Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt:
22. Juni 1941 – An der sowjetrussischen Grenze ist es seit den frühen Morgenstunden des heutigen Tages zu Kampfhandlungen gekommen.
Auf der Waldlichtung, auf die sommerlich heiß die Junisonne niederbrannte, war die Batterie angetreten: Gewehrappell. Beschäftigungstherapie nannte man diese Art von Dienst. Seit dem 10. Juni 1941 kampierte das Artillerieregiment mit seinen drei Abteilungen, also insgesamt neun Batterien, im Wald von Wylocysta unweit der deutsch-sowjetischen Interessengrenze, wie die Polen durchschneidende Demarkationslinie offiziell hieß.
Die Wachtmeister und Unteroffiziere beäugten kritisch die Karabiner, entfernten die Schlösser, schauten durch die Läufe, fanden da und dort ein Stäubchen, das vielleicht gar nicht vorhanden war, und fluchten, als hinge der Bestand des Großdeutschen Reiches vom Zustand der Karabiner ab, die bei der Artillerie ohnehin nur selten benutzt wurden. Die Aufsicht hatte Leutnant Heise, der Ende Oktober 1940 nach der Ausheilung seiner in Frankreich erlittenen schweren Verwundung zur Batterie zurückgekehrt war.
Vom Schreibstubenzelt, das wie alle anderen Zelte im Waldschatten aufgestellt war, kam ein Melder, nahm vor dem Leutnant Haltung an und entledigte sich seines Auftrags.
»Wachtmeister Hohberg!«
Der Gerufene drehte sich um.
»Herr Leutnant?«
»Sie melden sich im Dienstanzug beim Regimentskommandeur!«
Der Wachtmeister verschwand von der Lichtung. In seinem Zelt, das er mit Wachtmeister Binder teilte, holte er seinen Stahlhelm. Der Kübelwagen des Batteriechefs stand schon bereit.
Der Weg zum Schloss Wylocysta, in dem der Regimentsstab untergebracht war, führte im Schatten hoher alter Buchen und Fichten durch den scheinbar grenzenlosen Forst, in dem außer der Artillerie auch die übrigen Truppenteile der Division ihre Freilager aufgeschlagen hatten: Infanterie, Pioniere, die Aufklärungs- und die Sanitätsabteilung, die Nachrichtenleute, die Nachschubdienste und die Stäbe.
Der Obergefreite Faltermann, Cheffahrer schon seit dem Polenfeldzug und allgemein nur Otto genannt, fragte den Wachtmeister, der neben ihm saß, was er denn versiebt habe, dass er gleich beim Regimentskommandeur selbst antreten müsse.
Wachtmeister Hohberg sah den Obergefreiten von der Seite an.
»Tun Sie doch nicht so, Otto! Sie wissen doch genau, was anliegt.«
Faltermann blickte grinsend durch die Windschutzscheibe.
»Aus mir kriegen Sie nichts ’raus, Herr Wachtmeister. Na, den Kopf wird der Alte Ihnen nicht ’runterreißen. Mich wundert nur, dass er die Zeit hat, Sie aufs Schloss zu bestellen. Ausgerechnet heute.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Hohberg. Der Cheffahrer war immer vor den meisten anderen in der Batterie über das Neueste unterrichtet. Irgendetwas braute sich zusammen. Gerüchte und Parolen schossen im Wald von Wylocysta auf wie die Pilze. Krieg mit Russland behaupteten die einen, während andere auf friedlichen Transit durch die Sowjetunion nach Kleinasien tippten. Jedenfalls lag die Division nicht ohne Grund im Wald an der Grenze.
Der Park mit seiner bemoosten Umfriedungsmauer war erreicht. Über einem Rondell inmitten uralter Eichen erhob sich das weiße Schloss mit seinen in der Sonne blinkenden hohen Fenstern.
Faltermann lenkte den Kübelwagen zum Parkplatz auf dem hinter dem Herrenhaus gelegenen Wirtschaftshof. Der Besitzer des Schlosses, hieß es, sei als Offizier der polnischen Armee im September 1939 in russische Gefangenschaft geraten und seither verschollen. Ein ständig in Livree auftretender alter Diener war als Einziger im Schloss zurückgeblieben, als die Russen kamen, die dieses Gebiet einige Tage lang, bis zur Grenzziehung, besetzt hatten. Damals hatten sich sowjetische Offiziere im Schloss einquartiert, jetzt waren es deutsche: der Stab des Artillerieregiments.
»Lassen Sie sich nicht zu lange aufhalten, wir haben nicht viel Zeit«, sagte Faltermann, als Wachtmeister Hohberg austieg.
Nicht viel Zeit! Was soll nun das wieder bedeuten, fragte sich Hohberg, während er durch einen Torbogen zum Innenhof ging, an dessen Rückseite sich das wappengeschmückte Portal befand.
Der Wachhabende, ein Unteroffizier, begleitete den Wachtmeister die breite, geschwungene Treppe zum ersten Stockwerk hinauf.
»Dicke Luft«, sagte der Unteroffizier. »Halten Sie es für möglich, dass der Russe angreift, Herr Wachtmeister?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Hohberg. Diese Version hörte er zum ersten Mal.
»Man hat ja schließlich Augen im Kopf«, meinte der Unteroffizier und klopfte, ohne, wie sonst üblich, den Adjutanten zu bemühen, an die Tür zum Zimmer des Kommandeurs.
»Ja, was ist?« Es war Oberst Randolphs energische Stimme, die Hohberg von Besichtigungen und anderen Gelegenheiten kannte.
Der Unteroffizier öffnete die Tür und meldete in strammer Haltung den Wachtmeister. Hohberg wurde zum Eintreten aufgefordert. Der Oberst stand mit dem Rücken zu einem der Fenster des hohen Raumes, der mit Teppichen ausgelegt und mit antikem Mobiliar eingerichtet war. Der Kommandeur war eine große, schlanke Erscheinung mit schmalem Kopf und dunkelblondem Haar, das an den Schläfen grau war. Sein maßgeschneiderter Waffenrock war mit dem EK I von 1939 und der Silberspange zum EK II von 1914 dekoriert.
Mit ausgestreckter Hand kam er auf Hohberg zu, der straff aufgerichtet, die Rechte am Stahlhelm, seinen Spruch aufsagte: »Wachtmeister Hohberg, dritte Batterie, wie befohlen zur Stelle.«
»Leutnant Hohberg«, verbesserte der Oberst, indem er die Hand des anderen ergriff. »Ich begrüße Sie als jüngsten Offizier meines Regiments. Gestern Abend kam die Mitteilung vom Heerespersonalamt, dass Sie mit Wirkung vom 1. Mai zum Leutnant der Reserve befördert worden sind. Ich beglückwünsche Sie, Leutnant Hohberg.«
Oberst Randolph räusperte sich. Er schien etwas hinzufügen zu wollen, doch zögerte er und wandte sich zum Fenster, das einen Spalt breit geöffnet war. Offenbar hatte er auf den Kraftwagen gewartet, der soeben drunten vorfuhr. Hastig verabschiedete der Kommandeur den jüngsten Leutnant des Regiments.
Draußen auf dem Flur, an dessen Außenwand altersdunkle Ahnenbilder hingen, stürzte der Adjutant an Hohberg vorbei zur Treppe, ohne von dem frisch Beförderten Notiz zu nehmen.
Vom Innenhof kam schneidend das Kommando: »Wache ’raustreten!«
Am Fuß der Treppe fand Hohberg eine Seitentür, durch die er unbemerkt verschwinden konnte. Als er nach unschlüssigem Umherirren durch ein Labyrinth dunkler Gänge endlich den Wirtschaftshof erreichte, parkte neben dem Chefwagen eine schwarz lackierte, reich mit Chrom verzierte Generalslimousine mit dem schwarz-weiß-roten Dreiecksstander des Divisionsstabes.
Otto Faltermann hielt für Hohberg die Wagentür.
»Gratuliere, Herr Leutnant«, sagte er, sein breites Gesicht zu einem schlauen Grinsen verzogen.
»Wieso?«, fragte Hohberg. »Haben Sie es denn gewusst?«
»Na klar«, antwortete Otto und legte den Rückwärtsgang ein.
Als der Kübelwagen gewendet hatte, sagte er mit einem Seitenblick auf die schwarze Limousine: »An so etwas werden die in Russland wenig Freude haben.«
»Also doch«, warf Hohberg ein. »Was wissen Sie? Wann soll es losgehen?«
»Geheime Kommandosache, Herr Leutnant. Aber so viel sage ich Ihnen: Sehen Sie zu, dass Sie das Leutnantslametta an die Klamotten bekommen, sonst ziehen Sie womöglich als Wachtmeister in die Schlacht.«
Also heute, dachte Hohberg betroffen. Womöglich lag der Marschbefehl schon bei der Batterie? Deshalb die eilige Verabschiedung bei Oberst Randolph und deshalb der Besuch des Generals im Stabsquartier des Regiments! Letzte Besprechung vor dem Sturm. Kein Einkleidungsurlaub, mit dem man in Erwartung der Beförderung heimlich gerechnet hatte, kein Wiedersehen mit Ilse.
Sie fuhren durch den Wald, durch dessen dichtes Laub- und Nadeldach helles Licht sickerte. Vor einer Querstraße, deren Trasse erst kürzlich von Baupionieren geschlagen worden war, stoppte ein Feldgendarm mit hochgehaltener Winkerkelle den Kübelwagen.
Infanterie, eine lange Kolonne, gefolgt von den mit Pferden bespannten und mit Planen überdachten Wagen der Gefechtstrosse, überquerte die Kreuzung, die Soldaten mit leichtem Marschgepäck, den Stahlhelm am Koppel. Ahnten sie, wohin sie marschierten? Oder hielten sie auch diesen Ausmarsch, bei dem es vermutlich keine Rückkehr gab, für eine Übung, wie sie in letzter Zeit häufig abgehalten worden war?
»Das nimmt kein Ende«, sagte Hohberg. Aber dann entstand doch eine Lücke, und der Feldgendarm mit dem Blechschild auf der Brust gab das Zeichen zur Weiterfahrt.
Als sie das Lager der Batterie erreichten und nichts Ungewöhnliches zu erkennen war, meinte Otto Faltermann: »Man wird uns doch nicht vergessen haben?«
»Keine Sorge«, versetzte Hohberg, »wir sind nur als motorisierter Verein schneller als die Fußmarschierer. Aber vielleicht ist alles nur blinder Alarm.«
Derartiges hatte es schon öfter gegeben, damals, am Westwall, bevor es endgültig losgegangen war, und später, als es geheißen hatte, nun sei England an der Reihe. Die Invasion der britischen Insel hatte aber dann doch nicht stattgefunden. Möglicherweise wurde auch der Angriff gegen Russland, der noch nicht einmal befohlen war, in letzter Stunde abgeblasen.
Vor dem schwarzen Offizierszelt meldete Hohberg sich bei Hauptmann Kern, dem Chef, der die Batterie schon im Polen- und im Westfeldzug geführt hatte.
Der Hauptmann, Weltkriegsoffizier und erst im Sommer 1939 reaktiviert, sah den soeben beförderten Leutnant forschend an.
»Was haben Sie, Hohberg? Gefällt es Ihnen nicht, die Schulterstücke zu tragen?«
Hohberg schüttelte den Kopf.
»Das ist es nicht, Herr Hauptmann.«
»Also was dann? Heraus damit!«
»Die Infanterie marschiert, Herr Hauptmann.«
»Na und? Was soll das?«
Hauptmann Kerns kantiges Gesicht rötete sich. Er war, wie er auch immer betonte, für absolute Klarheit. Undurchsichtiges behagte ihm nicht.
»Ich fürchte, es wird jetzt doch gegen Russland gehen, Herr Hauptmann«, sagte Hohberg.
Der Batteriechef blickte ihn mit starrer Miene an.
»Haben Sie einen Grund für diese Annahme?«
»Nicht direkt, Herr Hauptmann. Nur …«
Hauptmann Kern hob die Hand. »Weiß Bescheid. Faltermann hat Ihnen diesen Floh ins Ohr gesetzt! Woher der verflixte Schwarzseher nur immer seine Weisheiten bezieht?« In verändertem Ton setzte der Chef hinzu: »Lassen Sie sich jetzt vom Schneider die Spiegel und die Schulterstücke aufnähen. Leutnant Heise hat sie zur Verfügung gestellt. Zur Einkleidung schicken wir Sie, sobald die augenblickliche Urlaubssperre aufgehoben ist.«
Im Zelt klingelte das Feldtelefon.
»Ich komme!«, rief Hauptmann Kern und verschwand im Zelt.
Solle er wirklich noch nichts wissen?, fragte sich Hohberg, während er sich zum Batterie-Schneider begab, der seine Werkstatt auf einem Lkw des Trosses eingerichtet hatte.
Um drei Uhr nachmittags erschien Major Sandner, der Abteilungskommandeur, mit seinem Adjutanten. Die beiden betraten das Zelt des Batteriechefs. Wenig später fuhren sie wieder ab. Sogleich wurden Leutnant Heise und Leutnant Hohberg sowie die Führer des Nachrichtenzuges und der Munitionsstaffel und der Hauptwachtmeister zum Batteriechef gerufen.
Hauptmann Kern stand vor seinem Zelt. Er hatte umgeschnallt und trug seine alte, verbeulte Feldmütze mit dem rissigen Lederschild. Seine hellen Augen schienen durch die Versammelten hindurchzublicken. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck harter Verschlossenheit.
»Es ist soweit«, sagte er mit rauer Stimme. »In zwei Stunden melden Sie Marschbereitschaft. Um sechs Uhr rückt die Batterie in den uns zugewiesenen Bereitstellungsraum. Dort erhalten Sie weitere Weisungen. Ja, und noch etwas: Vor dem Abmarsch tritt die Batterie geschlossen an. Es handelt sich um die Bekanntgabe eines Führerbefehls, der mir soeben zugestellt worden ist. Danke.«
Hauptmann Kern grüßte, drehte sich brüsk um, als wollte er sagen: Lasst mich jetzt allein! und ging zum Zelt.
Alarm! Dieser Ruf schreckte die Batterie aus ihrer beschaulichen Nachmittagsruhe auf. Sofort setzte geschäftiges Treiben ein. Zelte wurden abgebrochen, die Ausrüstung verpackt und auf die Fahrzeuge verladen. Da und dort wurde ein Motor zur Probe angelassen.
Hohberg, als Batterieoffizier eingeteilt, hatte nun seinen eigenen Pkw und somit einen Fahrer, der auch Ordonnanzdienste zu versehen hatte und jetzt sein Gepäck versorgte.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass bei der Geschützstaffel alles klappte, schlenderte er über die Lichtung zum Waldrand. Es war ein sonniger Tag, hochsommerlich heiß. Die Waldwiese, durch die sich der Weg, über den die Fahrzeuge bald rollen sollten, als sandige Spur schlängelte, war in grelles Nachmittagslicht getaucht. Bienen summten, bunte Schmetterlinge gaukelten tänzerisch von Blume zu Blume.
»Wer hätte das gedacht«, sagte unvermittelt jemand neben Hohberg.
Es war Leutnant Heise, im Gegensatz zum Reservisten Hohberg aktiver Offizier. Er war sehr jung, Jahrgang 1919. Er war bei der HJ gewesen, aber er hatte, wie er offen zugab, nicht Hitlers »Mein Kampf« im Gepäck, sondern den »Kornett« von Rilke. Sein Vater war aktiver Oberst und stand als Kommandeur eines Infanterieregiments in Ostpreußen. Seine Frontbewährung hatte der junge Heise als Fähnrich im Westfeldzug erworben. Ganz zuletzt, vor Epinal, war er verwundet worden. Seit dem 1. September 1940 besaß er sein Leutnantspatent.
»Das ist doch Wahnsinn«, begann er unvermittelt wieder, da Hohberg auf seine ersten Worte nicht geantwortet hatte.
»Wieso?«, fragte Hohberg reserviert.
»Wir haben mit der Sowjetunion einen Freundschaftspakt«, sagte Heise und fingerte nervös an einer Zigarette, als sei er sich nicht schlüssig, ob er sie anzünden sollte. »Bereitstellung – das bedeutet Angriff.«
»Vielleicht ist es ja nur, um einem Angriff von der anderen Seite zuvorzukommen«, warf Hohberg ein, obgleich er von dieser Möglichkeit keineswegs überzeugt war. Erst vor wenigen Tagen war er mit dem Chef in die Nähe der Grenze gefahren. Nichts hatte auf der anderen Seite auf kriegerische Vorbereitungen hingedeutet: ein ausgeholzter Streifen im Wald, niedriger, von Himbeer- und Brombeerranken halb überwucherter Stacheldraht, tiefe Stille. Nicht einmal durchs Glas hatte man wahrnehmen können, ob die zwischen den Bäumen aufragenden verschalten Wachttürme besetzt waren.
Heise lachte auf.
»Ein Angriff von drüben? Das glauben Sie doch selbst nicht, Hohberg! Denken Sie doch nur an den Winterkrieg in Finnland! Die sind gar nicht imstande, Krieg mit uns zu riskieren. Ich bin recht gut informiert. Mein Vater war drüben. Zur Zeit von Seeckt war er Instrukteur an der Moskauer Frunse-Militärakademie. Später war er eine Zeitlang Gehilfe beim Militärattaché unserer Botschaft. Ich sage Ihnen, Hohberg, das wird kein Präventivkrieg, sondern ein unprovozierter Angriff von unserer Seite. Ich gestehe offen, mir ist reichlich mulmig zumute. Was wird daraus entstehen? Zunächst einmal für uns ein Zweifrontenkrieg. Wollte man das nicht vermeiden? Und vergegenwärtigen Sie sich doch nur den Ablauf der Geschichte! An Russland hat sich noch jeder fremde Eindringling die Zähne ausgebissen. Das Jahr 1812 hat doch am besten gezeigt, dass man wohl nach Russland hineinkommt, aber dann – je tiefer man vordringt, desto schwieriger wird es, bis sich eines Tages das Blatt wendet.«
»Der Führer dürfte anderer Ansicht sein«, warf Hohberg ein.
Leutnant Heise blickte ihn prüfend aus seinen großen, jungen Augen an, als wollte er ergründen, wie die Bemerkung gemeint war. Es war schon so: Vielen Gesprächen jener Zeit haftete etwas Gekünsteltes an. Nur in den allerseltensten Fällen wagte man zu sagen, was man wirklich dachte – nicht aus Furcht vor Denunziation, oder vielleicht doch, obwohl es undenkbar war, dass ein junger Mensch wie Heise einen Kameraden bespitzelte.
»Ja, ja«, murmelte Hohberg schließlich, »Sie werden schon recht haben. Wir müssen vertrauen und uns das selbstständige Denken abgewöhnen – vor allem wohl dann, wenn es mal einen Rückschlag geben sollte. Bisher ist ja alles wie geschmiert gelaufen, nicht wahr?«
Heise reichte Hohberg sein geöffnetes Zigarettenetui und gab ihm und sich Feuer. Schweigend gingen sie zum Sammelplatz zurück, wo die Vorbereitungen zum Abmarsch schon beinahe beendet waren.
Heise begab sich zu seinem Wagen, den er als B-Offizier mit einem Funker teilte, während Hohberg zu den Kanonieren ging, die ihr Gepäck auf die Zugmaschinen verluden, an die schon die sechs Tonnen schweren 15-cm-Haubitzen angekuppelt waren. Auf den drei Bankreihen hatten die acht Mann der Geschützbedienung, der Geschützführer und der Fahrer ihre Plätze. Im Ladekasten befand sich ein Satz der fast zentnerschweren, in Körben geschützten Granaten mit den dazugehörigen Kartuschen. Auf dem Kasten waren die als Unterlage für die Geschützräder bestimmten Rohrmatten verladen.
»Ist es wahr, dass die Russen morgen früh angreifen, Herr Leutnant?«, fragte einer von der Bedienung des dritten Geschützes.
Sie wussten demnach noch nichts.
Mehrere Kanoniere kamen neugierig heran. Ihre Blicke waren gespannt auf Leutnant Hohberg gerichtet. Er hatte als Wachtmeister die Geschützstaffel geführt. Die Kanoniere schätzten ihn, weil sie ihn für gerecht und anständig hielten.
»Wartet doch ab!«, sagte er ausweichend. »Der Chef wird schon bekannt geben, was los ist.«
Er ging weiter zu den hinter den vier Geschützen aufgestellten Munitions-Lkws. Winkowski, einer der Fahrer, war gerade dabei, den Tank seines Wagens aufzufüllen.
»Ist es auch kein Waffenöl?«, fragte Hohberg. Vor langer Zeit, damals, auf der Fahrt zur polnischen Grenze, hatte Winkowski versehentlich Waffenöl in den Tank geschüttet, was einen unliebsamen Aufenthalt und für den Fahrer zwei Strafwachen zur Folge gehabt hatte.
»Diesmal nicht«, gab Winkowski grinsend zurück. »Inzwischen sind wir schlauer geworden, wenn auch vielleicht immer noch nicht schlau genug.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Hohberg.
»Ach, nur so, Herr Leutnant.«
Als Hohberg außer Hörweite war, stieß Winkowski den Gefreiten Köhler, seinen Beifahrer, an.
»Merkst du was? Lausige Zeiten stehen bevor. Wenn die Herren Offiziere sich beim Landser anbiedern, geht’s demnächst rund.«
»Hast du was gegen Hohberg?«, fragte Köhler. »Mit dem sind wir doch immer gut klargekommen. Kann mir nicht denken, dass er jetzt als Leutnant anders wird.«
Winkowski brummte etwas Unverständliches. Er war ein zuverlässiger Fahrer. Im Frankreichfeldzug hatte er sich mehrmals ausgezeichnet. Aber er legte auch ein gewisses Maß an Aufsässigkeit an den Tag, vielleicht weil er glaubte, bei der Ordensverteilung übergangen worden zu sein.
Leutnant Hohberg war unterdessen mit Wachtmeister Binder zusammengetroffen, seinem bisherigen Zeltkameraden, der erst vor Kurzem zur Batterie gekommen war. Binder war nun zum Geschützstaffelführer aufgerückt.
»Es geht also doch gegen Russland«, sagte er.
»Ja, es sieht so aus«, erwiderte Hohberg reserviert und fragte sich, ob er es weiter beim bisherigen »Du« belassen sollte. Irgendwie peinlich war es schon, in eine andere Kategorie aufzusteigen. Aber es würde sich ergeben. In einem Feldzug verwischten sich ohnehin die Unterschiede. Und der Feldzug, der nun bevorstand, würde kein Spaziergang werden.
»Batterie antreten!«
Auf dem Appellplatz formierte sich die Batterie. Vor der Doppellinie der Mannschaft versammelten sich die Wachtmeister und Unteroffiziere. Vor ihnen, am rechten Flügel, stand Leutnant Hohberg und hob zum ersten Mal die Hand zur Feldmütze, als Leutnant Heise beim Herankommen des Chefs die Blickwendung befahl. Wann, fragte er sich, wird die Batterie das nächste Mal geschlossen zum Appell antreten?
Hauptmann Kern hielt in der Linken ein bedrucktes Blatt. Sein kantiges Gesicht war von tiefem Ernst überschattet.
»Ich verlese jetzt einen Aufruf des Führers«, rief er mit fremd klingender schneidender Stimme. Nach einer längeren Pause begann er: »Von ernsten Sorgen bedrückt, wende ich mich an euch, meine Soldaten der Ostfront …« Es war die Begründung für den Angriffsbefehl gegen die Sowjetunion. Hitlers Tagesbefehl endete mit den Worten: »Deutsche Soldaten! Damit tretet ihr in einen harten und verantwortungsschweren Kampf ein. Denn das Schicksal Europas, die Zukunft des Deutschen Reiches, das Dasein unseres Volkes liegen nunmehr allein in eurer Hand. Möge uns allen in diesem Kampf der Herrgott helfen!«
Ein dreifaches »Sieg-Heil«, dann begab sich alles zu den Fahrzeugen. Die Motoren sprangen an. Die Kolonne setzte sich in Bewegung – zum Marsch in eine ungewisse, bedrohliche Zukunft. Jeder spürte es. Das späte Sonnenlicht schien verdunkelt. Und wehte nicht ein kalter Wind durch die sommerliche Wärme des Juniabends?
Die Abendröte verglomm am Himmel über den polnischen Wäldern. Um sieben Uhr waren die vier Geschütze der Batterie Kern in die erste Feuerstellung des Ostfeldzuges eingefahren. Mit nur geringem Abstand voneinander standen die Haubitzen auf dem sandigen Boden eines weiten Kahlschlages, der von hohen Kiefern umgeben war. Die hochgekurbelten Rohre wiesen nach Süden, denn hier, in der Region zwischen dem San und dem polnischen Bug, die beide der Weichsel zuströmten, verlief die Grenze in einem Knick von West nach Ost.
Rauchend und den mit Rum angereicherten Tee schlürfend, der vor Kurzem von der Feldküche nach vorn gebracht worden war, hockten die Kanoniere bei den Geschützen und blickten den Infanteristen nach, die in endlosen Reihen an der Stellung vorbeizogen. Schweigend trotteten die grauen Gestalten unter der Last ihrer Ausrüstung durch den Sand. Die meisten hatten den Stahlhelm ans Koppel gehängt. Seitengewehr, Spaten, Patronentaschen, Brotbeutel und Stielhandgranaten lasteten schwer am Koppel. Wie Jäger trugen viele die Karabiner am Riemen. Die MG-Schützen hatten ihre Spritzen mit den durchlöcherten Kühlmänteln auf der Schulter. Auf der Brust kreuzten sich die mit messinggelben Patronen gespickten Gurte. Jede Kompanie führte einen leichten Granatwerfer und eine großkalibrige lange Panzerbüchse mit.
Ein Leutnant mit schweißverklebtem und vom Stahlhelm zerdrücktem blondem Haar blieb stehen, musterte die Geschütze, wandte sich ab und folgte wortlos seinen Männern.
Hohberg war im Wagen nach vorn zur B-Stelle gefahren. Von der mit Buschwerk bewachsenen Anhöhe aus bot sich ein weiter Blick auf sanft gewelltes Wald- und Wiesenland, das unter den Schatten der Abenddämmerung versank. Der Batteriechef hatte die Ziele jenseits der Grenze bestimmt. Hohberg erfuhr, dass die gesamte Artillerie der Division auf verhältnismäßig geringer Breite aufgefahren war und im Morgengrauen mit einem gewaltigen Feuerschlag den Angriff eröffnen sollte, sofern nicht Gegenorder käme.
»Gegenorder?«, fragte Hohberg den Chef. »Kann sich denn da noch etwas ändern?«
Hauptmann Kern schüttelte den Kopf. »Nicht so, wie Sie vielleicht meinen, Hohberg. Der Angriff ist befohlen. Aber man hält es für möglich, dass drüben nichts liegt. Jedenfalls nicht in Grenznähe. Leutnant Heise ist mit dem Funker vorn bei den Sturmpionieren. Von ihm werden wir aus erster Hand erfahren, wie es aussieht.«
Hohberg meldete sich ab. Sein Fahrer, der Gefreite Anschütz, wartete beim Wagen. Er hatte bisher Oberleutnant Richert gefahren, der sich seit Anfang Juni auf einem Lehrgang in Frankreich befand.
»Wie schaut’s denn bei den Russen aus?«, fragte er den Leutnant, der erst seit ein paar Stunden die neuen Schulterstücke trug.
»Alles ruhig, nichts zu sehen«, antwortete Hohberg. War diese völlige Stille auf der anderen Seite der Grenze nicht sonderbar?
Der Gefreite Anschütz schien es von einem anderen Gesichtspunkt aus zu betrachten. »Um so besser«, meinte er, »wenn die Russen nichts haben, kann der ganze Rummel ja nicht lange dauern.«
Hohberg widersprach nicht. Es würde sich zeigen. Immerhin schien festzustehen, dass es drüben keinen Aufmarsch gab. Hatte der Chef nicht die Möglichkeit angedeutet, dass die Grenze überhaupt nicht besetzt war? Demnach war der eigene Angriff ein Überfall auf einen nichtsahnenden Gegner. Aber hatte es sich am 1. September 1939 gegen Polen anders abgespielt? Eine regelrechte Kriegserklärung war auch da nicht vorhergegangen.
Sie fuhren zurück. Als sie die Feuerstellung erreichten, war es dunkel geworden. Die Kanoniere kauerten bei den Geschützen und unterhielten sich mit leisem Gemurmel, als fürchteten sie, ein lautes Wort könnte dem Feind ihre Anwesenheit verraten – dem Feind, der zu dieser Stunde nicht ahnte, was frühmorgens um drei Uhr fünfzehn über ihn hereinbrechen würde.
An Schlaf dachte niemand in dieser Nacht. Unerträglich empfand man die Stille, die höchstens von flüchtigem Geraschel oder vom Ruf eines Nachtvogels unterbrochen wurde.
Um Mitternacht klingelte schrill der Fernsprecher. Hohberg nahm ab. Von der B-Stelle, zu der vom Nachrichtenzug eine Leitung gelegt worden war, kamen die Werte für den ersten Feuerbefehl durch. Also doch keine Gegenorder.
Die Zeiger der Uhr rückten vor. Der 22. Juni 1941 war angebrochen.
Um zwei Uhr rief der Chef erneut an.
»Drüben ist alles unverändert«, sagte er. »Kann noch nicht sagen, ob sich ›Weinrebe‹ erübrigt.«
»Weinrebe« war der Tarncode für den beabsichtigten Feuerschlag, mit dem die Artillerie den Sturmpionieren und der Infanterie den Sprung durchs Niemandsland erleichtern sollte.
Alle warteten, aufs Äußerste gespannt. Im Osten breitete sich ein Schimmer fahler Helligkeit am Himmel aus. Flackernd verblassten die Sterne. Die Stille, die über dem Grenzgebiet lag, war so vollkommen, als hielte sogar die Natur den Atem an. Kein Lufthauch regte sich. Farblos dehnte sich das wellige Land mit seinen Wiesen und schattendunklen Wäldern im ungewissen, sacht sich aufhellenden Schein der Dämmerung.
Zwei Uhr dreißig. Vom Tross brachten Essensträger kalte Verpflegung und heißen Kaffee. Es war echter Bohnenkaffee, vom »Spieß« seit Frankreich für besondere Gelegenheiten gehortet. Eine solche Gelegenheit war dieser Morgen, an dem der Feldzug gegen Russland beginnen sollte.
Mit schräg nach oben gerichteten Rohren standen die vier Geschütze der Batterie bereit. Die Erdsporen mit ihren scharfen Schneiden, die tief in den Boden gerammt waren, sicherten die gespreizten Holme gegen die Wucht des Rückstoßes. Hinter jedem Geschütz waren Granaten in ihren Körben aufgeschichtet. Daneben stapelten sich die Kartuschkästen. Die Kanoniere tappten unruhig umher. Kein Wort wurde gesprochen, als schnüre die Erregung allen die Kehle zu.
Drei Uhr. Der Funker hockte vor seinem Gerät, die Kopfhörer aufgestülpt. Der Fernsprecher hielt die Hand griffbereit über dem Feldtelefon.
Unbemerkt war es auf einmal Tag geworden. Fast schmerzhaft war die immer noch anhaltende Stille. Alle lauschten gespannt. Nichts regte sich. Der Feind schien zu schlafen. Der Feind! Tags zuvor zur gleichen Stunde hatte noch niemand daran gedacht, die Russen Feinde zu nennen.
Drei Uhr zehn. Kein Gegenbefehl war gekommen. Fast erleichtert rief Leutnant Hohberg mit vollem Stimmaufwand, ohne vom Megafon, der Flüstertüte, Gebrauch zu machen: »Ganze Batterie! Vierte Ladung Aufschlag …« Es folgten die Werte für die Zieleinrichtung und die Rohrerhöhung. Und dann: »Feuerbereitschaft melden!«
Die Geschützführer beorderten die Kanoniere und Munitionskanoniere an ihre Plätze und riefen fast gleichzeitig Wachtmeister Binder die Meldung zu.
Gelassen trat Binder vor Leutnant Hohberg.
»Batterie feuerbereit.«
Hohberg blickte auf seine Uhr. Jetzt hob er das Megafon.
»Batterie Feuer!«
Sekunden später brüllte der Donner der Abschüsse auf. Auch zur Linken und zur Rechten hallte es krachend wie überlautes Echo.
Das Feldtelefon schrillte, während fern die Detonationen der Granateinschläge rumpelten. Der Gefreite mit dem gelben Blitz am Ärmel riss den Handapparat hoch. Dann rief er: »Befehl von B-Stelle: Feuer einstellen! Fertig machen zum Stellungswechsel!«
Vorn, im Niemandsland, erhoben sich die Sturmpioniere aus dem taunassen Gras. Während sich der Pulverqualm des kurzen Feuerschlages verflüchtigte, schlichen sie geduckt zum Drahthindernis, durchschnitten mit ihren Scheren den Stacheldraht und huschten weiter, jetzt schon in Feindesland. Leutnant Heise und der Funker, der das Tornistergerät trug, begleiteten die erste Welle.
Aus einem Wäldchen und einem in einer Mulde halb versteckten Dorf peitschten vereinzelte Schüsse.
Nun trat auch die Infanterie auf der ganzen Front zum Angriff an. Keilförmig folgten die Kompanien den zügig vorgehenden Sturmpionieren.
Das Abwehrfeuer verstärkte sich. Aber es waren ungezielte, wie in höchster Verwirrung abgegebene Schüsse. Zu sehen jedoch war niemand.
Ohne auf Widerstand zu treffen, drangen die Pioniere in das kleine Dorf ein. Die Häuser waren verlassen. Offenbar hatte die russische Besatzung, wie drüben die deutsche, die polnischen Bewohner aus den grenznahen Dörfern vertrieben.
Aus einem einzeln stehenden Haus fielen plötzlich Schüsse. Pioniere umstellten es. Eine Handgranate flog durch ein geöffnetes Fenster. Die laut krachende Explosion riss ein Loch in die Hauswand. Die Tür sprang aus den Angeln. Durch Schwaden von Rauch und Qualm taumelten drei Gestalten in dunklen Uniformen mit erhobenen Händen ins Freie.
»Nix Soldat – nix Soldat!«, rief einer, der aus einer Kopfwunde blutete. Anscheinend waren es Grenzwächter, wie auch auf der deutschen Seite Zollbeamte die Grenze bewacht hatten. Wo aber war die Rote Armee? Weit im Osten schien sie sich allerdings zum Kampf zu stellen, denn dort steigerte sich das anhaltende Artilleriefeuer zu wütendem Trommeln.