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W. K. Giesa

Der Mann, den alle hängen wollten

Cassiopeiapress Western





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Der Mann, den alle hängen wollten

Western von W. K. GIESA

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 116 Taschenbuchseiten.

 

Jim Caine hielt es zunächst für eine harmlose Verwechslung, als ihn ein Fremder mit dem Namen Prescott ansprach. Aber als Jim Caine erkannte, was es mit dem Namen Prescott für eine Bewandtnis hatte, schien er den Kopf schon in der Schlinge zu haben. Kein Mensch wollte ihm glauben, dass er Caine war und nicht dieser Prescott, den alle verfluchten. Und aus diesem Jail war eine Flucht so gut wie ausgeschlossen. Es gab nur noch einen winzigen Hoffnungsschimmer für Caine. Jessica! Sie war unter Apachen aufgewachsen und konnte kämpfen wie ein Mann. Sie war Caines letzte Chance.

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© Cover – Klaus Dill, 2017

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

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1

Auf der Main Street von Stanwell fuhr Jim Caine zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte und ihn damit zwang, den Kopf zu drehen. Ein Mann, den er nie zuvor gesehen hatte, sprach ihn an: „Prescott, ist das nicht ziemlich riskant für Sie, sich so in der Öffentlichkeit sehen zu lassen?“

Im nächsten Moment war der Fremde zwischen anderen Menschen untergetaucht. Jim Caine war zu verblüfft, um ihm nachzulaufen. Der Name Prescott war ihm ebenso unbekannt wie die kleine Stadt Stanwell, in der Jessica und er zum ersten Mal waren, und er hatte auch noch nie einen anderen als seinen eigenen Namen getragen.

Aber auf der anderen Straßenseite stolperte er fast über einen Mann, der vor ihm emporwuchs und ihm zu zischte: „Prescott, verschwinden Sie lieber, oder wollen Sie es auf eine Schießerei mit dem Sheriff ankommen lassen?“ „Hören Sie, Mister…“, begann Jim, aber da war der Lange schon weg.

Jim schüttelte den Kopf. Dieser Prescott, mit dem er verwechselt wurde, schien ja eine stadtbekannte Größe zu sein, auf die der Sheriff ein wachsames Auge hatte! Aber gerade das wurmte ihn mächtig. Caine war kein Bandit.

Er wurde nicht gesucht.

Wie, zum Teufel, dachte er, ist es möglich, dass man mich mit diesem Prescott verwechselt? Ich bin doch immerhin eine recht auffällige Gestalt! In der großen Fensterscheibe des Barber’s Shop spiegelte er sich, ein hochgewachsener, athletischer Mann mit jungenhaft sympathischem Gesicht, das ihn als Mittzwanziger durchgehen ließ. Aber das stimmte nicht. Die Dreißig hatte er gerade hinter sich. Der dunkelbraune Haarschopf war ein wenig länger als allgemein bei Weißen üblich. Steingraue Augen registrierten jede Einzelheit und jede Veränderung in der Umgebung. Caine trug fransenbesetzte Wildlederkleidung.

Langsam ging er weiter, dem „Red Falcon“ entgegen. Es war der einzige Saloon in Stanwell und das einzige Hotel. Stanwell war ein ziemlich kleines Städtchen im Panhandle, unweit des Comanchen-Gebietes, und hatte niemals die Chance bekommen, eine „richtige“ Stadt zu werden. Caine verstand nicht, warum vor vielen Jahren jemand auf den Gedanken gekommen sein konnte, an diesem eigentlich unwichtigen Kreuzweg Häuser zu bauen. Hier gab es weder eine Eisenbahn noch einen größeren Fluss oder eine Rinderstrecke. Entsprechend klein war die Ortschaft.

Aber laut. Aus dem Saloon scholl Jim Caine Lärm entgegen.

Er dachte an Jessica. Hoffentlich hatte sie keinen Ärger bekommen. Sie war im Hotel geblieben, um sich ein wenig frisch zu machen. Das schwarzhaarige, schlanke Mädchen ähnelte verblüffend einer Indianerin. Nicht ohne Grund: Mescaleros hatten sie als kleines Kind als einzige Überlebende in den Ruinen einer von Desperados niedergebrannten Farm gefunden und mitgenommen. Gut fünfzehn Sommer lebte sie bei ihnen, wuchs auf und lernte die Sprache, Sitten und Gebräuche der Mescaleros. Auch ihre Haut war ein wenig dunkler als normal. Man konnte sie leicht mit einem Apachenmädchen verwechseln. Und wenn die Leute in Stanwell zufällig nicht gerade gut auf die Roten zu sprechen waren, dann ...

Caine ging etwas schneller.

Kurz davor sprang ein Mann aus seinem Schaukelstuhl auf, zeigte alle Anzeichen des Erschreckens und hetzte zwischen den Häusern davon. „Prescott ist wieder da!“ hörte Caine ihn rufen.

Diesen Prescott sollte von ihm aus der Teufel holen! Wer war dieser Mann, der ihm so ähnlich sehen musste?

Vor ihm flog eine Gestalt durch die Pendeltür nach draußen, rollte sich ab und kam wieder hoch. Drei, vier, fünf Männer folgten. Der erste und einer der anderen fünf waren Indianer. Die Weißen setzten sofort nach und prügelten auf die beiden Indianer ein. Und zwar mit Fäusten und Knüppeln.

Vier gegen zwei, das gefiel Jim Caine gar nicht, zumal er drüben auf der anderen Straßenseite einen Mann auf dem Stepwalk stehen sah, der sich die Prügelei gemütlich betrachtete, ohne einzugreifen. Am Hemd des Mannes glänzte ein sorgfältig polierter Silberstern.

Schön, wenn die Roten in die Stadt kamen und sich verprügeln lassen wollten, war das ihre Sache, aber Jim Caine hielt eine Menge von fairen Kämpfen. Das Verhältnis vier zu zwei gefiel ihm gar nicht. Wortlos stapfte er auf die Kämpfer zu. Seine Fäuste flogen. Der erste, den er traf, sagte gar nichts, verdrehte nur die Augen und schlief ein. Der zweite sah ihn noch, konnte sich aber nicht mehr schnell genug ducken. Er taumelte mehrere Schritte rückwärts, rempelte eine hastig vorbeeilende Dame an und erhielt von ihr prompt eine gewaltige Ohrfeige, die ihn rittlings auf den Boden setzte.

Gerade ging einer der Indianer endgültig zu Boden. Die vier anderen Weißen wollten den anderen jetzt systematisch fertig machen. Caine rollte die Sache von hinten auf. Jeder Schlag war ein Volltreffer.

Plötzlich fand die Prügelei ein Ende. Die beiden noch standfesten Männer spritzten nach beiden Seiten auseinander, um sich zu vergewissern, was für ein Tornado dazwischen sie gefahren war. Der Indianer bückte sich nach seinem Gefährten und zog ihn blitzschnell aus der direkten Gefahrenzone. Beide Rothäute waren von Beulen, blauen Flecken und Platzwunden übersät. Sie hatten eine gehörige Menge einstecken müssen.

Caine grinste die beiden Weißen an. „Ganz schön tapfer“, sagte er trocken. „Wagt euch nur mit einer dreifachen Übermacht an die Redmen. Soll ich euch helfen, damit ihr mit ihnen fertig werdet?“

„Halt dich da raus, Mann“, knurrte ein breitschultriger Hüne. „Wer bist du überhaupt? Einer von diesen verdammten Indianerfreunden?“

Wenigstens einer, der mich nicht für Prescott hält, dachte Caine. Und immerhin waren die Leute jetzt so weit, dass sie schon mal redeten, anstatt gemeinsam über ihn herzufallen. Der Bursche, der die Ohrfeige der Lady eingefangen hatte, wankte langsam näher. Die anderen lagen noch still. Jim wusste, dass es noch eine Weile dauern würde, bis sie wieder erwachten. Er kannte die Wirkung seiner Fäuste.

Er sah nach den Indianern. Sie zogen sich langsam zurück. Caine zeigte ein dünnes Lächeln.

„Ich habe dich was gefragt“, knurrte der Breite. „Gerade konntest du noch reden wie unser Reverend. Jetzt hat’s dir wohl die Sprache verschlagen!“

Jim Caine schüttelte den Kopf. Er hielt es nicht für nötig, etwas zu sagen. Er wartete noch. Die Indianer erreichten ihre Pferde, die ein paar Dutzend Yards entfernt angeleint waren. Der eine half seinem angeschlagenen Gefährten hinauf. Die beiden machten sich bereit, zu verschwinden.

„Die Roten hauen ab!“, schrie der Schnurrbärtige. Sofort flogen die Köpfe der anderen beiden herum.

„Lasst sie reiten!“, sagte Jim scharf.

„Ach, er kann doch reden. Befehle geben, Sprüche klopfen, sonst nichts! Mister, du hast uns immer noch nicht verraten, wer du eigentlich bist.“

Zwei Schritte vor Jim blieb er stehen. Die anderen zwei gingen auf die Indianer zu. Caine sprang vor. „Ihr sollt sie in Ruhe lassen!", knurrte er und hielt den Schnurrbärtigen an der Schulter zurück. Der fuhr herum wie eine Raubkatze und wollte Caine beide Fäuste an den Kopf schmettern. Caine drehte sich und schickte ihn mit einem einzigen Hieb in den Straßenstaub.

Die beiden anderen wollten nach ihren Colts greifen. Da krachte ein Schuss.

Der Breite und der Dürre spritzten auseinander wie Schafe, zwischen die der Wolf gerät. Caine wollte unwillkürlich ziehen, doch da erkannte er, dass es der Sheriff war, der geschossen hatte.

Der Sternträger kam langsam näher, den Revolver noch in der Hand.

„Allmählich langt es“, sagte er laut. „Geht nach Hause oder sonst wohin. Ihr habt euren Spaß gehabt.“

Der Dürre zog sich zurück und zerrte dabei den Schnurrbärtigen mit sich. Die beiden Indianer waren verschwunden. Der Breitschultrige stand noch da.

„Das gilt auch für dich, Bud“, sagte der Sheriff.

Bud zeigte anklagend auf Caine. „Erst soll er uns sagen, wer er ist“, knurrte er. „Das ist ein verdammter Indianerfreund!“

„Schleich dich, habe ich gesagt“, brummte der Sheriff unwillig. „Oder muss ich dir Beine machen?“

Jetzt endlich begriff Bud, dass seine Show vorbei war. Er zog brummelnd ab. Der Sheriff richtete die Mündung seiner Waffe auf Caines Bauchnabel und streckte die linke Hand nach dem Navy Colt aus.

„Geben Sie her, Prescott“, sagte er trocken. „Sie sind verhaftet.“



2

Jessica verfolgte das Geschehen vom Fenster ihres Zimmers aus. Sie sah aus wie eine Indianerin, obwohl sie eine Weiße war. Aber sie war unter Apachen aufgewachsen, und diese Jahre hatten ihr Äußeres stark geprägt.

Wie Caine kleidete sie sich in Leder, allerdings schwarz mit Stickereien versehen, und anstelle der Stiefel trug sie weiche Mokassins, in denen sie sich schnell, leicht und vor allem geräuschlos bewegen konnte.

Sie sah, wie Caine vom Sheriff verhaftet wurde.

„Ja, spinnt denn der?“, murmelte sie maßlos verblüfft. Seit sie das Mescalerodorf verlassen hatte, um Caine weiter zu begleiten, hatte sich der Mann nicht ein einziges Mal etwas zuschulden kommen lassen. Und auch vorher war er ehrlich gewesen. Jessica wusste es. Wäre es anders, könnte sie ihn nicht lieben.

Warum also diese Verhaftung? Der Schlägerei wegen konnte es doch nicht sein. Er hatte die Prügelnden doch nur auseinandergebracht, was eigentlich Sache des Sheriffs gewesen wäre!

Entschlossen stülpte sie sich den Stetson auf den hübschen Kopf, schnallte den Revolvergurt um und verließ das Zimmer. Diese Sache wollte sie klären! Sie hastete die Treppe hinunter und durchquerte den Saloon, der wie leergefegt war. Die Einrichtung hatte ein wenig gelitten, eine Folge der Schlägerei.

Jessica trat ins Freie und sah sich um. Der Sheriff und Caine waren verschwunden.



3

Mit der Linken zeigte der Sheriff auf die Zelle mit den Gitterstäben, „Rein mit Ihnen!“

Caine blieb stehen. „Schätze, Sie machen einen Fehler“, sagte er. „Einen großen Fehler.“

„Das sagen alle, die ich einsperre“, brummte der Sheriff. „Los, machen Sie schon. Warten Sie mal, Ihr hübsches Messerchen dürfen Sie mir auch vorsichtig überreichen. Ich weiß nicht, wie gut Sie inzwischen werfen können.“ Zähneknirschend lieferte Jim den verzierten Dolch ab. „Sie verwechseln mich mit einem anderen“, sagte er.

Der Sheriff lachte spöttisch auf. „Ihre Witze waren auch schon besser, Prescott ... einer wie Sie ist doch unverwechselbar! Den gibt’s nur einmal...“ „Offenbar nicht“, knirschte Caine. „Hören Sie, wollen Sie sich nicht meine Papiere ansehen, bevor Sie mich einsperren? Und darf ich erfahren, weshalb Sie mich verhaftet haben?“

„Oh, mir kommen die Tränen, Prescott. Sollten Sie wirklich das Gedächtnis verloren haben? Schauen Sie mal dorthin!“

Jim Caine sah den Steckbrief an der Wand. Er zeigte sein Gesicht. Es gab keinen Zweifel. Aber wie war das möglich?

Der Sheriff schob Jim unsanft in die Zelle, warf die Tür zu und drehte den Schlüssel zweimal herum, ehe er ihn abzog. Dann seufzte er vernehmlich. „Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, murmelte er. „Prescott lässt sich einsperren ... Sie werden wohl alt, Mister.“

Jim Caine schüttelte den Kopf. Auf die Entfernung konnte er nicht viel von dem lesen, was auf dem Steckbrief stand; nur die große Zahl sprang ins Auge: 500 Dollar!

Eine stattliche Summe für einen Mann, der nichts auf dem Kerbholz hat, dachte er. Vorsichtig fischte er den wasserdichten Lederbeutel hervor, öffnete ihn und warf dem Sheriff die zusammengefalteten Papiere zu. „Da ... fangen Sie!“

Der Sheriff fing. Er versenkte sich hinter seinem aufgeräumten Schreibtisch, grinste und faltete die Blätter auseinander. Während er kopfschüttelnd las, hatte Caine Muße, ihn näher in Augenschein zu nehmen. Und je mehr er sah, desto weniger gefiel ihm der Sheriff.

Sein gewichtiger Bauch zeugte von stets gesegnetem Appetit. Eine prachtvoll verlängerte Stirn wurde von einem schütteren Haarkranz eingezäunt. Was ihm auf dem Kopf an Haaren fehlte, war wohl heruntergerutscht und diente jetzt als Bart. Der Mann sah gemütlicher aus, als er war. Ein prüfender Blick in die Linien seines Gesichts und das harte Funkeln der Augen verrieten Cane, woran er mit dem Mann war.

Porter faltete die Papiere wieder zusammen und legte sie zur Seite. „Gute Fälschungen, Prescott“, sagte er. „Ein wenig zu gut! Selbst wenn ich nicht wüsste, dass Sie Prescott sind, würde ich Ihnen den Colonel nicht abkaufen. Dazu sind Sie nun doch ein bisschen zu jung.“

Caine presste die Lippen zusammen. „Das waren die letzten vier Kriegstage“, knurrte er. „Sie hatten keinen Dümmeren, den sie befördern konnten, und zufällig wurde gerade ein Colonel gebraucht. Wenn auch nur, um mit der ganzen Truppe zu kapitulieren ...“

Er schüttelte den Kopf. Spaß hatte ihm der Krieg keine Sekunde lang gemacht, und er begriff heute noch nicht, wieso er die Rangleiter so schnell hatte hinauffallen können, war er doch einer der unbequemsten Trooper der Konföderierten gewesen. Aber im Krieg kommen die Beförderungen eben doch viel schneller...

Colonel Jim Caine ... Das war längst vorbei. Die Papiere trug er noch immer bei sich, aber er erinnerte sich nicht gern an jene blutige, furchtbare Zeit. Jetzt war er nur noch Caine. Und damit fühlte er sich wohler.

Bis auf jetzt.

„Nehmen wir einmal an, Sie wären Colonel gewesen“, sagte der Sheriff spöttisch. „Warum sind Sie dann nicht Unionsoffizier geworden? Ein Major, wenigstens aber ein Captain wäre allemal drin gewesen!“

„Ich wollte nicht“, sagte Caine knapp. „Ich habe vom Krieg spielen die Nase gestrichen voll, verstehen Sie mich? Und jetzt lassen sie mich wieder raus. Sie haben Ihren Spaß gehabt, und…“

„Sie bleiben schön da drin“, sagte der Sheriff. „Sie vergessen, Prescott, dass ich Ihnen etwas versprochen habe. Ich bringe Sie an den Galgen. Egal, mit welchen Tricks Sie es versuchen. Colonel! Nicht zu fassen ... Keinen Tag in der Army gedient und gibt sich als Offizier aus... na warte, Bürschchen.“

Er verließ das Office und zog die Tür nicht gerade leise hinter sich zu.

„Rums“, sagte Caine. „Da sitze ich nun. Prescott... Heiliger Rauch, wer soll das bloß sein?“