Es gibt unterschiedliche Anlässe um sich aus privaten Gründen mit Formen der Selbstverteidigung zu beschäftigen und daraufhin ein entsprechendes Training aufzunehmen.
So wollen sich viele wirkungsvoll selbst verteidigen können, weil nach ihren subjektiven Einschätzungen die Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft in alarmierender Weise zunimmt. Mit dem Training erhoffen sich die Meisten auch eine Stabilisierung ihrer Persönlichkeit, um nicht als ein potentielles Opfer in der Masse sofort wahrgenommen zu werden. Andere wiederum wollen im Training neben dem Erlernen der Verteidigungstechniken gleichzeitig zu einer hohen körperlichen Fitness gelangen oder sich in Wettkämpfen mit Anderen messen und dabei die gewünschte Anerkennung erhalten.
Zum Erreichen dieser Ziele gibt es Formen der Selbstverteidigung, die ausschließlich für den Verteidigungsfall auf der Straße ausgerichtet sind, die für den sportlichen Wettkampf trainiert werden und solche, die mit dem Erlernen der Verteidigungstechniken auch eine moralische Geisteshaltung vermitteln wollen. In wie weit ein geistiger Hintergrund in den unterschiedlichen Verteidigungsformen ebenfalls vermittelt wird, ist in vielen Fällen davon abhängig, wann und in welchem Kulturkreis diese entstanden.
Eine besondere Form der Selbstverteidigung bietet die Kampfkunst Aikido, die über Jahrhunderte in Japan entstand und zwischenzeitlich weltweit verbreitet ist. Die Wurzeln des Aikidos lassen sich bis in das 9. Jahrhundert zurückverfolgen. Daher ist der mit dieser Kampfkunst verbundene Zusatz „traditionell“ durchaus zutreffend.
Wer sich mit Aikido noch nicht so intensiv beschäftigt hat, könnte leicht zu der Bewertung kommen, dass eine traditionelle Kampfkunst nicht mehr in unsere heutige, auch so aufgeklärte Gesellschaft passt, also nicht dem momentanen Zeitgeist entspricht und daher nicht mehr praktikabel ist.
Diese Einschätzung mündet dann letztendlich in der Frage: Wozu brauchen wir eine „in der Jahre gekommene“ Kampfkunst wie Aikido, wenn heutzutage das Angebot an unterschiedlichen Formen zur Selbstverteidigung relativ groß ist und diese für den heutigen Menschen eher als moderner und geeigneter erscheinen?
Warum die Kampfkunst Aikido mit ihren nicht alltäglichen Verteidigungstechniken und ihrer pazifistischen Geisteshaltung gerade in unserer heutigen Zeit von Wichtigkeit ist und für die Menschen in ihrem Alltag hilfreich sei kann, soll in diesem Buch aufgezeigt werden.
Es wird nicht nicht wenige LeserInnen überraschen, welche unterschiedlichen Möglichkeiten Aikido für die positive Entwicklung der Übenden bereithält und Aikido weit mehr als nur eine „Form der Selbstverteidigung“ im üblichen Sinne darstellt.
An dieser Stelle bedanke ich mich bei denen, die mich beim Entstehen des Buches unterstützten. So für das Erstellen der Fotos bei Sven Jungnickel (Titelfoto) und Christian Schwatke.
Besonders bei Rainer Wess - 3. Dan Aikido, der sich für die Fotos als Partner zur Verfügung stellte.
München, 01.04.2019
Wolfgang Schwatke
Anmerkung:
Entsprechend der japanischen Schreibweise werden nachfolgend bei Nennung japanischer Namen der Familienname vor den Vornamen gestellt.
Bevor wir uns mit dem zentralen Thema des Buches über den Sinn und die Notwendigkeit einer traditionellen Kampfkunst in der heutigen Zeit beschäftigen ist es hilfreich, noch einiges über das Entstehen und die Entwicklung der japanischen Kampfkünste und insbesondere über die Kampfkunst Aikido zu erfahren.
Japanische Kampfkünste finden ihre Wurzeln in den Kriegskünsten Japans. Die Kriegskünste lassen sich bis in das 9. Jahrhundert n. Chr. zurückverfolgen und erlebten in dem Zeitalter der ständigen japanischen Kriege (Sengoku Jidai) von ca. 1500 - 1600 n. Chr. mit dem Aufleben der militärischen Aristokratie - den Samurai - eine Blütezeit.
So gab es in jenen Zeiten zahlreiche Schulen, an denen nur ausgewählte Schüler die dort geheim vermittelten Kampftechniken erlernen durften. Die Meister der jeweiligen Schulen gaben diese selbst von ihren Lehrern übernommenen und mitunter von ihnen weiterentwickelten Techniken direkt an ihre Schüler weiter, ohne hierbei aufwendige, schriftliche Anleitungen o.ä. zu erstellen.
Dies hatte naturgemäß zur Folge, dass die Kampfstile (Ryu) der Schulen sich individuell entwickelten und von einander unterschieden. Die Ausführungen und Wirksamkeit der Techniken offenbarten sich dann spätestens in kämpferischen Auseinandersetzungen, und das nicht selten zur Tod bringenden Überraschung der Gegner. Die Stilrichtungen der Schulen trugen unterschiedliche Bezeichnungen, wie z.B. Tenji Shinyo-ryu jujutsu, Goto Ha Yagyu-ryu jujutsu, Daito-ryu Aiki jujutsu.
In den Schulen wurden Kampfsysteme trainiert, die beispielsweise den Schwertkampf, den Messerkampf, den Stockkampf, das Bogenschießen und den waffenlosen Kampf gegen unbewaffnete und bewaffnete Angriffe einschlossen.
Aufgrund des Umstandes, dass die Samurais im täglichen Leben und somit in der Öffentlichkeit generell ein Langschwert (Katana) und ein Kurzschwert (Wakizashi) bei sich trugen, nahm der Schwertkampf (Kenjutsu) unter den Kriegskünsten deutlich sichtbar eine hervorgehobene Stellung ein, was sich in den zahlreichen Legenden über das Leben der Samurais bis in die heutige Zeit widerspiegelt.
Der Weg des Kriegers (Bushido) und seiner damit verbundenen Geisteshaltung wurden beeinflusst von den Sittenlehren des Konfuzianismus, Shintoismus und Zen-Buddhismus.
Verhaltensweisen, wie sich seinem Schicksal ergeben, Gelassenheit in der Todesgefahr, Geringschätzung des eigenen Lebens, bedingungslose Treue und Loyalität gegenüber seinem Lehnsherrn, etc. entsprachen dem Ethos der Samurais.
Interessanterweise finden sich hier Parallelen zu der moralischen Gesinnung der Ritter des Mittelalters in unserem westlichen Kulturkreis.
Seit dem 12. Jahrhundert litten die Menschen in Japan unter den kriegerischen Auseinandersetzungen ihrer Landesfürsten (Daimyo), welche um die Herrschaft über Japan stritten. Diese über Jahrhunderte andauernden Kriege und Scharmützel endeten zunächst mit der Schlacht bei Segikahara im Jahre 1600 und mit dem Beginn des Shogunats der Tokugawa. Das Tokugawa-Shogunat dauerte von 1603 - 1868 und wird als Edo-Zeit in der Historie geführt. Sie brachte in den ersten fünfzig Jahren der Regentschaft weitgehend Frieden für das Land.
Dies hatte zur Folge, dass die Anzahl der zuvor noch benötigten Samurais an den Fürstenhöfen merklich sank und somit viele Samurais - wegen Mangel an Kriegs- bzw. Kampfhandlungen - von ihren ehemaligen Fürsten nicht mehr benötigt wurden. Viele von ihnen streiften danach zumeist arbeitsuchend als Ronin (herrenlose Samurais) über das Land.
In der Schlacht von Segikahara offenbarte sich nachhaltig, dass die erstmalig in einem großen Umfang eingesetzten Feuerwaffen den traditionellen Waffen überlegen waren und dadurch die bisher erfolgreich angewandten Formen des traditionellen Waffenkampfes zunehmend an Bedeutung verloren. Mit dem späteren Aufstellen von staatlicher Polizei und Armee verlor die Samurai-Kaste zusätzlich an Bedeutung. Dieser Umstand führte unter anderem dazu, dass auch den Samurais im Jahre 1876 das Tragen der traditionellen Waffen in der Öffentlichkeit untersagt wurde.
Vor diesem Hintergrund begann in Japan nun ein nachhaltiger Wandel im Gebrauch der traditionellen Waffen. Neben den nach wie vor weiter bestehenden Kriegskünsten, in denen noch immer die Waffe zur Zerstörung des Gegners eingesetzt wurde, entwickelten sich nun zusätzlich Kampfkünste, in denen ein Umgang mit der Waffe gegen fiktive Gegner ausschließlich zur Förderung der positiven Persönlichkeitsentwicklung und der friedvollen Wegfindung dienen soll.
In den sich neu entwickelten Kampfkünsten stand das Töten mit einer Waffe nicht mehr im Mittelpunkt des Übens. Sondern das ständige, schon bald meditative Üben der überlieferten Kriegskunst-Techniken mit den jeweiligen Waffen erfolgte nun mit dem Ziel, Geist und Körper in einen harmonischen Einklang zu bringen, um sich selbst positiv zu entwickeln. Aus Bushido (Der Weg des Kriegers) entwickelte sich Budo, einem Sammelbegriff für die Kampfkunstmethoden Japans, die sich der Wegfindung (Do) verschrieben haben.
Um die geschilderte Entwicklung zu verstehen, nachfolgend einige Erläuterungen zur Wegfindung in Japan.
Viele haben bestimmt schon etwas über den Weg des Blumensteckens (Kado), den Weg des Schreibens (Shodo) und den Weg der Teezubereitung (Sado) erfahren. Alle diese japanischen Kunstformen dienen der Wegfindung (Do). So ist nicht wichtig, dass hier ein besonders schönes Blumengesteck oder ein beeindruckendes Schriftbild oder ein schmackhafter Tee entsteht, damit von anderen Lob für die Leistungen ausgesprochen werden.
Wichtig ist diese Kunstformen einfach zu machen und sich dabei meditativ auf den Weg zu begeben. Auch hier gelangen wir nur mit einem intensiven und ständigen Üben zur Meisterschaft.
Diese Kunstformen waren schon damals in den „gehobenen” Gesellschaftsschichten von großer Bedeutung, so dass sich auch die Samurais neben dem körperlichen Waffen-Training mit dem Studium dieser waffenlosen Kunstformen befassten. So kamen sie ihrem Vorhaben näher, die körperlichen und geistigen Ebenen in ihren Körpern auf das gleiche Niveau und somit in ein harmonisches Verhältnis zu stellen.
Aus der nachfolgenden und vereinfacht dargestellten Auflistung wird ersichtlich, aus welchen Kriegskünsten sich Kampfkünste des Budos entwickelten, in denen das Üben der Kampftechniken vorrangig der Wegfindung(Do) dienen soll.
Jiu Jutsu | - Judo („der sanfte Weg“) |
Kenjutsu | - Kendo (Weg des Schwertkampfes) |
Kyujutsu | - Kyudo (Weg des Bogens) |
Battojutsu | -Iaido (Weg des Schwertziehens) |
Aikijujutsu | - Aikido („Weg zur Harmonisierung der kosmischen Kraft“) |
Aikido ist eine waffenlose Selbstverteidigung gegen unbewaffnete oder bewaffnete Angriffe, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Japan entwickelt wurde. Sie ist eine Kampfkunst, die eine friedvolle Lösung von Konfliktsituationen anstrebt und nicht den Weg des Kampfes sucht.
Nur wenn es die Situation nicht anders zulässt, setzt der Aikidoka die Techniken seiner Kampfkunst zur Konfliktbeseitigung ein. Im Falle einer großen Bedrängnis (z.B. Angriff auf das eigene Leben oder anderer) geschieht der Einsatz der Techniken konsequent und mit aller Strenge.
Jedoch soll von einem fortgeschrittenen Aikidoka niemals eine Aggression bzw. ein Angriff ausgehen, daher ist Aikido nur auf die reine Selbstverteidigung ausgerichtet.
Im Vergleich zu anderen Wettkampfsportarten wie beispielsweise Karate, Taekwondo werden in der Selbstverteidigung des Aikidos weder Schläge mit der Faust, dem Ellenbogen o.ä noch Fußtritte, die dem Angreifer erhebliche, körperliche Schäden zufügen können, angewandt.
Durch geschicktes Ausweichen führt der geübte Aikidoka den Angreifer in eine geistig und körperlich instabile Position, um ihn kontrolliert zu hebeln oder dynamisch zu werfen. Dies geschieht, um dem Angreifer sein nutzloses Tun aufzuzeigen, damit er seine ursprüngliche Aggressivität aufgibt.
Aikido wählt den Weg des Friedens. Daher ist die Geisteshaltung des Aikidos geprägt von hohen moralischen Wertvorstellungen zum Wohlergehen der Menschen und deren Umfeld.
Aikido ist keine japanische Kampfsportart wie beispielsweise Judo, Karate und Kendo, in denen auch Wettkämpfe als Leistungsmesser herangezogen werden. Im Aikido geht es nicht darum, in Wettkampftrainings oder Turnieren zu ermitteln, wer ist der Erste, wer ist der Beste und wer bekommt den schönsten Siegerpokal.
Bis vor wenigen Jahren waren diese für eine traditionelle, japanische Kampfkunst bestimmenden Merkmale - wie im Aikido - auch für Kyudo (Weg des Bogens) und Iaido (Weg des Schwertziehens) charakteristisch. Doch bedauerlicherweise begannen Verantwortliche dieser Budo-Disziplinen - anscheinend dem Zeitgeist folgend - offizielle Wettkämpfe und Turniere als Bestandteil ihrer Kampfkunst aufzunehmen.
Hier wandeln sich diese Kampfkünste offenkundig zu „Wettkampf-Künste“, wenn es so etwas überhaupt gibt. Es bleibt zu hoffen, dass in diesen interessanten und anspruchsvollen Kampfkünsten die ursprüngliche Geisteshaltung zur Wegfindung nicht endgültig verloren geht und noch genügend ernsthafte Budokas diesen Trend zu Wettkämpfen als Leistungsmesser widerstehen können.
Wie im vorherigen Kapitel schon angesprochen, lassen sich die Wurzeln unseres heutigen Aikidos ebenfalls bis zur den japanischen Kriegskünsten zurückverfolgen. Obwohl damals der Gebrauch von Waffen vorherrschte, nahm die waffenlose Verteidigung gegen unbewaffnete oder bewaffnete Angreifer ihren berechtigten Platz in den Kriegskünsten ein. Diese Form der Verteidigung wird als Taijutsu bezeichnet. Die waffenlose Verteidigung war damals lebensrettend, wenn in den Zweikämpfen die eigene Waffe zerstört wurde, nicht unmittelbar greifbar war oder räumliche Verhältnisse den Einsatz der Waffe unmöglich machten.
Aufgrund ihrer Unverzichtbarkeit wurde die Selbstverteidigungsform Taijutsu in den Kampfschulen über Generationen gelehrt und weitergegeben. Mit dem endgültigen Verbot Waffen in der Öffentlichkeit zu tragen, richtete sich zwangsläufig das Augenmerk verstärkt auf die waffenlose Verteidigung.
Die Verteidigungsform Taijutsu wurde auch in bedeutenden Kampfschulen bzw. Kampfstilen wie Daito-ryu jujutsu bzw. später Daito-ryu Aiki jujutsu praktiziert. Die Weitergabe dieses Kampfstils erfolgte - so wie berichtet wird - fast lückenlos innerhalb der Familie Takeda. Ende des 19. Jahrhunderts lehrte Takeda Sokaku (1859 – 1943) diese Kampfform dann auch in der Öffentlichkeit.
Noch heute wird Daito-ryu Aiki jujutsu weltweit mit der ursprünglichen Strenge trainiert, jedoch selbstverständlich nicht mehr in der ursprünglich zerstörerischen Form. Anscheinend zufällig trafen Takeda Sokaku und Ueshiba Morihei (1883 – 1969), dem späteren Begründer des Aikidos, um 1915 auf
Japans nördlicher Hauptinsel Hokkaido zusammen. Dort war Ueshiba Morihei im Rahmen eines Regierungsprogramms zur Landgewinnung u.a. als Landwirt tätig.
Takeda nahm Ueshiba als direkten Schüler an und lehrte ihm über einen längeren Zeitraum die Techniken des Daito-ryu Aiki jujutsu. In dieser Kriegskunst erreichte Ueshiba die Position „Kyoyu Dairi“, die ihm eine hohe Kenntnis im waffenlosen aber auch im bewaffneten Kampf mit einem Diplom bescheinigte.
Ueshibas persönlichen Erfahrungen im japanisch-russischen Krieg (1904) sowie seine Gefangenschaft in der Mongolei, in der ein bereits verhängtes Todesurteil gegen ihn auf diplomatischem Wege widerrufen wurde (1925), brachten ihn zu der Erkenntnis, dass Konflikte möglichst frühzeitig vermieden werden sollen, da diese selten dauerhaft mit Kampf beseitigt werden können. Dass im 2. Weltkrieg viele seiner Schüler in den Kämpfen zu Tode kamen sowie die verheerenden Folgen der Atombomben-Abwürfe auf Nagasaki und Hiroshima, bestärkten ihn dazu einen Weg des Friedens über die Kampfkünste zu finden.
Wie berichtet wird, war Ueshiba Morihei bereits lange Zeit vor der Schaffung seines Aikido auf der ständigen Suche nach der „Essenz des Budo“. Dabei kam er zu der Überzeugung, dass ein Gebrauch der Waffen und die Anwendung von waffenlosen Kampftechniken nur dem Zweck dienen sollen, Lebewesen zu schützen und mit dem Universum in Einklang zu gelangen.
Diese Geisteshaltung fand er nicht in den Kampfformen, mit denen er sich bereits seit seiner Jugend auseinandersetzte.
Dies galt auch für die Ausführungen der Techniken in der Kriegskunst Daito-ryu Aiki jujutsu.
Von diesen pazifistischen und lebensbejahenden Gedanken beseelt, begann Ueshiba Morihei auf den Kampftechniken des Daito-ryu Aiki jujutsu seine neue Kampfkunst aufzubauen.
Techniken, die ursprünglich auf die alleinige und sofortige Zerstörung des Angreifers ausgerichtet waren, sollten nun dazu dienen, einen bereits durch Hebel oder Würfe kontrollierten Angreifer von dessen nutzlosem Tun relativ unverletzt abzubringen, um einen friedvollen Weg zu weisen.
Im Gegensatz zu anderen Kampfformen richteten sich nun die Verteidigungstechniken seiner Kampfkunst nicht mehr gegen den Angreifer sondern gegen den Angriff.
Es gilt nicht mehr, den Angreifer als Menschen zu zerstören sondern nur den Angriff emotionslos abzuwehren und den Angreifer von seinem aggressiven Tun und schlechten Handeln abzubringen.
Aikido ermöglicht nun die Verteidigungstechniken so auszuführen, dass diese der Härte des Angriffs und der jeweiligen Konfliktsituation angemessen sind. So muss ein angetrunkener und bereits torkelnder Angreifer ggf. mit weniger Strenge überwältigt werden als ein konzentrierter und bewaffneter Angreifer.
In der über Jahre andauernden und intensiven Entwicklungsphase gab Ueshiba Morihei seiner Kampfkunst den jeweiligen Umständen und Zwängen halber unterschiedliche Bezeichnungen bis er nach Ende des 2. Weltkrieges seine Kampfkunst letztendlich Aikido benannte.
Der Begriff Aikido setzt sich aus den drei Schriftzeichen Ai, Ki und Do zusammen und wird sinngemäß so erklärt:
„Weg (DO) zur Harmonisierung (AI) der kosmischen Kraft (KI)“.
Wie bereits erwähnt, zeichnet sich die Kampfkunst Aikido durch eine friedvolle und von der Nächstenliebe geprägten Geisteshaltung gegenüber den Mitmenschen aus, deren Inhalte sich auch im Einsatz und in der Ausführung ihrer Verteidigungstechniken widerspiegeln. Von einen Aikidoka soll weder ein körperlicher Angriff noch eine Aggression in verbaler Form erfolgen (z.B. sein Gegenüber zum Angriff animieren).
Der fortgeschrittene Aikidoka möchte nicht kämpfen. Er sucht daher nicht den Kampf zur Konfliktlösung und nicht den Wettkampf als Leistungsmesser. Darin unterscheidet sich die Kampfkunst Aikido wesentlich von anderen Budo-Disziplinen, Kampfsportarten oder Wettkampfsportarten.
Die Kampfkunst Aikido unterscheidet sich jedoch nicht nur in ihrer pazifistischen Grundeinstellung von anderen Kampfdisziplinen sondern auch in der Art, wie Aggressionen wahrgenommen und überwunden werden. Während fast alle Kampfdisziplinen darauf ausgerichtet sind, möglichst frontal und augenblicklich gegen den Angreifer vorzugehen, wählte der Begründer für sein Aikido einen anderen Weg der Verteidigung.
Für Aikido charakteristisch gelten vielmehr die Grundsätze „Wird geschoben, gebe nach und wird gezogen, trete ein“ oder „Die Leere füllen und die Fülle leeren“. Diese Grundsätze waren ursprünglich auch charakteristisch für die Budo-Disziplin Judo, bevor diese sich in ihrer Geisteshaltung zu einem olympischen Wettkampfsport veränderte.
Wir wissen zwischenzeitlich, dass Aikido sich aus dem Daito-ryu Aiki jujutsu entwickelt hat. Betrachten wir die Techniken des Daito-ryu Aiki jujutsu wird schnell erkennbar, dass der Verteidiger - wenn überhaupt - nur minimal ausweicht und den Angreifer sofort mit gezielten Schlägen zum Kopf, Hals oder Körper stoppt. Dadurch wird der Angreifer schon frühzeitig so erheblich verletzt, dass er mindestens kurzzeitig geistig und körperlich in eine instabile Position gerät, welche der Verteidiger zum Einsetzen seiner Techniken effektiv nutzt.
Im Aikido werden dagegen Schläge oder Fußtritte gegen den Angreifer nicht angewendet. Wenn erforderlich, werden Attacken zum Kopf des Angreifers mit der Faust oder offenen Hand („Atemi“) nur soweit angedeutet, dass er mit den Kopf reflexartig nach hinten ausweicht und somit in eine momentane geistige und körperliche Instabilität gerät. In diesem kurzen Moment der Unsicherheit verliert der Angreifer seine geistige Orientierung (er erschrickt), was seine Angriffsdynamik wesentlich hemmt bzw. abschwächt.
Die dabei erzielte geistige und körperliche Instabilität nutzt der Aikidoka, um die Angriffskraft durch Weiterleiten zu neutralisieren und den Angreifer in einer instabilen Position zu halten, in welcher der Aikidoka seine Hebel- oder Wurftechniken erfolgversprechend einsetzen kann.
Die Techniken des Aikidos sollen nicht mit Muskelkraft ausgeführt oder unterstützt werden. Der erfahrende Aikidoka „spielt“ mit der Angriffskraft des Angreifers und führt diese durch gezielte kreis- und spiralförmige Ausweichbewegungen mühelos auf den Angreifer zurück.
Die nachfolgende Bildfolge soll den noch unbedarften LeserInnen einen kleinen Eindruck vermitteln, wie sich ein Aikidoka gegen Angriffe mit einer Wurftechnik (hier: Ude-kime-nage) und einer Hebeltechnik (hier: Udekime-osae) verteidigen kann.
Selbstverständlich kann hier die dynamischen Ausführung der Techniken nur ansatzweise vermittelt werden.
Nage-waza (Wurftechnik)
1 - Angreifer (Uke) und Verteidiger (Nage) stehen sich gegenüber, wobei der Uke (li) zu einem seitlichen Schlagangriff (Yokomen-uchi) ansetzt.
2 - Angriffsaufnahme: Nage tritt in den Uke ein und sichert dabei mit seiner vorderen Hand die Schlaghand des Ukes. Gleichzeitig wird mit der anderen Hand ein Schlag zum Gesicht angedeutet (Atemi), um den Uke kurz zu irritieren aber ohne dabei den Angriffsdruck des Ukes merklich zu mindern.
3 - Mit seiner Ausweichbewegung lässt der Nage den Angriffsdruck des Ukes laufen.
4 - Nage führt den Schlagarm des Ukes vor seine Körpermitte (Hara) und neutralisiert damit die Angriffskraft. Bis dahin hat sich der Nage relativ passiv verhalten.
5 - Nun wird der Nage aktiv indem er mit seinem freien Arm von unten Druck auf den Ellenbogen des Ukes ausübt und dabei dessen Arm überstreckt.
6 - Mit einem Schritt nach vorne erhöht der Nage den Druck auf den Ellenbogen und gleichzeitig auf die Schulter des Ukes, so dass dessen Körper schräg nach vorne geführt wird, was seine Instabilität extrem erhöht.
7 - Nun sind die Voraussetzungen geschaffen, um den Uke aus der Körpermitte des Nages heraus ohne Anstrengungen werfen zu können.
Katamae-waza (Hebeltechnik)
1 - Angreifer (Uke) und Verteidiger (Nage) stehen sich gegenüber, wobei der Uke (li) zu einem seitlichen Schlagangriff (Yokomen-uchi) ansetzt.
2 - Angriffsaufnahme: Auch hier tritt der Nage in den Uke ein und sichert dabei mit seiner vorderen Hand die Schlaghand des Ukes. Gleichzeitig wird mit der anderen Hand ein Schlag zum Gesicht angedeutet (Atemi), um den Uke kurz zu irritieren aber ohne dabei den Angriffsdruck des Ukes merklich zu mindern.
3 - Während des Ausweichens fixiert der Nage den Schlagarm des instabilen Ukes am Handgelenk. Dabei verdreht er den Arm des Ukes so, dass dieser dem Arm nicht mehr angewinkelt zurückziehen kann.
4 - Bei seinem Schritt nach vorne hält der Nage den Uke in seiner Instabilität und kann in ihn eintreten.
5 + 6 - Mit einem anschließenden Strecken des Armes bei einem gleichzeitigen senkrechten Druck auf den Ellenbogen wird der Uke in die Bewegung des Nages aufgenommen.
7 - Mit einer strengen Fixierung der Schultern - bei einem gleichzeitige Absenken der Körpermitte - verstärkt der Nage den Druck nach unten.
8 - Nun bewegt sich der Nage mit seinem Körper nach unten zum Abknien.
9 - Im Kniestand wendet der Nage den Arm des Ukes in einer Weise, dass er diesen kontrolliert am Boden fixieren kann.
10 - Abschließend wird der Druck über den gegriffenen Arm auf die Schulter so schmerzhaft erhöht, bis der Uke seine Aufgabe signalisiert.
Für Aikido kennzeichnend sind die mitunter weiten und geschmeidigen Ausweichbewegungen. Wer zum ersten Mal Aikido im Rahmen einer Vorführung o.ä. erlebt, ist meist von der Ästhetik der Körperbewegungen beeindruckt. Zumal für Außenstehende zunächst nicht erkennbar ist, warum ein Angreifer bei dieser relativen Weichheit der Bewegungen, die gelegentlich an einen Tanz erinnern, überhaupt überwältigt werden kann.
Bei der Dynamik der Bewegungen ist für sie anfangs unmöglich zu erkennen, dass der Aikidoka die Gelenke des Ukes frühzeitig hebelt (verdreht) und dabei gleichzeitig seinen Körper so effizient positioniert, um den Angreifer zu destabilisieren und final nur mit seiner Körperbewegung (ohne Muskelkraft) werfen oder hebeln zu können.
Oft gestaltet es sich als problematisch, wenn Aikidoka ihre Kampfkunst für Außenstehende an praktischen Beispielen erklären sollen. Noch unbedarft Interessierte haben selten die Gelegenheit am eigenen Körper zu spüren, welche Schmerzen konsequent ausgeführte Hebeltechniken an den Handgelenken hervorrufen können. Im Gegensatz dazu muss beispielsweise ein Karateka die Wirkung eines gezielten Fauststoßes ins Gesicht oder eines kraftvollen Tritts in den Unterbauch nicht an praktischen Beispielen erklären. Die Wirksamkeit dieser Techniken ziehen hier Außenstehende von vornherein nie in Zweifel.
Dagegen kann ein Aikidoka seine Techniken Interessierten bzw. im Aikido noch Unerfahrenen nur in ihrem Ablauf vorstellen und dabei nur andeutungsweise ihre Wirksamkeit spüren lassen. Dies hat mitunter zur Folge, dass Außenstehende die Techniken - wegen der fehlenden Strenge - vorschnell als nicht wirkungsvoll einschätzen.
Um aber Verletzungen bei einer schonenden Vorstellung der Techniken auszuschließen, müssen wir im Aikido mit dieser Fehleinschätzung von Seiten der Laien leben. Dies geschieht mit dem Wissen, dass die Techniken des Aikidos in einem ernsthaften Verteidigungsfall - von fortgeschrittenen Aikidokas konsequent angewendet - äußerst schmerzhaft und somit dominierend sind.
In den zurückliegenden Kapiteln sollten den LeserInnen die Historie der japanischen Kriegs- und Kampfkünste in einem relativ kurzen Abriss etwas näher gebracht werden.
Insbesondere sollte hierbei aufgezeigt werden, worin sich Aikido von anderen traditionellen, japanischen Budo-Disziplinen aber auch von anderen asiatischen Wettkampfsportarten unterscheidet, deren Wurzeln außerhalb Japans liegen, wie z.B. Taekwondo (Korea), Kung Fu (China).
Es wurde für Außenstehende hoffentlich hinreichend verständlich, dass mit Aikido eine Kampfkunst kreiert wurde, die aufgrund ihre Geisteshaltung und Zielsetzung schon eine Besonderheit darstellt und daher einzigartig ist.
Mit diesen kleinen Basiswissen ausgestattet, werden die nachfolgenden Erläuterungen nun sicher anschaulicher, wenn es um die Erklärung geht, wozu eine aus den Anfängen der vorherigen Jahrhunderte stammende Kampfkunst mit ihrer scheinbar „alten“ Lebensphilosophie in unserer hochtechnisierten Welt von Bedeutung sein kann. Insbesondere für die Lebensgestaltung der modernen Menschen und bei der Bewältigung von Alltagsproblem in beruflichen und privaten Bereichen. Eine Kampfkunst, die zum Selbsterkennen und Selbstfinden sowie zur Entwicklung einer selbstbewussten Persönlichkeit positiv beitragen kann.
Das Training der Kampfkunst Aikido soll auch dazu verhelfen, im Übenden eine Einheit von Körper und Geist zu schaffen. Diese bekannte und oft zitierte Formulierung erscheint vielen Menschen als schwer verständlich. Außenstehende fragen sich irritiert, wie sollen Körper und Geist in einem Verhältnis stehen, wenn der Geist - so wie die Seele - bereits ein Teil des Körpers ist.
Um die Erklärung zu erleichtern, sollten wir anstelle von Körper und Geist von körperlichen und geistigen Ebenen im Menschen reden. So stehen - vereinfacht ausgedrückt - die geistige Ebene für das Denken und Entscheiden und die körperliche Ebene für das Handeln und das Umsetzen der Gedanken. Ein Ziel im Aikido ist nun, über ständiges Üben diese beiden Ebenen zu einer Einheit zusammenzufügen. Sicher gibt es zahlreiche Erklärungen, um dieses Phänomen der Einheit von Körper und Geist verständlich zu machen. An dieser Stelle nehmen wir die Selbstverteidigung als ein typisches Beispiel heraus.
Wenn ein bereits weit fortgeschrittener Aikidoka auf einen Angriff reagiert, geschieht dies in der Regel so schnell, so dass er mit seinen Armen den Angriff abwehren kann. Eine noch in der Selbstverteidigung ungeübte Person hingegen würde in der gleichen Situation wahrscheinlich zu Schaden kommen, weil sie auf den Angriff nicht schnell genug reagieren kann.
Das „Geheimnis“ liegt darin, dass der Aikidoka über eine schnellere Reaktionszeit verfügt. Spätestens vom Komiker Otto Waalkes haben wir - zwar überzeichnet aber dennoch nachvollziehbar - in seinem humorvollen Vortrag erfahren, warum Ungeübte vom Erkennen und Lesen einer Situation bis zum geeigneten Einsatz ihrer Gliedmaßen mehr Zeit benötigen („Auge an Großhirn, Großhirn an Faust - ballen“).
Aufgrund des im Training intensiven und sich ständig wiederholenden Übens zur Verbesserung der Reaktionsfähigkeit auf einen unmittelbaren Angriff, verkürzen sich im Körper zunehmend die „Informationswege“ vom Erfassen des Angriffs mit den Augen bis zum Aufstellen der Arme, um sich vor dem Angriff zu schützen.