Copyright © by Andreas Reinke und

Mathias Voelchert GmbH Verlag

Korrektorat: Nuka Matthies, Berlin

Verlagsredaktion: Mathias Voelchert GmbH

Umschlaggestaltung: Mathias Voelchert GmbH & Sead Mujić

Typografische Bearbeitung und Satz: Sead Mujić

Herstellung BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Printed in Germany

ISBN 978-3-9357-5861-1

Wie auch als eBook mit der ISBN 978-3-935758-61-1

Copyright für die deutsche Ausgabe 2015

© by Andreas Reinke und Mathias Voelchert GmbH Verlag,

München, edition + plus

1. Auflage 2015

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Inhalt

Vorwort

von Mathias Voelchert, Herausgeber

Kein Bildungssystem kann besser sein als seine Lehrer! Hier schreibt einer, der selbst vor der Klasse steht und mit all dem zu Recht kommen muss, was er kritisiert, was er fordert, was er als Vision beschreibt. Es ist leicht als Außenstehender über Schule wichtige, vielleicht auch hilfreiche Einsichten zu verkünden. Doch es ist etwas ganz anderes, als aktiver Lehrer, sich selbst zu reflektieren und einzusehen, dass ein großer Teil dessen, was ich studiert habe, nicht ausreicht, ja hindert. Dann nicht zu verzagen, sondern sich selbst weiterzubilden und jeden Morgen wieder in der Klasse zu stehen, mit allen Widersprüchen, diese Leistung bringt Andreas Reinke, in seiner täglichen Arbeit, seinen Vorträgen, Seminaren und in diesem Buch. Deshalb schätze ich seine Arbeit und habe ihn gefragt, ob er das aufschreiben kann. So kam ein fruchtbarer Prozess in Gang. Hier ist das Resultat.

Bis heute kann ich nicht verstehen, was das Schimpfen auf Schule bringen soll. Kein Konzern könnte es sich erlauben, seine Mitarbeiter so behandeln zu lassen, wie wir Lehrer behandeln. Ein deutscher Regierungschef nannte sie »faule Säcke«, ohne dafür faule Eier zu bekommen. Nein, er bekam Applaus.

Das »System Schule« und die darin arbeitenden Lehrerinnen und Lehrer sind nicht anders als die Millionen Arbeitnehmer in der Wirtschaft. Das belegt jedes Jahr (seit 2001) das Gallup-Institut mit seinen Umfragen zur Mitarbeiterzufriedenheit in der Wirtschaft. Danach sind 2 von 10 Mitarbeitern zufrieden mit Ihrer Arbeit. 8 von 10 Mitarbeiterinnen sind unzufrieden, sehen keinen Sinn, fühlen sich nicht gut behandelt, machen Ihren Job, weil Sie Geld brauchen. Doch im Gegensatz zur Wirtschaft, sind wir das »System Schule«, nur wir können es verändern. Dieses Buch ist dazu ein weiterer Schritt. Von einem engagierten Praktiker geschrieben, der weiß, dass das, was er hier schreibt, bald Schule machen wird.

Es wird zu viel über schlechte und zu wenig über gute Lehrer geredet. Gute Lehrer sind begeistert von dem, was sie tun. Und gute Lehrer sind nicht perfekt. Manchmal sind sie genervt, manchmal platzt ihnen der Kragen, manchmal sind sie frustriert, manchmal sind sie ungerecht. Sie sind keine Alltagshelden, aber sie sind getragen von Leidenschaft für ihren Beruf. Diese Leidenschaft interessiert junge Menschen. Was für ein Glück für einen Schüler, einen Lehrer zu haben, der auf seiner Seite ist, der Schüler in ihrem Sosein sieht, Vertrauen gibt, so dass Schüler ihre Schwächen zeigen dürfen. Viel mehr Lerncoach, viel weniger Beurteiler. So ist der große Demotivator »Schule« zu bändigen. So bekommen Schüler keine Angst vor Schule, oder geben auf. 15 % Schulabgänger ohne Abschluss jedes Jahr. Stellen Sie sich vor, ein Autobauer würde so argumentieren: »Ach ja, 15 % unserer Autos haben mal nur 3 Räder, oder es fehlt auch schon mal das Lenkrad...« Undenkbar (nach den jüngsten Ereignissen, weiß ich gar nicht, ob ich das Beispiel noch so bringen kann) aber unserer Schule lassen wir das, jedes Jahr erneut, durchgehen. Und wir akzeptieren immer noch die dummen Ausreden: Die Schüler faul, die Lehrer ausgelaugt, die Eltern aufsässig = selbst schuld. Nein, nein, Schule kann nichts dafür! Wir glauben immer noch, wir sollten die Menschen passend machen für das System, statt umgekehrt.

Einen oder zwei gute Lehrer hatte fast jeder von uns. Davon brauchen wir viele mehr. Wir müssen mehr über gute Lehrer reden! Wir sollten den Lehrern, die heute da sind, Weiterbildungen anbieten, um selbst zu so einem wichtigen Menschen, im Leben der Schüler, werden zu können. Lehrer brauchen einen Arbeitsplatz, der die Voraussetzungen dafür herstellt, gut sein zu können. Davon sind wir weit entfernt. Wie kann ein Lehrer gut sein, wenn er im wahnsinnigen fünfundvierzig Minuten Takt vor 30 Kindern steht und für jedes Kind statistisch knapp zwei Minute Zeit hat. Lehrer brauchen mehr Freiheiten – für eigene Ideen. Sie brauchen Vertrauen ihrer Vorgesetzten, Freiraum und Zeit für den einzelnen Schüler, für Projekte und Zusammenarbeit mit außerschulischen Einrichtungen. Zeit, das echte Leben zu sehen, und raus aus dem geschlossenen System Schule. Lehrer brauchen weniger Verwaltungsaufgaben und Kontrolle. Ein guter Lehrer kann in einem kranken, lernunwilligen System gesund bleiben. Ein guter Lehrer führt seine Schüler an einer langen, straffen Leine: Er gibt genügend Freiheiten und er gibt Frechheiten keinen Platz. Schüler wollen gute, freundliche, klare Führung. Ein guter Lehrer lernt von seinen Schülern. Eine gute Lehrerin weiß, dass Erziehung zu zehn Prozent aus Information und zu neunzig Prozent aus Vormachen besteht. Gute Lehrer sind den Kindern nah, aber sie missbrauchen diese Nähe nie.

Kein Bildungssystem kann besser sein als seine Lehrer. Ich bin davon überzeugt, dass diese Veränderungen nicht von außen kommen werden. Ich hatte hervorragende Lehrerinnen und Lehrer und auch furchtbare. So ist es und so wird es noch lange sein, allerdings kann die einzelne Lehrerin den wesentlichen Unterschied machen. Dieser Unterschied hat gravierenden Einfluss auf jedes Kind, und auf ihre eigene Arbeitszufriedenheit. Nach den Eltern, sind Erzieherinnen und Lehrer & Lehrerinnen, die wichtigsten Menschen, zur Orientierungsgebung von Kindern und Jugendlichen. Wir sollten alles daran setzen diesen Berufsstand nach Strich und Faden zu stärken (zum Beispiel mit frei wählbaren, bezahlten Weiterbildungen). Damit sich jeder die Finger danach schleckt Lehrer & Lehrerin werden zu dürfen. Erst wenn wir das schaffen, wird sich wirklich etwas an unseren Schulen tun. Warum ich das glaube? Weil alles andere schon probiert wurde und in 16 Bundesländern nichts besser geworden ist.

Heute kommt es darauf an für Kinder eine Atmosphäre zu schaffen die zum Mitdenken, Vorausschauen, Verantwortung übernehmen, anregt. Die Kinder aber auch ermutigt ein wenig Frust aushalten zu können und freundlich zu sich und anderen sein zu können. Das alles sind Fähigkeiten die Lehrerinnen und Lehrer am leichtesten durch Vormachen vermitteln. Dazu sollten sie in diesen Fähigkeiten geschult und gefördert werden. Weil das alte Schema, von Strafe oder Belohnung nicht mehr trägt, jedoch Lernen verhindert.

Die Beziehungskompetenz von Lehrerinnen & Lehrern wesentlich zu verbessern, wird unseren Kindern (und Eltern) eine neue Schule ermöglichen. Eine Schule die sie stärkt, die sie ermutigt, die sie trägt, die etwas an die Kinder weiter gibt, das diese Menschen wirklich für ihr Leben brauchen. Wenn die Menschen sich ändern, bleibt kein Platz mehr für Mauern und Zäune, das haben wir erlebt. Schule kann für die Meisten zur Freude werden. Dafür leistet Andreas Reinke einen wertvollen Beitrag, dafür danke ich ihm und wünsche seinem Buch den größtmöglichen Erfolg und Ihnen als Leserin und Leser den besten Nutzen daraus!

UND VORSICHT! DIESES BUCH KANN POSITVEN EINFLUSS AUF IHR LEBEN HABEN!

Ihr Mathias Voelchert,

Gründer und Leiter familylab Deutschland

Einleitung

Meine Beziehung zur Idee Schule ähnelt einer anspruchsvollen und herausfordernden Freundschaft. In meiner Kindheit und Jugend entstanden Freundschaften nicht plötzlich, frei nach dem Motto »Freundschaft auf den ersten Blick«. Oft gingen ihnen handfeste Streitereien im Sandkasten, auf dem Schulhof und später in Kneipen voraus. Und manchmal, nachdem sich die Wogen etwas geglättet hatten, stand fest: Das passt. Oder auch nicht.

Die Wogen haben sich etwas geglättet und ich kann sagen: Das passt. Nicht immer, aber immer öfter. Nein, ich assoziiere mit Schule und dem Beruf des Lehrers ganz bestimmt nicht ausschließlich den Begriff Traumjob. Nach zwölf Jahren Berufserfahrung kann ich sagen, dass der Lehrerberuf zuweilen zu einem Albtraumjob werden kann. Und dennoch: Zwischen der Idee Schule und mir ist nach teilweise äußerst turbulenten Zeiten und einigen »Friedenspfeifen« ein freundschaftliches Verhältnis erwachsen. Das bedeutet keineswegs, dass ich grundsätzlich einverstanden wäre mit der geläufigen Interpretation und Umsetzung der Idee Schule. Nach meiner Einschätzung sind unsere Schulen im Durchschnitt – und ich meine damit nicht kategorisch staatliche Schulen (!) – gegenwärtig Orte der Entfremdung, und nicht zuletzt deswegen geht es sehr, sehr vielen Menschen im schulischen Umfeld chronisch schlecht. Das jedoch halte ich weniger für ein Problem der Idee Schule als eines derjenigen, die Schule entsprechend ihrer Denkmuster und Konditionierungen gestalten und als Professionelle zu verantworten haben. Sofern wir von einer Schulkrise sprechen wollen, sollten wir uns zuallererst eingestehen, dass diese nicht von Schülern und Eltern ausgeht und auch nicht vom Himmel gefallen ist. Wir, die Pädagogen, sollten die Chance ergreifen, die Krise als unser Geschöpf anzunehmen. Was hat sie mit uns zu tun?

Im schulischen Kontext passen sich noch immer viele Kinder und Erwachsene auf Kosten der eigenen Integrität (Bedürfnisse, persönliche Grenzen und Begrenzungen, Werte, Gefühle, Ziele, Träume, Überzeugungen, Würde) an. Sie erfahren dafür im Regelfall Akzeptanz, verbuchen möglicherweise sogar schulische beziehungsweise berufliche Erfolge, verlieren jedoch auf Dauer an Vitalität, Eigenart und an der Fähigkeit, inneren Impulsen Bedeutung zu geben. Während unzählige Schüler und Eltern der schulischen Definitions- und Übermacht Folge leisten und eher »stille« Symptome entwickeln, wenden sich immer mehr Kinder und Jugendliche auf zum Teil »unüberhörbare« Weise gegen schulische Integritätsverletzungen. Dabei gerät der verzweifelte und nachvollziehbare Versuch, die eigenen Grenzen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen, insbesondere für Schüler zu einem ernsthaften und einsamen Konflikt. Schließlich ist Schule seit gefühlten Ewigkeiten ein Ort, an dem Kindern mit aller Macht Grenzen gesetzt werden, anstatt ihre individuellen Grenzen zu respektieren. »Ungehorsamen« Schülern wird nur selten zugehört, geschweige denn ein Recht auf existentielle Konflikte zugesprochen. Ungläubig reiben sich Verantwortliche dann eines Tages die Augen, wenn sie auf junge Menschen treffen, die nach Jahren des Nicht-gehört-Werdens den Hinweisen und Versprechungen ihrer Vorbilder kein Gehör mehr schenken.

Schüler, Eltern und Pädagogen stehen heute unter einem gewaltigen Leistungs- und Kooperationsdruck und geben diesen – größtenteils unbewusst und ungewollt – untereinander weiter. Die Anstrengungen sind auf allen Ebenen extrem hoch, um allgemeingültigen Normen zu entsprechen und festgelegte Standards zu erreichen. In der Vergangenheit schien es geradezu normal, dass Kinder und Jugendliche im System Schule nicht viel zu lachen hatten. Junge Menschen trugen nahezu täglich schwere Verletzungen davon, die von Erwachsenen entweder nicht als solche erkannt oder als notwendiges Übel »im Sinne des Kindes« durchgewunken wurden. Um aus Kindern »richtige Menschen« zu machen, also wohlerzogene, systemtreue, akkurat funktionierende Arbeiter, wurden sie mit eiserner Hand auf späteres Leben vorbereitet. Und wo gehobelt wird, fallen bekanntlich Späne. Dem Überlebensinstinkt gehorchend, ordneten sich Kinder und Jugendliche dem Willen ihrer Lehrer zumeist unter. Das auf Gehorsam basierende Bildungs- und Bestrafungssystem ließ eine Alternative zur Anpassung an Normen bei gleichzeitiger Selbstentfremdung kaum zu. Deutlich erschwert wurde die Situation der Kinder und Jugendlichen dadurch, dass sich ein Großteil der Eltern kritik- und machtlos auf die Seite der Lehrer stellte und die in Schule praktizierte »Domäne des Stocks« abnickte. Kinder erfuhren im Nachgang zu schulischen Disziplinierungsmaßnahmen nicht selten eine Zweitbestrafung. Es hieß dann: »Schließlich musst du doch irgendetwas angestellt haben. Einfach so wird dich dein Lehrer nicht zurechtweisen!«

Die Zeiten haben sich geändert. Unsere Schulen allerdings kaum. Leidtragende sind neben Schülern und Eltern mittlerweile Lehrer, die unter großen Kraftanstrengungen versuchen, Unmögliches möglich zu machen. Mit einer ungenügenden Ausbildung im Gepäck verschleißen sich Lehrer an der unlösbaren Aufgabe, einerseits den Anforderungen eines antiquierten, übergriffigen und beziehungsverhindernden Systems gerecht zu werden und andererseits mit Schülern und Eltern in Beziehung zu treten, die ihren Blick angesichts eines Lehrers und dessen rollenbedinger Autorität nicht mehr automatisch senken. Und so ist die Zahl der Schwerverletzten mittlerweile auch auf Seiten der Lehrer besorgniserregend hoch. Täglich sehen sich tausende von Lehrern unerträglichen Grenzüberschreitungen ausgesetzt. Es liegt mir vollkommen fern, diesen Aspekt in der folgenden Arbeit zu ignorieren oder zu verniedlichen. Ich weiß aufgrund meiner eigenen Geschichte und in Anbetracht etlicher Erlebnisberichte mir bekannter Kollegen sehr genau, wie es ist, wenn die eigenen Grenzen massiv verletzt werden, ein halbwegs »normaler« Unterricht unmöglich ist und das Lehrerdasein einem Überlebenskampf gleicht: Schüler brüllen durch den Raum, beschimpfen und bedrohen Mitschüler oder Lehrer, zeigen demonstratives Desinteresse, laben sich an der Unbeholfenheit des Erwachsenen und drohen mit dem Anwalt ihrer Eltern. Diesen Machtkampf kann ein Lehrer auf Dauer nicht gewinnen. Nicht einmal mehr unter Zuhilfenahme traditioneller Drohgebärden. Ende der Fahnenstange. Alle Lehrer, die so etwas erleben, haben mein Mitgefühl. Aber wenn die Tränen getrocknet sind, sollten wir uns ehrlich fragen, welche Botschaften in den immer häufiger zu beobachtenden »Verhaltensauffälligkeiten« von Schülern (und Eltern und Lehrern) stecken.

An meiner Ausbildungsschule in Lübeck gab es einen Schüler namens Mirko1 . Er war weitaus intelligenter, als es seine Leistungen vermuten ließen. In sich, das weiß ich heute, war er zutiefst verunsichert. Nicht zuletzt sein Hang zum Stottern deutete auf ein mangelndes Selbstwertgefühl hin. Wahrscheinlich hatte er aufgrund langjähriger und prägender Erfahrungen eine tiefe Angst entwickelt, nicht gehört zu werden. Ironischerweise musste er in der Schule mit Erwachsenen zusammenarbeiten, die ihm das Problem bescheinigten, er könne nicht »hören« (sich nicht an Regeln halten). Und so verfolgten die Pädagogen den Plan, Mirkos Sozialkompetenz zu steigern. Die Strategie war einfach und über Jahre erprobt: klare Ansagen und Regeln. Das Ziel: Anpassung und Gehorsam. Bei Verstößen gegen Ansagen und Regeln: Konsequenzen (Strafen) in Form von institutionell und moralisch akzeptierten Integritätsverletzungen. Mirko war sehr um Kooperation bemüht, rastete jedoch regelmäßig komplett aus und verging sich an Gegenständen oder Mitschülern. Nach solchen Vorfällen sahen sich die Verantwortlichen gemäß ihres Rasterdenkens bestätigt und erhöhten den Druck. Das heißt: Mehr von dem, was Mirko überhaupt erst in die Not gebracht hatte, anstatt sich darüber auszutauschen, dass Menschen, deren Integrität langfristig missachtet wird, irgendwann implodieren oder explodieren.

Schule ist traditionell ein Ort, an dem von Kindern, Jugendlichen und Eltern erwartet wird, sich auf Kosten der eigenen Integrität an Lehrer und deren Erwartungen anzupassen. Viele Menschen geraten eingedenk dieses »normalen« Überkooperations-Musters in existentielle Nöte und entwickeln zum Teil drastische Symptome. Für gewöhnlich registrieren Erwachsene tendenziell »auffällige« Symptome, verwechseln diese mit den eigentlichen Problemen und investieren viel Zeit, Geld und Energie, um vermeintliche Probleme zu lösen. Symptomverschiebungen sind oftmals die logische Folge.

Auf den nächsten Seiten will ich mich mit der Frage auseinandersetzen, ob es denkbar und möglich wäre, sich der Idee Schule auf der Basis von Integrität, Gleichwürdigkeit, Verantwortung, Vertrauen und persönlicher Autorität zu nähern. Ich wähle bewusst den Konjunktiv, denn es liegt mir fern, als Besserwisser aufzutreten, geschweige denn als Belehrender.

Ich kenne die Wahrheit nicht und halte es mit Heinz v. Förster, der die Wahrheit als Erfindung eines Lügners entlarvt. Ich habe mich in den letzten Jahren intensiv mit dem Thema Schule beschäftigt und Ausflüge in Bereiche unternommen, die im weitesten Sinne mit Schule zu tun haben. Abgesehen davon, dass ich für mich festgestellt habe, dass es wohl kein Thema gibt, welches nicht in irgendeiner Form an schulische Fragestellungen andocken würde, weiß ich um die Begrenztheit meines Denkens. Zwar teile ich meine Sicht gerne mit, teilen muss sie gleichwohl niemand. Andere Meinungen, Perspektiven und Erfahrungen sind mir herzlich willkommen und nichts wäre mir lieber, als mit unterschiedlich denkenden und fühlenden Menschen zum Schulthema in Dialog zu gehen. Wir können nur gemeinsam eine zukunftsfähige und menschenfreundliche Schule denken und gestalten. Ich bin zutiefst überzeugt, dass die Antwort auf die Frage, wie wir uns zum Thema »Schule, was nun?« ins Benehmen setzen, bereits die Energie enthält, die Schule zukünftig ausmachen wird. Dialog oder Diskussion? Sollten wir weiterhin in den Kampf »gegen das Böse« (wahlweise: Lehrer, Eltern, Schüler, Politiker, Schulleiter, Andersdenkende) ziehen und Argumente »ins Feld führen«, werden sich veraltete Denkgebäude eher verfestigen.

Ich verfasse diesen Text als jemand, der jeden Tag die herausfordernde Erfahrung macht, sein Lehrerdasein auf eine Art zu bestimmen, die neu ist und für die es keine oder kaum Vorbilder gab und gibt. Ich leiste, wie so viele Lehrer und Eltern, Pionierarbeit. In meinen Bemühungen begehe ich jeden Tag über hundert Fehler. Mein Anspruch ist es, aus Fehlern zu lernen und dabei meinem fehlerhaften Treiben freundlich zu begegnen. Eine freundliche Begegnung mit mir und meiner Unvollkommenheit beinhaltet für mich die Übernahme von Verantwortung. Die unfreundliche Variante – und ich bin diesbezüglich ein Experte – basiert auf der Idee von Schuld und der Suche nach Schuldigen.

In mir steckt, um es etwas plakativ auszudrücken, »das Neue« und in erheblichem Maße »das Alte«. Für meine Mitmenschen (und für mich) ist es manchmal extrem schwierig, mit diesen beiden Seiten umzugehen.

Dazu folgende Episode, geschehen in der jüngeren Vergangenheit.


1 Die tatsächlichen Namen von Schülern, Lehrern und Eltern habe ich verändert.

»Wenn nicht, dann …!«

Seit einiger Zeit hinterlasse ich auf der Seite eines bekannten sozialen Netzwerkes Kommentare zum Thema Schule. Ich zitiere mir wichtige Passagen aus Büchern und anderen Medien und füge eigene Gedanken hinzu. So auch im Oktober 2014, als ich Jesper Juul zum Thema Schulverweis und Beurlaubung zitierte: »Wir sollten uns vor Augen führen, dass sich sofort das Jugendamt einschaltet, wenn Eltern ihr Kind auf ähnliche Weise (Ausschluss vom Unterricht, Anmerkung des Verfassers) vernachlässigen. (…) Aber (…) Schule darf das, weil sie die Schüler ja ohnehin für ›unerreichbar‹ erklärt.«2

Folgende Gedanken merkte ich an:

»Manchmal wirkt eine Situation absolut zerfahren und wir Lehrer sind am Ende unserer Kraft, unseres Lateins. Jemand, der nie vor einer Klasse stand, kann vielleicht kaum nachvollziehen, wie es als Lehrer ist, sich in der Gegenwart eines Schülers oder mehrerer Schüler erniedrigt, hilflos und verletzt zu fühlen. Und dann sitzt du am Abend da, bereitest den Unterricht für den nächsten Tag vor und in dir nagt die Angst vor der morgigen Begegnung.

Das alles kenne und respektiere ich. Es ist nicht unprofessionell, Verunsicherung, Angst oder Wut zu spüren, jedoch halte ich es für unprofessionell, die Verantwortung für belastende Gefühle und berufliche Schwierigkeiten an Schüler und Eltern abzutreten. Und für inakzeptabel stufe ich solche Maßnahmen ein, die eingebettet werden in einen Schwall an Schein-Professionalität:Wir hatten doch Absprachen, einen Vertrag!‹, ›In den Schulregeln steht ...‹, ›Wir müssen den Schulfrieden aufrechterhalten!‹, ›Die anderen Schüler haben ein Recht auf eine gute Beschulung!‹, ›Wir kommen mit dem Stoff nicht weiter!‹, ›Die anderen Schüler machen dann immer den Blödsinn mit!,In dem Verhaltensheft stehen fünf Einträge!‹, ›Die Eltern müssen ihre Kinder erziehen!

Und schließlich schicken wir Schüler nach Hause. Ja, und dann? Glauben wir wirklich, die sitzen dann bei meditativer Musik da und haben einen Geistesblitz:Ah, jetzt weiß ich! Ich muss mich nur an die Regeln halten und dann ist alles prima!

Zunächst einmal wünsche ich mir Ehrlichkeit. Besonders Schulen, die mit außergewöhnlich schönen Konzepten und Werten in der Öffentlichkeit werben, sollten ihre Programme umschreiben:Wir respektieren Schüler, SOLANGE SIE SICH AN DIE REGELN HALTEN!Und wenn ein Schüler beurlaubt wird, könnten Pädagogen an der Formulierung der Begründung feilen:Wir beurlauben dich mit sofortiger Wirkung, weil es uns nicht gelingt, mit dir zusammenzuarbeiten.

Wir dürfen Schüler nicht aus disziplinarischen Gründen beurlauben. Egal wie herausfordernd die Situation ist. Machen wir es doch, können wir gleich die Zündschnur anzünden und in Deckung gehen.«

Einige Stunden nachdem ich diese Gedanken niedergeschrieben hatte, schlenderte ich während einer Pause durch unsere Schule. Plötzlich sah ich einen etwa dreizehn Jahre alten Schüler (Stefan), der auf dem Schulhof einen Mitschüler (Bernd) durch die Mangel nahm. Er hielt ihn im so genannten »Schwitzkasten«. Wer selbst einmal in so einem »Schwitzkasten« steckte, weiß um das sich ausbreitende Gefühl von Hilflosigkeit und Erniedrigung. In Sekundenschnelle lief in mir ein Film ab. Ich dachte: »So eine Sauerei! Na warte!« Ich rannte los und brüllte Stefan an: »Hör auf!« Sichtlich überrascht, jedoch lächelnd ließ er los und blickte mich an. Er sagte: »Was denn? Ist doch nichts los!« Ich: »Wer glaubst du, kann am besten sagen, ob das hier ein Spaß ist oder nicht?« Er: »Ich.« Und jetzt kommt’s! Ich: »Wenn ich jetzt noch ein Wort von dir höre, ist der Tag für dich gelaufen. Dann geht’s nach Hause!« Zack! Wutentbrannt stampfte ich davon.

Im Lehrerzimmer angekommen gelang es mir, mich etwas zu beruhigen und in mich zu gehen. Ich erinnerte mich an meinen vor wenigen Stunden aus voller Überzeugung formulierten Kommentar zum Thema Schulverweis und Beurlaubung. Interessant. Mir war schnell klar, dass ich im Eifer des Gefechts die Verantwortung für meine Werte abgetreten und somit nicht aus ihnen heraus gehandelt hatte.

Innerlich aufgewühlt setzte ich mich und konzentrierte mich auf meine Atmung. Lange brauchte ich nicht, um zu bemerken, dass ich in der Begegnung mit Stefan den Kontakt zu mir und meinen empathischen Gefühlen verloren hatte. Da ich mich schon vor längerer Zeit der Idee der Fehlerfreundlichkeit zugewandt hatte, fiel es mir nicht sonderlich schwer, mir selbst zu verzeihen. Ich entschied, das Gespräch mit Stefan wieder aufnehmen und ihm respektvoll und authentisch gegenüber auftreten zu wollen. Ich ging also zurück und sagte zu Stefan: »Du, ich habe da einen Fehler gemacht. Wenn ich von dir deinem Mitschüler gegenüber Respekt erwarte, dann muss ich dir gegenüber Respekt aufbringen. Und das ist mir nicht gelungen. Aber so ist das manchmal. Als ich euch eben gesehen habe, wurde mir richtig schlecht. Ich konnte es schon immer schwer ertragen, wenn sich Menschen streiten und prügeln. Wenn ich früher in der Disko war und plötzlich Menschen aufeinander einschlugen, musste ich mich immer fast übergeben.« Stefan: »Ja, passt schon. Ich hätte das eben wirklich nicht machen sollen. Haben Sie oft Schlägereien miterlebt?«