Für all jene, die umherziehen
Ich hielt meine Hände über die Dracheneier, konzentrierte mich nur auf ihre indigoblauen Schalen und murmelte die Beschwörung. Die Luft begann zu wabern.
Ich kann das. Dieser Gedanke entsprang eher meiner Verzweiflung als irgendwelchem Selbstvertrauen. Meine Finger waren fast abgefroren, mir knurrte der Magen und vom stundenlangen Sitzen im Schneidersitz taten mir die Beine weh. Hinter mir ragte die Spitze des steilen Bergs Azmiri in den grauen Himmel. Die Wolken, die über sie hinwegzogen, sahen aus wie Spinnweben. Jenseits des schmalen Vorsprungs, auf dem ich hockte, fiel die Bergflanke so steil ab, als hätte sie jemand mit einer Axt abgeschlagen. Der Wald tief unten war in dichten Nebel gehüllt und es schaute nur hier und dort eine Baumkrone heraus wie ein Schiff auf einem Nebelmeer. Der Wind zerzauste meine Haare und fuhr mit seinen Eisfingern auch in den Kragen meiner chuba. Ich schauderte. Das matte Licht über den Eiern flackerte und erlosch dann ganz.
Chirri schlug mir auf den Hinterkopf. Vor Schreck ließ ich meinen Talisman fallen, eine Kette aus Rabenknochen. »Konzentrier dich gefälligst! Sonst wirst du es nie schaffen.«
»Ich schaffe es sowieso nicht«, murmelte ich.
Das brachte mir eine weitere Kopfnuss ein. Vielleicht glaubte sie, dass es besser klappen würde, wenn meine Gehirnzellen ordentlich durchgerüttelt wurden. »Das ist der einfachste Erweckungszauber, den ich dir bei deinem derzeitigen Ausbildungsstand beibringen kann. Versuch. Es. Noch mal.«
Ich machte ein Geräusch, das eine Mischung aus einem Seufzer und einem Knurren war. Der Weihrauch, der neben dem Nest mit den leblosen Eiern brannte, kitzelte in meiner Nase und ich presste die Lippen zusammen. Wenn ich nieste, würde Chirri mich zwingen, in ihre vollgestopfte, stickige Hütte zu gehen, in der es nach verbrannten Kräutern roch und in der nur grob gereinigte Tierschädel auf den Regalen lagen. Ich sprach ein lautloses Gebet zu den Geistern, schlang mir den Talisman um die Finger, schüttelte die Rabenknochen über den Eiern und begann erneut, die Beschwörung aufzusagen.
Kurze Zeit später konnte Chirri es nicht mehr ertragen. »Sprichst du die Worte richtig aus?«
»Ja, Chirri«, antwortete ich und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie gereizt ich war. »Ich spreche die Worte richtig aus. Ich konzentriere mich. Ich mache alles richtig und bin trotzdem ein vollkommen nutzloser Lehrling.«
»Mit deiner Bockigkeit vergeudest du nur Zeit, Kamzin.«
»Wir sitzen hier schon seit dem Morgengrauen«, fauchte ich und jetzt wurde ich richtig wütend. »Glaub mir, das Letzte, was ich will, ist noch mehr Zeit zu vergeuden.«
Die alte Frau lächelte, ihre vielen Falten wurden noch tiefer und ich verfluchte mich für meinen Ausbruch. Chirri war niemals verärgert, nicht wirklich – sie tat nur so, damit die anderen ihre Schwächen zeigten.
»Du wirst hierbleiben«, sagte sie genüsslich, »bis jedes Ei geschlüpft ist. Oder bis die Gletscher das Dorf einfrieren oder die Hexen auf der Suche nach menschlichen Seelen in die Berge zurückkehren.«
Mein Gesichtsausdruck brachte Chirri zum Grinsen. Sie erhob sich und zupfte betont gelassen ihre vielen Schals zurecht. Dann zog sie sich in ihre Hütte zurück, die weiter oben am Abhang auf einem noch gefährlicheren Vorsprung stand. Von dort aus konnte sie mich beobachten, bis ich tat, was man mir aufgetragen hatte.
Oder bis ich erfroren war.
Ich starrte die Eier wütend an, als wäre meine Unfähigkeit ihre Schuld. Mit einem missgelaunten Schnaufen streckte ich meine schmerzenden Beine und verschränkte sie dann wieder für einen neuen Versuch. Ein Schweißtropfen lief mir über den Nacken.
»Psst«, flüsterte jemand hinter mir. »Ist sie weg?«
Ich fuhr herum. »Tem!«
Es war unglaublich, aber der Kopf meines besten Freundes ragte tatsächlich über den Rand des Vorsprungs. Er musste von den Terrassen aus hochgeklettert sein und sich an dem verwitterten Granit festgekrallt haben.
»Äh – Kamzin?«, sagte er. »Kannst du mich hochziehen? Meine Finger sind taub.«
Ich stemmte den Fuß gegen einen Felsen und zerrte ihn auf den Vorsprung. Dort klappte er zusammen und schnappte nach Luft.
»Wie lange hingst du schon da unten?«
»Nur ungefähr seit deinem fünfzigsten Versuch«, stichelte er. Ich schlug nach ihm, aber er rollte sich lachend weg. Seine Wangen waren von der Kälte gerötet und die Haare, die ihm sonst immer ins Gesicht hingen, standen in alle Richtungen ab. Da musste auch ich lachen. Ich hatte mich noch nie so gefreut, ihn zu sehen.
»Du siehst aus wie ein Hahn«, sagte ich.
Er wurde rot und fuhr sich hastig durch die Haare, bis sie wieder sein halbes Gesicht verbargen.
»Beeil dich lieber«, sagte ich und warf einen Blick über die Schulter. Die Nebelschwaden stiegen an der Steilwand hoch und schienen mit ihren Eisfingern nach uns zu greifen. »Das Wetter hält nicht mehr lange.«
Er sah mich verständnislos an. »Wovon redest du?«
»Das weißt du doch – du musst mir bei den Eiern helfen.«
»Das kann ich nicht.« Er wurde blass. »Chirri wird es merken.«
»Wird sie nicht. Sie wird nicht mal wissen, dass du hier warst.«
Er warf einen Blick auf die Eier und sah dann wieder mich an. »Aber sie wird niemals glauben –«
Ich packte ihn an der Schulter. »Es ist mir egal, ob sie es glaubt oder nicht. Es muss nur endlich passieren, damit ich hier wegkann. Bitte, Tem. Ich werde noch verrückt.«
Wieder wanderte sein Blick erst auf das Gelege und dann zurück zu mir. Ich konnte sehen, wie er seine Angst vor Chirri gegen den Wunsch abwog, mir zu helfen. »Also gut«, sagte er schließlich. »Aber Chirri darf nie erfahren, dass ich so was kann. Und mein Vater auch nicht.«
Ich nickte. Tems Vater arbeitete für meinen eigenen Vater und kümmerte sich um unser Vieh. Er war ein missmutiger, reizbarer Kerl, der zu bockigen Yaks netter war als zu seinem Sohn. Tem sollte in seine Fußstapfen treten, und sein Vater wäre bestimmt nicht begeistert, wenn er erführe, dass sein Sohn die Begabung besaß, statt eines Viehhüters ein hervorragender Schamane zu werden.
Tem nahm mir den Talisman ab, schlang sich die Rabenknochenkette um die Finger und begann mit der Beschwörung. Sofort schien er sich zu verändern – etwas an seiner Haltung und seiner Ausstrahlung war plötzlich ganz anders und er kam mir vor wie ein Fremder.
Natürlich hatte ich schon öfter zugesehen, wenn Tem zauberte – er hatte mir oft heimlich beim Üben geholfen –, aber ich konnte mich einfach nicht an den Anblick gewöhnen. Er murmelte die Beschwörung in der alten Schamanensprache ganz selbstverständlich, fast geistesabwesend, und ich konnte die Macht spüren, die aufzog wie ein Sturm. Die Rabenknochen gaben ein klickendes Geräusch von sich, das in der Luft zu vibrieren schien.
Die Eier glühten. Das Glühen verwandelte sich in ein Flackern, wie Sonnenlicht, das durch Zweige fällt. Risse bildeten sich in den Eierschalen und plötzlich brachen sie auf.
Die Drachenbabys waren so groß wie Spatzen und ihre langen, schlangenartigen Körper ruhten auf sechs dicken Stummelbeinchen. Sie begannen sofort zu zwitschern und schüttelten ihre feuchten Flügel im Wind. Die kleinen Lichter in ihren Bäuchen schimmerten bereits. Bei den Jungtieren waren sie schwach und farblos; aber mit zunehmendem Alter wurde das Licht dunkler und nahm Farbe an – gewöhnlich ein leuchtendes Blau oder Grün.
»Tritt zurück«, sagte Tem. Er flüsterte dem größten Drachen etwas zu, der darauf mit einem fragenden Zwitscherton reagierte. Gleichzeitig breiteten alle Drachen ihre Flügel aus und flogen los. Sie segelten in einem wilden Durcheinander aus Wind und federartigen Schuppen um uns herum. Ich lachte und quietschte vor Freude. Dann sausten sie davon wie glitzernde Pfeile und ihre Bauchlichter blitzten in den Wolken immer wieder auf.
»Wohin fliegen sie?«, fragte ich.
»Ich habe sie zu Chirri geschickt.«
Bei der Vorstellung, was Chirri wohl für ein Gesicht machen würde, wenn die Babydrachen in ihre Hütte stürmten, Futter verlangten und ihre kleinen Zähnchen an ihren Möbeln schärften, fing ich nun wirklich an zu lachen.
»Warum haben sie nicht dich gewählt?«, fragte ich mit einem Kopfschütteln. »Du solltest Chirris Lehrling sein. Du hast genauso viel Zauberkraft wie sie.«
»Weil mein Vater nicht der Älteste ist«, antwortete Tem. »Außerdem habe ich längst nicht dieselben Kräfte wie Chirri.«
»Aber fast«, sagte ich leichthin, denn ich merkte, wie sich seine Stimmung verdüsterte. Dass ich Chirris Lehrling wurde, stand schon immer zwischen uns. Die Wahrheit war, dass Tem ein viel besserer Schamane für unser Dorf sein würde, als ich jemals werden konnte. Aber Azmiris Schamane war immer ein Verwandter des Ältesten, meistens ein Nachkomme oder ein jüngerer Bruder oder eine Schwester – damit sollte die Macht gefestigt werden, was in meinem Fall garantiert spektakulär scheitern würde. Tem, so begabt, wie er nun einmal war, war der Sohn eines Hirten. Es war undenkbar, dass jemand wie er eine so bedeutende Position einnahm.
»Los, komm«, sagte ich und nahm seine Hand. »Lass uns frühstücken.«
Wir rasten den mit Geröll übersäten Abhang hinunter, unsere jahrelange Übung ließ uns mühelos über Felsen und grasbewachsene Buckel springen. Weiter unten löste sich die tief hängende Wolkendecke auf und die schneeweißen Steinhütten wurden sichtbar. Unser Dorf Azmiri schmiegt sich an die Flanke des gleichnamigen Bergs und ist von schmalen Gassen durchzogen. Die Südhälfte ist neuer, und die Hütten, die fast alle gleich aussehen, sind besser erhalten und mit hellen Terrakottaschindeln gedeckt. Sie wurden erst vor zwei Jahrhunderten gebaut, um die Hütten zu ersetzen, die den schrecklichen Feuern zum Opfer gefallen waren, die in Azmiri gewütet haben.
Wir nahmen die Abkürzung durch den Obstgarten und ich sprang hoch, um einen Apfel zu pflücken. Er war noch nicht reif und fürchterlich sauer, aber das war mir egal. Ich hatte solchen Hunger, dass ich sogar meine eigenen Stiefel gegessen hätte.
Das Gelände stieg wieder an und ich lief den Hügel hinauf. Auf einer Seite ging es steil bergab. Jenseits des Tals ragten die schneebedeckten Kuppen der Berge Biru und Karranak in den Himmel. In mir kam ein altbekanntes Gefühl auf – die Vorstellung, dass ich mit einem Satz über das Tal springen und mühelos auf einem dieser Gipfel landen könnte. Als bräuchte ich nur meine Finger und Zehen in den Wind zu krallen und könnte so leicht an ihm hinaufklettern, wie ich schon viele Berge hinaufgeklettert war.
Tem war hinter mir und zuerst hörte ich sein Rufen nicht. Doch dann drehte ich mich immer noch lachend um und lief zu ihm zurück.
»Was hast du ges –«, begann ich, doch dann schrie ich auf. Ich stolperte über einen Felsbrocken und fiel auf den Ellbogen.
Farben waren alles, was ich sehen konnte. Ein Durcheinander aus Farben, Grün und Rot und Purpur und Blau. Sie erfüllten den Himmel wie eine gigantische Wolke. Aber als ich gerade zum zweiten Mal losschreien wollte, nahm das Ding Form an – es war ein Heißluftballon.
Lautlos schwebte er über die Berge. Im Korb konnte ich mehrere kleine Figuren ausmachen, die auf mich herunterstarrten wie hochnäsige Raben. Der Schatten des Ballons zog über mich hinweg und ich erschauderte.
Tem tauchte neben mir auf. »Hast du dir wehgetan?«
Ich schüttelte den Kopf und er half mir auf die Beine. Wir beobachteten, wie der Ballon über das Dorf hinwegflog und dann langsam tiefer ging, bis der Korb schließlich auf einer der Weizenterrassen landete. Der riesige Ballon sank zu Boden und versperrte uns den Blick auf die Neuankömmlinge.
»Himmel!«, war alles, was ich hervorbrachte.
Tem schnaubte angewidert. »River Shara weiß, wie man sich in Szene setzt. Der gibt bestimmt so viel heiße Luft von sich, dass er diesen Ballon ganz allein zum Fliegen bringt.«
Ich starrte ihn an. »River Shara?«
»Ja.«
»Der River Shara? Ist das dein Ernst? Der Kaiserliche Entdecker?«
»Ich glaube schon. Ich –«
»Der größte Entdecker in der Geschichte des Reichs?«
»Nun, ich weiß nicht, ob er –«
Ich packte seinen Arm und konnte meine Aufregung nicht bezähmen. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass er kommen wird?«
»Ich habe es erst gestern von einem der Händler erfahren. Aber du hättest es doch eigentlich längst wissen müssen – wieso hat Lusha es dir nicht gesagt?«
»Ach ja, natürlich«, sagte ich übertrieben verständnisvoll. »Ich vergaß, dass du meine Schwester nicht kennst.«
Tem verdrehte die Augen. »Schon gut. Aber ich bin sicher, dass sie und der Älteste schon seit Wochen davon wussten.«
»Natürlich wussten sie es.« Ich trat gegen die Spitze eines Baums, die über eine Abbruchkante ragte. Irgendwo weiter unten schrie ein Geier empört auf. »Sie kämen nie auf die Idee, mir etwas zu erzählen. Was um alles in der Welt sollte der Kaiserliche Entdecker bei uns wollen?«
Kaiser Lozong hatte mehrere Entdecker in seinen Diensten, Männer und Frauen, überwiegend von noblem Geblüt. Sie sollten sein riesiges, bergiges Reich erforschen, die Barbarenstämme ausspionieren, die die südlichen und westlichen Grenzen bedrohten, und sichere Pfade für die Armee auskundschaften. Da das Reich immer größer wurde, brauchte der Kaiser zuverlässige Entdecker, die ihn mit Informationen versorgten, und zwar nicht nur über das Land, das ihm schon gehörte, sondern auch über die Regionen, die er noch erobern wollte. Meine Mutter Insia hatte zu diesen Entdeckerinnen gehört, auch wenn ihre Verwandtschaft zum Adel so entfernt gewesen war, dass man sie am Hof nicht einmal vorgelassen hätte. River Shara dagegen gehörte einer der ältesten Adelsfamilien an, einer, die nah mit dem Kaiser verwandt war. Der offizielle Titel des Kaiserlichen Entdeckers – die mächtigste Position am Hof, sogar bedeutender als der General der Ersten Armee – war ihm verliehen worden, nachdem er auf einer Expedition in die Drakkar-Berge am äußersten Ende des Reiches Gletscher bezwungen hatte und dem Tod unzählige Male von der Schippe gesprungen war. Vor ihm hatte es schon viele Männer und Frauen gegeben, die den Titel Kaiserlicher Entdecker getragen hatten, aber kaum einer von ihnen war so verehrt worden wie River Shara.
Tem schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat der Kaiser ihn hergeschickt, um nachzusehen, ob wir noch da sind, und wenn nicht, die Karten auf den neuesten Stand zu bringen.«
Undenkbar war das nicht. Hier, hoch oben im Arya-Gebirge an der östlichen Grenze des Kaiserreichs, bekamen wir nur selten Besuch aus den fernen Drei Städten. Wenn doch jemand kam, war das Gesprächsthema Nummer eins im Dorf. Sogar reisende Tuchhändler wurden bei uns mit einem Festmahl empfangen.
Und dieser Besucher war ganz und gar kein Händler.
Mir schlug das Herz bis zum Hals. »Ich muss ihn kennenlernen. Und mit ihm reden.«
Tem hatte etwas gesagt – ich wusste aber nicht was, weil ich nicht zugehört hatte. Er verstummte und sah mich besorgt an. »Kamzin –«
»Das könnte meine Chance sein.« Ich brauchte nicht zu erklären, wie das gemeint war – sein Blick bewies mir, dass er es genau wusste. Er wusste, dass ich ganz versessen darauf war, die Männer meines Vaters auf ihre Jagdausflüge in den Wald von Bengarek zu begleiten. Dass ich meine freien Tage damit verbrachte, auf jeden Berg in der Umgebung zu steigen. Dass ich, als meine Mutter noch lebte, sie ständig angefleht hatte, mich auf eine ihrer Expeditionen mitzunehmen, und dass ich noch heute so manchen Abend über ihren Karten von fernen Regionen saß und den verblassten Tintenstrichen mit den Fingern folgte. Mehr als alles andere auf der Welt wollte ich Entdeckerin werden. Ich wollte Gletscher überwinden, die Wildnis erforschen und unter den Sternen schlafen. Ich wollte mich der Welt entgegenstemmen und spüren, wie sie meinen Druck erwiderte.
»Und was willst du jetzt tun?«, fragte Tem. »Zum Kaiserlichen Entdecker gehen und ihn bitten, dich auf seine nächste Expedition mitzunehmen? Ihm anbieten, dass du sein Gepäck trägst oder ihm die Füße massierst?«
»Ich weiß nicht, was ich tun werde.« Ich spielte mit meinem Zopf. Er roch nach Chirris Weihrauch. »Ich muss nachdenken.«
»Worüber du nachdenken solltest, ist dein Unterricht bei Chirri«, sagte Tem. »Und nicht darüber, wie du irgendeinen vornehmen Schnösel aus den Drei Städten beeindrucken kannst.«
»Und was soll mir das bringen?« Ich wurde schon wieder sauer. »Tem, ich bin siebzehn Jahre alt und immer noch Lehrling. Chirri weigert sich, mich zu ihrer Assistentin zu machen, und weißt du was? Ich kann ihr das nicht vorwerfen. Ich hasse Magie – ich bin furchtbar schlecht darin. Du weißt, dass ich das unmöglich für den Rest meines Lebens machen kann, egal, was mein Vater dazu sagt.«
»Du bist furchtbar schlecht in Magie, weil du dir keine Mühe gibst«, sagte Tem und sah mich genervt an. »Jeder kann zaubern. Je mehr du übst, desto besser wirst du. Es ist wie jede Fähigkeit – Weben, Rennen oder irgendwas anderes.«
Was Tem sagte, stimmte bis zu einem gewissen Punkt. Jeder konnte zaubern, vorausgesetzt, er hatte den richtigen Talisman und kannte die Beschwörungsformeln. Aber es gab auch Leute, die begabter waren als andere. Die ein Talent hatten, das keine Übung jemals übertrumpfen konnte. So jemand war Tem – ich würde niemals so gut sein wie er.
»Du weißt, dass ich nie schnell rennen konnte«, bemerkte ich. »Meine Beine sind zu kurz. Ich habe immer verloren, wenn wir um die Wette gerannt sind. Bei der Magie ist es ganz genauso. Ein Teil von mir ist zu kurz oder zu klein und daran wird sich nie etwas ändern.«
»Du bist schon besser geworden, seit ich angefangen habe, dir zu helfen –«
Ich wendete mich ab. »Du hörst mir nicht zu.«
»Ich höre dir immer zu«, beteuerte er. »Aber ich bezweifle, dass du dasselbe auch von River Shara sagen kannst. Er ist für viele Dinge bekannt, aber Zuhören ist nicht dabei.«
Ich runzelte die Stirn. Ich kannte River Sharas schlechten Ruf – den kannte jeder. Die Geschichten über das gnadenlose Abschlachten von Barbarenhäuptlingen, seine Verachtung für Schwächlinge in den eigenen Reihen. Angeblich hatte er Frauen und Männer, die nicht stark genug waren, um mit ihm mitzuhalten, einfach zurückgelassen, und nicht alle von ihnen hatten den Rückweg in die Drei Städte geschafft.
Ich wusste aber auch, dass die meisten dieser Geschichten wie die Schatten der Nachmittagssonne waren: täuschend und maßlos übertrieben. Ich würde mich von solchen Geschichten nicht abschrecken lassen.
Tem sah mich eine ganze Weile schweigend an. Dann seufzte er. »Was soll ich tun?«
Ich sprang ihm in die Arme und drückte ihn. »Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.«
Er stieß mich weg und versuchte erfolglos zu verbergen, wie rot er geworden war. »Habe ich dir schon mal gesagt, wie verrückt du bist?«
»Schon öfter«, sagte ich. »Aber du musst auch die Vorteile sehen – wenn ich eine berühmte Entdeckerin werde, nehme ich dich auf meine Expeditionen mit.«
»Damit ich in der Wildnis rumlatschen, auf Felsen und Wurzeln schlafen und mich halb zu Tode frieren kann?« Tem schnaubte. »Da hüte ich doch lieber Yaks.«
»Nein, du wärst lieber Chirris Lehrling.« Ich bedauerte meine Worte sofort. Ein Schatten fiel über Tems Gesicht, und er senkte den Kopf, sodass die langen Haare seine Augen verbargen.
»Wie auch immer«, sagte ich. »Ich werde mit Lusha reden. Vielleicht weiß sie, was los ist.«
»Sie ist Lusha«, sagte Tem. »Sie weiß alles. Die Frage ist, ob sie auch in der richtigen Stimmung ist, um es dir zu sagen.«
»Natürlich wusste ich, dass River kommt«, sagte Lusha. »Er bricht in zwei Tagen in den Norden auf. Ich werde ihn begleiten.«
Ich starrte meine Schwester an. Sie ignorierte mich und strich ungerührt die überschüssige Tinte von ihrem Pinsel. Dann beugte sie sich wieder über ihre Sternkarte, die so groß war, dass acht Steine nötig waren, um sie auf dem Tisch zu fixieren. Ich betrachtete Lushas Hinterkopf, und es juckte mich in den Fingern, einen ihrer Tintensteine zu nehmen und ihn über ihre sorgfältige Zeichnung zu reiben. Biter, einer von Lushas Raben, der auf der Fensterbank hockte, stieß ein warnendes Krächzen aus.
»Du wirst ihn begleiten«, wiederholte ich.
Lusha reagierte nicht. Das Papier raschelte, als sie ihre Position veränderte.
»Du hast mir nichts davon gesagt.« Es kostete mich meine ganze Willenskraft, gleichmütig zu klingen.
»Dafür gab es keinen Grund.«
Ich warf Tem einen Blick zu, doch er schüttelte nur den Kopf. Er stand an der offenen Tür des Observatoriums, als müsste er jeden Moment die Flucht ergreifen.
Meine Schwester schaute kurz zu mir auf, und ihre großen Augen verengten sich, als könnte sie nicht begreifen, wieso ich immer noch da war. Lusha war keine Schönheit im traditionellen Sinn und mit dem schmalen Gesicht und den Ohren, die abstanden wie die Henkel einer Vase, nicht einmal besonders hübsch. Aber sie war groß, ihre Arme und Beine so schlank wie Weidenzweige, und wenn sie lächelte, funkelten ihre Augen. Ihr dichtes Haar fiel ihr über die Schultern wie lebendige Nacht, und es schien sich sogar zu bewegen, wenn kein Wind hineinfuhr. Jede Woche verliebte sich ein neuer Mann unsterblich in sie. Leider blieb diese Liebe immer unerwidert, denn die Astronomie war alles, was Lusha interessierte. Den Weg des Mondes und der Sterne aufzuzeichnen, Sternbildern zu folgen und zukünftige Ereignisse aus ihnen abzuleiten – das war eine seltene Begabung, die hauptsächlich auf Intuition beruhte. In letzter Zeit war sie noch besessener gewesen und oft die ganze Nacht aufgeblieben. Dann kam sie gewöhnlich zu spät zum Frühstück, mit dunklen Ringen unter den Augen und Tintenflecken an den Fingern. Wenn ich dazu etwas sagte, wurde ich von ihr entweder ignoriert oder, was häufiger vorkam, ich kassierte eine spitze Bemerkung zu meinen eigenen Schlafgewohnheiten.
Ich schlang die Arme um mich, weil ich selbst in meiner dicken chuba fröstelte. Das Observatorium des Sehers lag hoch oben über dem Dorf, sogar oberhalb der Hütten der Ziegenhirten, und hatte viele Fenster, an denen es weder Vorhänge noch Fensterläden gab. An der höchsten Stelle des Dachs befand sich ein viereckiges Loch, durch das der Wind hereinpfiff. Die Salzkerzenhalter, die den Arbeitstisch beleuchteten, trugen noch zum Gefühl der Kälte bei, denn die kleinen Flammen flackerten im Wind und erfüllten den Raum mit ihrem scharfen Salzgeschmack.
»Wieso will er dich mitnehmen?« Die Frage rutschte mir einfach heraus, garstiger, als ich es geplant hatte.
Lusha warf mir einen strengen Blick zu. Sie war nur zwei Jahre älter als ich, aber es kam mir oft vor, als wären es viel mehr.
»Weil ich ihm helfen kann«, sagte sie.
»Wobei?«
Sie schien mir gar nicht zuzuhören. »Es ist eine Ehre, dass er meine Hilfe in Anspruch nimmt. Wir sollten uns alle geehrt fühlen. Wenn die Expedition ein Erfolg wird, wird der Kaiser Azmiri mit Wohlwollen betrachten.«
»Nun, dich zumindest«, murmelte ich. Es war typisch für Lusha, sich einzubilden, dass ihre eigenen Triumphe irgendwie die Welt verbessern würden. Vielleicht wurde man so, wenn man von Geburt an dazu bestimmt war, Älteste zu werden.
Ich trat näher an den Tisch heran, um einen Blick auf ihre Arbeit zu werfen. Aber da waren keine Karten, nichts, das mir einen Hinweis auf die geheimnisvolle Expedition gab. Nur stapelweise Sternkarten. Im ganzen Observatorium lagen Sternkarten herum, sie lehnten zusammengerollt an der Wand oder hingen an Nägeln, die in die Fugen der Steinwände geschlagen waren.
»Was machst du eigentlich?«, fragte ich. »Zählst du jeden Stern am Himmel?«
Lusha runzelte die Stirn und folgte einem Sternbild mit dem tintenfleckigen Finger. »Ich versuche, etwas herauszufinden«, murmelte sie, ohne aufzuschauen.
Ich seufzte. Natürlich war ich an die ausweichenden Antworten meiner Schwester gewöhnt, aber jetzt reichte es mir. »Lusha, wieso ist River hier? Was will er von dir?«
Sie schwieg so lange, dass ich nicht mehr mit einer Antwort rechnete. »Ich werde ihn auf den Raksha führen.«
Etwas schepperte. Tem hatte eines von Lushas hölzernen Teleskopstativen umgestoßen. Er starrte sie an, die Augen groß wie Untertassen. Mir war klar, dass ich genauso entgeistert aussah wie er.
»Raksha?« Ich brachte das Wort kaum heraus. »Er will den Raksha besteigen?«
»Ja.«
»Aber wieso?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass der Kaiser großen Wert darauf legt und dass es möglichst bald geschehen soll. Ich werde ihn auf den Berg führen, bevor die Winterstürme einsetzen. Sobald wir Azmiri verlassen haben, werden wir für nichts und niemanden anhalten.«
»Aber wieso ausgerechnet du?«
Sie sah mich finster an. »Weil ich einer von nur zwei noch lebenden Menschen bin, die den Weg kennen.«
Der Wind fuhr durch das Observatorium und er roch nach Nacht und Schnee. Aber das war es nicht, was mich schaudern ließ. Es waren die Erinnerungen, die in meinem Kopf erschienen wie ein aufziehender Sturm.
»Bist du verrückt?«, stieß ich aus.
»Nicht dass ich wüsste.« Lusha richtete den Blick wieder auf ihre Sternkarten. »Kamzin, kannst du bitte woanders hingehen? Ich bin wirklich beschäftigt.«
Ich stand noch eine ganze Minute lang reglos da. Lusha hob kein einziges Mal den Kopf oder ließ sich auf andere Weise anmerken, dass ihr meine Anwesenheit bewusst war. Ich konnte ebenso gut irgendein unbedeutender Komet in einem Sternbild sein, das sie nicht interessierte.
Schließlich stürmte ich hinaus, Tem trottete hinterher.
In meinem Zimmer angekommen, kippte ich eine meiner Truhen aus, Tücher und Kleider verteilten sich auf dem ohnehin schon unordentlichen Fußboden. Dann riss ich die Schranktür auf, stöberte in den Pergamentrollen und warf einige davon auf den Haufen.
»Kamzin«, sagte Tem, »was machst du da?«
Ich warf eine weitere Rolle über meine Schulter. Ragtooth, der auf meinem Kissen schlief, gab ein gereiztes Knurren von sich. Er öffnete eines seiner grünen Augen und sah mich missmutig an.
»Ich kann nicht fassen, dass sie zugestimmt hat«, wütete ich. »Ich wette, sie erinnert sich nicht an den Weg.«
»Erinnerst du dich denn daran?«
Ich antwortete nicht sofort. Die Erinnerungen waren alt – ich war gerade erst elf gewesen – und ich dachte nicht gern daran. Es war das erste und letzte Mal, dass Lusha und ich unsere Mutter auf einer Expedition begleiten durften. Wir waren in einer großen Gruppe unterwegs, zu der auch mehrere Schamanen und Heiler gehörten. Unser Ziel war es, neue Wege durch das Arya-Gebirge zu finden – Pfade, die die Truppen des Kaisers ebenso benutzen konnten wie seine Feinde – und dabei waren wir in Sichtweite des Raksha gekommen, des höchsten Bergs der Welt. Höher als die Sterne, behaupteten die Legenden. Auf dem Rückweg war die Hälfte unserer Leute von einer Lawine verschüttet worden. Ein Sturm am Winding-Pass hatte weitere Leben gefordert. Unsere Mutter hatte es gerade noch geschafft, Lusha und mich in Sicherheit zu bringen.
»Ja«, sagte ich leise. »Ich erinnere mich.«
Nach dem Tod meiner Mutter waren Lusha und ich die einzigen Überlebenden dieser Reise. Noch gestern schien das nicht von Bedeutung zu sein.
Das hatte sich jetzt geändert.
Tem rieb sich über das Gesicht. Er sah müde aus – er war in den letzten Tagen bis spät in die Nacht aufgeblieben, um seinem Vater bei den Herden zu helfen. »Das passt nicht zu Lusha. Sie ist normalerweise nicht leichtsinnig, das hier geht weit über Leichtsinn hinaus.«
Ich schüttelte meine Erinnerungen ab, murmelte etwas Zustimmendes und warf eine weitere Rolle auf den Haufen. Der Raksha galt als unbezwingbar. Ein einziger Entdecker hatte es versucht, ein Mann namens Mingma, und das war vor mehr als fünfzig Jahren gewesen. Nur zwei Männer waren von dieser Expedition zurückgekehrt, die beide schon gestorben waren, als ich geboren wurde. Sie hatten von schwarzen Felsspalten berichtet, die unter dem Schnee verborgen waren, von grauenvollen Schneestürmen und hundert Meter hohen Wänden aus blankem Eis. Angeblich hausten Ungeheuer auf diesem Berg, und er war von Geistern verflucht, die so alt und unnachgiebig waren wie die Gletscher. Angeblich brachte es schon Unglück, den Berg nur anzusehen.
Ich fand die Rolle, nach der ich gesucht hatte. Es wurde allmählich dunkel und ich pfiff nach einem der Hausdrachen. Der Drache, der in einer Ecke meines Zimmers gelegen hatte, rappelte sich verschlafen auf und kam angeflattert. Ich holte die sauren Äpfel aus der Tasche und legte sie in eine Schüssel – Drachen fressen fast alles –, und er begann, begeistert daran herumzunagen. Sofort leuchtete der matte Schimmer, der aus seinem Bauch kam, deutlich heller und vertrieb die Schatten. Ich beugte mich über die Papierrolle und folgte den Linien mit einer Fingerspitze.
»Kamzin.«
Ich fuhr zusammen. Tem stand hinter mir und schaute mir über die Schulter.
»Was?«
»Wenn du es für Irrsinn hältst, den Raksha zu besteigen, wieso siehst du dir dann eine Karte vom Nachtwald an?«
Ich antwortete nicht. Der Wald der Hexen war ein dunkler Fleck auf der Karte. Bisher hatten sich nur wenige Entdecker dorthin getraut und noch weniger waren zurückgekehrt. Aber er war der einzige Zugang zum Raksha, ein anstrengender Marsch durch die östlichen Ausläufer des Arya-Gebirges, die außerhalb der Grenzen des Kaiserreichs lagen.
»Worüber regst du dich wirklich auf?« Aus Tems Stimme war eine unterschwellige Gereiztheit herauszuhören. »Darüber, dass Lusha ihr Leben für einen idiotischen Plan riskiert? Oder darüber, dass du an ihrer Stelle gehen willst?«
Ich ließ die Karte los und sie rollte sich sofort wieder zusammen. Dann sah ich Tem an. »Ich dachte, du würdest es verstehen. Du hast gesagt, du würdest mir helfen.«
»Das war, bevor ich wusste, worum es ging.« Jetzt war kein Zögern mehr in seiner Stimme und er sah mir in die Augen. »Wie kannst du so was auch nur in Betracht ziehen? Du hast doch gesehen, was mit der Expedition deiner Mutter passiert ist. Du warst dabei.«
»Ich werde nicht dieselben Fehler machen, die meine Mutter gemacht hat.«
Tem murmelte etwas.
»Was?«
»Ich sagte, dass du einfach unglaublich bist.« Er war ganz blass geworden. »Was erhoffst du dir von dieser Sache?«
»Alles!« Ich gestikulierte mit der Papierrolle. »Tem, das ist River Shara. Wenn ich ihn beeindrucken kann, werde ich vielleicht eines Tages meine eigenen Expeditionen für den Kaiser unternehmen. Stell dir das vor, ich in einer chuba aus Tahrfell.«
Tem brauchte nicht zu fragen, was ich damit meinte. Alle Entdecker des Kaisers – nur die Entdecker des Kaisers – durften chubas aus dem Fell des Berg-Tahrs tragen, eines sehr seltenen Tiers, das schwer zu fangen war. Ein einziges Fell brachte genug Gold, um ein halbes Dorf zu kaufen. Der Tahr wurde mit einem dunkelbraunen Fell geboren, das mit zunehmendem Alter immer weißer wurde. Häute beider Farben wurden zusammengenäht, und daraus entstand dann ein Mantel, der warm und federleicht war und außerdem zwei Seiten hatte. Die dunkle war die perfekte Tarnung im Wald, während die weiße Seite den Entdecker im Schnee tarnte. In einer Tahrfell-chuba verschmolz man mit der Landschaft und wurde zu einem Teil von ihr.
»Dafür würdest du dein Leben wegwerfen?«, fragte Tem.
»Ich werfe mein Leben nicht weg.« Ich wurde schon wieder wütend. »Willst du behaupten, ich kann das nicht?«
»Ich glaube, du kannst alles«, erwiderte er leise. »Das ist es, was mir Angst macht.«
»Hilfst du mir nun oder nicht?« Ich wendete mich von ihm ab und begann in meinem Kleiderhaufen zu wühlen. Ich brauchte etwas, das mich älter und beeindruckender wirken ließ. Mehr wie Lusha.
»Tem?«
Schweigen.
Ich drehte mich um. »Nun sei nicht –«
Ich verstummte. Ich sprach mit Drachenlicht und staubigen Papierrollen. Tem war gegangen.
Das Echo der Glocke, mit der die Gäste in den Bankettsaal gerufen wurden, war längst verhallt, als ich eintrat. Ich hatte mir vorgenommen, nach Lusha zu erscheinen, um alle Blicke auf mich zu lenken, wenn ich dramatisch in den Raum schwebte. Doch zu meinem Ärger war meine Schwester noch gar nicht da. Die paar Leute, die bei meiner Ankunft aufschauten, wendeten sich wenig beeindruckt wieder ab.
Ich sah mich um und konnte es kaum fassen. Vater hatte wirklich keine Ausgaben gescheut, um den Kaiserlichen Entdecker in Azmiri willkommen zu heißen. Es waren so viele Dorfbewohner gekommen, dass ein Großteil draußen auf dem Hof bleiben musste, wo ein Riesenfeuer die Kälte der Berge vertrieb. Gäste saßen auf Bambusbänken an den Steinwänden der Halle oder drängten sich um den Kamin und tranken raksi. Die Holzpfeiler, die das hohe Dach stützten, waren mit leuchtend bunten Teppichen umwickelt, die zusammen mit den Wandgemälden den Raum farbenprächtig und total chaotisch wirken ließen. Drachen schlängelten sich durch die Menschenmenge oder hockten auf steinernen Regalen an den Wänden. Sie füllten den Raum mit einem wabernden Licht, weil sie ständig unterwegs waren, um Häppchen oder ein paar Streicheleinheiten von mitfühlenden Gästen zu ergattern. Weil ihre Zucht und Haltung so teuer waren, hatte Vater immer gern möglichst viele Drachen um sich, wenn es darum ging, wichtige Gäste zu beeindrucken. Doch diesmal waren es mehr, als ich jemals gesehen hatte. Vater musste sich für diesen Anlass welche von anderen Dorfbewohnern ausgeliehen haben. Die Leute wateten vorsichtig durch das Meer aus Schuppen und flackernden Lichtern und schoben die Drachen mit dem Fuß zur Seite.
So etwas hatte ich noch nie erlebt.
Ich war so nervös, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Einen Moment lang fragte ich mich, was ich hier tat. River Shara war der mächtigste Mann am kaiserlichen Hof und der Held so vieler Geschichten, die man sich am Feuer erzählte, dass es manchmal kaum vorstellbar war, dass er wirklich existierte. Er war bekannt für seine Fähigkeit, Berge hochzuklettern wie ein Schneeleopard, sichere Pfade durch Feindesland zu finden und tagelang durch mörderisches Gelände zu marschieren, ohne müde zu werden. Nicht bekannt war er für Geduld oder Mitgefühl. Als sich einer seiner Begleiter aus dem Staub gemacht hatte, hatte er ihn angeblich aufgespürt, nackt ausgezogen und auf einem gefrorenen Bergpass an einen Baum gebunden zurückgelassen.
Doch mir war klar, dass ich nie wieder eine solche Chance bekommen würde. Ich holte tief Luft und stürzte mich ins Getümmel.
»Kamzin!« Es war Litas, einer der Jungen aus dem Dorf. »Ist es wahr? Du hast River Shara getroffen?«
»Ich habe gesehen, wie er gelandet ist, aber –«
Das war ein Fehler. Drei von Litas’ Freunden sahen mich mit großen Augen an. »War der Ballon wirklich so riesig?«, wollte einer von ihnen wissen.
»Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte ein Mädchen. »Ist es wahr, dass ihm die Barbaren beide Ohrläppchen abgeschnitten haben« – sie presste die Hände gegen ihren Kopf, um das Fehlen beider Ohren anzudeuten – »und dass er jetzt in zehn Kilometern Entfernung die Blätter rascheln hört?«
Ich seufzte und berichtete kurz, was Tem und ich beobachtet hatten. Die Kinder hörten fasziniert zu und bombardierten mich mit weiteren Fragen. Wie groß war River? Trug der Ballon das kaiserliche Wappen? Wie viele Schamanen hatte River und hatten sie seine Ankunft mit Blitzen und Feuerwerk angekündigt? Es dauerte eine Weile, bis ihre Neugier befriedigt war und ich ihnen entkommen konnte.
Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Unter den Gästen befanden sich Männer und Frauen, die in kleinen Grüppchen beisammenstanden und die zweifellos zu River Sharas Personal gehörten. Sie alle hatten den typischen Drei-Städte-Look, als ob sich ein Färberladen auf sie übergeben hätte, wie ich einmal abschätzig zu Tem gesagt hatte. Ich war noch nie in den Drei Städten oder im prunkvollen Palast mit den funkelnden Pagoden und duftenden Gärten gewesen – und auch niemand anders aus unserem Dorf, denn die Reise dauerte Wochen und man musste Handelswegen folgen, auf denen Banditen ihr Unwesen trieben. Wenn ich mir die Leute ansah, die dort lebten, hatte ich auch nicht den leisesten Wunsch, dorthin zu reisen. Blaue Haare schienen gerade modern zu sein, sie trugen sie gelockt und mit eingeflochtenen Silberkettchen, die man bestimmt nur mit Mühe wieder herausbekam. Anstelle von chubas trugen sie dunkelgrüne Umhänge.
Ich hatte keine Ahnung, wie River aussah, aber es war anzunehmen, dass er im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen würde. Ich entdeckte ihn ziemlich schnell.
Er sah so gut aus, wie er in den Geschichten beschrieben wurde, hatte einen breiten Mund, zerzauste Haare und kräftige Schultern. Er war fast einen Kopf größer als der größte Mann im Raum, aber auch wenn er kleiner gewesen wäre, hatte er doch etwas an sich, das die Blicke auf sich zog. Eine merkwürdige gezackte Narbe verlief von der Schläfe über seinen Nasenrücken und schien sein Gesicht in zwei Hälften zu teilen. Er trug dieselbe protzige Kleidung wie die anderen Gäste aus den Drei Städten, aber sein Haar war nicht gefärbt. Deshalb konnte ich deutlich sehen, dass es an den Schläfen bereits grau wurde. Von seinen Augenwinkeln gingen tiefe Falten aus, obwohl er noch längst kein alter Mann war – ich schätzte ihn auf etwa dreißig.
Das erstaunte mich. Wenn man River Sharas Ruf und seine Erfolge betrachtete, hätte ich jemanden erwartet, der eher im Alter meines Vaters war. Aber die neugierigen Dorfbewohner, die sich um ihn scharten und ihm fasziniert zuhörten, ließen keinen Zweifel zu. Er war anscheinend ein guter Erzähler und gestikulierte mit den Händen, als würde er seine Geschichten in die Luft zeichnen.
Ich strich mein Kleid glatt, ein dunkelblaues mit Fuchsfellbesatz. Es war das schönste, das ich besaß – oder vielmehr das schönste, das Lusha besaß. Sie interessierte sich nicht für die feinen Sachen, die ihre Verehrer ihr schenkten, und ich war sicher, dass sie es nicht vermissen würde. Natürlich hatte ich es geändert, weil ich viel kräftiger war als meine dünne Schwester. Um den Hals trug ich mein feinstes weißes Seidentuch mit Goldstickerei am Rand. Mit bunten Perlen besetzte Ohrringe hingen mir bis auf die Schultern und klimperten jedes Mal, wenn ich den Kopf bewegte. Das Outfit fühlte sich ungewohnt an, fast wie eine Verkleidung. Mein Unterricht bei Chirri fand gewöhnlich draußen statt und meistens wurde ich dabei schmutzig. Deshalb trug ich normalerweise schlichte Tuniken und Hosen aus Schafleder. Aber mir war klar, dass ich meinem wenig ansprechenden Äußeren heute ein wenig auf die Sprünge helfen musste. Ich hatte einen Sonnenbrand, weil ich so lange über den Dracheneiern gehockt hatte, und an den Händen hatte ich einen Ausschlag, weil ich Chirri geholfen hatte, eine Heilsalbe zuzubereiten. Ich hatte keine Zeit mehr gehabt, alle Kletten aus meinen hüftlangen Haaren zu bürsten, und bei meinen hektischen Versuchen waren mehrere Zähne aus meinem Kamm gebrochen, die vermutlich immer noch irgendwo an meinem Hinterkopf hingen.
Tem war nicht gekommen. Er musste schon ziemlich wütend sein, um meine Familie damit zu beleidigen, dass er dem Willkommensfest fernblieb. Entweder das, oder sein Vater hatte ihm befohlen, bei den Herden zu bleiben, was öfter vorkam. Ich versuchte, meine Enttäuschung zu ignorieren. Obwohl ich immer noch sauer auf ihn war, hätte mich seine Anwesenheit beruhigt.
River hatte seine Geschichte beendet und entschuldigte sich nun bei seinen Zuhörern. Er steuerte das Fass mit dem raksi an.
Ich warf einen Blick über meine Schulter. Wo war Vater? Es war unglaublich unhöflich, wenn sich ein Gast, vor allem ein so bedeutender Gast wie River, selbst bedienen musste.
Das war meine Chance.
Ich raste durch den Saal und wich ältlichen Tanten und Onkeln und unseren Nachbarn aus. Viele riefen mir eine Begrüßung zu, und ich gab mein Bestes, eine Erwiderung zu murmeln und jedem zuzulächeln. Einen Herzschlag vor River erreichte ich das Fass.
»Mehr raksi?«, japste ich atemlos.
Er stutzte und musterte das nervöse Mädchen, das so plötzlich vor ihm aufgetaucht war. Dann wechselte sein Gesichtsausdruck so leicht, wie man einen Mantel überwarf, und er bedachte mich mit einem Wolfsgrinsen.
»Du kannst Gedanken lesen«, bemerkte er und hielt mir seine Trinkschale hin.
Ich erwiderte das Lächeln und zitterte vor Nervosität, als ich die Schale unter den Zapfhahn hielt. Leider drehte ich ihn zu weit auf. Wein spritzte auf den Boden und auf ihn.
»Das tut mir so leid …«, stammelte ich entsetzt.
»Kein Problem«, sagte er, doch als ich mich bückte, um die Flecken wegzureiben, packte er meine Schulter. Es war ein ziemlich harter Griff, obwohl er immer noch lächelte.
Mit zittrigen Händen füllte ich seine Schale erneut und verfluchte mich für meine Ungeschicklichkeit. »Verzeihung, dyonpo Shara, ich wollte wirklich nicht –«
Er bedachte mich mit einem scharfen Blick. »Ich fürchte, du verwechselst mich. Mein Name ist Mara.«
»Oh.« Fast wäre ich vor Erleichterung in Ohnmacht gefallen. »Entschuldigung, ich hätte nicht einfach annehmen dürfen –«
»Schon gut.« Wieder dieses Grinsen. Seine Zähne waren sehr lang und weiß. »Ein verständlicher Fehler. Aber ich bin nicht von Adel, also musst du mich nicht dyonpo nennen.«
Ich nickte. Alle Adligen hatten zwei Namen, der zweite wies auf ihre Abstammung hin. Mir fiel auf, wie gezwungen Maras Lächeln plötzlich wirkte, und deshalb fügte ich hastig hinzu: »Ich bin Kamzin, die zweite Tochter des Ältesten. Gehören Sie zu River Sharas Expedition?«
»Ja. Ich bin sein offizieller Chronist.«
»Sein Chronist?« Das klang wichtig. »Dann schreiben Sie alles auf, was er tut?«
Ein gereizter Ausdruck huschte über sein Gesicht, doch er tarnte ihn sofort mit einem weiteren Lächeln. »Gewissermaßen. Ich mache Notizen, Zeichnungen, fertige Karten an, nehme Maße und verfasse offizielle Berichte. Es kann eintönig sein, aber es ist wichtig. In der Vergangenheit reisten die Kaiserlichen Entdecker niemals mit weniger als drei Chronisten. River besteht darauf, nur einen mitzunehmen.«
Ich konnte nur den Kopf schütteln. Die Vorstellung, ständig von einem Chronisten verfolgt zu werden, der jede Bewegung notierte! Das würde selbst dem bescheidensten Menschen der Welt zu Kopf steigen.
Maras Blick huschte durch den Saal. Anscheinend betrachtete er unsere Unterhaltung als beendet. Zu diesem Schluss kamen die meisten Gäste recht schnell. Ich war das jüngste Kind eines Dorfältesten und das verlangte nach höflichem Geplauder und sonst nichts. Ich wusste, dass mir höchstens noch ein oder zwei Sekunden blieben, bis er sich entschuldigte und sich einen interessanteren Gesprächspartner suchte.
»Wie lange sind Sie schon Chronist?«
»Seit drei Jahren. Seit River zum Kaiserlichen Entdecker ernannt wurde.«
»Sie mussten bestimmt furchtbaren Gefahren trotzen«, bemerkte ich in einem schmeichlerischen Ton. »Sicherlich sind auch Sie oft nur knapp dem Tod entronnen.«
Mara runzelte die Stirn. Einen Moment lang wurde sein Gesicht merkwürdig ausdruckslos, als hätte eine unsichtbare Hand einen bestimmten Gedanken weggewischt, und er ließ den Blick wieder durch den Raum schweifen. Das passierte so schnell, dass ich nicht sicher war, ob ich es mir vielleicht nur eingebildet hatte.
»Natürlich«, antwortete er leichthin. »Wie die meisten Entdecker.«
»Sie müssen dyonpo Shara gut kennen.« Ich unternahm einen neuen Versuch.
Mara starrte immer noch über meinen Kopf hinweg. »So gut, wie es möglich ist.«
Ich hatte keine Ahnung, wie das zu verstehen war, gab aber nicht auf. »Können Sie mich ihm vielleicht vorstellen? Da ich schon am Raksha war, dachte ich –«
»Natürlich.« Er bedachte mich mit einem weiteren Lächeln, das mir verriet, dass er überhaupt nicht zugehört hatte. »Und jetzt entschuldige mich bitte, Tamsin, da ist jemand, mit dem ich unbedingt sprechen muss.«
Er verschwand in der Menge und ich starrte auf seinen Rücken. Ich murmelte gereizt vor mich hin, füllte eine Trinkschale bis zum Rand und kippte den raksi in einem Zug herunter. Er brannte im Hals und ich verzog das Gesicht.
»Das lief nicht allzu gut, oder?«, sagte jemand hinter mir.
Ich drehte mich um. In einer Fensternische, halb im Schatten, saß ein junger Mann auf der Fensterbank, der mich mit einem beinahe höhnischen Lächeln ansah. Er musste zu den Schönlingen vom Hof des Kaisers gehören. Seine Kleidung war genauso prunkvoll – und unpraktisch – wie die seiner Gefährten, sein fein gewebter dunkler Umhang breitete sich über der Fensterbank aus wie ein vollkommen nutzloser Vorhang. Seine zerzausten Haare, die an einer Seite hochstanden, als würde er ständig mit einer Hand hindurchfahren, waren leuchtend blau gefärbt, und an jedem seiner Finger steckten Ringe, deren Juwelen im Licht funkelten.
»Ich hab keine Ahnung, was Sie meinen«, sagte ich und füllte meine Schale noch einmal. Ein Drache kam zum Fass getapst und begann, den verschütteten Wein aufzulecken. Ich verscheuchte ihn mit einem Fußtritt und er huschte ein wenig schwankend davon. »Wir haben uns nur unterhalten.«
»Er hat sich unterhalten.« Der junge Mann wedelte mit einer Hand herum, und ich merkte, dass er ziemlich betrunken war. »Du hast gesabbert. Ich muss dich leider informieren, dass Mara weder so klug ist, wie er glaubt, noch so interessant, wie du glaubst.«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an.
»Ja, das ist es«, sagte er. »Genau das Gesicht hast du noch vor wenigen Augenblicken gemacht.«
Ich spürte, wie ich vor Ärger rot wurde. »Was geht dich das an? Ist es bei den vornehmen Leuten üblich, Privatgespräche zu belauschen?«
»Ich belausche nur Leute, die mich interessieren.« Er sprang unerwartet leichtfüßig von der Fensterbank. »Das war ein Kompliment.«
Ich prustete in meinen Wein. »Du bist ja überhaupt nicht eingebildet. Woher kommst du so plötzlich?«
»Woher ich komme?« Aus irgendeinem Grund schien er die Frage urkomisch zu finden. »Oh – ich war die ganze Zeit hier. Das wäre dir bestimmt aufgefallen, wenn du nicht so damit beschäftigt gewesen wärst, mit Mara zu flirten.«
»Ich habe nicht geflirtet«, fauchte ich. »Zu deiner Information, ich habe Wichtigeres im Kopf.«
»Im Ernst? Wie geheimnisvoll.« Der junge Mann hielt seine Schale unter den Zapfhahn des Weinfasses. Als nichts herauskam, schlug er auf das Fass, bis ein gewaltiger Schwall herausschoss und seine Trinkschale überlief.
Ich konnte nicht anders, ich musste lachen, als er bestürzt auf seinen weingetränkten Ärmel starrte. Da fing auch er an zu lachen und lehnte sich gegen das Fass, um nicht umzukippen.
Mir blieb das Lachen im Hals stecken, als mir auffiel, dass uns alle Dorfbewohner in unserer Nähe ansahen. Ein paar von ihnen wirkten beinahe ängstlich – wahrscheinlich befürchteten sie, dass ich der Würde von Azmiri bleibenden Schaden zufügte, wie ich mit einer Mischung aus Schuldgefühlen und Gereiztheit dachte.
Ich musterte den Höfling. Vermutlich war er etwas älter als ich, aber nicht viel. Ich nahm an, dass er ohne die blauen Haare und die Juwelen vermutlich ganz gut aussah, auch wenn seine Augen irgendwie verstörend waren. So etwas hatte ich noch nie gesehen – eines war goldbraun, ein warmer Ton, der mich an einen Waldboden erinnerte, auf den die Sonne schien, doch das andere war so dunkel, dass es fast schwarz wirkte. Sein Blick war mir unangenehm, ich war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihn anzustarren, und wegzuschauen.
Eine solche Unsicherheit schien ihm fremd zu sein und die Fältchen um die Augen verrieten sein Lächeln. Doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass er hoch konzentriert war. »Ist es wahr, was du zu Mara gesagt hast? Du warst schon am Raksha?«
»Vielleicht.« Ich hob trotzig das Kinn. »Was geht dich das an?«
»Ich habe meine Gründe.«
»Sehr geheimnisvoll.«
Er lachte wieder. Es klang sehr nett, aber auch ein wenig rau, als hätte er es nicht richtig unter Kontrolle. Ich merkte, wie mein Herz plötzlich schneller schlug. Ich schüttelte den Kopf. Was machte ich hier? Ich lachte und trank mit diesem Fremden, obwohl ich eigentlich nach River Shara suchen musste. Bei diesem Gedanken kam meine Nervosität zurück und ich stürzte den Rest von meinem Wein hinunter.
»Nicht so hastig«, sagte er und plötzlich stand ich mit leeren Händen da. Ich blinzelte meine Hand einen Moment lang verständnislos an – er hatte meine Schale und drehte sie langsam zwischen den Fingern. Er hatte sie sich so schnell geschnappt, dass ich es nicht einmal gesehen hatte.
»Was soll denn das?«
»Du hattest genug, Kamzin.«
»Ich hatte genug?« Ich funkelte ihn an und hätte ihm gern etwas Passendes an den Kopf geworfen, aber leider konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Unwillkürlich wanderte mein Blick zu seiner Hand. Etwas stimmte nicht damit. Ihm fehlten zwei Fingerspitzen, am Ring- und am kleinen Finger.
Ich runzelte die Stirn. Natürlich hatte ich schon öfter solche Erfrierungen gesehen, aber noch nie an den Händen eines Schnösels aus der Stadt. Seine Haut war genauso dunkel wie meine, als würde auch er die meiste Zeit draußen in der Sonne der Berge verbringen. In meinem Hinterkopf tauchte ein Gedanke auf, doch ich bekam ihn nicht zu fassen.
»Kamzin!« Es war Zhiba, eine meiner Cousinen. Sie verbeugte sich vor dem jungen Mann und berührte sanft meinen Arm, als wollte sie mich wegziehen. »Chirri sucht nach dir. Komm mit.«
Ich sah sie nur an. Chirri suchte nie nach mir. »Was redest du da?«