Ein Beitrag zur Kulturgeschichte
von
Dr. P. Bahlmann.
Verlag von H. Mitsdörffer Hans Ertl.
Münster-Westf.
as Interessanteste und Wichtigste, – sagen v. Mering und Reischert[1] – was sich dem Menschen in diesem Erdenleben darbietet, ist in allen Beziehungen der Mensch selbst. Wenn er uns im Alltagsgewande schon Stoff genug zu den mannigfaltigsten Bemerkungen und Betrachtungen giebt, um wie anziehender muß er uns alsdann nicht da erscheinen, wo er in das Gebiet des Außerordentlichen oder des Wunderbaren übertritt und gleichsam eine höhere Natur annimmt. In solchen Verhältnissen schreitet er als ein zu einem höheren Berufe geadeltes, fremdartiges, unbegreifliches Wesen an uns vorüber, und wir können kaum der Versuchung widerstehen, den Veranlassungen solcher außerordentlichen Erscheinungen nachzuspüren, wiewohl die Ergebnisse unsere Mühe nicht immer belohnen und die scheinbar höheren Gebilde, mit der Lampe der Vernunft betrachtet, in der Regel sich wieder auf das Gewöhnliche reduzieren.
In eine vernichtende Kritik aber wollen wir diesmal nicht eintreten, sondern uns lediglich darauf beschränken, alle noch erreichbaren Nachrichten über die bemerkenswertesten Seher des Rheinlandes und ihre Prophezeiungen[2] endlich einmal zusammen zu fassen. Wir unterziehen uns dieser Aufgabe, nicht etwa um alten Aberglauben neu beleben zu helfen, sondern weil die „Sagen der Zukunft“, wie man die Weissagungen nicht mit Unrecht genannt, wegen des Einblicks, den sie vielfach in die Eigenart der Bevölkerung, ihr Sehnen und Wünschen, ihr Hoffen und Fürchten gewähren, für den Kulturhistoriker von derselben Bedeutung sind, wie alle anderen Volksüberlieferungen, und glauben eine freundliche Aufnahme unserer Zusammenstellung auch deshalb erhoffen zu dürfen, weil das spöttische Achselzucken und überlegene Lächeln, womit trotz der noch äußerst mangelhaften Kenntnis der rätselhaften Erscheinungen unseres Seelenlebens alle derartigen Mitteilungen meist aufgenommen werden, leider so manchen Mund geschlossen und zugleich bewirkt hat, daß selbst die ohnehin recht dürftige Litteratur nirgends sorgsam gesammelt und daher manches Buch gar nicht oder nur sehr schwer mehr zu finden ist.
Eine bisher zwar auch unerklärte, aber jetzt doch schon von vielen zugegebene Erscheinung ist das sogen. „Zweite Gesicht“,[3] d. h. das Vermögen, wirkliche Begebenheiten der Gegenwart oder Zukunft fernschauend wie mit leiblichem Auge zu erkennen. Die „Vorgesichte“ – in Westfalen und am Niederrhein „Vorgeschichten“ genannt[4] – sind, abweichend z. B. vom somnambulen Hellsehen, stets mit Rückerinnerung verbunden und nehmen nie eine religiöse oder übersinnliche Richtung, sondern halten sich ganz in der Sphäre des gewöhnlichen bürgerlichen Lebens, meist Todesfälle und Leichenbegängnisse, aber auch Brände, Hochzeiten, Geburten, Freundschaften, das Ankommen von (dem Seher oft ganz unbekannten) Fremden und dgl. betreffend. Die Gabe findet sich weit mehr bei Männern als bei Frauen, ist aber an kein besonderes Alter und keine bestimmte Zeit gebunden. Im Augenblick des Schauens ist der Seher ganz von seinem Bilde eingenommen, sieht und denkt nichts anderes und nimmt keine Notiz von seiner Umgebung: die Augenlider oft krankhaft einwärts gekehrt, sieht er starr vor sich hin. „Es giebt wenig Städte am Rhein,“ – wird 1822 berichtet[5] – „wo nicht solche Geschichtler anzutreffen wären, und daß man bisher so wenig davon geredet hat, liegt in der nicht bloß am Rhein bekannten Erfahrung, daß die Aufklärung der Schriftgelehrten bereits so weit fortgeschritten ist, daß man in ihrer Gegenwart schon kein Faktum mehr erwähnt, was nicht durch sie anerkannt worden“.
Die meisten Vorgesichte freilich können ihres Inhalts wegen nur ganz enge Kreise interessieren, und auch dadurch erklärt sich die manchem befremdliche Thatsache, daß trotz ihrer früheren Häufigkeit[6] verhältnismäßig nur so wenig Fälle veröffentlicht sind. Wer jedoch einigermaßen mit dem Volke gelebt und sein Zutrauen gewonnen hat, vermag selbst heute noch neues einschlägiges Material in Fülle beizubringen, wie dies erst kürzlich wieder der Bibliothekar des Bergischen Geschichtsvereins[7] bewiesen. Nach seiner mustergültigen Sammlung sah u. a. ein Mann im Dönberg den noch kerngesunden zehnjährigen Sohn seines Schwagers, dem er auch den Verlust eines zweiten Kindes ankündigte, auf dem Schoof (Totenbrett) in einem Gange stehen;[8] ein Schäfer in Nordrath sah des Abends einen Leichenzug über ein Feld[9], ein Bauer aus Kürten über einen schmalen Steg über die Sülz[10] ziehen; ein Kuhhirt auf einem Gehöft bei Wülfrath zur Mittagszeit den Pferdeknecht zu Grabe tragen;[11] ein Schäfer bei Böckum unweit Großenbaum um Mitternacht eine Leiche aus dem Fenster ins Freie schaffen;[12] eine Frau auf dem Gehöft Eschen (Gem. Mettmann) nachmittags einen Mann, dann ein Pferd, einen Leichenwagen und zuletzt viele Leidtragende vom Herbecker Wald her in die Chaussee einbiegen;[13] ein Mann kurz vor Mitternacht zwischen Herkenrath und Hof Büchel den Vater eines Bekannten nebst dem Geistlichen und Gefolge zu einer Beerdigung aus dem Hause treten[14] – und alles sei buchstäblich eingetroffen, wie es die Seher vorhergesagt.
Schon im Jahre 1668[15] trieb in Andernach zur Zeit einer pestartigen Krankheit der Geisterseher Cornelius Schnegell sein Unwesen, indem er gegen das Verbot des Magistrats angebliche Geistererscheinungen in Umlauf setzte und dadurch Trauer und Schrecken über manche Familie brachte. Von erster Kindheit an – erzählte er – habe ich Geister geschaut, und in der letzten Matthiasnacht sind mir plötzlich die Augen derart erleuchtet, daß ich des Nachts ebenso klar sehe, wie bei Tage. Namentlich in den Prozessionen, die zur Abwendung der Pest gehalten werden, sehe ich im voraus das Schicksal meiner Mitbürger: die ich fallen und nicht wieder aufstehen sehe, müssen sterben; solche, welche nach dem Falle sich wieder erheben, werden zwar krank, sterben aber nicht; endlich diejenigen, welche bloß straucheln, werden nur von einem leichten Anfall getroffen. Ich sehe die Geister in weißen und schwarzen Kleidern und halte dafür, daß jene selig, diese verdammt werden. Wenn sie erscheinen, verbleibe ich bisweilen im Bette, häufig aber muß ich aufstehen und sie bis zur Thür begleiten. Diese Erklärung setzte den Rat, der selbst überall Spuk und Zauberei witterte, in nicht geringe Verlegenheit, obschon bekannt war, daß der Geisterseher mitunter freilich in seinen Vorhersagungen die Wahrheit getroffen, öfter aber „schändlich sich vertretten und seiner Zungen Zoll verfahren“ hatte. Man wandte sich deshalb um Auskunft an die gelehrten Franziskaner in Köln und legte ihnen die Frage vor, ob dergleichen Erscheinungen begründet und glaubwürdig seien oder nicht. Daß es kein bloßes Spiegelgefecht und keine Narrheit ist, fügt der Rat seiner Anfrage bei, kann man daraus abnehmen, daß oft in Kirchen, adligen und anderen Häusern Gespenster gehört oder gesehen werden und bald darauf Leichen folgen. Diese Erscheinungen haben auch solche, denen man nichts Böses nachsagen kann, ja die Heiligen haben solche absonderlich oft gehabt. Es ist ferner bekannt,P.P. P.