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AUSSERDEM VON PANINI ERHÄLTLICH

WARCRAFT: Der offizielle Roman zum Film

Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3267-1

WARCRAFT: Durotan – Die offizielle Vorgeschichte

zum Film, Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3266-4

WORLD OF WARCRAFT: Kriegsverbrechen

Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2858-2

WORLD OF WARCRAFT: Der Untergang der Aspekte

Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2859-9

WORLD OF WARCRAFT: Vol’jin – Schatten der Horde

Michael Stackpole – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2617-5

WORLD OF WARCRAFT: Jaina Prachtmeer – Gezeiten des Krieges Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2523-9

WORLD OF WARCRAFT: Wolfsherz

Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2233-7

WORLD OF WARCRAFT Band 9: Thrall – Drachendämmerung

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2439-3

WORLD OF WARCRAFT Band 8: Weltenbeben –
Die Vorgeschichte zu Cataclysm, Christie Golden –

ISBN 978-3-8332-2234-4

WORLD OF WARCRAFT Band 7: Sturmgrimm

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-2051-7

WORLD OF WARCRAFT Band 6: Arthas – Aufstieg des

Lichkönigs, Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2050-0

WORLD OF WARCRAFT Band 5: Die Nacht des Drachen

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1792-0

WORLD OF WARCRAFT Band 4: Jenseits des Dunklen Portals

Aaron Rosenberg, Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1791-3

WORLD OF WARCRAFT Band 3: Im Strom der Dunkelheit

Aaron Rosenberg – ISBN 978-3-8332-1640-4

WORLD OF WARCRAFT Band 2: Aufstieg der Horde

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1574-2

WORLD OF WARCRAFT Band 1: Teufelskreis

Keith R. A. DeCandido – ISBN 978-3-8332-1465-3

Weitere Titel und Infos unter www.paninibooks.de

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Von William King

Ins Deutsche übertragen von

Tobias Toneguzzo

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Englische Originalausgabe: „World of Warcraft: Illidan“ by William King published in the US by Del Rey, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York, April 2016.

Copyright © 2016 Blizzard Entertainment, Inc. All Rights Reserved.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: marketing@panini.de)

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Andreas Kasprzak

Lektorat: Andreas Kaspzak für Grinning Cat Productions

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Book design by Barbara M. Bachmann

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

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ISBN 978-3-8332-3383-8

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-3265-7

1. Auflage, Juli 2016

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

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Für meinen Sohn Dan,

der mich auf dieser Reise begleitet hat.

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PROLOG

Sechs Jahre vor dem Fall

Die uralte Dunkelheit, die ihn umgab, hielt ihn ebenso wenig vom Sehen ab wie der Umstand, dass er keine Augen hatte. Einst war er ein Zauberer gewesen, ein äußerst mächtiger, und seine Spektralsicht zeigte ihm jeden Zentimeter seiner Zelle mit größerer Klarheit, als fleischliche Augen es je vermocht hätten.

Selbst ohne sie fand er sich in seinem Gefängnis zurecht. Er kannte jede Steinplatte auf dem Boden, jeden Zauber, der ihn fesselte. Er wusste, wie sie aussahen, wie sie sich anfühlten. Er wusste, welchen Widerhall seine Füße bei jedem der neun Schritte von einer Seite der Zelle auf die andere verursachten. Er spürte den Fluss der Magie überall um sich, Zauber um Zauber, Spruch um Spruch, deren seelenzermalmende Macht nur einem Ziel diente: Dafür zu sorgen, dass er hier eingeschlossen blieb, vergessen und ohne Vergebung.

Jene, die ihn hier eingesperrt hatten, wollten, dass dieser Ort seine Gruft wurde. Sie hatten ihn im Lauf der Millennien vergessen. Sie hätten besser daran getan, ihn zu töten. Das wäre gütiger gewesen. Stattdessen ließen sie ihn leben und taten so, als wäre das eine Gnade. Damit sie – sein Bruder, Malfurion Sturmgrimm, und die Frau, die er liebte, Tyrande Wisperwind, und all die anderen – ihr Gewissen nicht beflecken mussten.

Lange Jahrhunderte waren vergangen, ohne dass er die Stimme eines anderen lebenden Wesens vernommen hätte. Nur seine Kerkermeister, die Wächter, sprachen gelegentlich zu ihm, und sie hatte er schon früh zu hassen gelernt. Besonders groß war sein Hass auf ihre Anführerin, die Wächterin Maiev Schattensang. Sie besuchte ihn häufiger als die anderen, noch immer in Sorge, dass er allen Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz fliehen könnte. Einst hatte sie seinen Tod gefordert; jetzt war es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er eingesperrt blieb, während alle anderen ihn längst vergessen hatten.

Was war das? Ein leichtes Zittern im Ring der Zauberfesseln?

Unmöglich. Es gab kein Entkommen von diesem Ort. Nicht einmal durch den Tod. Zauber heilten jede Verletzung, die er sich selbst zufügen könnte, Magie hielt ihn am Leben, ohne dass er Wasser oder Nahrung brauchte. Diese Ketten waren von Meistern ihrer Zunft geschmiedet worden, und sie lagen so eng um ihn, dass sie nur von jenen wieder gelöst werden konnten, die ihn hier lebendig begraben hatten. Doch das würden sie niemals tun. Sie hatten zu große Angst davor, ihn freizulassen. Und das zu Recht.

Jahrhundertelang hatte er darüber gebrütet, was er mit denen anstellen würde, die ihn eingesperrt hatten. Zeit war das Einzige, das er besaß. Die Dauer seiner Kerkerhaft überstieg die Anzahl der Jahre in Freiheit um ein Vielfaches. Jeder andere hätte längst den Verstand verloren.

Vielleicht war er auch schon verrückt. Wie viele Tausend Jahre waren vergangen, seit man ihn hier eingeschlossen hatte? Er wusste es nicht mehr. Das war das Schlimmste. Jahrtausende in Finsternis zu verbringen, gefangen in einem Käfig, nie mehr als neun Schritte in eine Richtung machen zu können. Er, der einst Dämonen durch die ungezähmte Wildnis von Azeroth gejagt hatte, war an einen Ort gebunden, an dem er nicht einmal ein Tier eingesperrt hätte.

Sie hatten ihn verurteilt, obwohl er nur versucht hatte, ihren gemeinsamen Feind zu besiegen. Er hatte sich in die Reihen der Brennenden Legion eingeschlichen, des eingeschworenen Feindes seines Volkes – nein, seiner Welt –, um die Zerstörung zu vergelten, die von den dämonischen Eindringlingen angerichtet worden war.

Doch hatte man ihn dafür belohnt? Nein! Sie hatten ihn lebendig begraben. Sein Volk hatte ihn für einen Verräter gehalten, einen Betrüger. Einst war er ein Held für sie gewesen, doch nun nicht mehr. Falls sich überhaupt noch jemand an ihn erinnerte, wurde sein Name gewiss nur noch als Fluch benutzt.

Vernahm er da das Klirren von Waffen? Er schob den Gedanken beiseite, weigerte sich, Hoffnung in seiner Brust aufkeimen zu lassen. Es gab niemanden dort draußen, der ihn frei sehen wollte. Seine Familie und Freunde hatten sich von ihm abgewandt, als er versucht hatte, auf dem Berg Hyjal den Brunnen der Ewigkeit wiederherzustellen, jene uralte Machtquelle der Nachtelfen. Die Einzigen, die Interesse an seiner Befreiung haben könnten, wären Dämonen, aber seine Kerkermeister würden sie töten, lange bevor ihr Plan gelänge. Und solange seine magischen Fesseln ihn umgaben, könnte er auch nichts tun, um das zu verhindern.

Doch da war es schon wieder. Ein weiteres Beben in den Strömen der Magie um ihn herum. Das Gewebe der Macht, das ihn all die Zeit gebunden hatte, wurde schwächer. Er hob den Arm, spreizte die Finger und streckte die Hand dann aus, um aus der Magie zu schöpfen. Zum ersten Mal seit Jahrtausenden spürte er eine Reaktion, ein Prickeln, so schwach, dass er zunächst glaubte, er würde es sich nur einbilden. Er rief nach seinen Zwillingsklingen, den Kriegsgleven von Azzinoth. Sie waren als Zeichen des Triumphes auf einem Gestell draußen vor seiner Zelle aufgehängt, um ihn zu verspotten, doch dank der uralten Seelenbindung zwischen ihm und den Waffen erschienen sie nun in seinen Händen. Macht durchströmte sie und brachte die Runen auf den Klingen zum Leuchten.

Sein Herz schlug schneller, sein Mund war trocken. Es gab also doch Hoffnung auf Freiheit. Er schloss die Finger fester um die Kriegsgleven. In der Vergangenheit hatten sie Dämonen niedergestreckt, jetzt würden sie Elfen töten. Einst hätte ihn dieser Gedanke entsetzt, doch jetzt nicht mehr. Er würde es sogar genießen.

Wieder flackerten seine magischen Ketten, während die Kampfgeräusche lauter wurden. Einige der Sprüche waren bereits gebrochen. Vielleicht wurden sie durch das Blutvergießen entweiht oder durch die Zauber zersetzt, die, deutlich spürbar, im Kampf draußen eingesetzt wurden. Energie strömte ihm zu, als seine Fesseln nachgaben. Sein Herz pochte wild, sein Körper prickelte, und er fühlte sich, als würde er jeden Moment mit seinem Atem Feuer ausstoßen. Der Strom der Macht war nach der langen Abstinenz geradezu überwältigend.

Er spürte eine Präsenz vor der Tür seiner Zelle und bereitete sich auf einen Angriff vor. Da erklang eine Stimme, und es war die letzte, die er in diesem Moment erwartet hätte.

„Illidan, bist du da drin?“, fragte Tyrande Wisperwind.

All seine Rachefantasien, seine Träume von Vergeltung verblassten, als wäre er nie eingesperrt gewesen. Das Gefühl überraschte ihn; er hätte nicht für möglich gehalten, dass etwas oder jemand sein Herz erweichen könnte – und schon gar nicht sie.

Er hatte jahrzehntelang nicht gesprochen, und seine Worte waren eingerostet. „Tyrande … du bist es! Nach dieser Ewigkeit im Dunkel ist deine Stimme für meinen Geist wie reines Mondlicht.“

Er verfluchte sich für seine Schwäche. Das waren nicht die Worte, die er sich in seinen Träumen von Flucht und Freiheit vorgestellt hatte, aber sie kamen wie von selbst über seine Lippen, und Hoffnung blühte in seiner Brust auf. Vielleicht hatte sie eingesehen, dass sie einen Fehler begangen hatte. Vielleicht war sie hier, um ihn zu befreien. Um ihm zu vergeben.

„Die Legion ist zurück, Illidan. Dein Volk braucht dich noch einmal.“

Seine Fäuste schlossen sich fester um seine Waffen. „Mein Volk braucht mich? Mein Volk ließ mich hier verrotten!“ Der Zorn schnürte ihm die Kehle zu und erstickte jedes weitere Wort. Die Dämonen waren also zurück, genau wie er es schon immer vorhergesagt hatte, und sein Volk wollte seine Hilfe. Die lodernde Wut, die durch ihn hindurchbrandete, hinterließ eine tiefe Leere, und noch mehr Macht strömte hinein, um dieses Loch zu füllen.

Jetzt gab es keinen Zweifel mehr – die Zauber, die ihn fesselten, waren geschwächt. Tyrande half seine Ketten zu lockern, indem sie ihren Willen vom Zauber abgewandt hatte.

Er konzentrierte all seinen Zorn und seine aufgestaute Frustration auf einen mächtigen Befreiungszauber. Einen Moment lang hielten die geschwächten Fesseln noch, aber wirklich nur für einen Moment. Ströme von Macht zersetzten die Barrieren um ihn, und die Magie, die ihn gefangen hielt, löste sich auf, zunächst langsam, doch dann immer schneller. Er zerschmetterte die Gitter, sprengte die Wände seiner Zelle.

Und da stand Tyrande, schön wie ehedem, und starrte ihn an. Die Jahre hatten ihr nichts angehabt. Sie war noch immer hochgewachsen, mit heller, violetter Haut und blauem Haar, anmutig wie eine Tempeltänzerin und liebreizend wie der Mondaufgang über Nordrassil. Sie roch nach Blut und entfesselter Magie. Es war offensichtlich, dass sie seinen Zorn sah, denn sie wandte sich ab, unfähig, seinem Blick standzuhalten. Dass sie so lange Jahre nach ihrer letzten Begegnung derart vor ihm zurückschreckte, schmerzte ihn mehr als alles andere.

„Einst warst du mir teuer, Tyrande. Darum werde ich die Dämonen finden und die Legion vernichten.“ Er fletschte die Zähne. „Aber unserem Volk bin ich rein gar nichts schuldig.“

Jetzt begegnete sie seinem Blick. Emotionen huschten über ihr Gesicht. Hoffnung. Furcht. War das Mitleid oder Bedauern? Er war sich nicht sicher, und er verabscheute sich dafür, dass er so großen Wert darauf legte, was sie dachte. Was sie fühlte, war bedeutungslos, war nichts!

Tyrande sagte: „Dann lass uns schnell zur Oberfläche zurückkehren! Mit jeder Sekunde, die wir verschwenden, breitet sich die Verderbnis der Dämonen weiter aus.“

Das war alles. Das war die Begrüßung, die er nach den langen, vergeudeten Jahrtausenden bekam. Keine Entschuldigung. Keine Reue. Sie hatte geholfen, ihn an diesem schrecklichen Ort einzusperren, und jetzt wollte sie, dass er ihr half. Und das Schlimmste daran war, dass er es tun würde.

Vor der Zelle lagen Leichen über den Boden verstreut. Offensichtlich hatte hier ein heftiger Kampf getobt, und Tyrande hatte sich ihren Weg hierher freigeschlagen, um ihn zu befreien. Sie musste wirklich verzweifelt sein, wenn sie zu solchen Mitteln griff. Er blickte auf den riesenhaften Leichnam des Hüters des Hains hinab. Nun, falls die Brennende Legion zurückgekehrt war, hatte sie auch allen Grund, verzweifelt zu sein. Die Legion zerstörte Welten, so wie andere Armeen Städte zerstörten.

„Hast du ihn getötet?“, fragte er und deutete auf die Leiche von Califax.

„Ja“, antwortete Tyrande. „Der Hüter des Hains wollte dich nicht freilassen.“

Illidan lachte. „Maiev wird wütend sein. Er war einer ihrer Lieblinge.“

Tyrande errötete. „Das ist kein Grund für Gelächter“, tadelte sie.

„In den Jahrtausenden, seit ihr mich eingesperrt habt, hatte ich nur selten Grund zur Freude. Vergib mir also, falls mein Sinn für Humor etwas seltsam erscheint.“

„Zehntausend“, sagte sie.

„Was?“

„Es ist mehr als zehntausend Jahre her, seit du hierher gebracht wurdest.“

Das Lachen erstarb auf seinen Lippen. Das Gewicht ihrer Worte legte sich auf ihn wie das Gewicht der Welt über ihren Köpfen.

„So lange“, murmelte er leise, dann blickte er zurück zu dem uralten Gewölbe seiner Zelle, spürte das Geflecht der Zauber, die ihn gefesselt hatten. Er beschleunigte seine Schritte, entschlossen, diesen Ort zu verlassen und nie wieder hierher zurückzukehren.

„Warum hast du mich wirklich befreit?“, fragte er, noch immer in der Hoffnung, dass sie zumindest einen Hauch von Bedauern über ihre Taten zeigen würde.

„Wie gesagt, die Brennende Legion ist zurück. Niemand weiß mehr über sie als du. Niemand hat mehr Dämonen erschlagen.“

„Hast du keine Angst, dass ich euch hintergehen könnte? Man nennt mich den Verräter, weißt du das nicht mehr?“

„Du warst ein Verräter, aber letztlich hast du dich für die richtige Seite entschieden.“

Er deutete mit einer tätowierten Hand auf ihre Umgebung. „Und sieh nur, wohin es mich gebracht hat.“

„Du könntest tot sein. Wie so viele unseres Volkes.“

„Was soll all dieses Gerede über unser Volk? Es ist nicht unser Volk. Es ist dein Volk.“

„Hasst du uns so sehr?“

„Ja“, erklärte er, die Lippen abfällig verzogen. „Aber zu eurem Glück hasse ich die Dämonen noch mehr.“

Sie nickte, als hätte er gerade bestätigt, was sie hören wollte. Ein Verdacht durchzuckte ihn. Dass man ihn eingesperrt hatte, war kein Akt der Gnade gewesen; sie hatte gewusst, dass er eines Tages wieder gebraucht werden würde. Man hatte ihn aufbewahrt wie eine Waffe in einer Rüstkammer.

Vor ihnen spürte er eine gewaltige – und vertraute – Macht: sein Bruder. Er hätte es sich eigentlich denken können. Wo Tyrande war, konnte ihr Geliebter, Malfurion, nicht weit sein. Illidans ganzer Körper spannte sich, bereit für einen Kampf.

Seine Begleiterin spürte es ebenfalls. Sie eilte voraus und blieb dann stehen, als ihr der Weg von der mächtigen Präsenz des Erzdruiden Malfurion Sturmgrimm versperrt wurde. Illidans Bruder war ein wahrer Hüne, und ein Geweih spross aus seinem Kopf. Ein bestürzter Ausdruck legte sich auf seine attraktiven Züge; offensichtlich war er nicht hier, um Tyrande zu helfen.

Vier Druiden der Klaue flankierten Malfurion, jeder von ihnen in der Gestalt eines Bären. Sie ließen ihre krallenbewehrten Tatzen spielen und knurrten Illidan an. Sie waren wohl hier postiert, um seine Flucht zu verhindern, und sie schienen noch immer entschlossen, ihre Pflicht zu erfüllen.

„Mal!“, sagte Tyrande.

Illidan kämpfte darum, seinen Zorn zu beherrschen. Hier stand der Bruder, der ihn verurteilt hatte. Als er seine Stimme wiederfand, war sie voller Verbitterung. „Es ist eine Ewigkeit her, Bruder. Eine Ewigkeit in der Dunkelheit!“

Malfurion begegnete seinem Blick unbeeindruckt. „Du wurdest verurteilt, um für deine Sünden zu büßen, mehr nicht.“

Diese Heuchelei war unfassbar. Welcher Bruder verdammt sein eigen Fleisch und Blut zu zehntausend Jahren in einer Gruft? „Und wer warst du, über mich zu richten? Falls ich mich recht entsinne, kämpften wir Seite an Seite gegen die Dämonen!“

Die Luft zwischen ihnen knisterte vor Spannung. Sie beide waren in diesem Moment bereit, zu kämpfen – und zu töten.

Tyrande rief: „Genug damit, ihr beiden! Was geschehen ist, ist geschehen.“

Sie richtete die ganze Macht ihrer Aufmerksamkeit auf Malfurion. „Mein Geliebter, mit Illidans Hilfe können wir die Dämonen einmal mehr zurückschlagen und retten, was noch von unserem geliebten Land übrig ist!“

Der Erzdruide schüttelte den Kopf. „Hast du auch über den Preis nachgedacht, Tyrande? Die Hilfe dieses Verräters in Anspruch zu nehmen, könnte unser aller Untergang sein. Ich will nichts damit zu tun haben.“

Illidan zwang sich zu einem gelassenen Gesichtsausdruck. Sein eigener Bruder hielt ihn augenscheinlich noch immer für ein Monster, nichts weiter. Eine Marionette der Legion. Er würde es ihm zeigen. Er würde ihnen allen zeigen, dass die Dämonen keine Macht über ihn hatten.

„Falls du dich in Schwäche und Unentschlossenheit ergehen willst, Bruder, dann tu es woanders“, sagte er. „Ich habe etwas zu erledigen, und mir bleibt nur wenig Zeit.“

Illidan entfesselte einen Teil der Energie, die er beständig zurückgewonnen hatte, und stieß die Personen um ihn herum gegen die Steinwände. Anschließend marschierte er an ihren benommenen Gestalten vorbei aus dem Gefängnis. Tief in seinem Herzen wusste er, dass man ihn erneut einen Verräter nennen würde, bevor diese Sache vorüber wäre, und diesmal würde er den Titel verdienen.

Nie wieder würde er sich einsperren lassen.