und dass die sensorischen und motorischen Fähigkeiten bei anhaltenden Schmerzen nachlassen. Mobility-Training kann hier gezielt ansetzen, denn es fördert die Funktion unserer Gelenkrezeptoren und trainiert die Motorik. Prinzipiell lässt sich sagen, dass Mobility-Training immer ein propriozeptives Training ist (Kapitel 5, Seite 103). Das propriozeptive Training schult die Wahrnehmung, wie wir unseren Körper im Raum bewegen, und sorgt für eine verbesserte Wahrnehmung unserer Gelenke in Bezug zueinander. Es erstellt für uns eine Art dreidimensionale Karte unsertes Körpers in uns.
Neben der »propriozeptiven Karte« unseres Gelenksystems besitzen wir im Gehirn weitere »Landkarten« von unserem Bewegungsvermögen, sogenannte Body Maps. Diese spiegeln unser gesamtes Bewegungsrepertoire wider, zu dem auch die Wahrnehmung unseres Körpers gehört. Die Body Maps sind quasi Repräsentanten unseres Körpers und seiner Bewegungsfähigkeit auf kortikaler Ebene. Schmerzen führen langfristig zu einem Abbau dieser Body Maps, was wiederum dazu führt, dass wir unseren Körper zunehmend schlechter wahrnehmen. Meist überlagert der Schmerz die Fähigkeit der Körperwahrnehmung, was zu einer reduzierten sensorischen Leistung führt. Uns kommt dadurch mehr oder weniger die Bewegungsempfindung, das Gefühl für Körperteile, die deutliche Wahrnehmung von Kälte oder Hitze abhanden. Manchmal geht der teilweise Verlust sensorischer Leistung so weit, dass wir sogar nicht mehr richtig spüren können, wenn wir berührt werden, und uns nur ein diffuses Gefühl von Körperkontakt bleibt. Stattdessen wird der schmerzende Bereich hypersensibel – die Wahrnehmung von Schmerz wird stärker, während andere Empfindungen dumpfer werden, was zu einer reduzierten Beweglichkeit führen kann und dazu, dass wir einen Teil unserer Bewegungsfähigkeit verlieren. An manchen Tagen ist es besser als an anderen – wie eine Welle tritt der chronische Schmerz auf und verabschiedet sich manchmal leise und manchmal laut, kommt aber immer wieder, während das Gefühl für den Körper immer weiter in den Hintergrund rückt.