Benjamin Read & Laura Trinder:
Mitternachtsstunde – Emily und die geheime Nachtpost
Seltsame Briefe um Mitternacht? Kaum flattert einer davon in Emilys Haus, verschwinden kurz darauf ihre Eltern. Klar, dass Emily der Sache nachgehen muss. Bewaffnet mit Igel Hoggins und ihrer großen Klappe macht sie sich auf die Suche – und stolpert in eine andere Welt. Gefangen in Nacht und Zeit tummeln sich auf Londons Straßen plötzlich Hexen, Kobolde und Dämonen! Zum Glück trifft Emily auf Tarquin. Der blumig duftende Nachtwächter-in-Ausbildung will ihr unbedingt helfen. Und Hilfe kann sie gebrauchen, denn jetzt liegt es an Emily, eine böse Macht aufzuhalten und ihre Eltern zu retten.
»Schlagfertiger Witz, großer Einfallsreichtum, und ein märchenhaft angehauchter und bildgewaltiger Stil summieren sich zu einem absoluten Hochgenuss – und obendrauf gibt es noch einen süßen Igel als blinden Passagier.« THE GUARDIAN
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– Benjamin Read –
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Zu Bett, Verliebte! Bald ist’s Geisterzeit.
– William Shakespeare –
Ein Sommernachtstraum
Akt 5, Szene 1
Die Viertelstundenglocke von Big Ben tönte über den Fluss bis nach Lambeth und riss Emily in ihrem Zimmer aus dem Schlaf.
Die Straßenlaternen tauchten den Raum in orangefarbenes Licht und ließen die drei schwarzen Glashasen funkeln, die sich an der Wand über dem Bett in einem endlosen Kreis hinterherjagten. Nicht nur Emilys Kissen war tränennass, sondern auch Feesh, ihr Kuschelkrokodil. Sie richtete sich auf, warf einen Blick auf die roten Zahlen ihres Weckers und stöhnte. Eine Viertelstunde vor Mitternacht. Sieben Stunden nachdem ihr Vater sie mit lebenslangem Zimmerarrest ins Bett geschickt hatte. Und sie starb vor Hunger.
Genervt ließ sie sich aufs Kissen zurückfallen und knuffelte den durchweichten Feesh (den sie natürlich nur ausnahmsweise im Bett hatte und keineswegs jeden Abend knuffelte). Wie zum Teufel hatte das wieder passieren können? Ein Monsterstreit mit Mum, wie so oft. Mum hatte einfach etwas an sich, das Emily in die Luft gehen ließ. Regelmäßig. Wie ein menschliches Feuerwerk. Achtung, Sicherung locker, bitte Abstand halten. Zisch, Knall, Plopp, Riesengetöse, Hausarrest. Es war so was von unfair! Außerdem war sie diesmal absolut im Recht gewesen. Billy Jenkins aus ihrer Klasse hatte nämlich beobachtet, wie sie ihrer Mum helfen musste, irgendein Zeug aus dem Abfallcontainer zu ziehen. Daraufhin hatte er überall herumposaunt, Emily lebte in einer Mülltonne. Als sie das mitbekam, hatte sie sich so dermaßen verkrampft, dass es einem medizinischen Wunder glich, dass sie sich überhaupt wieder entkrampfen konnte. Und alles nur wegen ihrer Mutter!
Der neuesten Beschwerde zufolge, die ihre Nachbarn beim Stadtrat eingereicht hatten, war ihre Mum eine »durchgeknallte irische Künstlerin, die rund um die Uhr Krach machte«. Emily stimmte den Nachbarn in allen Punkten zu, hätte allerdings noch ein »peinlich« zu der »durchgeknallten irischen Künstlerin« hinzugefügt. Würde ihre Mutter sie nicht ständig auf irgendwelche »Spezialmissionen« mitschleppen, um »wichtige Kunstmaterialien« aus Mülltonnen zu klauben, mit denen sich »originelle Skulpturen« herstellen ließen, dann wäre all das nicht passiert. Sie hätte sich in der Schule nicht in Grund und Boden schämen müssen, hätte nicht diese unglaubliche Wut angestaut und wäre nicht nach Hause gerannt, um ihrer Mutter um die Ohren zu hauen, wie peinlich sie ihre Aktionen fand: zum Beispiel einen Hummer aus dem Aquarium eines ultraschicken Restaurants zu retten. Als Pferd verkleidet in einen Bus zu steigen. Oder hinter die Büsche beim Sportplatz zu pinkeln, während Emily Sport hatte – um nur ein paar Highlights zu nennen. Emily hätte Mum nicht all die Dinge gesagt, die ihr rückblickend jetzt schon ein bisschen leidtaten. Und sie hätte sie nicht zum Weinen gebracht. Jedenfalls hatte ihr Dad Emily einen so krassen Zimmerarrest aufgebrummt, dass sie künftig wohl zu Hause unterrichtet werden musste.
Vielleicht hätte sie sogar zugegeben – wenn sie durch ein Wahrheitsserum oder so dazu gebracht worden wäre –, dass ihre große Klappe bei alledem nicht gerade hilfreich war. Ihre Mutter sprach gerne von der »Familienklappe«, als wäre es eine Erbkrankheit oder so. Wenn das stimmte, dann hatte die Krankheit Emily besonders heftig erwischt. Ihre Klappe machte sich nämlich einfach selbstständig, wenn sie sauer war oder sich schämte. Und Mum war nun mal ein Dauergrund zum Schämen. Deshalb hatte Emily sich auch nicht entschuldigt. Und deshalb durfte sie vor Weihnachten das Zimmer nicht verlassen.
Während sie so im Dunkeln lag, ließ ihre Wut etwas nach. Übrig blieb ein entsetzlicher Nachgeschmack. Konnte sie einfach hier liegen und nie wieder ein Wort mit Mum sprechen? Vielleicht könnte sie aus Protest ins Koma fallen? Allerdings hatte sie ziemlich Hunger. Streit war ein echter Energiefresser. Sollte sie kurz über den Kühlschrank herfallen?
FLAPP! Die Messingbriefkastenklappe unten in der Haustür schepperte. Verdammt, das durchkreuzte ihre Kühlschrankplünderpläne. Wer zum Teufel brachte ihnen mitten in der Nacht Post?
Jetzt quietschte das ungeölte Scharnier des Eingangstors. Emily setzte sich auf und spähte aus dem Fenster. Eine Gestalt verließ den Garten, so riesig und korpulent, dass sie nur seitwärts durch die Toröffnung passte – und auch nur knapp. Das Schwergewicht hielt einen kleinen schwarzen Regenschirm über sich, der sein Gesicht verdeckte. Emily presste ihre Nase gegen die Scheibe. Der Riese quetschte sich auf den Gehweg und ging davon, wobei er merkwürdig mit den Hüften schaukelte. Das alberne kleine Schirmchen hielt er immer noch über sich. Dabei regnete es gar nicht. Komischer Kauz.
Während Emily nach draußen starrte, drang ein vertrautes Geräusch zu ihr herauf: das leichte, metallische Drrring! einer Klingel. Jemand war aus dem Wohnzimmer gekommen und dabei gegen das Fahrrad im Flur gestoßen. Dort parkte Dad nämlich seinen großen, schwarzen Knochenrüttler von einem Drahtesel, mit dem er zur Arbeit ins Postamt fuhr. Es war völlig unmöglich, an dem Fahrrad vorbeizugehen, ohne die alte Blechklingel zum Bimmeln zu bringen. Und wieder klingelte es! Noch jemand ging in den Flur. Hilfe, was sollte sie sagen, falls Mum und Dad hochkamen, um ihr eine Standpauke zu halten?
Am besten schlafend stellen. Schnell brachte sie sich in eine eindeutige Schlaf-, wenn nicht sogar Koma-Position, und wartete. Sie hörte Gesprächsfetzen von unten, aber niemand kam die Treppe herauf. Eine geschlagene Minute harrte sie aus, dann kletterte sie aus dem Bett – was ihre Mum, die sie für extrem neugierig hielt, wieder einmal bestätigt hätte. Emily bahnte sich einen Weg durch den Hindernisparcours aus Büchern und Klamotten auf dem Boden und öffnete leise die Tür. Vorsichtig schlich sie auf den Treppenabsatz, wobei sie die knarzende Diele mied, schob ihren Kopf vor und spähte durch das Geländer nach unten.
Dad stand am Fuß der Treppe, vor der Haustür, Mum saß auf der untersten Stufe. Sie trug ihren langen dicken Mantel und schlüpfte gerade in die bunt angesprühten Armeestiefel, mit denen sie immer auf Müll-Tour ging. Dad blickte stirnrunzelnd zu ihr hinunter. In der einen Hand hielt er einen steifen cremefarbenen Briefbogen, in der anderen einen dicken ockerfarbenen Umschlag, auf dem zwei große schwarze, ziemlich altmodisch wirkende Briefmarken klebten. Das musste der Brief sein, den der Regenschirmriese eingeworfen hatte. Komischer Kauz hoch zwei.
»Aber das ergibt keinen Sinn, Maeve. Wer soll das Ding ausgetragen haben? Es ist noch vor Mitternacht, es kann also nicht mit der Nachtpost gekommen sein.« Mit steifem Finger tippte Dad auf den Umschlag. »Außerdem sind die Briefmarken nicht abgestempelt. Das entspricht nicht den Vorschriften.«
Mum blickte grinsend auf. »Aber das macht es doch gleich viel aufregender, oder?« Obwohl sie seit Emilys Geburt in London lebte, hatte sie nichts von ihrem rollenden, weichen irischen Akzent verloren.
Dads Stirnrunzeln vertiefte sich, als er laut vorlas:
»Ich bin gebeten worden, Dir zu schreiben, dass sich Patrick (aus Deiner Sippschaft) in todbringenden Schwierigkeiten befindet und um Deine sofortige Unterstützung bittet. Er beruft sich dabei auf den Treuekodex.«
Mum setzte ein Saure-Gurken-Gesicht auf.
»Todbringende Schwierigkeiten! Die ständige Sorge um Pat mit seinen ewigen Problemen hat Großtante Aoife ins Grab gebracht, das ist ein offenes Geheimnis.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber es hilft nichts, ich muss hinfahren und mir selbst ein Bild machen. Ich bin die Einzige, die aus dem Spinner schlau wird.«
»Aber wieso bittet er ausgerechnet dich rüberzukommen? Nein, wenn du mich fragst: Du solltest dich da raushalten. Der Mann ist …« Hilflos wedelte Dad mit den Händen, ihm fehlten die Worte.
»Familie ist Familie, da kann man nichts machen.« Mum zuckte mit den Achseln.
Emily spitzte die Ohren. Tratsch-Alarm, allerhöchste Warnstufe! Mum redete nie, nie über ihre Familie. Wirklich NIE. Wie oft hatte Emily sie nicht deswegen gelöchert! Aber alles, was sie je aus ihrer Mum herausbekommen hatte, war: »Sie haben sich nicht gut verstanden.« Und als sie nachgebohrt hatte, wie das gemeint sei, hatte Mum nur geschwiegen. Was absolut außergewöhnlich war, denn eigentlich redete sie pausenlos.
Dad hielt den Brief gegen das Licht und beäugte ihn skeptisch.
»Irgendetwas stimmt da nicht. Er ist anonym gekommen und mit der falschen Post. Und Pat …«, es klang so, als würde er den Namen ausspucken, »… Pat will dich nach all den Jahren plötzlich wiedersehen.«
Der Blick, den er Mum zuwarf, war einer seiner ernstesten, das sah Emily selbst auf diese Entfernung. »Bist du sicher, dass es nicht eher etwas mit ihr zu tun hat?«
Über wen zum Teufel sprachen sie? Emily wurde fast verrückt vor Neugierde.
»Ach Quatsch, es ist doch Jahre her, dass wir die alte Schabracke zuletzt gesehen haben«, sagte Mum, über die komplizierten Schnürsenkel ihrer fetten Stiefel gebeugt.
Okay, sie sprachen über jemanden, den sie nicht mochten. »Schabracke« war eins von Mums Lieblingsschimpfwörtern für die Nachbarin, mit der sie Kleinkrieg führte.
»Egal, es ist trotzdem höchst merkwürdig. Wir sollten einen Brief an die Nachtwache schicken, die Sache melden.«
»Oh, absolut, das sollten wir auf jeden Fall tun.«
»Und du schnürst dir trotzdem weiter die Stiefel?« Dad beobachtete sie mit verschränkten Armen.
»Jup.«
»Du machst keine Anstalten, eine Briefmarke zu holen?«
»Nein.«
»Verstehe. Warum kann ich mich nicht morgen Abend um die Sache kümmern, wenn ich zur Arbeit fahre?«
Mum sprang auf und schnappte sich den Brief. »Schatz, zieh bitte nicht so ein Gesicht. Wenn Pat in Schwierigkeiten steckt, dann sollte ich bei ihm sein. Und wenn es etwas anderes ist, dann müssen wir das auch wissen. Und …«
Mum verzog das Gesicht und blickte die Treppe hinauf. Blitzschnell zog Emily ihren Kopf zurück. Puh, das war knapp! Sie fühlte sich, als liefen Stromstöße durch ihren Körper.
»Ich könnte tatsächlich einen kleinen Ausflug gebrauchen …«
Dad stieß einen langen, gequälten Seufzer aus. »Das mag ja sein, aber du warst seit Emilys Geburt nicht mehr drüben. Und du darfst dich nicht von früheren …«
Emily schob sich wieder näher an das Geländer heran. Wo war ihre Mum nicht mehr gewesen? In Irland?
»Das ist es nicht allein. Manchmal vermisse ich mein altes Land. Und auch den Job.« Mum schniefte etwas, als sie den Reißverschluss ihres Mantels hochzog. »Sogar meine Sippe vermisse ich hin und wieder.«
Mum hatte einen Job? Wie sollte das denn funktionieren? Sie stand doch nie vor Mittag auf.
Dad schwieg, aber er drückte Mums Arm. Die wandte den Blick ab.
»Und hier bin ich sowieso gerade nicht erwünscht.«
»Das stimmt nicht, das weißt du ganz genau! Denk doch mal daran, wie du in ihrem Alter warst. An all die Geschichten, die du mir erzählt hast.«
»Ja, ich konnte eine ziemlich bissige Stute sein.« Das sonst so heitere Gesicht ihrer Mutter verdüsterte sich in einer Weise, wie Emily es noch nie gesehen hatte. »Ich bin einfach nicht für das hier gemacht. Ich passe hier nicht rein und mache alles falsch.«
»Das stimmt doch gar nicht. Außerdem gibt es da kein Richtig oder Falsch. Sie ist einfach in einem schwierigen Alter.«
Emily biss sich auf die Fingerknöchel, um nicht laut loszuschreien.
»Ich bin auch in einem schwierigen Alter«, sagte Mum. »Okay, ich finde jetzt mal kurz heraus, was mit diesem Idioten los ist. Bin ruckzuck wieder da.«
Dad, der ein ganzes Stück größer war als Mum, öffnete die Tür. Aber mitten in der Bewegung hielt er inne.
»Warte, was ist mit den Du-weißt-schon?« Er deutete auf ihr Dekolleté.
Häh? Unterhielten sie sich jetzt über Sport-BHs oder was?
»Ach, die haben es gut bei mir. Außerdem bin ich zurück, bevor mein Pferdeschwarz dreimal wackelt. Und ich kann sie ja wohl schlecht hierlassen, oder?«
»Hhhrrrm«, grummelte Dad.
»Pst.« Mum legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Ich bin bekannt dafür, unschnappbar zu sein.«
»Ich hab mir dich geschnappt«, murmelte er an ihrem schmuddeligen Finger vorbei.
»Ja, stimmt. Und jetzt hast du mich an der Backe. Komm her«, sagte Mum und drückte sich an Dad.
Knutschgeräusche drangen zu Emily hoch. Schnell zog sie ihren Kopf zurück. Igitt. Manches musste man nun wirklich nicht sehen. Eine halbe Minute verharrte sie so, um auf der sicheren Seite zu sein, dann streckte sie den Kopf wieder vor.
Sie waren fertig, Gott sei Dank! Mum duckte sich gerade unter Dads Arm hindurch und trat durch die Tür.
»Wenn ich mich beeile, schaffe ich’s vor dem Mitternachtsläuten bis zur Tür bei der alten Kirche.«
»Hast du deinen Schattenschlüssel? Und …?«
Mum warf Dad einen vernichtenden Blick zu. Sofort verstummte er und hob abwiegelnd die Arme.
»Nur weil ich mich aus dem Job zurückgezogen habe, heißt das noch lange nicht, dass ich bekloppt bin.« Dann trat sie in die Nacht hinaus, drehte sich aber noch einmal um. »Behalt den kleinen Horror im Blick, ja?«
Hrrmpf.
Dad nickte und dann war sie weg, ohne Tschüss zu sagen. Eine ganze Weile stand er in der offenen Tür und starrte in die Dunkelheit, in der sie verschwunden war. Emily beobachtete ihn, bis sie im kalten Luftzug zu frösteln begann. Sie kroch zurück ins Bett und kuschelte sich unter die Decke – genau in dem Moment, als die tiefen Glocken von Big Ben zu dröhnen begannen.
Mitternacht.
Der nächste Tag war ein Samstag und ein unwiderstehlicher Duft nach gebratenem Speck stieg die Treppe hoch. Emily schlich nach unten und drückte sich an dem verrückten Altmetall-Pferdekopf vorbei, den ihre Mutter auf einem Sockel im Flur installiert hatte. Gebratener Speck war natürlich toll. Aber was erwartete sie sonst noch? Dass sich Dad morgens in der Küche aufhielt, war ein schlechtes Zeichen – weil es selten vorkam. Als Briefzusteller machte er nämlich schon seit Ewigkeiten die Nachtschichten bei der Post und den Rest der Zeit verbrachte er im Schuppen, wo er mit seinem Kompost herumwerkelte. Offiziell hatte Emily ihn zuletzt gesehen, als er sie nach dem thermonuklearen Monsterstreit mit ihrer Mum lebenslang ins Bett geschickt hatte. Sie wappnete sich für eine neue Standpauke.
»Deine Mutter musste unerwartet verreisen. Eine Familienangelegenheit. Sie ist aber bald zurück und lässt dich grüßen.«
Hm, das war keine Standpauke. Und es entsprach auch nicht ganz dem, was sie letzte Nacht mitbekommen hatte. Aber das konnte sie ihm natürlich schlecht erzählen …
»Wir verlieren kein Wort mehr über den gestrigen Vorfall, aber ich möchte, dass du deiner Mutter etwas mehr Verständnis entgegenbringst, wenn sie wiederkommt.«
Emilys Lippen verzogen sich, ohne dass sie es gewollt hätte. Ein Signal, dass ihre Familienklappe gleich loslegen würde.
»Und im Gegenzug werde ich Mum bitten, dir gegenüber auch etwas verständnisvoller zu sein, okay? Ich weiß, dass sie manchmal … ein bisschen schwierig ist.«
Das lief ja viel besser als erwartet – gemessen an der Heftigkeit des Streits gestern. Da hatte Emily noch befürchtet, in eine Schornsteinfegerlehre oder so geschickt zu werden. Obwohl, ein bisschen verdächtig war es schon, wie locker sich Dad gab. Wie unkompliziert er den Krach beilegte. Was war mit Mum los, dass Dad so einfach über die Sache hinwegging?
»Ist … alles okay? Mit Mum, meine ich. Ich dachte, sie hat schon seit Ewigkeiten nicht mehr mit ihrer Familie gesprochen?«
»Es geht ihr gut. Das kam jetzt ein bisschen unerwartet, aber doch, ja, es ist alles gut.«
Er hatte zweimal »gut« gesagt und ihre Frage trotzdem nicht beantwortet. Und sein Lächeln wirkte auch ziemlich aufgesetzt. Emily hätte zu gerne nachgebohrt, aber wie sollte sie das machen, ohne zu verraten, dass sie mal wieder gelauscht hatte? Das letzte Mal, als Dad sie hinter einem Busch hockend entdeckt hatte, war er ziemlich ausgeflippt. Da hatte sie die Nachbarn belauscht, nachdem sie Die drei ??? gelesen hatte. Aber was blieb ihr anderes übrig, wenn man ihr immer Dinge vorenthielt?
Dad tischte die Speck-Sandwiches auf und verschwand hinter seiner riesigen Wochenendzeitung. Keine weiteren Fragen, hieß das. Aber Emily kannte dies schon. Dad war ein ziemlich schweigsamer Typ. Sein perfekter Tag war einer, an dem nichts passierte. Nichts außer ein bisschen Unkrautjäten und Teetrinken. Vielleicht musste man ihn sogar als krankhaft langweilig bezeichnen. Emily war es absolut schleierhaft, wie Dad an eine Frau wie Mum hatte geraten können. Aber vielleicht fand er es ja gerade erleichternd, jemanden an seiner Seite zu haben, der das Gequatsche für ihn übernahm. Seufzend versenkte sie ihren Speck in Ketchup.
Es machte sie ganz kribbelig, dass sie Familiendinge nicht ansprechen konnte. Die Geheimniskrämerei hatte sie schon immer zur Weißglut gebracht. Vielleicht war Mum ja auf der Flucht – weil sie wegen Verbrechen an der Mode gesucht wurde? Oder sie war in einem Zeugenschutzprogramm untergetaucht, wie manche Leute im Film. Das einzige Mal, dass Mum ein winziges Detail aus ihrer Kindheit verraten hatte, war letztes Weihnachten gewesen, als sie zu viel von dem starken Sherry-Nachtisch gegessen hatte. Da deutete sie an, dass ihre Familie sehr traditionell war und sich wegen bestimmter Entscheidungen, die sie getroffen hatte, von ihr distanzierte. Emily konnte das in gewisser Weise verstehen. Auch sie fand viele von Mums Entscheidungen bekloppt: dass sie Haus und Garten mit Schrott-Kunst vollstopfte. Dass sie regenbogenfarbene Haarsträhnen hatte. Dass sie in der U-Bahn ständig Fremde anquasselte und sich lautstark mit ihnen unterhielt. Aber trotzdem, musste man deshalb gleich den Kontakt abbrechen? Welche Familie machte denn so was? Das schien Emily dann doch ein bisschen hart.
Das ganze restliche Wochenende schlich die Zeit dahin wie eine Schnecke im Laufrad. Ein friedliches, Mum-freies Haus hätte eigentlich das reinste Paradies sein sollen, aber ohne sie war es auf einmal ziemlich leer und still. Es fehlte jemand, der die Räume mit Farbe und Lärm füllte. Es war nicht so, dass Emily sich plötzlich weniger für ihre Mum schämte oder weniger wütend war wegen des Müllcontainer-Vorfalls, überhaupt nicht. Es war nur einfach komisch, dass kein alter Plattenspieler Punk-Songs schröddelte und keine beißenden Sprühfarbendämpfe die Treppe hochwaberten. Es fehlte etwas. Die Abwesenheit von jemandem, der sonst immer so superpräsent war, fühlte sich an wie eine Zahnlücke.
Die Schule am Montag war katastrophal. Emilys Laune war so dermaßen mies, dass sie erst einmal Camilla beleidigte, indem sie sie mit einer sauertöpfischen Kuh verglich. Und dann redete für den Rest des Tages niemand mehr mit Emily. Wieder einmal. Sie hätte gerne mit ihrer Mum darüber gesprochen, denn in solchen Dingen kannte sie sich ganz gut aus, aber Mum war ja nicht zu Hause und ein Handy hatte sie auch nicht. Jedes Mal, wenn sie sich eins angeschafft hatte, war es explodiert oder anderweitig verendet, also hatte sie es am Ende aufgegeben.
Nach der Schule trottete Emily missmutig nach Hause. Dad war in der Küche und kochte das Abendessen. Als sie ihn fragte, ob er irgendetwas gehört hätte, schüttelte er nur den Kopf und rührte weiter in der Bolognese. Allerdings vergaß er, sein künstliches Lächeln dabei aufzusetzen.
Und so verlief die ganze Woche. Jeden Tag, an dem sie nach Hause kam und Mum nicht da war, wurde Dad grauer und stiller. Und da er außer Spaghetti nichts kochen konnte, gab es jeden Abend Nudeln mit Traurigkeit. Keine Mum, die über irgendwelche tollen Müllfunde kicherte oder durch die Küche tanzte oder nervige Fragen stellte. Wer hätte gedacht, dass Emily das jemals vermissen würde? Jetzt waren nur noch sie und ihr Dad da und eine Riesenmenge Schweigen zwischen ihnen. Jeden Abend stahl sie sich mit der Entschuldigung vom Essenstisch, sie müsse noch »Hausaufgaben« machen, und sie war sich sicher, dass er genauso erleichtert über ihren Abgang war wie sie selbst.
Aber über was sollte sie auch mit ihm reden? Als sie klein war, hatte er sie »Schnüffelchen« genannt, weil sie ihm die ganze Zeit wie ein neugieriger kleiner Hund hinterhergelaufen war und ihm Löcher in den Bauch fragte. Dann hatte sie ihn zum Spaß angebellt und ihre Mutter hatte gelacht. Aber das war lange her und jetzt, ohne ihre laute, überpräsente, farbenfrohe Mum, fielen ihr schlicht keine Worte ein, mit denen sie ein Gespräch hätte beginnen können.
Seit Mum weg war, war Dad nicht mehr bei der Arbeit gewesen. Keiner von ihnen sprach es an, aber er blieb bestimmt nur deshalb zu Hause, weil er sicherstellen wollte, dass es Emily gut ging. Gesprächsthemen kamen auch in den folgenden Tagen nicht auf, dafür aber wieder alte Gewohnheiten. Zwar lief Emily ihrem Dad nicht mehr hinterher wie früher (das wäre ja noch schöner!), aber sie las ihr Buch jetzt im Wohnzimmer, während er Kreuzworträtsel löste, und sie hätte sich wahrscheinlich auch mit einem Comic auf den Rasen gelegt, wenn er sich an seinem Komposthaufen zu schaffen gemacht hätte. Er war genauso still wie immer und sie waren beide keine Kuscheltypen, doch jetzt, in diesem Mum-losen Schwebezustand, berührte er sie plötzlich am Arm, wenn sie an ihm vorbeiging. Wie um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Es war nur eine kleine Geste, aber trotzdem blieb ihr Arm noch eine ganze Weile warm an der Stelle, wo seine Hand gelegen hatte.
Sonntagnacht, nach einem leeren, entmutigenden Wochenende, strampelte Emily ihre Decke ab und warf sie entnervt aus dem Bett. Sie landete auf einem Stapel Bücher, die sie allesamt während der Woche angefangen und wieder aufgehört hatte. Die Magie des Lesens, die sie bislang immer gepackt hatte, wollte sich einfach nicht einstellen. Sie wippte auf ihrem Bett herum und drückte Feesh an sich. Aber auch ihr Kuschelkrokodil konnte nichts gegen die zunehmende Kälte ausrichten, die übrigens nichts mit der kaputten Heizung zu tun hatte. Über Emily an der Wand drehte sich das pizzatellergroße Rad der »Daninchen« – die mobile Skulptur mit den drei schwarzen Glashasen. Sie liefen in einem endlosen Fangspiel hintereinander her. Die Nase des einen berührte das Schwänzchen des anderen, ihre Läufe ragten aus dem Kreis heraus, drei Ohren zeigten nach innen, wie die Speichen eines Rades. Eine geschickte Illusion, die es aussehen ließ, als hätte jeder Hase tatsächlich zwei Ohren, wie es sein sollte. Emily nannte sie Daninchen, weil sie als Kleinkind das »K« wie »D« ausgesprochen hatte. Obwohl ihre Mutter immer wieder darauf hinwies, dass es keine Kaninchen, sondern Hasen waren (und sie musste es wissen, schließlich hatte sie sie gebaut), hatte Emily sie beharrlich »Daninchen« genannt. Offenbar war sie schon damals »schwierig« gewesen. Ihre arme Mum … Ihre Mum, die schon viel zu lange weg war. Vielleicht (wahrscheinlich) war es alles Emilys Schuld. Vielleicht (wahrscheinlich) hatte sie ihre Mutter mit ihrer großen Klappe vertrieben. Wenn Mum morgen nicht zurückkam, würde sie Dad in einer Ecke seines Schuppens festhalten und ihn zwingen, die Wahrheit zu erzählen. Ja, das würde sie. Allerdings hatte sie sich das gestern auch schon vorgenommen.
Um Mitternacht tönte das Glockenspiel von Big Ben herüber. Eins, zwei, drei, vier. Emily flüsterte die Worte der alten Inschrift im Glockenraum, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte:
»In dieser Stunde
Herr, sei mein Begleiter
Und durch deine Kraft
Soll kein Fuß ausgleiten.«
Als kurz darauf der erste der zwölf tiefen Schläge erklang, schepperte unten die Briefkastenklappe. Und dann klatschte etwas auf die Fußmatte. Augenblicklich saß Emily senkrecht im Bett und zerrte die Gardine zurück. Eine schlanke, schwarz gekleidete Gestalt auf einem Fahrrad schoss aus dem Lichtkreis der Straßenlaterne in die Dunkelheit, schneller als jeder Radfahrer, den sie in ihrem Leben gesehen hatte. War das ein E-Bike oder was? Wie versteinert saß sie auf der Bettkante. Schon wieder hatte ihnen jemand spätnachts etwas zugestellt, genau wie in der Nacht, als Mum verschwunden war.
Eine Sekunde später war sie aus dem Bett, sprang über die Bücherstapel und rannte die Treppe hinunter.
Unten im Flur stieß sie mit Dad zusammen, der von der anderen Seite angerannt kam. Wer hätte gedacht, dass er sich so flink bewegen konnte? Er legte ihr einen Arm um die Schulter. Auf der Fußmatte lag ein großer brauner Umschlag aus dickem Wachspapier. Dad hob ihn auf. In der oberen Ecke klebten zwei schwarze Briefmarken, die gleichen wie auf dem ersten Umschlag, abgestempelt in blutroter Farbe. Ein Totenkopf war auf den Marken abgebildet. Vorne auf dem Umschlag standen in großer, schiefer Krakelschrift Emilys Name und ihre Adresse.
»Das ist ja …«, staunte Dad.
»Mums Schrift«, beendete Emily seinen Satz.
Dad beäugte den Umschlag eine ganze Weile, dann reichte er ihn ihr.
Er war schwerer als erwartet und das Papier war steif. Auf der Rückseite klebte ein rotes rundes Wachssiegel. Dad beobachtete seine Tochter und trat dabei nervös von einem Bein auf das andere. Emily schob einen Daumennagel unter die Brieflasche und hob sie an. Das Siegel zerbrach. Innen steckte ein gefaltetes Blatt Papier, dick wie ein Stofflappen. Ganz unten im Umschlag befand sich noch etwas, aber Emily wollte unbedingt erst den Brief lesen. Das Blatt war unverkennbar mit Mums altmodischer Schrift bekritzelt, die immer ein bisschen nach einer Horde besoffener Spinnen aussah.
Auch der Brief war typisch Mum: rätselhaft, ein bisschen bekloppt und mit zweifelhafter Rechtschreibung.
Halo Schazz,
tut mir leid, dass ich Wegmusste. Dinge sind im Gange.
Sag Dad, er hatte recht. Der Brief war absolut nicht von Pat. Unsere alte Freundin ist zurück!
Ich muss das erst klären, aber ich VERSPRECHE Dir, ich bin bald zurück. Ich weis nur noch nicht, wann.
Ich will, dass Du auf etwas aufpasst, solange ich weck bin. Du musst Versprechen, es die ganze Zeit zu tragen – als Glüxbringer.
Bin zu Hause, so schnell ich kann.
Kuss, Ma
PS: Sag Dad, er soll sich keine Sorgen machen. Er macht sich immer zu viele Sorgen.
PPS: Vergiss nicht, die kleinen Swinegel zu füttern.
Um jedem Missverständnis vorzubeugen, hatte sie noch einen Igel auf das Blatt gemalt, auf den ein Pfeil zeigte.
Emily drehte den Brief um, aber die Rückseite war leer.
Dad hatte über ihre Schulter mitgelesen. Jetzt rieb er sich das Gesicht. Er schien nachzudenken, seine Augen waren halb geschlossen.
»Ich mache mir so viele Sorgen, weil du so eine leichtsinnige Idiotin bist«, murmelte er in seinen Bart. »Es hilft nichts, ich muss jetzt auch rüber.«
Die ungestellten Fragen einer ganzen Woche blubberten in Emily hoch, wie heißes Magma kurz vor dem Vulkanausbruch.
»Dad? Was ist da los? Wovon redet Mum?«
Statt zu antworten, langte er mit versteinertem Gesicht nach dem Umschlag. »Kann ich den bitte haben?«
Emily hatte ihren Vater noch nie so ernst gesehen.
»Dad? Was …?«
Er nahm ihr den Umschlag ab und schüttelte ihn. Im Inneren klapperte etwas. Er drehte den Umschlag auf den Kopf und leerte ihn über seiner Handfläche. Etwas Glänzendes, Metallisches glitt heraus und Emily hätte schwören können, dass er seine Hand absichtlich wegzog. Klirrend fiel das Metallknäuel zu Boden.
»Ups«, sagte er. »Hebst du sie auf? Sind ja eh für dich.«
Ihre Finger erkannten die Münzen schneller als ihre Augen. Sie waren rau und glatt zugleich, kalt und doch merkwürdig warm, und als sie sie vom Boden aufhob, hingen alle zusammen. Es war Mums »Unglückspenny«-Halskette. Seit Emily denken konnte, hatte ihre Mutter diese Kette getragen. Jeden Tag, wirklich jeden. Es war eine einfache Silberkette, auf die ungefähr dreißig Münzen aufgezogen waren, alle mit einem durchstanzten Loch in der Mitte. In einer ihrer frühesten Kindheitserinnerungen griff Emily nach den Münzen, während sich ihre Mutter über sie beugte. Die Münzen hatten verschiedene Farben – Kupfer, Gold und Silber – und auf jeder waren Zahlen und Buchstaben einer anderen Sprache eingeprägt, alle gleich unverständlich. Mum hatte die Kette immer, wirklich immer getragen – wieso hatte sie sie auf einmal abgenommen und ihr geschickt? Wieso?
Ihr Vater hielt den Umschlag prüfend gegen das Licht.
»Ich wusste, dass da etwas faul ist! Ich wusste es! Aber hat sie auf mich gehört?« Er streckte eine Hand aus und berührte den Lenker seines Fahrrades. Ein verzweifelter Seufzer entfuhr ihm.
»Ich muss herausfinden, von wo der Brief abgeschickt wurde. Wenn ich doch nur jetzt noch reinkönnte, aber es ist schon nach Mitternacht und …«
Er verstummte, als er merkte, dass Emily ihn anstarrte.
»Rein? Wo hinein? Was meinst du damit? WO IST SIE?«
Seufzend rieb er sich das Kinn, ließ sich auf die Treppe plumpsen und bedeutete ihr, sich neben ihn zu setzen. Aber sie blieb stehen. Sie war ganz steif vor Sorge.
»Es tut mir leid, Schätzchen. Es ist … schwer zu erklären. Es hat alles mit dem früheren Leben und der Herkunft deiner Mutter zu tun.«
»Mit Irland?«
Er zögerte.
»Ja. In gewisser Weise. Mehr oder weniger.« Wieder seufzte er. »Tatsächlich ist ihre Familie gerade hier und …«
»WAS?! Ich dachte, Mum ist in Irland! Warum ist sie dann die ganze Woche nicht nach Hause gekommen?«
Emilys Augenwinkel wurden feucht. Da sie absolut keine Heulsuse war (die Nacht neulich zählte nicht), musste es sich um überschüssige Hirnflüssigkeit oder so handeln. Dad zog sie herunter auf die Stufen und legte den Arm um sie. Was dazu führte, dass noch mehr Hirnwasser austrat.
»Weißt du, deine Mutter hat ein sehr kompliziertes Verhältnis zu ihrer Familie und … dem Ort, wo sie herkommt …«
»Warum ruft sie nicht wenigstens mal an?«
»Sie haben … so gut wie keinen Empfang dort. Es ist ein sehr rückständiger Teil der Stadt.« Er wurde rot, als er das sagte. Er war wirklich ein erbärmlich schlechter Lügner.
»Es ist wegen mir, oder? Weil ich so furchtbar bin.« Das war es, was Emily schon seit Tagen durch den Kopf ging.
Dad drehte sie zu sich, sodass sie ihm direkt in die Augen schauen musste.
»Es hat nichts mit dir zu tun, Schnüffelchen, das verspreche ich dir. Und außerdem bist du nicht furchtbar. Fast nie.« Er lächelte, als er das sagte, und sie hätte fast zurückgelächelt. »Deine Mum … sie ist eben so, wie sie ist. Und nicht gerade gut im Vorausplanen, stimmt’s?«
»Aber was schreibt sie da?« Der Brief war ein einziges Rätsel für Emily, und wenn sie nicht bald Antworten bekam, würde sie explodieren, das spürte sie.
»Das Problem ist, dass ich so wahnsinnig viel erklären müsste … Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte …« Während Dad nachdachte, zwickte er sich in die Augenbraue. Längere Gespräche waren nicht gerade seine Stärke. »Schau, wir haben uns darauf verständigt, mit dir dieses Gespräch zu führen, wenn du alt genug bist, um das alles zu verstehen. Das jetzt hier ist ein bisschen aus dem Nichts gekommen …«
Oh Gott, sie hoffte inständig, dass es sich nicht um die Art von Gespräch handelte. Bitte nicht jetzt. Bitte nicht mit Dad. Sie würde vor Scham sterben.
»… und außerdem sollte deine Mum auch dabei sein. Es steht mir nicht zu, so über ihre Familienangelegenheiten zu sprechen. Das wäre nicht richtig.«
»Aber …«
»Bitte, hör mir einfach zu. Ich glaube, dass deine Mutter gerade etwas Gefähr… etwas Unkluges tut. Etwas Törichtes. Ich muss zu ihr und ein bisschen auf sie aufpassen.«
Jetzt war sein Gesicht wieder angespannt und ernst. Steckte ihre Mum in Schwierigkeiten?
»Sobald ich in der Nachtpo… in meinem Postamt bin, kann ich mit jemandem sprechen, der sich mit Briefen auskennt, und herausfinden, wo dieser hier abgeschickt wurde.«
»Und dann?«
»Dann finde ich Mum und bringe sie nach Hause zurück. Und wenn sie wieder hier ist, setzen wir uns zusammen und reden über alles, versprochen. Okay?«
Emily schniefte ein besonders lautes und widerliches Schniefen, dann nickte sie.
»Kannst du nicht jetzt gleich gehen? Es macht mir nichts aus, alleine zu sein.«
Dad verzog das Gesicht. »Kann ich nicht. Die Türen des Postamts sind nach Mitternacht geschlossen. Ich muss bis morgen warten.«
»Oh.«
»Keine Sorge, es eilt ja nicht. Ich mach uns mal eine heiße Schokolade und du solltest die kleinen Igel füttern gehen.«