Wünsch dir
(k)einen Drachen
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Mein Dank geht an meine Frau fürs Lektorat, an die Klasse 7c der Realschule Mark für die Beratung, an Alina Millecker und Monika Löbbecke für die Unterstützung, an Nina Schönenberg für das Titelfoto und last not least an Gerhard Zeitler als unverzichtbaren Frankenexperten.
Handlung, Orte und Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.
Die Handlung spielt im Nürnberg meiner Vorstellung. Je näher man also in die Details im Text schaut, umso weniger wird man diese in der Wirklichkeit wiederfinden.
„Ich will einen Drachen!“, murmelte der kleine Junge, der den Pfad an der Schwarzach entlangstapfte. Das kleine Flüsschen neben ihm gluckerte zustimmend.
„Ich will einen Drachen!“ Er hatte ein paar Drachenbücher gelesen und war sich sicher: Mit Drachen war alles besser und er meinte die traurige Tatsache, dass man manchmal mit seinem Etui Fußball spielte, sein Vater ihn schon mal schlug, dass er sich das Zimmer mit zwei Brüdern teilen musste und dass alle ihn komisch anguckten, weil er der einzige war, der im Trainingsanzug zur Schule kam.
Eben war er am Klärwerk vorbei zur Karlshöhle runtergejoggt, hatte bei dem dreieckigen Felsentor einmal mit der Hand auf den Fels geschlagen, sich umgedreht und statt zu laufen, ging er nun ein Stück. Seine Brüder gaben damit an, dass sie die ganze Runde von etwa drei Kilometern laufen konnten. Ihm reichte ein Kilometer völlig, um aus der Puste zu sein, aber er war ja auch der Jüngste! Und alle meinten anscheinend, sie könnten auf ihm herumhacken, die Lehrer, seine Brüder, der Hausmeister, die Mitschüler. Daniel, so hieß der Junge, hatte einen Film gesehen, in dem jemand sich durchsetzte, weil er plötzlich mit einem großen feuerspuckenden Drachen daherkam.
Dass er sich so sehr einen Drachen wünschte, musste nicht unbedingt heißen, dass er wirklich einen gebrauchen konnte. Das ist ja oft so im Leben. Jungen wüschen sich große Autos oder sogar Flugzeuge, dabei können sie weder Auto fahren noch Flugzeug fliegen.
Oft können sie ja nicht mal ein großes Fahrrad fahren!
Ob Daniel also wirklich einen Drachen brauchte oder doch ganz andere Dinge, konnte der uralte Mann nicht wissen, der oberhalb des Weges auf dem Felsen hinter einem Baum stand.
Der Mann war ein Zauberer von mittlerweile 300 Jahren. Und ihm taten Kinder immer sofort leid, wenn sie ein trauriges Gesicht machten. Nun passiert das oft, dass Kinder gerade mal nicht lachen und immer denkt der Zauberer, er müsse tätig werden. Sein Name ist Ycxkqyxckq, ein komischer Name aus einem komischen weit entfernten Land und man kann ihn nicht aussprechen – Ycxkqyxckq hat auch dieses Problem, aber er denkt von sich praktischerweise nicht als Ycxkqyxckq, sondern als oberster Zauberer der drei Reiche des Mondes, erster Magier der unrealen&realen Welten, Generalhexer der obersten Majestäten der Länder der Vernunft (oder was sie dafür halten), erhabenster Seher und Späher in allen Dimensionen (außer denen, wo man keine Pizza isst), vorzüglichster Meister des tierischen Magnetismus, außerordentlicher … naja und so weiter.
Nebenbei war er auch noch Dreisternekoch in Paris, aber das hängte er nicht gerne an die große Glocke, da rasierte er sich, machte sich dicker und trug eine gewaltige, fünfzig Zentimeter hohe weiße Mütze.
Man kann den Namen natürlich auch abkürzen, wenn man ihn das nicht hören lässt: Yks!
Nun, Ycxkqyxckq sah also, dass er da sofort etwas tun müsse. Er hat selber auch schon in all den Jahren gemerkt, dass das nicht immer stimmte, was aber nichts an seinen vortrefflichen Charaktereigenschaften änderte. Und eine war halt, verkürzt gesagt: Kind traurig – helfen!
Ycxkqyxckq wanderte lautlos hinter Daniel her, nur eben oberhalb des Felsenbandes neben dem Weg, und hörte ihn noch ein paarmal seufzen und murmeln und dachte: „Nun gut, nun ja, also denn! Hmhm, jaja!“
Er rieb sich die Hände und war plötzlich verschwunden. Ein Jäger, der auf einem umgestürzten Baum saß, hatte gerade von der anderen Seite den Zauberer im Blickfeld seines teuren Fernglases gehabt, weil er nach einem Rehbock Ausschau hielt, der humpeln sollte, das hatte man ihm jedenfalls berichtet. Aber kaum hatte er scharfgestellt, sah er einen Opa - der sich in Luft auflöste. Der Jäger rieb sich die Augen, blickte nochmal durch das Fernglas, sah sich das Fernglas an und überlegte, ob er nicht besser für heute aufgab, seine Augen fingen an, ihm Streiche zu spielen!
Daniel kam nun nach der nächsten Biegung des Weges an einem Baum vorbei, in dessen Krone eine Katze miaute. Er legte den Kopf in den Nacken: „Wie kommst du denn da hinauf?“
Das Tier antwortete mit einem lauten kläglichen Miauen.
„Und jetzt kannst du nicht wieder hinunter!“
„Miaaaaaaauuuuuu!“
„Da rufe ich am besten die Feuerwehr, oder?“
Er kam den glatten Stamm sowieso nicht hinauf, die Äste fingen erst in über zwei Meter Höhe an.
Daniel sah sich um, da lagen etwas weiter weg zersägte Kiefernstämme.
„Hm, könnte passen.“
Versuchsweise schleppte er ein Stück Stamm von einem Meter Länge heran und legte es unter die Buche.
„So, jetzt noch die anderen!“
Nach ein paar Minuten hatte er einen kleinen Stapel am Baumstamm aufgeschichtet. Er stieg hinauf und kam so eben an den untersten Ast. Hochziehen, weiterklettern, nicht nach unten sehen. Bald hatte er das Kätzchen erreicht. Es war ein schwarzweißes niedliches Ding.
„Na komm!“, die kleine Katze machte keine Anstalten auf seinen Arm zu springen. Daniel musste noch einen Ast höher klettern, so, jetzt konnte er das Tier packen. Er legte es sich in die linke Armbeuge und stellte fest, dass nun er Schwierigkeiten hatte, runterzuklettern. Beinahe wäre er ausgerutscht. Er griff auch mit links nach dem nächsten Ast und die Katze krallte sich in seinem Hemd und seiner Haut fest.
Aua! Das tat ja richtig weh!
Vorsichtig löste er die Krallen und legte sich das Fellknäuel über die rechte Schulter. So, das ging hoffentlich, ohne dass sie versuchte ihn zu zerfleischen.
Er machte sich an den Abstieg.
Nach nur 90 Sekunden stand er unten und setzte die Katze ab: „So, lauf nachhause!“
„Miauu!“, und wie der Blitz verschwand sie zwischen den Bäumen. Tatsächlich verschwand sie schon direkt hinter dem nächsten Baum …
Daniel marschierte weiter, er hatte auf seinem persönlichen Rundweg mehr als die Hälfte geschafft. Hier an der Schwarzach gab es Felsentore und Höhlen, die der Fluss ausgewaschen hatte. Das gefiel ihm, es war so geheimnisvoll, so mysteriös. Er war froh, dass es Tag war und die Sonne durch die Bäume blinzelte. Er würde hier ungern nachts langgehen. Er hasste Dunkelheit. Beispielsweise hatte er Probleme, wenn sein Vater ihm abends sagte, er solle eine Flasche Bier aus dem Keller holen, wo die Lampen schwach waren und sich immer nach kurzer Zeit ausschalteten, sodass man sich im Dunkeln zur Tür zurücktasten musste, wenn man keine Taschenlampe dabei hatte.
An diesem warmen Frühlingsnachmittag war das kein Problem und er fragte sich wie so oft, welche Steinzeitmenschen schon vor Ewigkeiten genau hier gestanden und den Stein genau da angefasst hatten, um sich abzustützen. Und was sie wohl gedacht haben mochten. Wahrscheinlich, dass sie auch einen Drachen brauchten …
Bei Regen konnte man sich wunderbar unterstellen und sinnieren, wie oft in Hunderttausenden von Jahren Steinzeitmenschen dort an einem Lagerfeuer gehockt haben mochten, dankbar, dass die Götter ihnen diesen Unterschlupf gewährten. Wenn die Dankbarkeit nachließ, aber der Regen nicht und langsam der Hunger größer wurde, kamen sie wahrscheinlich ins Grübeln, nämlich wann wohl das erste Pizzataxi seinen Dienst aufnehmen würde.
Ein Stück weiter hörte er ein Rascheln. Er schaute die Felswand rechts empor, aber den Waldboden dort oben konnte er nicht einsehen. Wieder das heftige Rascheln. Daniel wurde neugierig, er kannte diesen Wald, den kleinen Fluss und die Felsen wie seine Westentasche, er war oft hier, aber so ein hektisches Rascheln hatte er noch nie gehört.
Er stieg auf einen kleinen Felsblock, stemmte den linken Fuß in eine Spalte, zog sich hoch und stand fast drei Meter über dem Weg. Vor ihm raschelte es erneut: Ein Kaninchen steckte in einer Falle fest. So eine Schweinerei. Wer tat denn so was. Das war doch Tierquälerei – und verboten!
Das Kaninchen wusste anscheinend nicht, dass er helfen wollte, es zerrte an der hufeisenförmigen Metallfalle und die bewegte sich im Kreis, weil sie angekettet war. Endlich hatte er das Tier erwischt, weil er sich fast draufgestürzt hatte, und er brauchte drei Anläufe um das Eisen aufzudrücken. Vorsichtig! Nicht, dass es ihm noch einen Finger abschnitt!
Kaum kam der Hinterlauf des Tieres frei, sauste es ein wenig unregelmäßig hoppelnd davon – und verschwand.
„Aber das muss man doch schienen! Der Lauf ist doch bestimmt gebrochen!“, murmelte Daniel. Das hatten sie in Bio gelernt.
Er zuckte die Schultern und kletterte wieder zum Weg hinab, links lag nun hinter einem Steg noch die Schmiede. Daniel kam überhaupt nicht in den Sinn, dass da nie eine Schmiede gewesen war. Er wunderte sich auch nicht, dass er aus dem Tor jemanden lauthals lamentieren hörte: „So ein Mist! Jetzt kann ich nicht weiterschmieden, wo sind denn meine Helfer, wenn ich sie brauche. Jetzt wird das Eisen kalt, schade, schade! Und ich muss nochmal ein Feuer machen und das Tor wird nicht fertig. So ein unnützer Tag!“
Daniel war schon vorbeigegangen, jetzt kehrte er um, nahm den Steg über das Flüsschen und spähte durch die große halb geöffnete Holztür.
Ein dürrer älterer Mann sah auf. Schmiede sollten doch wohl kräftiger gebaut sein?
„Ah, mein Guter! Hast du Lust mir zu helfen?“
Daniel zuckte die Schultern.
„Du müsstest die Blasebälge bedienen und zwar zwei auf einmal. Kannst du das?“
Klar, das hatte er schon im Museumsdorf auf der Klassenfahrt gemacht, er wusste, wie das ging und dass das nach ein paar Minuten ganz schön in Arbeit ausartete. Aber: „Sicher, mach ich!“
Nach kurzer Zeit schwitzte Daniel ganz schön, weil das Schmiedefeuer gehörige Hitze ausstrahlte und er selber wie im Dauerlauf auf den Hebeln der Blasebälge rumtrampelte, die Luft ins Feuer pusteten.
Das Schwitzen war ihm ziemlich egal, denn er guckte fasziniert zu, wie der Alte ruckzuck aus soliden Eisenstangen einen Rahmen für das Tor fertigte und dann für innen ein kompliziertes Gitterwerk wob, mit einer Leichtigkeit, als verwende er Peddigrohr statt Eisen!
„Fertig!“, rief der Alte, der kaum schwitzte. „Jetzt präge ich noch deinen Namen ein. Wie heißt du?“
„Daniel!“
Der alte Schmied nahm ein paar Prägestempel und schlug in der Nähe des Schlosses sorgfältig Buchstabe für Buchstabe etwas ein.
„Schau!“, sagte er dann. „Da steht dein Name und wenn du mal vor dem Tor stehst und keinen Schlüssel hast, musst du nur sagen: „Lass mich ein!“
„So ein Quatsch!“, dachte Daniel und sagte: „Ich muss los!“ Der Alte hob die Hand, Daniel nickte und rannte förmlich raus in den hellen Sonnenschein, über den Fluss, der hier ganz still vor sich hin strömte und dann weiter den Weg zur Höhle entlang.
Ein Stück weit musste er zur Straße hinauf, dann ging es wieder hinunter zum Schwarzachpfad. Er lief wieder und das große Felsentor kam näher. Langsam joggte er hindurch und - prallte zurück. Er traute seinen Augen nicht: Lag da ein Drache in der Höhle?
Er schluckte, da lag ein Drache und füllte die ganze Höhle aus. Anscheinend schlief er.
War der gefährlich? Wo kam er her? Was fraß er? Wieso hatte man vorher noch keinen Drachen hier gesehen? Wieso hatte er sich eine Höhle ausgesucht, in die er nicht richtig reinpasste?
Irgendwie sah das riesige Ungeheuer nett aus. Zwar ragte es auch liegend über Daniel empor wie ein Rodelhügel, aber es schien im Schlaf zu grinsen. Nun gut, das tun Krokodile auch …
Plötzlich machte Daniel einen Satz zurück: Eins der Augen hatte sich geöffnet. Es war knallorange und sah doch recht gefährlich aus!
Das andere Auge klappte auch auf und der Kopf hob sich, das Maul öffnete sich und Daniel sagte: „Tu mir nichts, ich tu dir auch nichts!“ Sicherheitshalber war er in den Felsenbogen des Durchgangs zurückgetreten.
Der komplett smaragdgrüne Drache hob den Kopf erstaunt noch mehr. „Warum sollte ich dir etwas tun! Historisch gesehen haben die Menschen mehr Drachen auf dem Gewissen als umgekehrt!“, sagte er mit rumpelnder Stimme. „Und wer bist du überhaupt?“
„Daniel! Daniel heiße ich.“
„Daniel! Ich bin Snatch (sprich Snätsch!). Du hast nicht zufällig etwas zu essen dabei. Ich habe ziemlichen Hunger!“
„Was frisst du denn so?“
„Ich fresse nicht, ich esse!“, sagte das Monster würdevoll.
„Gut, was isst du denn so?“
„Kleine Kinder!“, und Snatch hob den Kopf noch weiter und das Maul öffnete sich und … der Drache lachte. Er lachte laut und irgendwie bellend und hörte plötzlich wieder auf, denn Daniel war ja gar nicht mehr da.
Er rannte nämlich wie ein geölter Blitz den Weg zurück.
Laut dröhnte die Stimme des Drachen hinter ihm: „Das war doch nur ein Witz. Bleib stehen!“
„Jaha!“, dachte Daniel. „Du kannst mich mal! Ich bleib doch nicht für dich stehen und geb eine leichte Beute für dich ab! So haben wir ja nicht gewettet!“ Er musste es bis zur Siedlung hinauf schaffen, denn da waren Leute, Häuser … Da traute der Drache sich vielleicht nicht hin.
Aber das war nur Wunschdenken. Hinter sich hörte er ein Rauschen in der Luft, als hätte man im Sommer sämtliche Ventilatoren aus allen Baumärkten des Landes angeschaltet, es krachte und knirschte in den Kronen der Bäume und der Drache landete vor ihm auf dem Weg.
Panisch machte Daniel einen Satz vom Weg runter auf die Böschung, stolperte und rollte ins Wasser.
Platsch!
Nochmal Platsch, nur lauter und etwas fasste ihn behutsam hinten am Kragen, hob ihn hoch, um ihn zurück auf den Weg zu stellen.
„Ein Witz!“, sagte Snatch, der noch im Wasser saß. Er stand auf, machte einen Satz aufs Trockene und schüttelte sich, dass es nur so spritzte.
„Ich hasse Wasser!“, fügte er hinzu, beugte den langen Hals und spuckte ein wenig Feuer dorthin, wo er immer noch nass war – auf den Bauch und die Beine hinunter.
Es dampfte.
„Du bist ja auch ganz nass! Soll ich dich auch …“
„Neinnein, ich will nicht gegrillt werden!“
„Dann zieh doch wenigstens das Hemd aus und halte es in die Nähe meines Mundes! Ich kann das wirklich nicht mit ansehen, wenn du so nass und kalt herumläufst!“
Gesagt, getan, Daniel hielt das Hemd nahe an die orangene Flamme, die Snatch produzierte, und bald konnte er es wieder anziehen. Das fühlte sich ja richtig gut an!
„Peng!“, knallte es und eine Stimme rief. „Junge, lauf weg!“
Und nochmals „Peng!“
„Hihi!“, sagte Snatch. „Das kitzelt!“
Und Daniel rief: „Der tut nichts, der will nur spielen!“
„Lauf!“ Peng, Peng!
Snatch knurrte: „Weiß der denn nicht, dass ich unverwundbar bin?“
Nein, das wusste der Jäger nicht, der sowieso jetzt ganz verwirrt war. Erst lösen sich alte Männer in Luft auf, dann steht man vor einem Drachen. Das war einfach nicht sein Tag.
„Welch unfreundliche Atmosphäre!“, sagte Snatch kopfschüttelnd. „Zu viel Blei in der Luft! Komm! Wenn du aufsitzt, können wir losdüsen und freundlichere Gesellschaft suchen.“
Peng, eine Kugel sauste als Querschläger dicht über Daniels Kopf hinweg und das erleichterte seinen Entschluss enorm. Er krabbelte über den Hinterlauf auf den Rücken des Drachen, froh darüber, dass der so eine massive Panzerung aus einzelnen, interessant gemusterten Platten hatte.
Mit einem Satz waren sie in der Luft und mit gewaltigem Flügelrauschen transportierte der Drache Daniel über die Baumkronen, den Fluss und dann über den Wald auf der anderen Seite des Flusses und plötzlich sagte Snatch: „Ich rieche etwas zu essen, hm, lecker!“, und er steuerte über die Felder auf die Nachbarstadt zu. Sie entfernten sich rapide von Daniels Zuhause!
„Also, ich wohne in der anderen Richtung!“, rief Daniel in den Wind.
„Gut!“, rief der Drache zurück. „Gut! Riechst du das auch?“
„Nein“, schrie Daniel. „Ich riech nichts! Ich wollte eben sagen, ich muss gleich nachhause zurück!“
„Gut!“, rief der Drache.
„Also, was ich damit sagen will …“
„Bist du immer so umständlich?“
„Was?“
„Ich fragte, ob du immer so umständlich bist. Sag doch einfach, was dein Begehr ist, was wünschst du, was verlangst du, was möchtest du, was soll ich für dich machen, was kann ich für dich tun? Ich meine, was schwebt dir vor, wie gehts weiter?“
„Äh, bring mich nachhause!“
„Alles klar, aber erst wird gegessen!“
Daniel stöhnte.
„Schau, da gibts was Gutes!“, rief Snatch und Daniel begriff, dass er auf das große Einkaufszentrum eines Nachbarortes zusteuerte, wo ein Minivolksfest stattfand. Mehrere Imbisswagen fanden sich dort, ein Fischstand, ein Hähnchengrill und eine Pommesbude. Außerdem ein Feuerwehrwagen, der Durst mit Bier löschte.
Abends spielte eine Band Volksmusik. Die Pommesbude bot leckere Fränkische Bratwurst, die hier über Holzkohlenfeuer gegrillt wurde. Davon konnte Daniel auch drei oder vier Stück futtern. Problemlos. Mit Senf natürlich. Der Grill hatte sogar Enten neben den Haxen und Hähnchen im Angebot.
Snatch landete vor den Buden und zerquetschte mit seinem Hinterteil einen Einkaufswagen. Den konnte man nun zwar nicht mehr als Einkaufswagen, aber doch ganz prächtig als Seifenkiste benutzen. Leider waren die Räder zu klein, sonst hätte man durchaus Siege damit herausfahren können.
Snatchs Schwanz, der in einer herzförmigen Pfeilspitze endete, hatte eine große Werbetafel gestreift und dabei einen Buchstaben weggekratzt. Bei der Werbung für unkaputtbare Fahrradreifen fehlte im Spruch „Nie mehr flicken“ ausgerechnet der wichtigste Buchstabe.1
Daniel stieg ab, er war noch ganz benommen von dem Flug und der etwas unsanften Landung. Vielleicht sollte man so einen Drachen mit gepolsterten Sitzen ausstatten oder ihm eine Gondel umhängen oder …
Die Leute ringsum waren nach allen Seiten auseinandergelaufen und starrten nun aus sicherer Entfernung zu Daniel und Snatch hinüber. Einige hatten Kameras herausgeholt, einige ihre Handys. Manche telefonierten wie wild, manche filmten. Andere wiederum zischten mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. Auch diejenigen, die schön der Reihe nach aus dem Einkaufszentrum kamen, guckten zunächst blöde, schrien dann laut auf und begannen zu rennen. Jeder Zweite ließ dabei seinen Einkauf zurück. Daniel konnte nicht anders, er musste einfach lachen und Snatch lachte mit.
Als aber an die 20 Einkaufswagen mitsamt Einkäufen herrenlos herumstanden, verging ihm das Lachen wieder. Auch Snatch verstummte.
„Zu dumm, dass die alle Angst vor dir haben!“, kommentierte Daniel.
„Wirklich dumm!“, nickte Snatch.
„Könntest du nicht irgendwas machen?“
„Ja, ich könnte was essen!“, Snatch tapste auf die Pommesbude zu. „Weißt du, ich hab wirklich Hunger. Was glaubst du, was ich an Kohlenhydraten verbrenne beim Fliegen und beim Feuer spucken sowieso! Ich brauche Nahrung, sonst kippe ich um! Ach, wie schön!“
Er meinte anscheinend die Würstchen. 20 Stück lagen da auf dem Grill, waren aber erst ein wenig angebraten.
„Die sind noch nicht richtig durch!“, sagte Snatch zu der Verkäuferin, die neben dem Grill stand, eine Grillzange in der einen Hand und eine Plastikschale in der anderen. Sie war eine Dame mittleren Alters, die vorher gedacht hatte, sie hätte schon alles gesehen.
„Naa!“, sagte sie leise mit deutlichem fränkischem Akzent.
„Hob i … grod erst … draufgleecht.“
Snatch steckte den Kopf unter das Dach der Bude und ließ einige Sekunden lang eine rotblaue Flamme über den Grill spielen.
Die Verkäuferin fiel lautlos um.
„So!“, meinte Snatch fröhlich. „Die Würstchen sind gut!“
Er ließ seine große raue Zunge zweimal über den Grill huschen und dann schmatzte er zufrieden.
„Mit dir kann man nirgendwo hingehen!“, kommentierte Daniel.
„Was denn, ich muss mich doch ernähren!“
„Ja gut, aber wie willst du die Würstchen denn bezahlen?“
„Be …! Nein! Sags nicht! Wir sind in so einem rückschrittlichen Land, wo man noch bezahlt! Womöglich habt ihr GELD!“
„Ja, das heißt, ich hab keins! Hier, der eine Euro, das ist alles, was ich habe.“
Interessiert schaute Snatch sich die Münze an. „Und welche Leistungen oder Waren kann man damit erstehen?“
„Eine halbe Wurst?“
„Oh, hm, ja. Egal, ich hab immer noch Hunger. Sie gestatten doch?“, fragte er, aber die Verkäuferin war noch ohnmächtig und sagte nichts, also steckte Snatch seinen grünen Reptilienschädel nochmal unter das Dach und schlürfte die Fritteuse leer. „Lecker!“, meinte er und rülpste, was eine kleine gelbe Flamme entstehen ließ, die über den Boden tanzte und fünf Sekunden später verlosch.
Mit der Zunge fischte er noch eine Packung Toastbrot aus dem Regal, warf sie hoch, biss vorne hinein, hielt dann erstaunlich geschickt mit seinen krallenbewehrten feingliedrigen Fingern die Plastikverpackung fest und … flupp war das Toastbrot verschwunden. Sorgfältig öffnete Snatch den Abfalleimer, steckte die Plastikfolie hinein und ließ den Deckel wieder fallen.
„Das war die Vorspeise. Was machen wir jetzt, wo wir doch kein ‚Geld‘ haben?“
Daniel wollte schon sagen, dass Snatch ein wenig zu oft das Wort „wir“ benutzte, er konnte ja nicht verlangen, dass ein Kind, ein Junge wie Daniel, ihm ein paar tausend Würstchen kaufte oder was immer auch Snatch sich da vorstellen mochte. Aber stattdessen sagte er: „Ich habe eine Idee!“
„Siehst du! Gut, dass ich dich nicht gegrillt und gegessen habe!“
Daniel stemmte empört die Hände in die Hüfte und sah Snatch böse an.
Der zuckte die Schultern und sagte entschuldigend: „Ein Witz, ein Witz! Du weißt doch! Tut mir leid!“ Und er wiegte den großen Kopf bedrückt hin und her.
„An deinem Sinn für Humor musst du bei Gelegenheit noch arbeiten!“, sagte Daniel. „Aber jetzt lass uns mal sehen …“ Ein paar Minuten später war die Vorführung schon in vollem Gange.
„Einzigartig!“, brüllte Daniel. „Das müssen Sie gesehen haben! Feuerspeiender Drache grillt Hähnchen in der Luft! Treten Sie näher! Spenden Sie für Drachen in Not. Kommen Sie heran, Sie wollen doch nicht, dass dieser niedliche Geselle verhungert!“
Der „niedliche Geselle“ jonglierte mit sechs noch nicht gegrillten Hähnchen und zwar schickte er sie dabei immer wieder durch die Flamme, die er in den Himmel blies. Dann, als sie braun waren, landeten sie zappzerapp in seinem Mund - er hatte Daniel eröffnet, er habe kein „Maul“ - und weg waren sie.
„Griecherti aah nu su a Geegala!? Du griggst fo mia a doppelt suviel!“, schrie ein Zuschauer aus der kleinen Menge, die sich nun angesammelt hatte.
Kurz darauf war der Hähnchenvorrat des Grillwagens aber aufgebraucht und Snatch wandte sich dem Fischstand zu, da ertönten Sirenen in der Nähe.
„Die Polizei!“, rief Daniel.
„Gut, gut“, sagte Snatch. „Die können mal ein wenig für Ordnung sorgen. Hm, der Fisch riecht lecker.“
„Es wäre besser, wenn wir verschwinden“, meinte Daniel, „du weißt schon: Missverständnissen aus dem Weg gehen …“
„Missverständnisse? Was für Missverständnisse?“
Daniel zuckte die Schultern, aber er hatte schon so eine Ahnung, dass es NUR Missverständnisse geben würde, wenn die Polizei ihn hier mit diesem großen grünen Drachen sah.
Und so kam es auch: Snatch jonglierte mit 8 Fischen und grillte sie gleichzeitig in der Luft, die Leute jubelten und immer mehr drängten nun heran. Es roch nach gebratenem Fisch, Snatchs Flamme zischte und fauchte. Es war ein bisschen wie auf der Kirmes – bis die vier Polizeibeamten auftauchten. Sie drängelten sich durch die Menge, sahen sich das Spektakel eine Sekunde lang an und einer rief: „Was geht denn hier vor sich?“
Daniel hatte gerade noch einmal Geld eingesammelt, das für mindestens zwölf Fische reichte, und er rief: „Sehen Sie doch: Fütterung eines Drachen!“
„Stopp, stopp, stopp, stopp, stopp! So geht das ja nicht! Hast du eine Genehmigung für diese Vorführung?“
„Äh …“
„Aha, keine Genehmigung, das wird teuer! Wie ist es mit einem Gewerbeschein?“ Daniel hatte noch nie von einem Gewerbeschein gehört.
Ein anderer Beamter fragte: „Ich glaab scha glei goa net, dass du glaana Buh su a Dier öffendlich rumfiehrn derfst. Host du dafia a Genehmigung?“
„Ich bin kein Tier!“, zischte Snatch und eine bösartige Zweimeterflamme spielte über die Köpfe der Polizisten und sengte ihre blauen Mützen an.