Giovanni Boccaccio

Die Geburt der Novelle

Das Decameron

   Der Titel

   Vorrede - Widmung

   Die Pest in Florenz

   Auf dem Landsitz

   Das Rahmenprogramm

   1. Tag 1. Novelle: Eine Beichte

   1. Tag 2. Novelle: Abrahams Taufe

   1. Tag 3. Novelle: Der Herr der Ringe

   1. Tag 4. Novelle: Hierarchien

   2. Tag 9. Novelle: Eine Wette

   3. Tag 9. Novelle: Der Bett-Trick

   4. Tag 2. Novelle: Himmlischer Besuch

   5. Tag 8. Novelle: Mädchenjagd

   5. Tag 9. Novelle: Falkenliebe

   6. Tag 7. Novelle: Parität

   7. Tag 1. Novelle: Nächtliches Gespenst

   7. Tag 9. Novelle: Unterm Birnbaum

   7. Tag 10. Novelle: Subtile Verwandtschaft

   8. Tag 1. Novelle: Ein günstiges Darlehen

   8. Tag 10. Novelle: Sizilianische Geschäfte

   9. Tag 1. Novelle: Zwei Grabräuber

   9. Tag 2. Novelle: Verräterischer Kopfputz

   9. Tag 3. Novelle: Kritische Schwangerschaft

   9. Tag 6. Novelle: Nächtliche Wanderungen

   10. Tag 3. Novelle: Nathan der Gute

   10. Tag 10. Novelle: Griselda

Giovanni Boccaccio vor den Uffizien, Florenz
Giovanni Boccaccio vor den Uffizien, Florenz

Giovanni Boccaccio

Er ist weltweit einer der bekanntesten Dichter, und einer überwältigenden Mehrheit bedeutet er Synonym für dreist-frivole Liebesgeschichten; nicht selten wird er sogar mit Casanova verwechselt. Doch nichts ist irriger, als ihn als Schöpfer eines einzigen und dazu leichtfertigen Buches zu klassifizieren.

Giovanni Boccaccio gilt heute als Ursprung und Vorbild der italienischen Prosa. Nachdem Dante fünfzig Jahre vorher als Erster Verse nicht mehr im Latein der Gebildeten, sondern in der Volkssprache geschrieben hatte, vollendete Boccaccio den literarischen Umbruch in die Renaissance; sein Decamerone ist die Schöpfung einer neuen Literaturgattung mit einer Wirkungsgeschichte bis heute: die Novelle.

Renaissance, „Wiedergeburt“ der Antike, wird von kaum einem Künstler so konsequent repräsentiert wie von Boccaccio. Er studierte das Griechische und ließ auf eigene Kosten das erste vollständige Manuskript der Homerischen Epen Ilias und Odyssee nach Florenz kommen. Zur Bewahrung des antiken Wissens verfasste er lateinische Biografien Über den Sturz berühmter Männer,1 sowie ein enzyklopädisches Verzeichnis aller Gestalten der griechisch-römischen Mythologie2 mit zukunftsweisenden Deutungen; etwa des Prometheus, den er nicht wie das Mittelalter als Allegorie für die göttliche Schöpferkraft interpretierte, sondern als Sinnbild für die kulturschaffende Leistung des Menschen. Seine Deutungen bezeichnen einen enormen Fortschritt, da im Mittelalter antike Götter nicht als Produkte der Mythologie betrachtet wurden, sondern nach der Lehre des Augustinus als real existierende Dämonen, die aktiv bekämpft werden mussten.3 Mit Boccaccio begann die Antikenbegeisterung der Frührenaissance, seine Schriften erhielten Vorbildcharakter für den kommenden Humanismus und wurden für Maler und Dichter eine Vorlage, heidnische Götter der Antike neu zu verstehen.

Neben Boccaccios epochaler künstlerischer Bedeutung wirkte er in Florenz politisch. Er war Stadtkämmerer und übernahm als Jurist (Richter und Notar) mehrmals Gesandtschaften ins Ausland, etwa in schwieriger Mission beim Wittelsbacher Ludwig IV. von Bayern.4

Zweiundfünfzig Jahre nach Dantes Tod wurde für Boccaccio an der Universität Florenz der erste Lehrstuhl zur Ausdeutung der Commedia geschaffen, die er als Dantes erster Biograf mit dem Attribut „Divina“ versah.5 Das Dreigestirn (tre corone – drei Kronen) Dante, Boccaccio und dessen enger Freund Petrarca wurden die Väter der italienischen Renaissance.

Dante lebte bereits seit 1304 als politisch Verbannter im Exil, als Boccaccio 1313 geboren wurde – ein halbes Jahrhundert nach Dante und zehn Jahre nach Petrarca. Dante starb 1321, Petrarca 1374, Boccaccio ein Jahr nach ihm mit 62 Jahren.

Als Heimat hat Boccaccio immer Certaldo genannt, nicht als Geburtsort. Das Städtchen mit den großartig erhaltenen mittelalterlichen Palazzi und Stadttoren liegt etwa 40km südwestlich von Florenz im Elsa-Tal; es hat heute 16000 Einwohner. Hier verbrachte Boccaccio einen großen Teil seines Lebens und fand in der Chiesa di Santi Michele e Jacobo seine Grabstätte, bis 1783 eine puritanische Stadtregierung Anstoß an dem über vierhundert Jahre alten Decameron nahm und das Grab entfernte. Es wurde später wieder erneuert und erhielt eine Marmorbüste des Dichters.

So eindeutig Boccaccios letzte Lebensjahre überliefert sind, so mit Legenden umwoben ist seine Geburt und manches seiner Jugendjahre. Die meisten biografischen und lexikalischen Angaben nennen Certaldo als seinen Geburtsort, was aber durch die Lebensumstände seines Vaters nicht unumstritten ist. In einem frühen Brief hat Boccaccio sich als „Stiefkind des Glücks“ bezeichnet, weil er unehelich geboren wurde.

Boccaccios Familie lebte in Certaldo, bis sein Vater, genannt Boccaccino di Chellino, als Kaufmann eines Bankhauses in das wirtschaftlich aufblühende Florenz zog. Handelsreisen führten ihn in italienische Städte und vorübergehend als Leiter einer Filiale der angesehenen Bardi-Bank nach Paris. Es scheint gesichert, dass er in der lebenslustigen Weltstadt eine reiche Witwe kennenlernte und Paris verließ, als sie schwanger wurde und im Juni oder Juli 1313 einen Knaben gebar. Nach wenigen Jahren starb die Frau und Boccaccios Vater holte den jungen Giovanni nach Florenz. Über seine Mutter sprach Boccaccio nie.6

Giovanni war 14 Jahre alt, als sein Vater von Bardi nach Neapel versetzt wurde, und ab jetzt steht die Dichterbiografie wieder auf gesichertem Boden. In einem späten, in Latein verfassten Werk7 beschreibt er, wie sehr sein Vater in Neapel bemüht war, ihn zum Bankkaufmann zu erziehen. Boccaccio wehrte sich gegen diesen Beruf und der Vater war bereit, ihn kanonisches Recht (Kirchenrecht) studieren zu lassen. Auch diese Karriere lehnte er sofort innerlich ab, denn er fühlte sich ex utero matris8 (vom Mutterleibe an) zum Dichter berufen.

Als Filial-Leiter des einflussreichen Bankhauses und Finanzier des Königshofes hatte der Vater regelmäßig Zugang zum Palast, wo der Sohn bedeutenden Gelehrten begegnete und in der hervorragenden Bibliothek Petrarcas Sonette kennen und bewundern lernte.

Der Hof in Neapel galt als der luxuriöseste, moralisch anstößigste, politisch gefährlichste in Italien. Robert von Anjou war als Sohn König Karls II. „des Lahmen“ im Austausch gegen seinen Vater in Gefangenschaft des Königs von Aragon gekommen. Später folgte er dem Vater auf den Thron, weil der älteste Bruder Karl Martell früh starb und der zweitälteste in einen Franziskanerorden eingetreten war. Trotz zwölf verlorener Kriege erhielt er den Beinamen Der Weise, weil er Kunst und Wissenschaft in Neapel zu einer Hochblüte brachte, wie in der damaligen Welt nur sein Gegner Friedrich II. in Sizilien. Zwei Jahre vor seinem Tod krönte er Petrarca auf dem Kapitol in Rom mit dem Lorbeer des Dichterkönigs (poeta laureatus).

Neben Kunst und Wissenschaft blühten am Hof von Neapel auch Laster, Intrigen und Gewalt. Sechs Neffen des Königs, eine Schwägerin, seine Enkelin Johanna, die ihren Gatten ermordete, um mit päpstlichem Segen dessen Bruder zu heiraten, sind diabolisch in die Geschichte eingegangen.

Robert hatte mindestens drei uneheliche Kinder: Charles d’Artois, dessen Sohn der Mörder des Andreas von Ungarn9 war, wurde vergiftet; eine namenlose Tochter wurde von einem albanischen Adligen entführt und geheiratet und auf Befehl des Vaters wurden beide exekutiert.

Die dritte, Maria d’Aquino war ebenfalls beteiligt an der Ermordung des Andreas von Ungarn und wurde 1382 enthauptet; sie spielt eine Rolle in Boccaccios Biografie, denn in die Zeit seines Aufenthalts in Neapel fällt eine historisch umstrittene Affäre mit Maria, die mit einem Adligen verheiratet war. Er soll der unehelichen Tochter des Königs 1336 mit 23 Jahren begegnet sein und beide sollen sich ineinander verliebte haben.

Historiker streiten, ob ein Bürgerlicher am Königshof mit der Frau eines Adligen eine stadtbekannte Liaison unterhalten konnte.10 Unwichtig, wie weit sich Legende und Historie entsprechen: Maria wurde offenbar Boccaccios Fiammetta (das Flämmchen). In dem vor dem Decamerone entstandenen Versroman11 beklagt die liebeskranke Fiammetta ihre ehebrecherische Leidenschaft zu dem jungen Geliebten als Laune der Fortuna.

Darin sehen die Literaturhistoriker eine biografische Aufarbeitung Boccaccios. Aber nicht selten erschufen sich Dichter eine weibliche Gestalt als Muse oder Ideal. Dantes Beatrice, die ihn durch die Himmelskreise führt, wird in seinem Florenz noch heute gesucht; auch sein Biograf und Interpret Boccaccio glaubte, sie identifiziert zu haben, aber Dante deutet sie als Sinnbild der Philosophie;12 Petrarca beschreibt seine Begegnung mit Laura scheinbar konkret im Canzoniere, aber dabei spielt er mit dem Gold von Amors Pfeil (aurato strale) und dem Lorbeer (laurus) des Dichterkönigs; Shakespeares Dark Lady, der er die Hälfte seiner 154 Sonette widmete, beschäftigt noch nach 400 Jahren die Fantasie der Anglisten; und Das ewig Weibliche am Ende von Faust bedeutet für Goethe nicht die Frau, sondern die spirituelle Liebe;

So wird auch Boccaccios Fiammetta für Historiker und Literaten ein Geheimnis bleiben.

In Neapel experimentierte der angehende Dichter in mehreren Genres und diente dem Zeitgeschmack mit Romanen, in denen er das Bild einer idealen Geliebten besang: Fiametta, seine Flamme Maria d’Aquino. Ihr widmete er sein Versepos Il Filostrato (Der Filostrat), eine eigenwillige Zusammenfügung von philos (griech.) und stratus (lat.), was etwa heißen sollte „Der von der Liebe zu Boden Geschmetterte“. Es ist der erste in Stanzen13 geschriebene Versroman und mit ihm beginnt Boccaccios Wirkungsgeschichte: 50 Jahre später wird er Vorlage für Chaucers Versepos Troylus and Cryseyde, wo Boccaccios Text stellenweise wörtlich übersetzt ist, und 200 Jahre danach dient der Filostrat Shakespeare als Vorlage für Troilus and Cressida.

Dreizehn Jahre lebten Vater und Sohn in Neapel, dann meldete die Bankfiliale 1340 Konkurs und sie gingen zurück nach Florenz. Giovanni war 27 Jahre alt.

Über die nächsten 15 Jahre bis zur Veröffentlichung des Decamerone ist wenig bekannt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse hatten sich verschlechtert, und obwohl Boccaccio jetzt als Schriftsteller bekannter geworden war, musste er mit städtischen Aufträgen Geld verdienen. Zeitweise lebte er in Ravenna und in Forli.

Im Jahr 1348, er ist 35 Jahre alt, wird Florenz von der verheerenden Pest heimgesucht, die die Rahmenhandlung zum Decamerone bildet. Ob Boccaccio die Seuche selbst in der Stadt miterlebt hat, ist umstritten. Wahrscheinlich begann er 1349 die Arbeit am Decamerone und schloss sie 1351 ab.

Es sollte noch einhundert Jahre dauern, bis Johannes Gutenberg die beweglichen Lettern erfand und 1452 bis 1454 die erste Bibel druckte. Die ersten Ausgaben des Decamerone sind deshalb Handschriften, aber schon 1470, fünfzehn Jahre nach der Bibel, wurden die ersten Buchausgaben in Venedig und Florenz gedruckt.

Decamerone machte Boccaccio über Nacht berühmt, und die Bekanntschaft mit Petrarca entwickelte sich zu einer innigen Freundschaft. Die Stadt war jetzt stolz auf ihren Bürger und betraute ihn auch nach seinem Umzug nach Certaldo mit repräsentativen Aufgaben. Mehrere diplomatische Reisen führten ihn in italienische Städte und ins Ausland. In offizieller Mission reiste er nach Padua, um Petrarca über die Aufhebung der Verurteilung seines Vaters zu informieren.

Besonders ehrenvoll und schwierig war die Mission als Botschafter zu Papst Urban V. in Avignon. Dorthin hatte Clemens V. 1309 den Papstsitz verlegt und Urban residierte hier als fünfter Papst. Die katholische Welt unternahm große Bemühungen, das Papsttum in Rom wiederherzustellen und entsandte 1364 nach Avignon drei Repräsentanten von Imperium, Kirche und Kultur: aus Prag den römisch-deutschen Kaiser Karl IV., aus Rom die Gründerin des Erlöserordens Birgitta von Schweden,14 aus Florenz Giovanni Boccaccio.15

Im Alter von 60 Jahren erhielt Boccaccio 1373 von der Universität Florenz16 den Auftrag zu öffentlichen Vorträgen über die Interpretation von Dantes Commedia, der er in seiner Dante-Biografie das Attribut Divina verliehen hatte.

Die Vorlesungen in der Kirche Santo Stefano al Ponte konnte er wegen seiner geschwächten Gesundheit nur zwei Jahre durchführen. Am 21. Dezember 1375 starb er in Certaldo, ein Jahr nach seinem geliebten Freund Petrarca.

Rätselhaft bleibt eine Wandlung Boccaccios nach dem Decamerone, die sein Leben in zwei Hälften teilt. Plötzlich wandte er sich von seinen früheren literarischen Tätigkeiten ab und widmete sich ausschließlich gelehrten und theologischen Themen.

Verstörend wirkte eine satirische Frauenfeindlichkeit in dem Roman Corbaccio oder Das Liebeslabyrinth.17 Aber gegen eine misogyne Haltung Boccaccios spricht seine Sammlung Über berühmte Frauen, die der Schwester eines neapolitanischen Gönners gewidmet ist und 104 Biographien berühmter Frauengestalten enthält: von der biblischen Eva spannt sich der Bogen über antike Frauen bis zu Zeitgenossinnen und wird beschlossen von Königin Johanna von Neapel, Boccaccios Förderin. Das Buch wurde ein großer Erfolg in ganz Europa.

Boccaccios letzte Lebensjahre waren ganz der Gelehrsamkeit gewidmet. Gründe für seine Abkehr von den „irdischen“ Themen der ersten Lebenshälfte und für die Zuwendung zum Geistlichen vermuten manche Forscher in einem religiösen Einfluss Petrarcas, den Boccaccio mehrfach in Mailand, Venedig und Padua besucht hat. Historisch gesichert ist ein Besuch des Mönches Ciani bei Boccaccio 1362, der ihm auf Grund der Prophezeiung eines Mitbruders nahen Tod und Verdammnis ankündigte, falls er sein bisheriges Leben nicht ändere. Boccaccio sah damals weltliche Wissenschaften und Kunst im Widerspruch mit der Religion und wollte seine Schriften zerstören. Petrarca konnte es gerade noch verhindern.

So gliedert sich Boccaccios künstlerisches Wirken in zwei abgegrenzte Lebens- und Schaffensperioden: die in italienischer Sprache abgefassten Romane und Novellen, die den Durchbruch von der mittelalterlichen Literatur in die Renaissance bedeuten – und die in lateinischer Sprache abgefassten späten Schriften, die sich der Gelehrsamkeit widmen.

Die Nachwelt hat Boccaccio auf Decamerone reduziert. Hundert Jahre nach seinem Tod und sechs Jahre nach Erstdruck des Decamerone veranstaltete Savonarola 1477 eine öffentliche Bücherverbrennung, 1559 setzte die Kirche das Buch auf den Index, 1783 wurde die Grabstätte aus der Chiesa di Santi Michele e Jacobo in Certaldo verbannt.

Im Jahre 2013 feiert die literarische Welt das siebenhundertste Geburtsjahr eines ihrer größten Dichter.

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1 De casibus virorum illustrium, 1356-1360.

2 Genealogia deorum gentilium, 1350-1375.

3 Noch jahrhundertelang gehörte es bei Wallfahrten zu St. Matthias in Trier zum Ritual, dass die Pilger eine Venusstatue als heidnische Abgöttin mit Steinen bewarfen.

4 Ludwig von Bayern war zur Wahl des römisch-deutschen Kaisers angetreten, nach der es zu einem Doppelkönigtum kam. Da der in Avignon residierende Johannes XXII. ihn zum Ketzer stempelte, ernannte er sich zum Kaiser und setzte Nikolaus V. als (irregulären) Gegenpapst ein.

5 Trattatello in laude di Dante (Kleine Abhandlung zum Lobe Dantes)

6 Als Boccaccio berühmt war, erhob die Legende seine Mutter zu einer adligen Französin. (Heute noch in Harenberg: Das Buch der 1000 Bücher).

7 De Genealogiis deorum gentilium (Genealogie heidnischer Götter).

8 De Genealogiis deorum gentilium, XV, 10.

9 Andreas von Ungarn (1327-1345): Nachdem seine Frau Elisabeth, Prinzessin von Polen, 1343 Königin von Neapel geworden war, wurde auch ihm von Papst Clemens VI. die Königswürde zuerkannt. Vor seiner Krönung wurde er mit Wissen seiner Ehefrau ermordet..

10 Hermann Hesse: Boccaccio, Der Dichter des Decameron: „So genoss… der Bastard eines kleinen Kaufmanns die Tochter eines großen Königs.“

11 Fiametta, Roman 1344.

12 im 7. Gesang des Paradiso (111+146) sagt sie „Ihr“ und „Euch“, wo sie „wir“ und „uns“ sagen müsste, wenn sie als Mensch inkarniert gewesen wäre.

13 Stanze: elfsilbige Verse mit dem Reimschema ab ab ab cc. Beispiel: Zueignung in Goethes Faust: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten…“

14 Birgitta von Schweden wurde 1391 heiliggesprochen.

15 Erst nach 3 Jahren kam Urban in Begleitung des Kaisers nach Rom, wo er dem Druck der französischen Kardinäle nicht standhielt und 1370 nach Avignon zurück ging. Dort starb er wenig später. Sein Nachfolger Gregor XI. verlegte den Papstsitz wieder zurück nach Rom.

16 Die 1321 für kanonisches und weltliches Recht, Literatur und Medizin gegründeten Institute wurden 1364 zur kaiserlichen Universität erhoben.

17 Der Titel ist rätselhaft, denn Corbaccio gibt es im Italienischen nicht; vom französischen courbache (span. corbacho), das Peitsche, Geißel bedeutet, könnte man auf eine Bestrafung schließen.

Die Geburt der Novelle

Giovanni Boccaccio gilt mit dem Decamerone als der Begründer der Novellentradition.

Der Gattungsbegriff beschreibt eine Prosa-Erzählung, in der ein einzelnes Ereignis dargestellt ist. Novella als verkleinerte Form von italienisch nuova (neuartig, Nachricht) weist auf ein kleines Ereignis hin, das Neuigkeitswert besitzt. Der Begriff kann auch durch die Renaissancekirche Santa Maria Novella in Florenz geprägt worden sein, die nach hundertjähriger Bauzeit fertig gestellt wurde, als Boccaccio den Decamerone schrieb; in dieser Kirche beginnt die Rahmenhandlung des Werkes: hier treffen sich sieben vornehme junge Frauen und beschließen, gemeinsam mit drei jungen Männern vor der Pest aus Florenz zu fliehen.

Die Neuigkeit, die eine Novelle erzählenswert macht, beruht meist auf einem Konflikt zwischen gängiger Norm und Bruch der Konvention. Dabei handelt es sich um ein einzelnes, in sich abgeschlossenes Ereignis, das am Ende die Zukunft der handelnden Personen nur andeutet oder ganz offen lässt. Wegen der Kürze der Erzählung kann der Zufall bedeutsam werden, der das Ereignis in Gang setzt oder beschließt. Ein Motiv soll die Geschichte deuten.

Paul Heyse entwickelte aus der Falken-Novelle18 des Decamerone seine „Falkentheorie“, dass jede Novelle ein zentrales Element enthalten müsse. Goethe nannte als essentielles Merkmal der Novelle „eine unerhörte Begebenheit.“19 Diese löst meist die Peripetie, den Wendepunkt der Handlung aus.20 Für viele Novellen typisch ist ihre Einbettung in eine Rahmenhandlung. In Boccaccios Decamerone ist es die detailliert beschriebene Pest in Florenz, vor der die Gruppe der jungen Leute flieht.

Der Decamerone, innerhalb dessen Rahmenhandlung einhundert Novellen erzählt werden (in Anlehnung an die hundert Gesänge von Dantes Divina Commedia), löste eine literarische Welle aus, die bis heute nicht abgeebbt ist. Zehn Jahre nach Boccaccios Tod schrieb in England Geoffrey Chaucer The Canterbury Tales, die im Aufbau ein Spiegel des Decamerone sind. Es folgten im 15. Jh. Rabelais, im 16. Jh. Hans Sachs und Cervantes, im 17. Jh. Molière und Lope de Vega, danach Voltaire und Goethe, in neuerer Zeit Kleist (Michael Kohlhaas), Droste-Hülshoff (Die Judenbuche), Storm (Der Schimmelreiter), Mörike (Mozart auf der Reise nach Prag), Thomas Mann (Der Tod in Venedig), Zweig (Die Schachnovelle), außerdem, Balzac, Swift, Heyse, Eichendorff, Fontane, Hauptmann, Keller, Büchner, Walser…

Boccaccios Erfindung machte ihn unsterblich.

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18 Decameron, 9. Novelle des 5. Tages.

19 1827 in einem Gespräch mit Johann Peter Eckermann.

20 In Goethes Novelle ist es der Ausbruch eines Tigers und eines Löwen aus dem Wanderzirkus.

Das Decameron

Der Titel

COMMINCIA IL LIBRO CIAMATO
DECAMERON
COGNOMINATO PRENCIPE GALEOTTO
NEL QUALE SI CONTENGONO CENTO NOVELLE
IN DIECI DI DETTE DA SETTE DONNE E DA TRE GIOVANI UOMINI

Hier beginnt das Buch, Decameron genannt, mit Beinamen
„Fürst Galeotto“, worin hundert Novellen enthalten sind,
die binnen zehn Tagen von sieben Frauen und drei jungen
Männern erzählt werden
.

Der Titel Decameron zeigt Boccaccios Vorliebe für griechische Philologie; er ist gebildet aus δεκα (deka: zehn) und ηµεραι (hemerai: Tage): „Zehntagewerk“. Italienisch hat sich die Form Decamerone eingebürgert. Vorbild ist das Hexameron („sechs Teile“) des hl. Augustinus für die sechs Schöpfungstage.

„Galeotto“21 heißt Kuppler, und „prencipe Galeotto“ wird auch „Kupplerfürst“ übersetzt; aber Boccaccio meint doppeldeutig Ritter Galahot (oder Galehaut)22 aus der Artus-Sage, der die ehebrecherische Liebe von Ritter Lancelot und Königin Ginevra, der Gattin von König Artus, vermittelt.23 Dort ist er der Liebesbote, höfische Freund und Tröster der Liebenden.

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21 von galera auch Galeerensklave, Zuchthäusler.

22 nicht zu verwechseln mit Galahad, dem Ritter der Tafelrunde, der durch seine Reinheit auserwählt ist, den Gral zu finden.

23 in der Divina Commedia ist die Geschichte als Liebe von Francesca da Rimini und Paolo Malatesta beschrieben (5. Gesang Inferno).

Vorrede - Widmung

Boccaccio widmet die Novellen „den holden Damen, die voll Furcht und Scham die Liebesflammen im Busen verbergen müssen, die viel größere Gewalt haben als die offenbaren… Sind die Frauen doch abhängig von Willen, Launen und Befehl ihrer Väter, Mütter, Brüder und Gatten und die meiste Zeit auf den kleinen Bezirk ihrer Gemächer beschränkt, wo es unmöglich ist, immer heiter seien, wenn sich aus den feurigen Wünschen ihres Herzens eine gewisse Schwermut sich erzeugt… Ganz anders ergeht es den Männern in ihren Leidenschaften. Verfallen sie Schwermut oder Trübsinn, so haben sie viele Mittel, dies zu mildern oder zu vertreiben; sie können nach Herzenslust Herumwandern, Jagen, Fischen, Reiten, Vogelstellen, sie haben Spiel und Handelsgeschäfte, womit sie wenigstens für einige Zeit den Geist beschäftigen und von ihren Leidenschaften abgelenkt werden… Damit diese Ungerechtigkeit des Glücks wenigstens teilweise gut gemacht werde… will ich hier die hundert Geschichten, Fabeln, Parabeln und wirkliche Begebenheiten mitteilen, die zur schrecklichen Zeit der letzten Pest von sieben vornehmen Damen und drei jungen Männern zur Unterhaltung erzählt wurden… lustige und betrübliche Liebesereignisse und andere abenteuerliche Begebenheiten… die den Leserinnen Vergnügen und guten Rat gewähren und sie unterrichten werden, was sie meiden und was sie erstreben sollen. (Aus der Vorrede).

Die Pest in Florenz

Das Decameron beginnt mit einer Pest-Beschreibung.