Veronika Schröter

Messie-Welten

Das komplexe Störungsbild verstehen und behandeln

Klett-Cotta

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Leben Lernen 290

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Konzeptionsberatung der Autorin: Dr. Bettina Burchardt, www.bettina-burchardt.de

Gesetzt von Eberl & Kœsel Studio GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89183-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10858-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20352-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Vorwort

Frau Veronika Schröter beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Messie-Syndrom, lange bevor es in das Blickfeld von Medizin oder auch Medien geriet. Sie behandelte so eine große Anzahl verschiedenster Betroffener. Dabei entwickelte sie immer wieder ihre Behandlungsmethoden weiter, passte sie an die verschiedenen Verhältnisse ihrer Klienten an. Diese Entwicklungen fanden statt, obwohl das Messie-Syndrom nie als Diagnose in den gängigen Klassifikationssystemen gelistet war. Entsprechend konnten die Behandlungen und Hilfestellungen auch nicht innerhalb des Systems der Krankenversicherungen durchgeführt und finanziert werden. So wurde und wird eine Gruppe mit hohem Behandlungsbedarf von der Regelversorgung ausgeschlossen. Veronika Schröters Ziel ist es, zukünftig eine Behandlung des Messie-Syndroms als anerkannte Krankheit zu ermöglichen. Die Initiierung von empirischen Studien zum Messie-Syndrom ist deswegen auch ihr Verdienst.

In dem vorliegenden Buch spiegelt sich die jahrelange Erfahrung mit dem Messie-Syndrom wider. Frau Veronika Schröter schildert die Symptome und die Auswirkungen des Syndroms, gibt aber auch Anleitungen zur Therapie. Ich wünsche vielen Betroffenen dieses Buch als Ratgeber und vielen Behandlern dieses Buch als Begleiter in Therapie und Diagnostik dieses immer noch zu wenig berücksichtigten Syndroms.

Freiburg, im Dezember 2016

Prof. Dr. Dieter Ebert, Polyklinikleiter der Universität Freiburg

Einführung

Etwa 2,5 Millionen Messies gibt es in Deutschland. Das sind 2,5 Millionen Menschen, deren persönlicher Lebensraum mehr und mehr von all den Dingen überwuchert wird, die sie horten: von akkurat bis zur Zimmerdecke gestapeltem Altpapier bis zu Kubikmetern an Kleidung, teils neu und sogar noch unausgepackt. Das sind 2,5 Millionen Menschen, oft aus der Mittel- und Oberschicht unserer Gesellschaft, die ihre sozialen Kontakte im Extremfall bis auf null zurückfahren müssen, weil sie sich schämen, Besucher in ihre Wohnung zu lassen. Etliche dieser Betroffenen haben ein Umfeld, das sich um sie sorgt und hilflos mit ansehen muss, wie ihre Messie-Verwandten, -Freunde und -Bekannten wie in einer Abwärtsspirale immer weiter aus einem normalen Leben herausgezogen und isoliert werden.

Viele Messies kamen in den letzten Jahren in meine Praxis, verzweifelt und in tiefen Nöten. Auch Angehörige suchten mich auf, weil Bruder oder Schwester, Sohn oder Tochter, Mutter oder Vater, Freund oder Freundin sich nicht helfen lassen wollten/konnten – dies ist die zweite Gruppe von Menschen, die in Mitleidenschaft gezogen werden. Diese Angehörigen hatten selbst schon einen Leidensweg hinter sich. Wie oft hatten sie vor verschlossenen Türen gestanden! Wie oft stundenlange Gespräche geführt! Manche hatten in einer unglaublich anstrengenden Räumaktion die Wohnung ihrer Liebsten wieder auf Vordermann gebracht, und dann, nach wenigen Wochen, herrschte in der Wohnung dieselbe Situation wie zuvor. Alles war umsonst gewesen. Fassungslosigkeit und Ohnmacht brechen sich da Bahn, Not und Ratlosigkeit sind groß.

Und noch eine dritte Gruppe gibt es: Das sind die Fachkräfte, die von Berufs wegen mit Messies zu tun haben. In vielen Städten gebe ich Fortbildungen und Supervisionen und habe Hunderte von Fachkräften kennengelernt. Auch sie haben eine schwere Last zu tragen. Sie scheuen keine Anstrengung – und nichts, aber auch gar nichts bessert sich bei ihren Schützlingen auf Dauer. Wie können sie trotz dieser vielen Frustrationen weiterhin motiviert ihre Arbeit durchführen? Die vielen belastenden Konflikte mit den Ämtern und Organisationen, bei denen sie angestellt sind, kommen für sie noch dazu. Denn die Hilfsmaßnahmen, die von ihnen erwartet werden, lassen sich in der Regel überhaupt nicht wie geplant umsetzen.

Der Wunsch, mit dem ich konfrontiert werde, ist immer derselbe: schnell, schnell das Problem beseitigen! Die Messies möchten aus der Beschämung herauskommen, die Angehörigen wieder beruhigt schlafen können, und die Fachkräfte haben das dringende Bedürfnis, die Ursachen zu verstehen und gutes Handwerkszeug an die Hand zu bekommen, damit ihre Arbeit endlich wirksam wird.

Um unterstützen zu können, muss zunächst gründlich mit Missverständnissen aufgeräumt und Klarheit geschaffen werden. So wird zum Beispiel der Begriff »Messie« in der öffentlichen Wahrnehmung fast ausschließlich mit den Teilaspekten Vermüllung und Verwahrlosung verbunden. Medienberichte, die ausschließlich die skandalösen Aspekte in den Vordergrund stellen, sind nicht ganz unschuldig daran. Mein Herzensanliegen ist es, Verständnis dafür zu schaffen, dass das Messie-Syndrom unterschiedlichste Ausprägungen haben kann und dass es sich nicht allein um chaotische Zustände im Außen handelt, die man mit Organisationstalent in den Griff bekommen könnte. Die eigentlichen Probleme liegen viel tiefer. Das ist auch der Grund dafür, dass Hauruck-Aktionen keine Besserung bringen können. Es braucht viel Geduld von allen Seiten, bis sich die Betroffenen mit der Unterstützung ihres Umfeldes, aber letzten Endes doch aus eigener Kraft, von alten Verhaltensmustern lösen können.

Hier ist noch viel Arbeit zu leisten. Vor allem eine Verstehens- und Herzensarbeit, die eine tiefe Einsicht ermöglicht, die daraufhin in professionelles und erfolgreiches Handeln münden kann. Nur mit gegenseitiger Wertschätzung und Achtung lässt sich auf Dauer Abhilfe schaffen. Und nur ein Ansatz, der nicht das Symptom in den Vordergrund stellt, sondern den eigentlichen Beweggrund der Betroffenen dahinter aufspürt, kann der Schlüssel zu den vom Messie-Syndrom betroffenen Menschen sein.

Seit 15 Jahren befasse ich mich intensiv mit der Messie-Thematik, sei es in der Einzel- oder Gruppentherapie, in der Paararbeit oder auch in der Angehörigen- bzw. Wohnraumberatung. Zuvor hatte ich in ambulanten und stationären Einrichtungen für alte Menschen als Pflegekraft gearbeitet. Immer wieder hatte ich es dort mit Senioren zu tun, die Gegenstände in schier unglaublichem Maße sammelten und horteten. Anfangs machte ich es genauso wie meine Kollegen auch: Wenn Badetag war und das Zimmer von seinem Bewohner unbeaufsichtigt, dann ging ich mit blauen Säcken ausgerüstet durch die Wohnräume und sammelte ein, was nur hineinging. Ohnmächtig musste ich dann miterleben, dass sich die Schubladen und Schränke im Handumdrehen mehr als noch zuvor wieder füllten – und zu allem Unglück auch noch die Beziehung zu den betreuten Personen, die beim Anblick ihres aufgeräumten und gesäuberten Zimmers entsetzt gewesen waren, nachhaltig gestört war.

Später erkannte ich, dass Messies auch in anderen Teilen der Gesellschaft zu finden sind. Zum Beispiel versuchte ich, jungen Familien zu helfen, die in heillosen Zuständen lebten. Als pädagogisch ausgebildete Fachkraft lautete mein Auftrag, Ordnung in Familien mit mehreren Kindern herzustellen. Auch hier scheiterte ein Hilfeplan nach dem anderen. Je mehr Einsatz ich zeigte, desto mehr wurde meine Arbeit als Einmischung empfunden und desto stärker baute sich Widerstand auf.

Erst im Lauf vieler Jahre und nach vielen Frustrationen habe ich als Gestalttherapeutin zu einem Therapieansatz gefunden, der nicht das Symptom, sondern den Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Jede Begegnung, jedes Aha-Erlebnis hat mich die hohe Komplexität des Messie-Themas nur noch stärker spüren lassen. Gleichzeitig traf ich immer wieder auf ein enormes Informationsdefizit bei den direkt und indirekt Betroffenen, das oft quälende Umwege und nicht angemessene Lösungsansätze zur Folge hatte. Um mein Wissen weiterzugeben, begann ich, bundesweit in den verschiedensten sozialen Einrichtungen Fortbildungen zu veranstalten.

In den Jahren 2009 bis 2012 konnte ich darüber hinaus in einer Forschungsarbeit mit der Universität Freiburg weitere wichtige und überraschende Erkenntnisse sammeln. Meine Erfahrung, dass es Messies ganz unterschiedlicher Ausprägungen gibt, wurde nun endlich auch anhand wissenschaftlicher Kriterien bestätigt. Das ist auch deshalb so wichtig, weil es bisher keine differenzierten und klaren Unterscheidungen gab und Klienten deshalb fehlbehandelt wurden.

Nun erst, nach so vielen Jahren, wage ich ein Buch zu schreiben, das meine Erfahrungen und Erkenntnisse zusammenfasst. Auch wenn vieles noch erforscht werden muss und es gilt, viele lose Enden noch zu verknüpfen, soll dieses Buch doch die wichtigsten Fragen nach den möglichen Symptomen und den jeweiligen Ursachen beantworten und vor allem den direkt und den indirekt Betroffenen wieder Mut machen, dass das Messie-Syndrom keine Endstation ist.

Ich wünsche mir nichts mehr, als dass sich dem Leser mit diesem Buch ein tiefes Verständnis des unglaublich bunten und vielschichtigen Syndroms erschließt und damit eine Wertschätzung und Würdigung der Messies Raum bekommt, die Lösungswege sichtbar macht und unnötige Leiden verhindert.

Kapitel 1

Definition und Symptomatik des Messie-Syndroms

»Mess« bedeutet im Englischen Chaos, Unordnung. Das Wort »Messie« scheint demnach für Menschen, die in den Augen ihres Umfeldes in einem heillosen Durcheinander leben, eine treffende Bezeichnung zu sein. Weil der Begriff »Messie« sich im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hat, werde auch ich in diesem Buch von »Messie-Syndrom« sprechen, wenngleich medizinisch korrekte Bezeichnungen wie »compulsive hoarding« (das bedeutet »zwanghaftes Horten«) oder »Desorganisationssyndrom« dem Krankheitsbild zwar besser gerecht werden, aber selbst in der Fachliteratur immer seltener gebraucht werden.

Es war die Amerikanerin Sandra Felton, die die Begriffe »Messie« und »Messie-Syndrom« in den 80er-Jahren erstmals verwendete. Felton war Mathematiklehrerin, Mutter von drei Kindern – und selbst ein Messie. In ihrem Haushalt ging es drunter und drüber. »Ich stellte benutztes Geschirr eher in den Kühlschrank, als es abzuwaschen«, verriet sie 1981 dem People-Magazin. Sie berichtete auch darüber, dass sie jedes Stück Papier behielt, das ins Haus kam. So blieb wochenlang unbemerkt, dass das Abflussrohr an ihrer Spüle leckte, denn das Spülwasser wurde von Stapeln alten Zeitungspapiers aufgesogen. Bis sie den Schaden endlich entdeckte, war der Fußboden bereits irreparabel geschädigt.

Felton lebte auch in der ständigen Angst vor überraschendem Besuch, denn sie war sich sehr wohl im Klaren darüber, welchen Eindruck Gäste von ihrem Heim bekommen würden. Gleichzeitig gehörte es zu ihren Aufgaben als Frau eines Pastors, jederzeit anderen Menschen aus ihrer Gemeinde ihre Tür zu öffnen und ihnen beizustehen. Was für eine furchtbare Zwickmühle!

Auch innerhalb ihrer Familie gab es schwerwiegende Probleme. Die Beziehung zu ihrem Ehemann litt zunehmend, weil dieser die Zustände nicht mehr länger tolerieren konnte. Eine Scheidung kam nicht infrage, umso dringlicher wurden seine Appelle an sie. In der Beziehung zu ihren drei Kindern fühlte sich Felton ebenfalls unter Druck gesetzt, da sie ihnen aus Scham verboten hatte, Freunde mit nach Hause zu bringen. All das führte dazu, dass Sandra Felton keine Freiräume fand, ihre Rolle als Frau und Mutter ausleben zu können.

Sandra Felton, die in den 80er-Jahren den Begriff »Messie« einführte und die ersten Selbsthilfegruppen ins Leben rief, litt selbst unter dem Messie-Syndrom.

Der Leidensdruck für alle Beteiligten wurde immer größer. Sandra Felton wusste, dass sie das Chaos endlich in den Griff bekommen musste. Tatsächlich schaffte sie etwas, was nur wenige Menschen, die unter einem Messie-Syndrom leiden, aus eigener Kraft erreichen: Sie konnte eine neue häusliche Ordnung herstellen und diese auch halten. Indem sie ihrem Leben konsequent Struktur verlieh, gestaltete sie die Lebensumstände für sich und ihre Familie wieder erträglich. Als Mathematiklehrerin verfügte sie offensichtlich über eine besondere Fähigkeit des systematischen Denkens und Vorgehens. Ich vermute, dass es dieser Teil ihrer Persönlichkeit war, der ihr bei der Bewältigung der Messie-Thematik eine große Hilfe war.

Ihre Erfahrungen führten dazu, dass Felton die Selbsthilfegruppe »Messies Anonymous« gründete, in der sie aufgrund ihrer eigenen Beobachtungen und Erlebnisse anderen Betroffenen helfen konnte, die Schwierigkeiten anzugehen und zu bearbeiten. Es ist nicht zuletzt ihrer Arbeit zu verdanken, dass das compulsive hoarding seit den 80er-Jahren in Amerika als Krankheitsbild anerkannt ist.

Ebenfalls seit dieser Zeit ist bei uns in Deutschland das »Vermüllungssyndrom« als eigenständige Erkrankung etabliert. Geprägt wurde dieser Begriff vom deutschen Psychiater Peter Dettmering, dem damaligen Leiter des sozialpsychiatrischen Dienstes in Berlin.

»Messie« – »compulsive hoarding« – »Vermüllungssyndrom« – »Desorganisationssyndrom« … ich habe die Erfahrung gemacht, dass diese und weitere Begriffe, die das zwanghafte Sammeln und Horten beschreiben, im allgemeinen Sprachgebrauch recht wahllos auf die unterschiedlichsten Krankheitsbilder und Symptome angewendet werden. Dabei ist eine saubere Differenzierung zwingend notwendig. Denn wer einen Messie verstehen und ihn unterstützen möchte, der muss wissen, welche Ursachen welche Verhaltensweisen nach sich ziehen können. Nur so können auf Dauer schwerwiegende Behandlungsfehler vermieden werden.

1.1 Abgrenzung der Messie-Symptombilder

Bis heute ist das Messie-Thema von lückenhaften Kenntnissen und sogar von Falschaussagen geprägt. So wird zum Beispiel das Messie-Syndrom oft irrtümlicherweise mit dem Vermüllungs-Syndrom gleichgesetzt. Teilweise wird die Problematik auch aus Unkenntnis allein in prekär lebenden Gesellschaftsschichten verortet. Aber sitzt wirklich jeder Messie in einem Berg schlecht riechenden Mülls? Und ist jeder, der Dinge um sich anhäuft, auch verwahrlost und chaotisch?

Ein Fernsehsender trat auf mich mit dem Angebot zu, ich könne gegen ein großzügiges Honorar in einem der Sendeformate als Messie-Expertin auftreten. Ich war erstaunt, dass es Messies geben sollte, die Fernsehzuschauern Einblick in ihre private Wohnsituation geben wollten. Ich selbst kenne aus meiner Praxis fast nur solche, die aus einer großen Scham heraus die angesammelten Dinge um jeden Preis vor den Augen Außenstehender verbergen wollen.

Die Assistentin des Fernsehsenders »beruhigte« mich: »Ach, Frau Schröter, das ist doch gar kein Problem! Wir haben genügend Personen an der Hand, die uns für 500 Euro gerne ihre Wohnung zur Verfügung stellen. Den nötigen Müll besorgen wir uns dann von der Müllkippe.«

Ich lehnte das Angebot natürlich ab. Diesen Umgang mit Menschen – den Besitzern der Wohnungen, den »Messies«, die in den Sendungen bloßgestellt werden sollten, den Zuschauern und übrigens auch mit mir – empfand ich als ausgesprochen würdelos und für das Klientel beschämend.

So groß die Bandbreite der Ausprägungen bei Messies auch ist, gibt es doch Merkmale, die für alle Messies gelten:

Jenseits dieser Gemeinsamkeiten weist das Messie-Syndrom jedoch ganz unterschiedliche Ausprägungsformen auf. Solange die Bandbreite der Thematik und die vielfältigen Faktoren, die beim Messie-Syndrom von Bedeutung sind, für den einzelnen Betroffenen nicht erkannt und berücksichtigt werden, muss jeder Therapieversuch scheitern.

Durch eine wissenschaftliche Studie in Zusammenarbeit mit der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ( Kapitel 5) konnte ich eine Dreigliederung des Messie-Themenkomplexes nachweisen. Demnach lässt sich das Messie-Syndrom einteilen in:

  1. eine Wertbeimessungsstörung

  2. ein Vermüllungssyndrom

  3. ein Verwahrlosungssyndrom.

Abbildung 1: Die drei Ausprägungen des Messie-Syndroms

»Messie-Syndrom« ist der Überbegriff für alle drei Ausprägungen. Ein Messie kann also unter einer Wertbeimessungsstörung leiden, in einer vermüllten Wohnung leben oder verwahrlost sein. Es gibt gewisse Überschneidungen zwischen diesen drei Ausprägungen, vor allem bei Vermüllungs- und Verwahrlosungssyndrom. Doch die Ursachen für das entsprechende Messie-Verhalten und damit auch die zielführende Unterstützung der Betroffenen unterscheiden sich grundlegend.

Eine Unterscheidung der drei Ausprägungen des Messie-Syndroms vorzunehmen ist eine unverzichtbare Grundlage, um die Betroffenen zu verstehen und ihnen geeignete Lösungswege anzubieten.

1.1.1 Die Wertbeimessungsstörung

»Ich kann die Dinge nicht loslassen, weil ich glaube, dass ich sie irgendwann noch gebrauchen kann«, das ist die Aussage, die die Wahrnehmung eines Menschen mit Wertbeimessungsstörung wohl am besten beschreibt. Was ist die Basis für dieses Verhalten, das das Sammeln und Horten in den Mittelpunkt stellt, obwohl die Lebensqualität existenziell darunter leidet?

Im Gespräch mit einem Klienten, der hauptsächlich Papiere sammelte, entwickelte sich folgender Dialog:

»Der Begriff ›Sammeln und Horten‹ trifft es eigentlich gar nicht«, sagte er. »Das ist nicht das eigentliche Problem. Die Sache fängt schon davor an: Ich kann überhaupt nicht unterscheiden, was wichtig ist und was nicht. Deshalb kann ich auch keine Entscheidung treffen, was mit den Papieren geschehen soll, außer der, dass kein einziges Papier diese Wohnung verlassen darf.«

»Dann würden Sie sagen, dass die Papiere für Sie eine existenzielle Bedeutung haben und sie wegzugeben einen unerträglichen Verlust darstellen würde? Dass Sie den Dingen also nicht ihren sinnvollen Wert beimessen können?«, fragte ich.

»Ja. Das trifft es sehr gut.« Traurig schaute er sich in seiner Wohnung um und wies auf die vielen Stapel, zwischen denen wir kaum Platz gefunden hatten. »Wertbeimessungsstörung – genau das ist der Grund für das alles hier …«

Tatsächlich war es dieser Klient, der die Bezeichnung »Wertbeimessungsstörung« als Erster in meiner Praxis nannte. Ich erkannte, wie gut dieses Wort wiedergibt, wie die Betroffenen sich fühlen. Ein Nicht-Messie hat die Wahlmöglichkeit, ob er in seiner häuslichen Umgebung eine »normale« Unordnung zulassen oder Ordnung schaffen will. Messies mit Wertbeimessungsstörung haben diese Wahl hingegen nicht. Sie können nicht unterscheiden zwischen

Weil sie nicht unterscheiden können, können sie auch nicht entscheiden: Lieber horten sie die Dinge, als sich der Gefahr auszusetzen, etwas wegzugeben, was sie später schmerzlich vermissen könnten – wie unwahrscheinlich dies auch sein mag. Es bleibt ihnen also gar nichts anderes übrig, als allen Gegenständen einer bestimmten Kategorie einen existenziellen Wert beizumessen. Eine Alternative steht ihnen nicht zur Verfügung. Sie sind gezwungen, diese Dinge zu sammeln und aufzubewahren, auch wenn sie damit starke Einbußen an Lebensqualität in Kauf nehmen müssen.

Ein Mensch mit Wertbeimessungsstörung ist nicht in der Lage, autonom zu entscheiden, was er wirklich in der Wohnung haben möchte und was nicht. Aus diesem Grund kann er Dinge nicht bewusst loslassen.

Bei dem gesammelten Material handelt es sich in der Hauptsache um Papier in Form von Zeitungen, Prospekten, Katalogen, Büchern. Ein weiteres Sammelgebiet sind Behältnisse wie Flaschen und Joghurtbecher (»Da kann ich noch mal was reintun …«). Oft wird auch Kleidung gehortet – das kann Erwachsenenkleidung sein, aber auch Kinderkleidung, entweder die des eigenen Nachwuchses oder Kleidung, die der Messie selbst in seiner Jugendzeit getragen hat. Andere Messies betätigen sich als Schnäppchenjäger von Neuware, die dann meist noch in Originalverpackung gestapelt wird. Sie kaufen nicht, was sie wirklich brauchen, sondern was es gerade günstig gibt, und das in großen Mengen. Dinge, auf die sich ihr Sammeltrieb richtet, können auch CDs sein oder Puppen, Kinderbücher oder Spielsachen und vieles mehr. Erstaunlicherweise werden oft auch Ordnungssysteme aller Art gehortet ( siehe dort).

Der Sammeltrieb der Menschen mit Wertbeimessungsstörung führt dazu, dass ihr privater Lebensraum – manchmal nur ein Zimmer, manchmal die ganze Wohnung – mit Dingen vollgestellt ist. Sie sind umgeben von Bergen und Türmen, die sich in die Höhe und Breite erstrecken. Oft bleiben ihnen nur noch schmale Gänge, die kaum Bewegungsfreiheit lassen. Im Extremfall wird eine Wohnung sogar unbewohnbar, zum Beispiel weil der Weg zum Bad zugebaut wurde.

Ein Elternpaar, beide als Lehrer an einer Berufsschule tätig, kam zu mir, weil es seinen 11-jährigen Sohn als sehr aufsässig erlebte und es sich durch eine Therapie des Jungen eine Verbesserung des Familienlebens erhoffte.

Es wurde offenbar, dass die Familie zwei Wohnungen auf derselben Etage eines Mietshauses bewohnte. Die Wohnung der Mutter war so sehr mit Wäsche angefüllt, dass den einzelnen Zimmern keine Funktion mehr zugeordnet werden konnte. Wenn ich in einen Raum schaute, erkannte ich nicht, ob er ursprünglich mal die Küche oder ein Schlafzimmer gewesen war. Die Armaturen im Badezimmer waren nicht mehr sichtbar, geschweige denn zugänglich.

In der Wohnung des Mannes spiegelte sich dagegen eine auffallende Neigung zur Perfektion wider. Vor allem die Küche präsentierte sich in einem ungewöhnlich aufgeräumten Zustand. In der Wohnung des Mannes lebte die Familie tagsüber – zum Schlafen gingen sie in die andere Wohnung.

Als ich den Jungen fragte: »Wo schläfst du denn?«, kletterte er auf einen der vielen Kleidungsstapel, die fast bis zur Decke reichten, und sagte: »Hier schlafe ich.«

Alle Familienmitglieder legten sich abends auf irgendeinem der unzähligen weichen Stapel nieder; keiner von ihnen hatte dauerhaft eine eigene Ecke zum Schlafen. Morgens wechselten sie wieder in die Wohnung des Ehemanns, wo sie das Bad benutzen und frühstücken konnten.

Der erfolgreiche Messie mit Wertbeimessungsstörung

Entgegen der landläufigen Meinung sind Menschen mit Wertbeimessungsstörung keine »lebensuntüchtigen Chaoten«. Ich selbst kenne keinen einzigen Klienten, auf den diese Beschreibung zutreffen würde. Ganz im Gegenteil: Viele dieser Klienten sind wahre Lebenskünstler, sehr leistungsorientiert und mit hohen Ansprüchen an sich selbst. In ihrem Beruf sind sie oft extrem gut organisiert, zielstrebig, sogar penibel. Menschen mit einer Wertbeimessungsstörung funktionieren meist hervorragend im Leben außerhalb ihrer Wohnung, zeigen im Beruf Höchstleistungen und sind entsprechend erfolgreich. Oft höre ich von ihnen: »Ich bin in meiner Firma die/der Strukturierteste.«

Nur in ihrer Privatsphäre läuft es aus dem Ruder: Hier versagt ihre Entscheidungskraft und sie scheinen desorganisiert und chaotisch zu sein.

Klienten, die in meine Praxis kommen, haben oft ein Studium abgeschlossen, sie arbeiten unter anderem in Lehr- und Pflegeberufen, sind Ärzte, Pastoren, Wissenschaftler, Sozialpädagogen, Künstler usw. Sie verdienen gut und können es sich leisten, ihr Sammeln und Horten längere Zeit zu kaschieren, zum Beispiel indem sie in einer verhältnismäßig großen Wohnung leben oder auch eine Zweitwohnung bzw. Lagerräume anmieten.

Menschen mit Wertbeimessungsstörung sind oft erfolgreich im Beruf, bekleiden hohe Stellungen, sind in Ehrenämtern unersetzlich. Doch in ihrer privaten Sphäre werden sie von ihrer Unfähigkeit bestimmt, sich von Dingen trennen zu können.