Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
info@rivaverlag.de
Originalausgabe
1. Auflage 2020
© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Friedrich Müller
Umschlaggestaltung: Karina Braun
Umschlagabbildung: imago images (RHR-Foto, links; Imagechina, Mitte oben; RHR-Foto, Mitte unten; Ulmer/Teamfoto, rechts)
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
ISBN Print 978-3-7423-1323-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1014-6
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1015-3
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.rivaverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
Einleitung
Ottmar Hitzfeld – die Legende
Peter Neururer – das Original
Robin Dutt – der Entwickler
André Breitenreiter – der Erzieher
Felix Magath – der Fordernde
Imke Wübbenhorst – die Visionärin
Mirko Slomka – der Psychologe
Friedhelm Funkel – der Menschenfreund
Matthias Sammer – der Stratege
Oliver Glasner – der Liberale
Colin Bell – der Kommunikator
Marco Rose – der Menschenfänger
Schlussgedanke
Danksagung
»Kein Sieger glaubt an Zufall.«
Friedrich Nietzsche
Was ist Erfolg? Woher kommt er und warum bleibt er nicht? Was beeinflusst Erfolg? Und was haben erfolgreiche Menschen, was Anderen fehlt?
Ich bin in den vergangenen 25 Jahren als Sportmoderatorin sehr vielen Trainern begegnet. Erfolgreichen und weniger erfolgreichen. Und in all diesen Jahren haben sich bei mir viele Fragen angehäuft. Einige konnte ich mir durch ein einfaches Nachfragen, in kurzen Gesprächen oder Interviews, beantworten. Andere brennen mir seit zwei Jahrzehnten auf der Seele.
Alles Fragen, die sich nicht zwischen Tür und Angel oder in einem Satz beantworten lassen. Daher habe ich mich in den letzten Monaten auf die Suche nach ausführlichen Antworten gemacht. Ich habe mich mit zwölf Trainern getroffen, besser gesagt mit elf Trainern und einer Trainerin. In persönlichen Gesprächen wollte ich die Menschen kennenlernen, um die Trainer in ihnen zu verstehen. Dabei ging es mir jedoch nicht um ihre Spielstrategien oder Taktiken auf dem Platz, sondern um ihre persönlichen und sozialen Fähigkeiten und um die Ansichten, die für ihren Erfolg von unermesslichem Wert sind. Ich bin mir sicher, dass wir alle von erfolgreichen Trainern lernen können. Für uns ganz persönlich, für unseren beruflichen Alltag und für unser privates Miteinander.
Fußballtrainer haben heutzutage einen riesigen Stab an engen, vertrauten Mitarbeitern um sich herum: Co-Trainer, Athletiktrainer, Torwarttrainer, Mentaltrainer, Videoanalysten, Spielanalysten. Sie alle beraten, helfen und tragen ihren Teil zum Erfolg bei. Doch ganz gleich, wie viel Unterstützung ein Trainer erfährt, am Ende bleibt er doch ein einsamer Wolf. Er trägt die Verantwortung fürs Ganze, er trifft die letzten und wichtigsten Entscheidungen und er alleine muss für Misserfolg und Fehler geradestehen.
Wenn ich mit Freundinnen zusammensitze und wir über Kerle reden, fällt nicht selten der Satz: »Männer! Kennste einen, kennste alle.« Aber wenn ich als Frau ehrlich seien soll, muss ich zugeben, der Spruch ist natürlich völliger Quatsch. Gene, Erziehung, Umwelt, positive wie negative Erfahrungen und Erlebnisse prägen unsere Persönlichkeit und formen uns zu dem Menschen, der wir sind. So hat auch jeder Trainer einen USP, ein Alleinstellungsmerkmal, und besondere Fähigkeiten, die ihn nicht nur menschlich, sondern auch beruflich einzigartig machen.
Aber so unterschiedlich Trainer auch sind, denken, wahrnehmen und handeln, so haben sie doch alle mit den gleichen Herausforderungen zu kämpfen. Sie stehen unter enormen Druck. Woche für Woche. Und unter ständiger Beobachtung. Sie sind nicht nur für sich selbst verantwortlich, sondern für eine Mannschaft. Und diese Mannschaft besteht aus 25 Spielern unterschiedlichen Alters, aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichen Sprachen. Trainer müssen es schaffen, jedem einzelnen Spieler und seinen Bedürfnissen gerecht zu werden, gleichzeitig aber eine Gruppe zu formen, die in sich stimmig ist.
Ich habe mal die G-Jugend meines Sohnes trainiert. Naja, besser gesagt, ich habe eine Stunde lang versucht, meinen Sohn und seine elf Fußballkumpels zu entertainen. Alle saßen bereits in der Kabine und hatten ihre Trikots, als der Trainer sich krankmeldete. Damit keine Tränen fließen, stellte ich mich spontan, mit Bällen bewaffnet, zur Verfügung. Da waren plötzlich zwölf kleine Menschen, die alle nach Aufmerksamkeit und Zuspruch lechzten. Jeder wollte was von mir und jeder etwas Anderes. Auf mich gehört hat aber keiner.
Wie schaffen es Fußballtrainer erwachsene, zum Teil schwierige Persönlichkeiten unter einen Hut zu bekommen? Jeder Spieler kämpft für sich, um seinen Platz und dennoch müssen alle gemeinsam als Team funktionieren. Wie kann ein Trainer jedem gerecht werden? Jedem einzelnen ein Gefühl von Wichtigkeit vermitteln, wenn er am Ende aber nur elf Spieler aufstellen kann? Denken Sie doch mal an einen Herren- oder Weiberabend. Wie schwierig es ist, alleine sechs Menschen zufriedenzustellen. Jeder hat seinen Kopf, seine Vorstellungen. Der eine will zum Italiener, der andere zum Thai. Die eine kann erst ab 20 Uhr, die andere will spätestens um 22 Uhr in den Federn liegen und der dritten ist alles egal, weil sie nach 18 Uhr sowieso nichts mehr isst.
Beruflich ist es nicht anders. In jedem Team gibt es Ja-Sager, Alpha-Tiere, Nörgler, Pedanten und Kreative. Jeder braucht eine andere Art der Ansprache, Führung oder Motivation. Und was im Fußballgeschäft noch dazu kommt: Jeder hält sich für den Größten, möchte in der Öffentlichkeit positiv dargestellt werden und will natürlich spielen. Denn Spielen heißt nichts Anderes als Aufmerksamkeit, Ruhm und Geld.
Was macht einen guten Trainer aus? Was unterscheidet einen guten von einem sehr guten Trainer? Bedeutet gut zu sein auch gleichzeitig erfolgreich zu sein? Kann ein sehr guter Trainer aus einer mittelmäßigen Mannschaft mehr herausholen als ein schlechter Trainer aus einer guten? Und was macht ein Trainer falsch, sodass ihm das Prädikat »schlecht« verliehen wird.
Wie kann es sein, dass ein Trainer über Jahre hinweg bei unterschiedlichen Vereinen erfolgreich ist, aber dann bei seinem nächsten Club plötzlich kläglich scheitert? Passen bestimmte Trainer nur zu speziellen Mannschaften? Oder braucht es bei gewissen Vereinen einfach mehr? Und was wäre dieses Mehr? Gut, nehmen wir beispielsweise das Thema Medien. Es gibt Vereine, die über die eigenen Stadtgrenzen hinaus für riesiges Interesse sorgen. Welche deutsche Zeitung berichtet nicht täglich zumindest irgendetwas über den FC Bayern? Hinzu kommen unzählige Sportportale, Blogs, Vlogs und die sozialen Netzwerke. Ganz gleich, was an der Säbener Straße passiert oder auch nicht passiert, alle suchen nach Geschichten. Journalisten aber auch Fans, die dank des digitalen Wandels der Welt nun selbst eine Stimme haben, die gehört wird. Exklusivität ist ein Kauf- und Klickargument und manchmal reichen deshalb schon ein einziges falsches Wort, ein falsches T-Shirt oder eine falsche Geste, um einen riesigen Rummel zu entfachen. Alles wird beobachtet, gesehen und kommentiert. Und dank des Internets dauert es nur wenige Sekunden bis die ganze Fußballwelt davon erfährt. Wer mit diesem Druck nicht umgehen kann oder nicht leben möchte, ist vielleicht in ruhigeren Regionen und bei kleineren Vereinen besser aufgehoben.
Trainer führen ein privilegiertes Leben. Sie verdienen einen Haufen Geld, teilweise Millionen. Trainer werden für Fans zu Helden, sie werden vergöttert, verehrt, scheinen unerreichbar. Aber wehe, diese übermenschlichen Wesen zeigen Schwäche oder scheitern. Gestern wollten sie ihm noch ein Denkmal bauen, heute pfeifen sie ihn aus. Ein Trainer muss nicht nur die Mannschaft hinter sich haben, sondern auch die Anhänger des Vereins. Und die sind laut. Wenn im Stadion zig tausend aufgebrachte Fans ein Pfeifkonzert anstimmen und »Trainer raus!« rufen, bleibt das selten folgenlos. Fans haben Macht. Sie sind immerhin die Menschen, die die Trikots kaufen, die Ränge füllen und den Verein am Leben halten. Sie wollen gehört werden und das ist auch gut. Aber sie sollten niemals vergessen, dass hinter jedem Trainer ein Mensch steckt. Und der verdient den gleichen Respekt wie jeder andere Mensch auch.
Was sich heutzutage in manchen Fußballstadien abspielt, ist unwürdig. Ralf Rangnick beispielsweise hat vor Jahren seine Burnout-Erkrankung öffentlich gemacht. Darauf haben BVB-Fans ein Transparent mit der Aufschrift »Burnout Ralle, häng dich auf!« im Stadion präsentiert. Das hat nichts mehr mit Unsportlichkeit zu tun, sondern ist im strafrechtlich relevanten Bereich. Es ist asozial und primitiv. Und vor allem menschenverachtend. Nicht nur dem Trainer gegenüber, sondern auch seiner Familie. Wie viele Menschen leiden unter schlimmstem Mobbing am Arbeitsplatz, im Internet oder in der Schule? Das, was manche Trainer über sich ergehen lassen müssen, ist genau das Gleiche, und dazu geschieht es auch noch öffentlich. Und nein, es ist nicht damit zu rechtfertigen, dass Trainer Ruhm genießen, viel Geld verdienen oder nach einer fristlosen Kündigung eine Abfindung bekommen.
Trainer versuchen die Schattenseiten auszublenden, nicht an sich heranzulassen. Und sie demonstrieren nach außen gerne Gelassenheit und Stärke. Aber irgendwann kommt bei jedem einmal ein Punkt, an dem der Gang ins Stadion zum Spießrutenlauf wird. Was fühlt ein Trainer in diesem Moment? Welche Ängste und Sorgen plagen ihn und wie geht er damit um?
Erfolg ist endlich und jedem Höhenflug folgt potenziell ein Absturz. Welcher Trainer kommt heutzutage noch dazu, seinen Vertrag bis zum Laufende zu erfüllen? Würden Sie einen Job annehmen, ganz gleich wie lukrativ er ist, wenn Sie im Vorfeld schon wüssten, dass Sie nach anderthalb Jahren als Loser vom Hof gejagt werden?
Trainer sollen auch nicht nur für sportliche Erfolge sorgen. Sie sollen als Identifikationsfigur und Vorbild dienen, sollen Emotionen zeigen, Nähe zulassen, empathisch und authentisch sein. Und am besten wäre, sie hätten noch Ecken und Kanten. Das finden alle super! Aber wehe, der Erfolg bleibt aus. Dann bekommen sie ihre Ecken und Kanten um die Ohren gehauen.
Ich habe mich oft gefragt, warum sich Trainer diesen Job immer wieder antun. Die Antwort ist einfach: Weil sie ihren Beruf lieben.
Ottmar Hitzfeld sieht heute zehn Jahre jünger und fitter aus als vor zehn Jahren. Keine eingefallenen Wangen, keine Schatten unter den Augen, dafür eine gesunde Gesichtsfarbe und gute vier Kilo mehr auf den Rippen.
Ich habe noch die Fernsehbilder aus vergangenen Tagen vor Augen: Münchner Olympia-Stadion, die Trainerbank des FC Bayern, Nahaufnahme Ottmar Hitzfeld. Ich habe mich damals oft gefragt, ob er krank ist. Vielleicht ein Magen-Darm-Infekt, Schlafstörungen oder sogar Schlimmeres? Er wirkte selten glücklich, geschweige denn frisch und munter. Doch damals habe ich mich in Interviews nie getraut, ihn danach zu fragen. Heute schon.
Hitzfeld parkt seinen dunklen Audi direkt vor dem Hoteleingang. Ich stehe draußen und warte auf ihn. Wir begrüßen uns förmlich aber sehr freundlich und betreten gemeinsam das Swissôtel in Basel. Alle kennen ihn hier, jeder Mitarbeiter begrüßt ihn herzlich. Er scheint ein oft und gern gesehener Gast zu sein. Und er kennt sich aus. Ottmar Hitzfeld schlägt vor, um die Ecke in den etwas ruhigeren Lobby-Bereich zu gehen. Direkt neben der Bar finden wir einen kleinen runden Tisch. Er setzt sich, lehnt sich gemütlich zurück und bestellt Cappuccino und Mineralwasser.
Ich weiß nicht wieso, aber Ottmar Hitzfeld strahlt eine unglaubliche Ruhe auf mich aus. Immer schon. Ich erinnere mich noch genau an meine erste Blickpunkt-Sport-Sendung im Bayerischen Rundfunk vor vielen Jahren. Ottmar Hitzfeld war mein Studiogast und ich vor meiner Premiere unglaublich aufgeregt. Er hat mir damals nur durch seine Anwesenheit eine solche Sicherheit und Ruhe vermittelt, dass meine Nervosität wie weggeblasen war, sobald wir zusammen im Studio standen. Vielleicht liegt es an seiner ruhigen und unaufgeregten Art zu reden. Er spricht bedacht, ich habe fast das Gefühl, er überlegt vor jedem Satz, ob er der richtige ist. Und er redet verdammt leise. Ich muss mich vorbeugen, um ihn überhaupt zu verstehen und schiebe ganz unauffällig mein Aufnahmegerät bis zum Tischende.
»Ich habe sehr gut und auch sehr intensiv gelebt. Aber diese Zeit mit dem ständigen Erfolgsdruck möchte ich nicht noch einmal haben«, sagt Hitzfeld.
Aus diesem Grund hat er 2014 seine Trainerkarriere beendet. Heute hat er mit Profifußball nichts mehr am Hut und genießt sein Leben als Rentner, beziehungsweise als freier Mann. Denn wenn er von früher spricht, klingt es beinahe so, als wäre er ein Gefangener gewesen, ein Gefangener seiner selbst. »Ich habe mich selbst immer am meisten unter Druck gesetzt. Ich war stets mein größter Kritiker. Ich wollte jedes Spiel gewinnen, habe nur für Fußball gelebt und alles andere, wie meine Familie, vernachlässigt. Wenn man so arbeitet, wie ich es getan habe, hat man keine anderen Gedanken mehr«, erklärt Hitzfeld.
24 Stunden täglich nur Fußball im Kopf. Und das 21 Jahre lang. Ich weiß nicht, wer mir mehr leidtut, Ottmar Hitzfeld selbst oder seine Ehefrau Beatrix, die schon 1983 an seiner Seite war, als er das Trainerleben begann. Der Start in dieses Leben kam völlig überraschend, aus einer Art Trotzreaktion heraus. Denn eigentlich wollte Hitzfeld nach seiner aktiven Fußballerkarriere Mathelehrer werden. Alles war perfekt geplant: büffeln und studieren, nebenher trainieren, Spiele machen, Geld verdienen. 1973 hatte Fußballprofi Hitzfeld das bestandene Staatsexamen in der Tasche und widmete sich voll und ganz seiner Fußballkarriere. Als er dann jedoch zehn Jahre später den Lehrerdienst antreten wollte, machte das Schulamt ihm einen Strich durch die Rechnung und verlangte eine Nachprüfung. Hitzfeld weigerte sich und beschloss, Fußballtrainer zu werden. »Ich wollte zwar aus Lörrach nicht weg und hatte auch keine große Lust auf ein Leben mit ständigen Umzügen. Aber ich war richtig sauer und gab mit fünf Jahre Zeit, um mich und den Beruf auszuprobieren«, erzählt Hitzfeld.
Fußballplatz statt Klassenzimmer. Frische Luft statt Schulgebäude. Taktik auf dem Feld statt Matheformeln an der Tafel. Mir wäre die Entscheidung leicht gefallen und auch Hitzfeld merkte schnell, dass er den richtigen Weg gewählt hatte.
SC Zug, FC Aarau, Grasshopper Club Züric – nach drei Trainerstationen in der Schweiz und zwei gewonnenen Meisterschaften wurde auch die Bundesliga auf ihn aufmerksam. »Natürlich hatte ich immer den großen Wunsch im Hinterkopf, eines Tages in die Bundesliga zu wechseln. Aber ich war bescheiden und sehr zurückhaltend und dachte eher an kleinere Vereine, wie den VfL Bochum oder Fortuna Düsseldorf. Mit den großen Top-Clubs habe ich mich gar nicht beschäftigt«, sagt Hitzfeld schmunzelnd.
Überhaupt schmunzelt Ottmar Hitzfeld sehr viel, wenn er von den ersten Jahren seiner Trainerkarriere erzählt. Und ich bin erstaunt, wie gut er sich an noch so kleine Details erinnern kann, auch wenn sie schon über dreißig Jahre zurückliegen. Ottmar Hitzfeld ist mittlerweile über siebzig Jahre alt und hat ein Gedächtnis, um das selbst ich ihn beneide. Namen, Gegner, Ergebnisse – alles sprudelt aus ihm heraus. Ich habe auch das Gefühl, dass er gerne an diese aufregende und unbeschwerte Anfangszeit zurückdenkt. »Als junger Trainer habe ich den Druck nie groß gespürt, weil ich nur gewinnen konnte. Je höher man allerdings nach oben steigt, desto dünner wird die Luft, desto größer die Erwartungshaltung«, erinnert sich Hitzfeld.
Nix Bochum, nix Düsseldorf. 1991 wechselt Hitzfeld in die Bundesliga. Direkt zu einem dieser großen Topclub namens Borussia Dortmund. »Mein erstes Ziel war, Fuß zu fassen, gerade mit meinem Dialekt. Und ich wollte Dortmund ins obere Drittel der Tabelle führen. Der Verein war damals ein schlafender Riese, ein Traditionsverein, aber nicht das Dortmund von heute. Dass wir dann jedoch bereits nach vier Jahren Aufbauarbeit Deutscher Meister werden, hätte ich mir nie ausgemalt«, erinnert sich Hitzfeld.
Er hat den damals schlafenden Riesen geweckt, ihn wachgerüttelt und 1995 und 1996 zweimal in Folge an die Tabellenspitze geführt. Und plötzlich war er da, der große Erwartungsdruck.
»Borussia Dortmund hat damals ganz klar über seinen Verhältnissen gelebt und irre viel Geld für Spieler wie Sammer und Möller ausgegeben. Der Verein hat sich damit einen Schuldenberg aufgebaut, aber ich als Trainer habe davon natürlich profitiert. Nach zwei Deutschen Meisterschaften und dem Gewinn der Champions League 1997 waren die Erwartungen an mich allerdings so groß, dass ich nur noch verlieren konnte«, erzählt Hitzfeld.
An diesem Punkt der Geschichte verändert sich sein Gesichtsausdruck deutlich. Ottmar Hitzfeld ist ein sehr ruhiger Mensch. Er gestikuliert nicht mit den Händen, er verändert seine Sitzhaltung nicht, seine Stimme ist stets ruhig. Doch in seinem Gesicht erkenne ich, dass er jetzt an Dinge zurückdenkt, die ihn belastet haben und noch heute zum Nachdenken bewegen.
Stellen Sie sich vor einen Spiegel. Ziehen Sie Ihre Mundwinkel horizontal weit auseinander. Und nun pressen Sie Ihre Lippen aufeinander. Das ist der gedankenvolle Ottmar-Hitzfeld-Gesichtsausdruck.
Die meisten Trainer erzählen voller Freude und Stolz von ihren früheren Erfolgen. Bei Hitzfeld kommt es mir vor, als seien sie mehr Fluch als Segen gewesen. Der immense Druck, die hohen Erwartungen, die ganze Anspannung. Heute redet Ottmar Hitzfeld darüber. Damals versuchte er dem Ganzen zu entkommen. Nach sechs erfolgreichen Jahren und dem Gewinn der Champions League erklärte er in Dortmund seinen Rücktritt als Trainer. Er wechselte für eine Saison an den Schreibtisch und wurde Sportdirektor, doch glücklich machte ihn das nicht. Als langweilig und unbefriedigend bezeichnet er heute diese Tätigkeit. Und so unterschrieb er 1998 seinen ersten Vertrag beim FC Bayern.
Neuer Verein, neues Umfeld doch das alte Trainerleben mit all seinen Schattenseiten hatte ihn schnell wieder. »Ich konnte einfach nie abschalten. Ich habe mir rund um die Uhr Gedanken gemacht. Es hat immer in meinem Kopf gearbeitet. Auch wenn ich mit meiner Frau abends mal einen Krimi geguckt habe, habe ich an nichts Anderes als Fußball denken können«, erzählt Hitzfeld.
Tanzen gehen, mit Freunden eine Grillparty schmeißen oder eine Vernissage besuchen. All das hat es in seiner Zeit als Trainer nicht gegeben. Er hat nie nach einem Ausgleich oder einer Abwechslung gesucht. Spaß und Glücksgefühle fand Ottmar Hitzfeld nur auf dem Platz.
»Als Trainer ist man ein sehr einsamer Mensch, weil man sehr einsame Entscheidungen treffen muss. Man lebt in seiner eigenen Welt«, erklärt er.
Ottmar Hitzfeld sieht jetzt traurig aus und seine Stimme wird immer leiser. Er beugt sich vor, trinkt einen Schluck Wasser und schweigt für einen Moment. Ich merke wie es in seinem Kopf rattert und arbeitet. »Ich habe es mir immer schwer gemacht, weil mir die Spieler als Menschen viel bedeutet haben«, erklärt er. »Wen kann ich aufstellen, wen muss ich forcieren? Mal einen jungen Spieler reinnehmen, dafür einen alten raus. All diese wichtigen Entscheidungen kreisten permanent in meinem Kopf und beschäftigten mich die ganze Woche über.«
Und damit nicht genug. Denn diese Entscheidungen musste Ottmar Hitzfeld nicht nur alleine treffen. Er musste sie seinen Spielern auch verständlich verkaufen. Und natürlich kam nicht jede seiner Entscheidungen immer gut an. »Einem Stammspieler zu erklären, warum er nicht spielen darf, ist anstrengend. Diese Gespräche haben mich mehr Kraft gekostet als das Spiel selbst. Das ist, wie wenn ein Arzt einem Patienten eine unerfreuliche Diagnose überbringen muss«, sagt Hitzfeld und zieht die Mundwinkel horizontal auseinander.
Es gibt Menschen, die wollen andere Menschen nicht enttäuschen, niemanden verletzen. Ottmar Hitzfeld scheint genauso ein Mensch zu sein. Aber das lässt sich natürlich, als Trainer oder grundsätzlich als Führungskraft, nicht immer umsetzen. Einen Spieler glücklich machen bedeutet einen anderen dafür zu enttäuschen. Haben Sie als Chef zwei Mitarbeiter, die für eine Beförderung in Frage kommen, aber nur einen Job zu vergeben, wird am Ende einer lachen und einer weinen. Ottmar Hitzfeld hatte stets über zwanzig Spieler in seinem Team und musste jede Woche mindestens einmal selektieren. Vor jedem Spiel wählte er erneut 18 Profis aus, die es in den Kader geschafft hatten und anschließend die Elf, die beim Anpfiff auf dem Platz stand. Zurück blieb jeweils eine Handvoll enttäuschter Spieler, deren Einsatz, Arbeit und Bemühungen nicht ausgereicht hatten.
Natürlich könnte man jetzt sagen, das sind Profis und so läuft es eben im Fußball. Aber so einfach hat es sich Ottmar Hitzfeld nie gemacht. Er hat jeden einzelnen Spieler und dessen Sorgen ernst genommen. Er hat in Gesprächen seine Entscheidungen begründet, Spieler motiviert, dran zu bleiben, und immer seine Hilfe angeboten. Aber Menschen reagieren nun mal sehr unterschiedlich auf scheinbar gleiche Situationen und verarbeiten auch Enttäuschungen und Wut anders. Der eine braucht Zuspruch, der andere reagiert mit Trotz und zieht sich völlig zurück. Ottmar Hitzfeld hat dennoch immer einen Weg gefunden, mit seinen Spielern zu kommunizieren. Wenn auch nicht jedes Mal direkt.
»Willy Sagnol war beispielsweise ein äußerst unbequemer Spieler. Der hat nur gemeckert, wollte ständig mit mir diskutieren und es war schwer, zu ihm durchzudringen. Aber er war gut mit Bixente Lizarazu befreundet und der war menschlich das genaue Gegenteil«, erzählt Hitzfeld und lächelt plötzlich. Die Erinnerungen an ehemalige Weggefährten scheinen ihn glücklich zu machen. Zumindest verschwindet die Anspannung aus seinem Gesicht, wenn er über persönliche Beziehungen von damals spricht. Ich glaube, die Erfolge und Titel haben ihm nie so viel gegeben, wie die Menschen mit denen er sie erlebt hat. Hitzfeld ist ein Menschenfreund und schaffte sich stets Verbündete innerhalb seines Teams.
Um zu dem Beispiel von gerade zurückzukommen: Hitzfeld wusste, dass Bixente Lizarazu als Freund und Kollege ganz anders mit Willy Sagnol reden und ihn auch kritisieren konnte. Also fing Hitzfeld Lizarazu ein, machte ihn zu seinem Sprachrohr, und der wiederum instruierte Sagnol. Schlaue Taktik! Hitzfelds Botschaft landete beim Empfänger, nur der Überbringer war ein anderer.
Den gleichen Job erledigten auch andere Führungsspieler für Hitzfeld. Oliver Kahn, Stefan Effenberg, Lothar Matthäus: Jeder von ihnen hatte einen besonderen Stellenwert innerhalb des Teams und die einzelnen Spieler hörten auf sie. Und mal ehrlich, wer ist nicht gerne Vertrauter des Chefs und wird mit besonders wichtigen Aufgaben betreut? Leader stärken, ihr Selbstbewusstsein steigern, ihnen Vertrauen schenken und sie letztendlich zu Verbündeten machen:
So gelang es Ottmar Hitzfeld die gesamte Mannschaft ins Boot zu holen. Auch weil er stets fair geblieben ist und immer nicht nur Trainer, sondern auch Mensch war.
»In jeder Mannschaft gibt es schwierige Spieler, die sich mehr erlauben als andere. Zu meiner Trainerzeit war es sogar noch schlimmer. Durch die Handys heutzutage hat ja praktisch jeder Coach überall Spione. Alles kommt raus und landet im Internet. Doch ich hatte immer Verständnis für heimliche Discobesuche. Ich bin selber Spieler gewesen und war auch mal Donnerstagnacht unterwegs, obwohl es verboten war. Wenn man jung ist, will man nicht um 22 Uhr ins Bett gehen. Selbst als Stefan Effenberg 1996 mit Alkohol am Steuer erwischt wurde und seinen Führerschein abgeben musste, hatte ich als Mensch dafür Verständnis. Aber als Trainer musste ich natürlich durchgreifen«, erklärt Hitzfeld ruhig. Ich bin mir sicher, dass er damals dieselbe ruhige Art an den Tag legte, wenn er sich Spieler zur Brust nahm.
»Ich war nie laut im Sinne von Rumschreien. Ich habe Spieler auch nie beleidigt oder sie einfach nur kritisiert. Ich habe ihnen immer Hilfe angeboten. Und manchmal hat es nicht mal Worte gebraucht. Ein entschlossener Blick sagt oft mehr. Gerade bei Spielern, die gar kein Deutsch sprechen«, erklärt Hitzfeld.
Ich glaube ihm. Ich kann mir Ottmar Hitzfeld gar nicht als cholerischen oder lauten Menschen vorstellen. Vielleicht gab es in seinem Leben Situationen, in denen er gerne öffentlich so richtig Dampf abgelassen hätte. Aber er hatte sich immer unter Kontrolle.
Beim FC Bayern wird bekanntlich jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Alles wird registriert und kommentiert. Sei es von der Presse, von den Vereinsoberen oder von den selbsternannten Experten. Ottmar Hitzfeld hat sich nach außen hin immer unauffällig verhalten und eigene Interessen zurückgestellt.
»Ich habe nur dem Verein gedient und es als meine Pflicht gesehen, alles für den Erfolg zu tun. Auch aus Selbstschutz heraus. Ich wusste, dass ich mich mit Erfolg vor Angriffen schütze und in Ruhe weiterarbeiten darf.«
Ottmar Hitzfeld ist ein intensiver Erzähler. Als ich die Kellnerin an unseren Tisch winke, um noch einen Kaffee zu bestellen, lässt er sich davon nicht aus dem Konzept bringen. Er erzählt vom Double-Gewinn 2003 mit dem FC Bayern und der darauffolgenden Bundesligasaison. Die sollte sein Leben nämlich ins Wanken bringen. »Ich saß eines Tages alleine im Auto und bekam plötzlich Platzangst. Ich musste rechts ranfahren und das Fenster öffnen. So ein Angstgefühl hatte ich zuvor noch nie erlebt, aber mir war sofort klar, da stimmt etwas nicht. Ich musste mir damals eingestehen, dass ich mich die ganze Saison über in einen Burnout reinentwickelt hatte.«
Von den Trainern lernen
Ottmar Hitzfeld liegen Menschen am Herzen. Und so behandelt er sie auch. Ein respektvoller, ehrlicher Umgang steht für ihn an erster Stelle. Kritik ist wichtig, aber nur in Kombination mit Verbesserungsvorschlägen und Hilfe.