Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 Karl-Heinz Schwarze
Umschlagdesign, Satz, Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-8448-5027-7
Annette von Droste-Hülshoff
Büste im Park des Hauses Hülshoff
Abbenburg: Torturm, Alte Rentei, Herrenhaus
Haus Bökerhof: Bökendorfer Märchenkreis
Einer der „reizenden Plätze in der nächsten Umgebung“. So beschreibt Annette von Droste-Hülshoff in einem Brief die Abbenburg. Dort wohnte sie während eines längeren Besuches bei ihrem Onkel Fritz von Haxthausen. Über den Platz auf dem Titelbild schreibt sie: „ …wo eine gewaltige Linde ihre Zweige fast auf den Boden senkt, und es sich auf den Sitzen gar anmutig über dem Wasser träumen lässt.“
Dieser Platz hat Annette von Droste-Hülshoff auch zu dem Gedicht „Unter der Linde“ angeregt. Darin heißt es:
„Mein Sitz war dicht am Wege,
Ich konnte ruhig spähn;
Doch mich, verhüllt vom Strauche,
Mich hat man nicht gesehen;
Sein (des Efeus) düstres Grün umrankt
Noch manchen kranken Zweig;
Doch die gesunden spielten
Wie doppelt grün und reich.
Wie hast du, alter Knabe(Linde),
So frisches Herz bewahrt?
Auf einer Seite trauernd
Und auf der andern licht,
Zeigst du auf grauer Säule
Ein Janusangesicht. …“
Im Umfeld der Abbenburg und des Bökerhofes geschah der historische Judenmord, der die wesentliche Quelle für Annette von Droste-Hülshoffs Erzählung „Die Judenbuche“ gewesen ist. Das Fachwerkgebäude rechts im Titelbild ist die alte Rentei der Haxthausenschen Besitzungen. In diesem Gebäude hat am 10. Februar 1783 jene Gerichtsverhandlung stattgefunden, in der geklärt werden sollte, ob der Bauernknecht Hermann Georg Winckelhan dem Handelsjuden Soistmann Berend eine Schuld bezahlen müsste. Hier begegneten sich das spätere Opfer, der Händler Berend, und sein Schuldner, der spätere Täter, vor dem Mord zum letzten Mal. Den historischen Sachverhalt hat Horst-Dieter Krus in seinem Buch „Mordsache Soistmann Berend“ erforscht.
Annette von Droste-Hülshoff hat die historischen Ereignisse in ihrer Erzählung stark verändert. Sie formt die Tatsachen so um, dass die Erzählung zu einem leidenschaftlichen Appell für Mitmenschlichkeit wird. Daher lässt sie vor allem offen, wer der Mörder des Juden ist. Auch neuere Literatur zur „Judenbuche“ sieht den Protagonisten, Friedrich Mergel, noch häufig als Mörder. Sein Selbstmord wäre in dem Fall ein Selbstgericht und das Verscharren seiner Leiche auf dem Schindanger eine gerechte Strafe. Die vorliegende Analyse zeigt, dass solche und ähnliche Deutungen unvereinbar sind mit Annette von Droste-Hülshoffs Plädoyer für Barmherzigkeit.
Die Dichterin fordert Mitmenschlichkeit – und ist daher keinesfalls als Antisemitin zu bewerten. Diesen Vorwurf hat Norbert Mecklenburg in seiner umfangreichen Analyse aus dem Jahr 2008 „Der Fall Judenbuche – Revision eines Fehlurteils“ erhoben. Annette von Droste-Hülshoffs Anliegen ist es jedoch, mit der „Judenbuche“ zu veranschaulichen, dass genau solche Vorurteile Mitmenschlichkeit zerstören. Norbert Mecklenburg revidiert zwar wie schon einige Autoren vor ihm die These, Friedrich sei der Mörder des Juden, doch indem er Friedrichs Gewissen als „Kernkonzept“ der Autorin festschreibt, engt er die Absicht der Erzählung unzulässig ein und verfehlt die Intention.
Annette von Droste-Hülshoff verlangt vom Leser ein hohes Maß an kreativer Mitarbeit. Der Leser wird zum Mit-Autor. Der Vorspruch zur „Judenbuche“ setzt dafür eine Leitlinie, eine Art Notenschlüssel für das richtige Lesen. Das Verbot im Vorspruch, ein vorschnelles Urteil über ein „arm verkümmert Sein“ zu fällen, deutet zudem auf Absicht und Intention voraus: Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit. Zu solchem Verhalten fordert Annette von Droste-Hülshoff den Leser auf. Ihn hat sie mit ihrer Gestaltung vornehmlich im Blick. Die folgende Analyse versucht, dies bis in Details zu erschließen. Die vielschichtigen Formen der Erzählung sprechen den Leser in mannigfacher Weise an. Solche Gestaltungsmittel sind vor allem die subtile Ironie, die komplizierten Bildgeflechte, die polare Struktur, die kontrastreichen Verzahnungen, die gegensätzlichen Bewertungen. Sie verlangen vom Leser einen ständigen Wechsel der Perspektive. Er muss kritische Distanz zum Geschehen üben und auch zu sich selbst. Mit diesem Ansatz, dass die Appellstruktur den Text wesentlich bestimmt, lassen sich zahlreiche der Probleme lösen, die in manchen der bisherigen Deutungen offen geblieben sind.
I. Zum Entstehungsprozess
I. 1 Mücken-Schwärme
I. 2 Die Vorarbeiten der Autorin
I. 3 Die Analyse des Vorspruchs
I. 4 Zur literarischen Kommunikation
I. 5 Thema, Absicht und Intention
II. Die einführenden Abschnitte der Erzählung
II. 1 Das räumliche und soziale Umfeld – Bedingungen für die Entwicklung Friedrichs
II. 2 Der Gegensatz von innerem Rechtsgefühl und äußerem Recht
II. 3 Das Dorf B. als Exemplum
III. Die Familie und der Tod des Vaters
III. 1 Vater und Vaterhaus
III. 2 Die Mutter
III. 3 Die Ironie – ein wichtiges formales Mittel
III. 4 Der Tod des Vaters
III. 5 Die Erziehung durch die Mutter und deren Wirkung
III. 6 Friedrichs Suche nach Nähe und Liebe
III. 7 Friedrich in einem Teufelskreis
IV. Die Adoption durch den Oheim
IV. 1 Die Geschwister Simon und Margret
IV. 2 Friedrichs Adoption durch seinen Oheim Simon
IV. 3 Friedrichs und Simons Gang durch das Brederholz
IV. 4 Das Doppelgängermotiv
IV. 5 Das Verhältnis Friedrichs zu seinem Oheim Simon
IV. 6 Friedrichs Imponiergehabe: Ursache und Wirkung
IV. 7 Friedrich in der Zwickmühle zwischen Dorfelegant und Hirtenbube
V. Der Tod des Försters und Friedrichs Gewissen
V. 1 Friedrich in der Spanne zwischen zwei Gruppen
V. 2 Der dramatische Dialog zwischen Brandes und Friedrich
V. 3 Die Folgen der Irreführung
V. 4 Die Selbstreflexion des Erzählers – Das Verhältnis von Fiktion und Realität
V. 5 Friedrichs Gewissen und sein Versuch, zur Beichte zu gehen
V. 6 Die Perspektivführung und ihre Funktion
V. 7 Die Folgen des verhinderten Beichtgangs und die Charakterisierung der Dörfler
VI. Das Hochzeitsfest und der Mord am Juden Aaron
VI. 1 Die Hochzeitsgesellschaft
VI. 2 Das Spannungsverhältnis von Individuation – Sozialisation
VI. 3 Friedrichs Toast
VI. 4 Das lieblose Brautpaar
VI. 5 Die Demaskierung Friedrichs
VI. 6 Die Zuschauer – ein Spiegelbild für den Leser
VI. 7 Die Gutsherrschaft
VI. 8 Schauerromantik und Aberglaube
VI. 9 Das „Wort Gottes“ im Gewitterdonner
VI. 10 Der Gutsherr als Gerichtsherr und das Versagen der Justiz
VI. 11 Ist Friedrich der Mord am Juden Aaron zuzutrauen?
VI. 12 Äußeres Recht und innere Schande
VI. 13 Der französische Spruch – Die Realität als „Wahrscheinlichkeit“
VI. 14 Die Sprachverwendung
VI. 15 Friedrichs Flucht
VI. 16 Die deformierte Gemeinschaft
VI. 17 Die Widerlegung des Vorwurfs, Annette von Droste-Hülshoff äußere sich in der „Judenbuche“ antisemitisch
VI. 18 Das Thema formt die Komposition
VI. 19 Die Figurenkonstellation
VI. 20 Die polare Struktur als ein Mittel der Leseraktivierung
VI. 21 Die besonderen Formen der Ironie
VII. Die Rückkehr
VII. 1 Am Weihnachtsabend auf dem Hang vor dem Dorf und die Bitte um Barmherzigkeit
VII. 2 Eine neue Maske und die Sensationsgier der Dorfbewohner
VII. 3 Warum löst er die Fehlangabe über seine Identität nicht auf?
VII. 4 Der Gutsherr – „Dumm genug“
VII. 5 Die Sklaverei als Bild der Entmenschlichung
VII. 6 Abstieg und Realitätsverlust
VII. 7 Der Selbstmord – kein Indiz für die Mordtat an Aaron
VII. 8 Annette von Droste-Hülshoffs Kritik an Schicksalsmacht und Schauerromantik
VII. 9 Der Baum als Zufluchtsort
VII. 10 Das unbarmherzige und mitleidlose Urteil des Gutsherrn und der Dorfbewohner
VII. 11 Die Narbe als ungeeignetes Indiz für die Identifizierung und für die Schuld
VII. 12 Die Funktion der zweiten metafiktionalen Selbstreflexion des Erzählers
VII. 13 Die Übersetzung des hebräischen Spruches im Schlusssatz – ein Appell
VII. 14 Ein Vergleich der sechs Sprüche und ihre vielschichtige Verzahnung
VII. 15 Die Provokationsstruktur der „Judenbuche“
VII. 16 Die „Seele“ als der Kern menschlicher Verantwortung
VII. 17 Kontrastreiche Bildgeflechte zum Thema „Seele“, Schuld und Verantwortung
VII. 18 Das vielschichtige Bildgeflecht „Baum“
VII. 19 Der Umgang mit Friedrichs „Seele“
VII. 20 Die Entschlüsselung der Geheimsignale
VII. 21 Der Erzengel Michael als „Seelenwäger“
VIII. Bewertung und Bedeutung
Endnoten
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
„Gedanken und Bilder strömen mir zu, aber sie sind wie scheugewordene Pferde, die nur um so unerbittlicher dahin rasseln, je kräftiger und kühner ihre angeborene Natur ist, … gäbe ich mich hin, sie trieben mich um wie der Strudel ein Boot, oder wie der Wind die Heuflocke treibt. Will ich ruhen, so summen und gaukeln die Bilder vor mir wie Mücken-Schwärme“, so beschreibt Annette von Droste-Hülshoff Teile ihres Schaffensprozesses.1
Dieses Bild meint ihre Intuition, das unbewusste Schaffen. Da gilt es für die Autorin, die gaukelnden Schwärme zu bändigen. Nötig ist ein bewusster Arbeitsprozess, der intensiv und gewissenhaft ist. Sie reflektiert ständig ihr Vorgehen. Sie prüft den Bedeutungs- und Stellenwert der Bilder.2 Sie gestaltet immer wieder um, erfindet Neues. Ferner sammelt sie neue Eindrücken und Motive. Ihre Vorarbeiten haben Experimentiercharakter.3 Die Quellen sind nur Materialreservoir, Änderungen werden gemäß der Absicht und Intention vorgenommen. „Mein Mergel“, wie sie schreibt, steht teils in deutlichem Gegensatz zu der Hauptfigur Winkelhannes in ihrer wichtigsten Vorlage, einem Bericht ihres Onkels. Zum Charakter der Person Winkelhannes passe ihr Mergel durchaus nicht.4 Der Onkel, August von Haxthausen, hat 1818 die „Geschichte eines Algierer Sklaven“ in der Göttinger Zeitschrift „Die Wünschelruthe“, veröffentlicht. Schrittweise hat Annette von Droste-Hülshoff sich von dieser Quelle entfernt.5 Somit unterscheiden sich ihre Fiktion und die historische Realität erheblich.
Ihr Gestaltungswille ist vor allem auch daran zu erkennen, dass sie nicht nur das Quellenmaterial, sondern auch ihre Vorarbeiten gezielt und bewusst stark verändert hat. Es gibt mehrere Entwürfe, ferner verschiedene Motivsammlungen und zahlreiche Notizen.6 Ihre Arbeit ruht zuweilen, weil sie auf die angemessene Idee zur Form wartet. Auch das Gestaltungsprinzip unterliegt also zumeist der Intuition.7 Der Stoff sei, so schreibt Annette von Droste-Hülshoff, in vielen Jahren immer interessanter geworden und habe „jedesmal ein immer tiefer dämmeriges Nachdenken“ zurückgelassen.8
Der Geist der übervollen Inspiration muss in eine dichterische Gestalt gegossen werden. Die „Mücken-Schwärme“ müssen Konturen gewinnen. Es muss jede Mücke, d.h. etwa jedes Bild, den ihr zukommenden Platz im Konturenschwarm, in der Gesamtkomposition, bekommen. Alle Gestaltungselemente müssen dann untereinander in Verbindung gesetzt werden. Jedes Bild wird in einem komplizierten Geflecht mit anderen Bildern verknüpft. Fast jedes wichtige Wort hat einen mehrschichtigen Verweisungscharakter. Jedes sprachliche Detail erhält so eine mehrfache, vielschichtige Bedeutung. Intuition und bewusster Gestaltungswille halten sich in diesem Schaffensprozess die Waage. Das Ergebnis ist eine kunstvoll gefügte Struktur mit einem umfassenden Bedeutungs- und Ordnungsgeflecht. Die „Judenbuche“ ist ausgezeichnet durch einen hohen Grad an künstlerischer Form.9
Es ist ein auffallendes Kennzeichen des langfristigen Arbeitsprozesses, dass Annette von Droste-Hülshoff ihre Entwürfe Schritt für Schritt stark verkürzt hat. Diese Verknappung wird zu einer „gezielten Strategie“.10 Sie schreibt dazu: „Ohne die Gabe des aller- entschlossensten Streichens … würden meinem Pegasus längst Eselsohren gewachsen sein“.11 Sie streicht jedoch nicht nur. Mit den Änderungen werden andere Sichtweisen, damit neue Schwerpunkte und Deutungen gesetzt. Annette von Droste-Hülshoff hat also im Verlauf des Arbeitsprozesses ihre Absicht und ihre Intention geändert. Erst in der Druckfassung liegt die äußerste Verknappung vor.12 Diese steigert die Deutungsvielfalt erheblich. Vermutlich ist das der Anlass gewesen, dass Annette von Droste-Hülshoff dem letzten Entwurf, H 8, einen Vorspruch vorangestellt hat.13 Die starken Verkürzungen haben zu einer solchen Verdunkelung und Verrätselung geführt, dass sie offensichtlich den Eindruck gewonnen hat, sie stelle zu hohe Ansprüche an das Verständnis des Lesers.14 Der Autorin ist der Vorspruch wichtiger als ein schlagkräftiger Titel. Sie nennt ihre Erzählung „Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen“. Den Titel „Judenbuche“ hat erst der Redakteur Hermann Hauff mit ihrer nachträglichen Einwilligung hinzugefügt. Dieser Vorspruch muss sehr ernst genommen werden. Für eine Dichtung in Prosa ist die lyrische Form ungewöhnlich. Mit diesem Vorspruch will sie dem Leser eine Leitlinie geben, in der rechten Weise mit dem Text umzugehen. Er wirkt wie ein Notenschlüssel, der die Richtung der Deutung bestimmt.
Die Arbeit an der „Judenbuche“ zieht sich mit großen Unterbrechungen über Jahre hin. Die letzte Arbeitsphase führt Annette von Droste-Hülshoff im Jahre 1841 aus. Am 1. 7. 1841 schreibt sie ihrer Schwester Jenny, dass die Erzählung fertig sei.15 Im Jahr 1842 erscheint diese als Fortsetzung in 16 Teilen vom 22.4 - 10.5. in den Ausgaben Nr. 96 - 111 in Cottas „Das Morgenblatt für gebildete Leser“.
Der wichtige, prägnant gestaltete Vorspruch bedarf einer genauen Analyse. 12 Verse im fünfhebigen Jambus sind paarweise gereimt. In den ersten 8 Versen wechseln klingende und stumpfe Kadenzen. Vier eindringliche rhetorische Fragen am Anfang folgen aufeinander, sie wirken provozierend. An diese Herausforderung, 8 Zeilen lang, schließen sich vier Zeilen an. Darin sind in nur anderthalb Zeilen drei knappe Appelle enthalten. Diese Verkürzung wirkt wie eine Zuspitzung. Diese Appelle bekommen dadurch besonderes Gewicht. Verstärkt wird die Gewichtung durch eine Kontrastierung. In dem Vorspruch geht es um ein mitmenschliches Fehlverhalten. Opfer und Täter werden antithetisch einander gegenübergestellt: „arm verkümmert Sein“, „beschränkten Hirnes Wirren“, „eitlen Blutes Drang“ kennzeichnet das mögliche Opfer, „Glücklicher“, „lichter Raum“, „von frommer Hand gepflegt“ charakterisiert den möglichen Täter. Er wird herausgefordert, an ihn wird appelliert. Es ist der fiktive Leser, direkt angesprochen im „Du“.
In eindringlichen Bildern wird er vor einem möglichen Fehlverhalten gewarnt. „Leg hin die Waagschal‘!… Laß ruhn den Stein“. Der Leser dürfe kein Urteil über ein „arm verkümmert Sein“ fällen. Das angemessene Urteilen über die inneren Vorgänge eines Menschen wird in den rhetorischen Fragen nicht nur in Zweifel gezogen, sondern grundsätzlich als undurchführbar hingestellt. „Ohne Irren“, „ohne Zittern“ sei keiner zu einem Urteil über einen anderen fähig. Wie schwierig ein solches Urteil sein kann, gestaltet die Zeile „Des Vorurteils geheimen Seelendieb“. Grammatische Zuordnung und Sinnzusammenhang dieses Verses bleiben ohne genaue Überprüfung unklar. Und der Appell wird nicht eingegrenzt. Ohne Einschränkung heißt es: „Leg hin die Waagschal‘!“.
Angesprochen ist jeder. Allen traut Annette von Droste-Hülshoff offensichtlich ein solches Fehlverhalten zu. Für den Fall, dass der Appell nicht beachtet wird, folgt im letzten Halbvers des Vorspruchs eine Warnung: „– er (Steinwurf) trifft dein eignes Haupt!“. Pointiert zugespitzt wirkt diese Warnung wie eine Strafandrohung; die Strafe wird vom Täter selbst verursacht. Es ist nicht die Strafe als Konsequenz eines Verbrechens, sondern als Konsequenz eines Urteils16 über ein „arm verkümmert Sein“. Dem möglichen Täter wird eine falsche Haltung unterstellt, und zwar die eines selbstgerechten, überheblichen Besserwissers. Dies muss schon deswegen umso provozierender wirken, als ja die Charakterisierung des fiktiven Lesers, „von frommer Hand gepflegt“, „Glücklicher“, dessen besondere Verantwortlichkeit nahe legt. Er brächte ja für ein positives Verhalten die nötigen Voraussetzungen mit. Die Eindringlichkeit des Vorspruchs lässt erkennen, dass es allein mit der Vermeidung eines Urteils nicht getan ist. Die Formulierung „arm verkümmert Sein“ deutet auf ein richtiges Verhalten hin, auf ein mitmenschliches – auf ein Mitleiden mit diesem „Sein“. Dass dies ein Kernbereich des Themas ist, lässt sich daran erkennen, dass es in der Erzählung fünfzehn verschiedene Wortvariationen zu dieser Wendung gibt.17
Der Vorspruch ist nicht Teil des erzählenden Textes. Der Sprecher befindet sich außerhalb der Erzählung in einer auktorialen, d.h. einer allwissenden, alles überschauenden Position. Es spricht hier zunächst einmal die Autorin. Allerdings sind die Warnungen, die Appelle, auch die Strafandrohung, so grundsätzlich, dass Annette von Droste-Hülshoff hier ihre Stimme einer höheren Autorität geliehen hat. Diese ist in den Anspielungen erkennbar. „Waagschal‘“ verweist auf die Justitia, Sinnbild der Gerechtigkeit. Deren Attribut ist die Balkenwaage. „Laß ruhn den Stein …“ spielt an auf Johannes 8, 7 im Neuen Testament: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie“.
Das Objekt, das nicht verurteilt werden sollte, wird direkt im Anschluss an den Vorspruch am Anfang des epischen Textes prononciert herausgehoben: „Friedrich Mergel“. Da vom Leser im Vorspruch verlangt wird, ständig sein eigenes Urteilen in Frage zu stellen, wird er auch dieser Hauptfigur gegenüber Distanz halten müssen. Doch eine Spannung entsteht nur, wenn der Leser eine Beziehung zur jeweiligen Figur entwickelt. Andererseits darf er sich nicht mit der Figur identifizieren; denn dann ginge die nötige kritische Distanz verloren. Der Leser sollte sich aber in die soziale und psychische Verfassung des Protagonisten einfühlen und über die Ursachen einer Fehlentwicklung reflektieren. In einem Brief formuliert Annette von Droste-Hülshoff in einer Kritik an Ferdinand Freiligrath eine falsche Leserhaltung so, dass Freiligrath mehr begeistere, als zum Nachdenken anrege.18 Da Annette von Droste-Hülshoff im Vorspruch von einem „arm verkümmert Sein“ spricht und in einem Brief von „meinem Mergel“, wird sie vom Leser eine solche nachdenkende, reflektierende Einfühlung erwarten.
Da der Vorspruch nicht nur eine Empfehlung und ein Vorzeichen für richtiges Lesen gibt, sondern den „Notenschlüssel“ für die Einstellung des Lesers setzt, liegt die Vermutung nahe, dass durch ihn auch die Form des gesamten Textes mitbestimmt ist.19
Der Analyse seien einige grundsätzliche Überlegungen zum Umgang mit fiktionalen Texten vorangestellt. In der literarischen Kommunikation sind die vier grundlegenden Kommunikationsfaktoren auf vielfältige Weise differenziert.
Anhand des literarischen Kommunikationsmodells soll das verdeutlicht werden.
Die Faktoren des realen Bereichs, im grauen Feld, stehen in einem mannigfachen Spannungsverhältnis zu den Faktoren im fiktiven Bereich, im blauen Feld.
Zum Faktor 1 : Annette von Droste-Hülshoff, die Autorin, erschafft im fiktiven Raum einen Erzähler. Zu diesem hält sie eine recht kritische Distanz. Der Erzähler übernimmt im Erzählzusammenhang und für die Komposition eine wichtige Teilfunktion.
Zum Faktor 2: Die Autorin stützt sich zwar auf Beobachtungen, auf Akten und auf den Bericht ihres Onkels August von Haxthausen, doch mit diesen realen Gegebenheiten hat ihre Erzählung in der Druckfassung nur noch wenig zu tun. Diese liefern nur ein Reservoir für die Auswahl einiger Einzelheiten. Annette von Droste-Hülshoff schafft eine neue, eine fiktive Wirklichkeit. Sie verfügt frei über Orte, Zeit und über alle realen Ereignisse. Ihr Schaffensprozess bestimmt die Funktion der Details, nicht das tatsächliche Geschehen. Dieses ist für das Verständnis des Textes fast völlig bedeutungslos. Auch eine Bindung an die Vorstufen könnte beim Verstehen des Textes in die Irre führen, vor allem weil sich Thema und Intention schrittweise verändert haben.
Zum Faktor 3: Eine Fiktion ist andererseits immer auf einen gesellschaftlichen Zusammenhang bezogen.20 Annette von Droste- Hülshoff hat vom realen Leser, dem „Empfänger“, bestimmte Vorstellungen. Diese sind im Text als der fiktive Leser erfassbar. Doch der wird nur begrenzt mit dem wirklichen Leser übereinstimmen, der je andere biographische Voraussetzungen mitbringt. Vor allem ergibt sich dadurch eine erhebliche Differenz zwischen dem von der Autorin erwarteten Leser und dem realen Leser, weil sie den letzteren beeinflussen will. Das machen die rhetorischen Fragen, die Appelle, die Warnungen und die Strafandrohung im Vorspruch überdeutlich. Wenn sie Zweifel daran hegt, dass dies gelingen könnte, ist schon wieder ein anderer Leser in ihrem Blickfeld. Es entsteht eine Differenz zwischen dem von der Autorin anfangs erwarteten Leser und dem, der durch die Appelle des Textes schon verwandelt ist. Misslingt die beabsichtigte Wirkung, gibt es schon wieder eine andere Leserfigur. Die Leservariationen, die Annette von Droste- Hülshoff sich vorstellt, sind teils im Text impliziert. Der Vorspruch, der erst im letzten Entwurf eingefügt worden ist, lässt erkennen, dass sie jetzt zweifelt, ob sie „ihren“ Leser nicht falsch eingeschätzt hat. Die Verkürzungen, die zu Verdunkelungen geführt haben, könnten ihn überfordern. Mit den Appellen im Vorspruch reagiert Annette von Droste-Hülshoff darauf und setzt zudem ein Zeichen, dass sie eine radikale Änderung des Lesers erhofft. Seine Wahrnehmung, seine Werte und sein Verhalten sollen sich verändern.
Die realen Leser, die Annette von Droste-Hülshoff anspricht, gehören selbstverständlich in die Entstehungszeit um 1840. Daraus ergibt sich insofern eine neue Differenz, weil die Figuren im Text in der Jahrzehnte früher liegenden erzählten Zeit angesiedelt sind. Noch differenzierter wird dieser Kommunikationsfaktor aus heutiger Sicht. Zwischen dem fiktiven Leser und dem heutigen realen Leser liegt ein Zeitabstand von 170 Jahren.
Zum Faktor 4: Damit die Autorin ihr Appellziel erreichen kann, muss sie eine neue, wirkungsvolle, eine besondere künstlerische Gestaltung wählen. Die fixierten Bindungen des Lesers sollen aufgelöst werden. Er muss sich, bewirkt durch die Textform, für neue Einsichten öffnen. Die Verbote des Vorspruchs leiten ihn. Sie schließen bestimmte Lesarten aus. 21
Da das Urteilsvermögen des Lesers zur Disposition gestellt wird, muss er seine Urteilsfähigkeit bei der Lektüre immer wieder überprüfen. Eine der Gestaltungsstrukturen des Textes wäre es demnach, den Leser zum genauen Betrachten anzuregen und ihn alle erzählten Aussagen und Handlungen im Text in den Zweifel setzen zu lassen.
Der Vorspruch gibt eine thematische Leitlinie vor, die einerseits mit „arm verkümmert Sein“ und „Seelendieb“ benannt ist, andererseits ein Urteilen unter Strafe stellt. Darin ist ein Fehlverhalten im mitmenschlichen Zusammenleben angesprochen. Damit ist das Thema umrissen, die Fehlentwicklung eines Menschen innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhanges. Auf den, der am Rande der Gesellschaft steht, einen Stein zu werfen, wird als unangemessen verboten. Der Appell betrifft das richtige mitmenschliche Zusammenleben.
In diesem Vorspruch stehen der Beurteilende im „lichten Raum“ und das Objekt eines Urteils, ein „arm verkümmert Sein“, einander gegenüber, und zwar in einem sozialen Gefälle von oben nach unten. Dem Rezipienten, der glücklich, von frommer Hand gepflegt „im lichten Raum“ existiert, müsste durch den Text aufgezeigt werden, welche Folgen ein Fehlverhalten hat, und er müsste zum richtigen Handeln motiviert werden. Das Thema und die Formen der Leseraktivierung sind somit eng verbunden. Diese Verbindung von Form und Inhalt macht den Text.
Somit ergeben sich aus dem Vorspruch zwei Leitlinien für die Analyse:
1. Das Thema, Absicht und roter Handlungsfaden, beinhaltet den Lebensweg eines Menschen zum „arm verkümmert Sein“. Der Weg ist bestimmt durch das Verhältnis dieses „Seins“ zu den Mitmenschen und umgekehrt das der Mitmenschen zu diesem.
2. Die Intention beinhaltet das Gestaltungsprinzip, das die Aktivierung des Lesers im Sinne der Appelle des Vorspruchs zum Ziel hat.
Der Lebensweg eines Menschen umfasst seine Einbindung in die menschliche Gemeinschaft und seine Selbstverwirklichung, Sozialisation und Individuation. Beide Entwicklungslinien stehen in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis. Eine einseitige Individuation machte den Menschen zum Sonderling oder Außenseiter. Die völlige Einbindung in eine Gesellschaft höbe die individuelle Persönlichkeit auf. Mit der Formulierung „arm verkümmert Sein“ im Vorspruch wird vorausdeutend signalisiert, dass dieser Lebensprozess scheitern könnte.
Eine erste Leitfrage lautet, wie ein Einzelner sich in eine Gesellschaft einfügen kann. Genau daraufhin ist der Beginn der Erzählung komponiert. Die Person Friedrich Mergel steht als gezielter Einsatz am Anfang des erzählenden Textteils. Darauf folgt eine Darstellung des räumlichen und sozialen Umfeldes.
„Friedrich Mergel, geboren 1738, war der einzige Sohn eines sogenannten Halbmeiers oder Grundeigentümers geringerer Klasse im Dorfe B.,… .“ Nach dem Vorspruch beginnt die Erzählung sofort mit dem Namen „Friedrich Mergel“. Er wird als Protagonist hervorgehoben. Da ein gewissenhafter Leser das anspruchsvolle Werk ein zweites Mal liest, weiß er, dass als Abschluss im drittletzten Satz wieder der Name „Friedrich Mergel“ steht. Vom Schluss zum Anfang ist also ein deutlicher Bogen gespannt. Dieser Bogen wird dadurch verstärkt, dass auf das Ende des erzählenden Teils nach dem Namen Friedrich Mergel wieder ein Spruch folgt. Anfang und Schluss sind somit chiastisch verknüpft: Prolog – Friedrich Mergel = Friedrich Mergel – Epilog. Die ersten Worte nach dem Vorspruch und fast die letzten Worte vor dem Schlussspruch lauten also „Friedrich Mergel“. Diese Sprüche sind zudem mit einem, genau besehen mit zwei Sprüchen in der Mitte der Erzählung verknüpft. Diese genau geplante Komposition lässt aufhorchen.
Prüfen wir zunächst den Anfang des Lebensbogens und untersuchen, dem Vorspruch folgend, die Spannungsfrage: Welche Bedingungen Friedrich Mergel am Beginn seines Lebens vorfindet?
Am Anfang erzählt Annette von Droste-Hülshoff, in welchen „Umgebungen … Friedrich Mergel geboren“ wird. Es sind keine erhellenden Voraussetzungen für das Gelingen eines Lebensweges. Das „Bewusstsein der Einwohner von Recht und Unrecht (ist) … in Verwirrung“ geraten. Die Rechtsprechung erscheint willkürlich. Zwischen zwei gesellschaftlichen Gruppen, den Gutsherren mit ihren Bediensteten und den Dorfbewohnern, herrscht eine Art Kleinkrieg. Das Dorf, in dem Friedrich geboren wird, ist als „hochmütigste, schlaueste … Gemeinde“ vorgestellt. Eine solche Charakterisierung weckt kein Vertrauen. Nicht nur Misstrauen scheint angebracht. Der Hochmütige erhebt sich über die anderen. Ein Umgang mit diesen Bewohnern ist nur von unten nach oben möglich. Das Unbehagen wird verstärkt durch die Darstellung des „Holzfrevels“, den die Bauern, Geheimnis umwittert, in „schönen Mondnächten“ verüben. Es entsteht der Eindruck, dass es für Friedrich schwer sein wird, mit solchen Mitmenschen zurechtzukommen.
Doch ein solcher Eindruck kann auch täuschen. Denn den negativen Wertungen stehen positive gegenüber: Das Dorf liegt in der „grünen Waldschlucht eines bedeutenden … Gebirges“. Die „malerische Schönheit seiner Lage“ wird gerühmt. Diese Wertungen betreffen allerdings nicht die Menschen, sondern nur das äußere landschaftliche Umfeld. Diese Versatzstücke, die dem Genre der Idylle entnommen sind, passen zu den Menschen nicht.
Doch auch für die Bewohner gibt es positive Einschätzungen, „Tugenden“ und „Originalität“ sind ihnen zugemessen. Diese werden jedoch durch gegensätzliche Begriffspaare ins Zwielicht gestellt. Den „Tugenden“ steht der Begriff „Mängel“ gegenüber, der „Originalität“ das Wort „Beschränktheit“. Alle Einschätzungen stehen in einem Kontrast. Somit wird dem Leser für die Beurteilung dieses Lebensraumes kein sicherer Standpunkt geboten. Der Erzähler bestärkt diese Sicht ausdrücklich: „Es ist schwer, jene Zeit unparteiisch ins Auge zu fassen“.
Zudem folgen verschiedene Eindrücke zum Charakter der Bewohner, zur Landschaft, zu Handlungsweisen und Urteilen, zur Rechtsprechung, zum mitmenschlichen Umgang so dicht aufeinander, dass kein Ruhepunkt bleibt. Es wird dem Leser keine Atempause gegönnt, eine klare Position zu beziehen.
Wie schwer es für den Einzelnen sein wird, sich in ein solches Umfeld einzufügen, lässt sich an den Gruppierungen erkennen. Verfeindete Parteien, die Förster der Grundherren einerseits und die Bauern, „unprivilegierte Holzfäller“, andererseits, sind festgefügte Gemeinschaften. Das Dorf, einschließlich des Ortsvorstehers, zieht geschlossen aus, „Mannschaften jedes Alters“. Alle Förster auf der anderen Seite, von denen es „wimmelte“, stehen ihnen gegenüber. Falls jemand nicht völlig isoliert sein will, so scheint es, muss er sich einer dieser Gruppen anschließen. Welche die wertvollere sein könnte, dafür erhält der Leser keine klaren Anhaltspunkte. Beide Parteien setzen List und Gewalt ein. Keine Seite hat Normen, die allgemein akzeptabel oder verbindlich wären. Gewalt wird von beiden Seiten als selbstverständlich oder als Bagatelle hingenommen.
Für den Leser wird es auch schwierig, die Bedeutung bzw. die Wertigkeit verschiedener Bilder zu bestimmen. Die humorvolle Darstellung des „Ortsvorstehers, der als erfahrener Leitbock den Zug (der Holzfäller) mit gleich stolzem Bewußtsein anführte, als er seinen Sitz in der Gerichtsstube einnahm“, gibt der Aktion der Holzfrevler fast eine juristische Berechtigung. Zwei gegensätzliche Wertungen sind in diesem Bild miteinander verknüpft.
Auch die Ironie in der Formulierung „unprivilegierte“ Holzfäller schillert in ihrer Bedeutung: Ist das nur als euphemistischer Scherz gemeint oder steckt darin gesellschaftliche Kritik an den ungerechten Besitzverhältnissen? Das ist eine Frage des jeweiligen Standpunktes. In der historischen Realität ist das Problem der Holzrechte in den Medien, in der Öffentlichkeit und auch vor Gerichten heftig umstritten. In den Prozessen setzen sich die Bauern in Teilfragen mehrfach gegen die Grundherren durch.
Eine humorvolle Darstellung aber muss vom Leser dann wieder in Frage gestellt werden, wenn inhumane Verhaltensweisen in der Sicht der Dorfbewohner bagatellisiert werden. „Ein Schuss, ein schwacher Schrei“ erzeugen nur bei „Frau und Braut“ vereinzelt Furcht, „kein anderer achtete darauf“. Die Verletzungen „mehrerer Forstbeamten“ werden zum interessanten Dorftratsch in der Umgebung. Gewaltanwendungen werden leicht genommen. Jeder hat „sich selbst seines zerschlagenen Kopfes zu trösten“. Mitgefühl, Voraussetzung einer intakten Gemeinschaft, scheint völlig zu fehlen.
Annette von Droste-Hülshoff macht es mit ihrer Gestaltung dem Leser nicht einfach. Auf welche Schale der Balkenwaage, ein Kernbild des Vorspruchs, der Leser eine Wahrnehmung oder eine Bewertung legen könnte, bleibt unklar. Er muss ständig die Standpunkte wechseln, Wertungen anzweifeln, kritische Distanz üben. Und er lernt, Fragen über Fragen zu stellen. Wichtige Fragen bleiben offen. Vor allem: Wie wird das Individuum Friedrich sich in dieses Umfeld einfügen können? Doch nicht nur der Verlauf der weiteren Entwicklung bleibt für den Leser völlig im Zweifel. Es ergeben sich Fragen zum Verständnis wichtiger Textteile, vor allem zum Rechtssystem und zum Rechtsgefühl.
Es sei nichts „seelentötender…“, so steht im Text, „als gegen das innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch zu nehmen“. Eine solche These kann man kaum flüchtig überlesen. Die Begriffe „inneres Rechtsgefühl“ und „äußeres Recht“ müssten zunächst einmal definiert werden. Schon dabei stellen sich erhebliche Probleme ein: Ist mit „innerem Rechtsgefühl“ das Naturrecht gemeint? Ist dieses das, welches die Bauern gegen die Grundherren für sich in Anspruch nehmen? Oder sind vielmehr ethische oder moralische Kategorien unterstellt? Spielt dabei das Gewissen eine Rolle? Wenn ja, wie und unter welchen Einflüssen kommt dieses zustande? Im Konflikt zwischen Gutsherren und Bauern wird die Frage wichtig, wessen Recht denn gemeint ist. Jede Seite nimmt für sich jeweils „ihr“ Recht in Anspruch. Geht es um das Gewohnheitsrecht, das eine lange Tradition hat, oder um das kodifizierte Recht? Worin besteht oder wodurch entsteht grundsätzlich ein Gegensatz von „innerem Rechtsgefühl“ und „äußerem Recht“ allgemein und im konkreten Fall? Dieser Gegensatz erscheint als radikal, denn ein Missbrauch wird mit „seelentötend“ deklariert. Das ist für die katholische Autorin ein sehr hartes Urteil.
Vor allem ist in dieser These ein wichtiger Grundsatz angesprochen, dass nämlich Recht das mitmenschliche Zusammenleben regelt und damit auch das Verhältnis des Einzelnen zu der Gemeinschaft. Diese These unterstellt, dass das „innere Rechtsgefühl“, das ja zunächst nur als individuelles definiert werden kann, das wichtigere und im Konfliktfall das bessere ist. Das „äußere Recht“ ist zudem „einigermaßen in Verwirrung geraten“. Wenn also das „innere Rechtsgefühl“ wichtiger und gegebenenfalls besser ist, dann muss dies „innere Rechtsgefühl“ unabhängig sein. Abhängigkeit würde jedes Recht, welcher Art auch immer, korrumpieren. Doch da es im Text keinen sicheren Standpunkt gibt, ist diese Unabhängigkeit fraglich.
Insgesamt ergibt sich hieraus ein deutlicher Bezug zu den Appellen im Vorspruch, die die menschliche Urteilsfähigkeit anzweifeln. Für die kritische Überprüfung ist jedenfalls eine Distanz zu den Bewertungen, Rechtsnormen, Urteilen und auch zum Geschehen und zu den Figuren erforderlich. Dass die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht „einigermaßen“ in Verwirrung geraten sind, heißt auch, dass sie die Relationen und die Rangfolge der Werte nicht beachten. Mitleid zählt nicht; im Holzfrevel dagegen erhalten materielle Güter einen übergroßen Rang.
Die Verunsicherung des Lesers betrifft auch den Spannungsbogen. Da heißt es im ersten Abschnitt des Erzähltextes mit Bezug zum „inneren Rechtsgefühl“: „Denn wer nach seiner Überzeugung handelt, und sei sie noch so mangelhaft, kann nie ganz zugrunde gehen,…“. Das „zugrunde gehen“ beinhaltet ein schlimmstmögliches Ende. Das vermittelt Hoffnungslosigkeit. Das „nie ganz“ lässt demgegenüber offen, wie der Lebensprozess des Protagonisten ausgehen wird.
Der geographische Raum und das Dorf sind ein Modell, ein Exemplum; sie sind nicht ein Beispiel für lokale Gegebenheiten.22 Das „Sittengemälde“ ist nicht nur exemplarisch für die westfälische Provinz oder ein einzelnes Dorf in dieser. Daher steht im Text „Dorf B.“; es wird nicht der historische Name Bellersen benutzt. Der Ort B. liegt überall, er ist für den Leser nicht weit weg. Keiner darf sich nicht unbetroffen fühlen. Die Wendungen „das Ländchen war … einer jener Erdenwinkel“ und „das Dorf … ein Fleck, wie deren sonst so viele“ bestätigen diese Verallgemeinerung. Annette von Droste-Hülshoff hat der Erzählung den Titel „Sittengemälde“ gegeben. Sie zeichnet ein Spiegelbild einer Realität schlechthin. Das Wort „Gemälde“ betont den allgemein verbindlichen Bildcharakter der Erzählung. Auch der vordergründige Eindruck, es gehe hier um eine heimatlich-biedermeierliche westfälische Idylle, täuscht völlig. Hier gibt es keinen heimatlichen Schutz vor Gefahren und Unbilden. Dieses Dorf ist ein finsterer Raum, der dem „lichten Raum“ im Vorspruch entgegensteht.
In diesem Modell menschlichen Verhaltens, voller Fehler und Verstrickungen, ist „Friedrich Mergel“ der Jedermann. Der Name „Mergel“ meint die Verhaftung an die Erde, ans Irdische.23 Mergel ist ein sprechender Name. Das Wort beinhaltet eine besondere Art des Lehmbodens, ein Sedimentgestein aus Ton und Kalk. Setzt man „Heimat“ als die nötige soziale Bindung, die jeder Mensch braucht, steht das Dorf B. als Beispiel dafür, wie eine soziale Verortung verlaufen bzw. fehlschlagen kann.24 Das Adjektiv „ausgemergelt“ verknüpft Friedrichs Namen mit „arm verkümmert Sein“ aus dem Vorspruch.25 Friedrich wird zum Sinnbild eines menschlichen Schicksals.26
Im zweiten Teil der Einleitung erzählt der Text von dem noch wichtigeren Umfeld für die Entwicklung eines Menschen. „… ward Friedrich Mergel geboren, in einem Hause“.
Kann ihm dieses Haus und die Familie darin, so muss der Leser fragen, die Liebe und Geborgenheit geben, die jedes Kind zu einer gesunden Entwicklung braucht? Gleich zu Beginn des Abschnitts wird der Leser mit einer herben Enttäuschung konfrontiert. „Stolze … Ansprüche“ stehen im Kontrast zur „gegenwärtigen Verkommenheit“. Der Begriff „Verkommenheit“ bezieht sich sowohl auf das Gebäude als auch auf den Charakter seines Besitzers. Hermann Mergel, der Vater Friedrichs, ist haltlos, unordentlich, äußerst nachlässig in seiner Arbeit; sein Hof verfällt in „böser Wirtschaft“. Die Charakterschwächen wachsen sich zur Alkoholsucht und zu Gewalttätigkeiten aus. Willensschwäche und Haltlosigkeit steigern sich bis zu aggressiven Reaktionen gegen Sachen, gegen seine junge Frau und dann auch gegen sich selbst. Er verletzt sich im Suff „jämmerlich“ mit einem abgebrochenen Flaschenhals. Bald wird er vom Dorfklatsch „den gänzlich verkommenen Subjekten zugezählt.“ Die Ursachen und die Verantwortung für diese wachsende Verkommenheit bleiben für den Leser letztlich unklar. Die Charakterschwächen erklären nicht alles. „Unglücksfälle haben manches“ herbeigeführt. Hilfe von den Nachbarn erhält er jedenfalls nicht.
Die Welt, in die Friedrich hineingeboren wird, scheint sich aufzuhellen, als seine Mutter ins Blickfeld des Erzählers rückt. Margret Semmler wird vorgestellt als eine „brave, anständige Person, … als sehr klug und wirtschaftlich geachtet“. Für alle im Dorf ist es unbegreiflich, dass sie eine Ehe mit dem charakterschwachen, alkoholkranken Hermann Mergel eingeht, zumal der ja offensichtlich zu einer Partnerschaft unfähig ist. Hatte er doch seine erste Frau mit seiner rücksichtslosen Gewalttätigkeit aus dem Haus getrieben.
Ironisch ist dann allerdings dargestellt, wie sie auf die Verwunderung der Nachbarn über ihre Ehe mit „selbstbewusster Vollkommenheit“ antwortet; eine Frau, die von ihrem Mann übel behandelt werde, sei „dumm oder tauge nichts“. Falls sie scheitere, „so sagt, es liege an mir.“ In dieser Äußerung erweist sie sich als überheblich und selbstverliebt. Sie wertet die erste Frau ihres frischen Ehegatten rigoros ab. Vor allem will sie Eindruck auf ihre Umgebung machen. Ihr Ansehen scheint ihr wichtig. Die Ehe ist sie auch wohl nur des höheren gesellschaftlichen Ansehens wegen eingegangen.
Sie kann nun ihre hohen Ansprüche nicht erfüllen. Sie scheitert mit ihrem Versuch, Hermann Mergel zu erziehen bzw. zu disziplinieren. An diesem Scheitern trägt ihr Gatte nicht die alleinige Schuld. Margret übt offensichtlich ein hartes Regiment aus. Es ist von „imponieren“ die Rede, von einem drückenden Joch. Der Ehemann verkriecht sich in der Scheune, wenn er sich „übernommen hatte“. Sie versucht ihre hohen Ansprüche offensichtlich mit unnachsichtiger Macht durchzusetzen. Nicht Verständnis, Unterstützung, Hilfe oder gar Liebe für den Partner zählen für sie. Ihr ist die äußere Wirkung auf die anderen wichtig. Es geht ihr um ihr Ansehen in der Dorfgemeinschaft. Wenn Hermann Mergel im Haus wüst lärmt, schließt sie „eilends Türen und Fenster“. Das Vertuschen steht im Widerspruch zu ihrem Anspruch „sagt es liegt an mir“. Sie liebt den äußeren Schein, nicht ihren Gatten. Margret hat sich in ihrer „selbstbewussten Vollkommenheit“ überschätzt. Ihre Tugendhaftigkeit ist nur vorgespielt. Wäre sie tugendhaft, würde sie ihrem Mann helfen. Ihr verletzter Stolz „lässt sie die Erde mit den Händen aufwühlen“.
Margret und Hermann sind in ihrer Charakterisierung in doppeltem Gegensatz einander zugeordnet: Sie spielt selbstbewusste Vollkommenheit vor, ist jedoch hartherzig. Er wird den gänzlich verkommenen „Subjekten“ zugezählt, zeigt jedoch ein weiches Gemüt. Im „zweiten Jahr dieser unglücklichen Ehe“ wird Friedrich geboren, ein unerwünschtes Kind.
In der Darstellung von Haus und Familie wird Ironie zu einem wesentlichen Gestaltungsmittel. Für die aktive Einbindung des Lesers ist dieses Mittel in besonderer Weise geeignet. Die Ironie setzt einen Leser als Partner voraus, der sich einbringt. Das wird für das Gebot „Leg hin die Waagschal‘!“ zu einem Problem, weil der Leser in der Ironie Wertungen, Wertstandpunkte und Wertrelationen erkennen und dementsprechend Position beziehen muss. Das Gebot im Vorspruch verbietet jedoch nicht das Bewerten an sich, sondern nur das falsche, das überhebliche Urteilen. Die verfehlten Handlungsweisen der Figuren im Text muss der Leser erfassen. Er muss Richtiges von Falschem unterscheiden können. Indem der Leser im Verstehen der Ironie den Standpunkt wechselt, muss er auch seine eigene Position überprüfen und gegebenenfalls in Frage stellen.
Die Aussage Margrets „So sagt, es liege an mir“ klingt in der überspitzten Anmaßung schon überheblich. Indem der Leser das erfasst, hat er schon einen Wertstandpunkt entgegen der Figur eingenommen. Auf den hohen Anspruch Margrets folgt die Formulierung „der Erfolg“. Damit übernimmt die Autorin den Standpunkt Margrets, doch dies nur scheinbar; denn anschließend wird durch den Kontrast zu „ihre Kräfte überschätzt“ Margrets Anspruch als hohl entlarvt. Die Ironie schaut hinter die Fassaden, beim Haus der Mergels im engeren Sinne des Wortes. Die „stolze Zugabe eines Rauchfangs“ erweist sich als überzogene Anmaßung.
Die neue Sicht der ironischen Position verspottet ein verfehltes Verhalten. Der Leser muss jedoch nicht nur den Standpunkt wechseln, er muss auch den unterschiedlichen Rang verschiedener Werte erfassen. Margret versucht ihre Ehekrise vor der Öffentlichkeit zu verbergen.