Warum wir eine neue
Fahrradpolitik brauchen
Ch. Links Verlag
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, Februar 2020
entspricht der 1. Druckauflage von Februar 2020
© Christoph Links Verlag GmbH
Prinzenstr. 85D, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Satz: atelier f:50, Jörg Metze, Berlin
ISBN 978-3-96289-081-0
eISBN 978-3-86284-469-2
Schöne Meinung! Gibt es die auch mit Ahnung? – Vorwort
Die Draufsicht
Ja, wo fahren sie denn? – Über Verkehrsmittelnutzung und Flächenverbrauch
Über Leichen fahren – Wer verursacht wie viele Unfälle?
Die Finanzen
Die verallgemeinerten Kosten
Die privaten Kosten
Die Politik
Deutsche Verkehrspolitik ist Autopolitik
Der Dieselskandal
Und auf einmal ist Platz da – Der E-Tretroller
Helmpflicht – Der immer gleiche lahme Gaul wird durchs Dorf getrieben
Die gute Infrastruktur
Über veröffentlichte Wahrnehmung und Wirklichkeit
Übersehen oder Vorfahrt nehmen?
Rüpel-, Kampfradler und Radrowdys
Die (Un)Rechtsprechung
Ein Blick in die Straßenverkehrsordnung
Das Parkunrecht
Die aktuelle Rechtsprechung bei tödlichen Unfällen
Der Radfahrer ist (mit)schuld
Alles was Recht ist
Die Technik
Der Schritt vom Auto zum Panzer heißt SUV
Das böse Märchen vom toten Winkel
80 zu 1 – Über elektrische Fahrräder und Autos
Teilst du schon, oder fluchst du noch?
Die Verwaltung
Die Fahrradakademie
Netzwerkbildung und Wissenstransfer
Die Partner im Umweltverbund
Fußgänger
Öffentliche Verkehrsmittel
Auf dem Land
Die Entbahnifizierung am Beispiel Ostdeutschlands
Beispielhaft – Grafschaft Bentheim und Nordhorn
Das Dorf aufs Rad bringen
Was geht? Andere Städte, andere Straßen
Amsterdam
Bremen
Karlsruhe
Wien
Zürich
Die Zivilgesellschaft
Vom Parking Day zum Parklet
Von Critical bis Kidical Mass
Radentscheide
Die Umstände
Das Wetter
Die Zeit
Autofreie Ortschaften
Internationale Vorbilder
Autofreies Deutschland
Autofreies Österreich
Autofreie Schweiz
Die Vision
Anhang
Anmerkungen
Literaturempfehlungen
Die Autorin
Allen denen, die sich in Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft
für das Radfahren einsetzen.
Nicht müde werden!
Wenn Du niedergeschlagen bist,
wenn dir die Tage immer dunkler vorkommen,
wenn dir die Arbeit nur noch monoton erscheint,
wenn es dir fast sinnlos erscheint,
überhaupt noch zu hoffen,
dann setz dich einfach aufs Fahrrad,
um die Straße herunterzujagen,
ohne Gedanken an irgendetwas außer deinen wilden Ritt.
Arthur Conan Doyle, 1896 (in Scientific American)
Ich bin Radfahrerin, fast immer, und fast überall. In meiner Kindheit und Jugend fuhr ich auf dem Rad zur Schule und konnte die nahe Kleinstadt ein paar Hundert Meter vor dem Ortsschild schon riechen. Während der Studienzeit genoss ich die Freiheit, dank des Rades jederzeit nach Hause fahren zu können, ohne auf Fahrpläne oder konsumierte Getränke achten zu müssen. Beruflich fuhr ich schon an Krokodilen in Burkina Faso vorbei, fuhr bei Vollmond in der Sahara und ließ mich in Chinas Chengdu von örtlichen Guides zwecks Abkürzung ein Stück auf die (nicht abgesperrte) Autobahn führen. Meine Begleiter störten sich nicht an den vorbeirauschenden Lkw.
Inzwischen fahre ich vor allem in Berlin, zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter. Und bin oft nicht mehr allein unterwegs – was die Messlatte dieses Buches beeinflusst. So war für mich vor wenigen Jahren noch eine lebenswerte Stadt ein Ort, an dem eine Frau mit Minirock nachts um vier Uhr allein sicher nach Hause radeln kann. Inzwischen will ich mehr: eine Stadt, in der ein kleines Kind tagsüber mit seiner Mutter sicher zur Kita und zum Spielplatz radeln kann. Und in der es ein paar Jahre später allein sicher zur Schule und zu seinen Freunden fahren kann.
In deutschen Städten sehen wir uns stattdessen dem Ergebnis von Jahrzehnten autofreundlicher und damit menschenfeindlicher Politik gegenüber. Hier werden die Kinder zu ihrer körperlichen Sicherheit in die ständige Aufsicht ihrer um eine Armlänge entfernten Eltern eingesperrt, damit die Autos frei spielen können. Viele Kinder kennen auch das Elterntaxi besser als den Geh- oder Radweg. Gesund ist das nicht. Klimafreundlich auch nicht. Ja nicht einmal ökonomisch sinnvoll. In Deutschland wird nach wie vor der motorisierte Individualverkehr von der Politik gefördert, subventioniert und allen anderen Verkehrsmitteln vorgezogen. Das Ergebnis ist eine steigende Anzahl von Pkw sowohl in Großstädten als auch in Deutschland insgesamt.1
Viele Menschen haben jedoch genug von der künstlichen Verknappung öffentlichen Raumes und menschlichen Lebens zu Gunsten des Autoverkehrs und wollen ihre Alltagswege sicher und bequem beschreiten. Sie haben das Bedürfnis, wieder einigermaßen zivilisiert miteinander umzugehen, und wollen halbwegs gesund alt werden, anstatt übergewichtig mit hohem Blutdruck und schmerzendem Rücken ihre Lebenszeit in überfüllten Wartezimmern zu verbringen. Sie wollen ihre Kinder in Freiheit aufwachsen sehen und vielleicht sogar dafür sorgen, dass ihre Enkel noch Radfahren lernen können.
Das Fahrrad ist schon 200 Jahre alt und bietet doch eine Lösung für alle diese Themen. Radfahren produziert im Verhältnis zum Auto nur minimal CO2 und Feinstaub. Es ist kommunikativer und sozialer – ein Radfahrer hört und riecht nicht nur mehr von seiner Umwelt, er verbraucht auch deutlich weniger Fläche. Zudem fördert Radfahren die Gesundheit – die eigene wie die der anderen. Und es sieht super aus: Mit einem stylischen Rad über der Schulter am Eiscafé vorbeizuschlendern, ist deutlich cooler, als auf der Suche nach einem Parkplatz alle Gäste dreimal mit einer Abgasfahne zu belästigen.
Die Wirklichkeit wird jedoch vom Auto bestimmt, und das ist schädlich. Obschon sich die Straßenverkehrsordnung an den Bedürfnissen des motorisierten Verkehrs zu Ungunsten aller anderen Verkehrsteilnehmer orientiert, begehen Autofahrer die meisten Regelverstöße und verursachen die Mehrheit der Unfälle. Sie beanspruchen den Großteil aller öffentlichen Flächen und zahlen nicht für die selbst verursachten Kosten. Und trotz immer effizienteren Motoren ist der Verkehrssektor mit hauptverantwortlich dafür, dass die selbstgesteckten Klimaziele nicht erreicht wurden und werden, da die Zahl der Kraftfahrzeuge (Kfz) ständig zunimmt.
Sollten Sie schon mit Freude und Überzeugung Rad fahren, dann genießen Sie den Ritt durch den Faktenregen dieses Buches, der Ihre Meinung mit Argumenten und Belegen fundiert. Sollten Sie noch täglich Auto fahren, machen Sie das Fenster auf und lassen auf der Fahrt durch die folgenden Seiten ein paar neue Perspektiven und Fakten ihre Gedanken streifen – vielleicht entledigt Sie das nicht nur von einigem Groll, sondern lässt Sie einmal aus- und umsteigen. Genießen Sie dann die neue Freiheit: Nie wieder Stau! Nie wieder Parkplatzsuche! Stattdessen pure Lebensfreude an der eigenen, strotzenden Kraft. Und sollten Sie Politiker oder sonstiger Entscheider sein: Sorgen Sie endlich dafür, dass unsere Städte frei von giftigen Abgasen, Lärm und tonnenschweren Gefahren werden.
Alles bloße Meinungsmache? Nein, denn es tobt ein tödlicher Kampf in Deutschlands Verkehr. Und es wird Zeit, ihm eine Wendung zu geben, hin zu mehr Lebensfreue, Sinnlichkeit und Glück.
Ein Buch wie dieses ist nicht notwendig, schließlich ist das Ende der Automobilität ohnehin nah, diesen Eindruck kann man aus Zeitung und Fernsehen bekommen.1 Fakt ist, dass Deutschland 2019 eine Fahrzeugdichte von 692 Kraftfahrzeugen (Kfz) je 1000 Einwohner hatte. Und dass es 2009 in Deutschland 41,3 Millionen Pkw gab2, inzwischen sind es fast sechs Millionen oder 14 Prozent mehr3.
Das Sterben des Autos zeigt sich also an seinem konstanten Wachstum. Und das nicht nur in der Anzahl, sondern auch in der Größe – mit dem Alter geht das Auto immer mehr in die Breite. Der VW Golf zum Beispiel war bei seiner Entwicklung 1974 noch 17 Zentimeter schmaler als 2019. Und ist trotzdem noch ein Hänfling im Vergleich zu den als SUV bezeichneten modernen Minipanzern, die inzwischen ein Fünftel der Neuzulassungen ausmachen4. Das Auto erlebt also ein in den Medien beschriebenes Ende mit konstantem Wachstum seiner Straßenpräsenz.
Und ist dabei nicht einmal mobil, sondern steht meist – nämlich durchschnittlich 23 Stunden täglich.5 Nun gut, wird mancher meinen, ein motorisiertes Stehzeug hat doch immerhin den Vorteil, dass es weder stinkt noch lärmt und auch sonst keinen Schaden verursacht. Doch tatsächlich schaffen Autos selbst das, denn für jeden Pkw werden drei Parkplätze von den Stadtbauingenieuren eingeplant, damit er überhaupt genutzt werden kann: einer vor dem Zuhause des Besitzers, einer in der Nähe des Arbeitsplatzes und ein dritter an Orten, wo man sonst so hin möchte, etwa zum Einkaufen oder Essengehen.6 Das macht nach der heutigen Parkplatznormgröße 33 Quadratmeter Flächenverbrauch – ausschließlich fürs Nicht-genutzt-werden. Zum Vergleich: Auf die Frage, wie groß sie sich ein Kinderzimmer wünschen, antwortete fast die Hälfte der Befragten mit 16 – 20 Quadratmeter, ein Drittel fand sogar die Größe eines einfachen Parkplatzes (elf Quadratmeter) für wünschenswert7. Und das ist Wunsch und nicht die (kleinere) Wirklichkeit. Die Wirklichkeit sieht hingegen so aus, dass Autos wie erwähnt immer größer werden und heutige Modelle gar nicht mehr auf herkömmliche Parkplätze passen – weshalb vom Bundesverband öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger (BVS) bereits gefordert wird, Verkehrsplaner hätten sich an die neue Realität anzupassen8.
Zum Verständnis der weiteren Ausführungen hier zwei Definitionen: »Straße« bezeichnet alle öffentlichen Plätze und Wege. Radverkehrsinfrastruktur und Gehwege gehören dazu. »Fahrbahn« bezeichnet den Bereich, auf dem unter anderem Autos verkehren. Autos beanspruchen also Platz, der anderen fehlt. Waren Straßen früher auch Orte der Begegnung, wo man kurz für einen Plausch mit dem Nachbarn stehenblieb, ist heute menschliches Leben weiträumig zu Gunsten des Autoverkehrs verschwunden.
Wie viel Raum Autos zur Alleinnutzung zugesprochen wird, kann jeder beim Blick aus dem städtischen Fenster erahnen. Wirklich ausgerechnet hat es indes noch keine einzige Kommune in Deutschland. Schließlich gilt es als normal, dass 70 oder 80 Kilogramm schwere Menschen mehr als 1000 Kilogramm schwere Maschinen nutzen, um sich einige Kilometer weit zu bewegen. Folglich müssen Autos überall fahren und parken – und Aufgabe der Kommune ist es lediglich, ihnen dafür Platz zu schaffen.
Eines der Ergebnisse dieser Aufteilung des öffentlichen Raumes ist, dass selbst zehnjährige Kinder inzwischen aus Sicherheitsgründen lieber zu Hause bleiben, anstatt sich mit ihren Freunden draußen zu treffen, wie die Verkehrsplanerin und Vizepräsidentin der Technischen Universität Berlin, Professorin Christine Ahrend, untersuchte. Drei Monate lang hatte sie Grundschüler aus dem Berliner Bezirk Wilmersdorf nachmittags begleitet, um zu erfahren, wie sich die Zehnjährigen auf der Straße bewegen. Sie fand heraus, dass die meisten Kinder lieber herumstreifen, anstatt ein Ziel direkt anzusteuern. Doch ihrem Bewegungsdrang sind Grenzen gesetzt – sie erzählten der Wissenschaftlerin, dass sie gern Fahrrad fahren würden, dass das aber wegen der vielen Autos zu gefährlich sei. Nur fünf der 22 Kinder waren trotzdem altersgemäß auf der Straße unterwegs. Der Rest teilte sich in zwei gleich große Gruppen. Die eine Hälfte verbrachte die Nachmittage von Montag bis Freitag in der Wohnung und wartete auf das Wochenende oder auf die Ferien, oder darauf, dass Erwachsene sie mit dem Pkw irgendwohin befördern würden, wo sie sich frei bewegen dürfen. Die andere Hälfte besuchte nur noch wenige, ihnen bereits bekannte Orte, entdeckte also gar nichts Neues mehr. Beides führt nicht nur zu Bewegungsmangel, sondern legt auch einen Grundstein für die Zukunft: Wer als Kind Radfahren nicht mit Spaß und Freiheit in Verbindung gebracht hat und mit der Bahn Ausflüge machte, bleibt auch als Erwachsener häufig dem Bewegungsbeziehungsweise Sitzmuster Auto verhaftet.9
Dass nicht nur Autofahrer, sondern auch Radfahrende jeden Alters Raum benötigen, scheint ein relativ neuer und revolutionärer Gedanke zu sein – zumal wenn er noch mit dem logischen Schluss daherkommt, dass dieser Platz dem motorisierten Verkehr weggenommen werden sollte. Denn genau das muss passieren: Der innerstädtische Raum ist bereits aufgeteilt; keine Stadt Deutschlands klagt über zu wenig Verkehr und zu viel ungenutzte Fläche. Stattdessen geht es darum, den bereits aufgeteilten Platz neu zu vergeben.
Dafür ist wichtig festzustellen, welche der knappen Flächen Radfahrer eigentlich nutzen dürfen. Während diese Frage für den motorisierten Verkehr (= Fahrbahn) und zu Fuß Gehende (= Gehweg) leicht zu beantworten ist, gelten für den Radverkehr diverse unübersichtliche Regeln, die vom Gesetzgeber zur Vervollkommnung der Verwirrung noch zum Teil als »kann« und nicht als »muss« ausgelegt werden. Durch die unübersichtliche Rechtslage ergeben sich zum Teil sogar Unklarheiten, was im Falle eines Unfalls von der jeweiligen Versicherung gedeckt wird. Daher hier eine Übersicht der wichtigsten Regelungen, die den verfügbaren Raum für Fahrradfahrer festlegen:
1.Der Gehweg ist für Fußgänger da. Radfahrer dürfen ihn indes auch nutzen, wenn:
•sie höchstens zehn Jahre alt sind. Sind sie jünger als neun Jahre, müssen sie den Gehweg sogar nutzen und dürfen nicht auf der Fahrbahn fahren. Es sei denn, der Gehweg birgt besonderes Gefahrenpotenzial (ist zum Beispiel sehr schmal), dann dürfen / müssen auch jüngere Kinder in Begleitung eines Erwachsenen auf der Fahrbahn fahren.
•sie als Begleitperson ein höchstens zehn Jahre altes Kind begleiten.
•sie das Rad als Roller nutzen. Dabei muss der rechte Fuß auf dem linken Pedal stehen, der links Fuß darf Schwung holen.
•sie das Rad schieben.
•ein Schild den Weg als gemeinsamen Fuß- / Radweg ausschildert.
2.Die Fahrbahn ist für den motorisierten Verkehr da. Radfahrer dürfen sie auch nutzen, wenn:
•es keinen Radweg gibt.
•es zwar einen Radweg gibt, dieser aber nicht durch ein Schild zur verpflichteten Nutzung ausgewiesen ist. Radfahrende können in diesem Fall frei entscheiden, ob sie lieber Radweg oder Fahrbahn nutzen wollen.11
•eine Fahrradspur auf der Straße markiert ist, allerdings nicht mit einem Schild ausgewiesen wurde.
Dass Radfahrer oftmals kreuz und quer durch die Stadt fahren, liegt somit zu einem guten Teil an den unübersichtlichen Regeln. Denn nicht nur dürfen sie den Raum der Fußgänger und Autofahrer zum Teil ebenfalls nutzen – ihr eigener Raum ist ebenso vielfältig wie unklar.
3.Zur Radinfrastruktur zählt man:
•baulich angelegte Radwege: Solche Radwege unterscheiden sich zum Beispiel durch den Belag oder die Farbe von dem meist daneben verlaufenden Fußweg. Radwege sollen nach den Verwaltungsvorschriften der StVo 1,50 bis 2 Meter breit sein. Faktisch gibt es aber vielerorts noch Radwege von 60 Zentimetern Breite (was den Schultern eines gut trainierten Menschen entspricht).
•Radfahrstreifen: auf die Fahrbahn aufgetragene, weiße, durchgezogene Linien (in der Regel benutzungspflichtig).
•Schutzstreifen: auf die Fahrbahn aufgetragene, weiße, durchbrochene Linien (in der Regel nicht benutzungspflichtig).
•Getrennte Geh- und Radwege.
•Gemeinsame Geh- und Radwege.
Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass Radfahrer mal so mal so, mal hier und mal dort fahren dürfen beziehungsweise müssen. Zu dieser Verwirrung tragen auch Gerichtsurteile bei, die bei Verkehrsunfällen oftmals zu kreativen Urteilen kommen, denen hier im Kapitel (Un-)Rechtsprechung noch nachgegangen wird.
So viel dazu, wo genau Fahrradfahren erlaubt ist. Doch wie viel Raum wird dafür bereitgestellt? Den Versuch, zahlenmäßig Sicht in den Nebel zu bringen, hat die Agentur für clevere Städte unternommen. Zusammen mit einer Gruppe von Studenten hat sie sich die Mühe gemacht, Berliner Straßen zu vermessen. Sie stellten fest: 20 Mal mehr Verkehrsflächen sind für Autofahrer gegenüber Radfahrern reserviert.12
Demnach werden 58 Prozent der hauptstädtischen Verkehrsfläche vom Autoverkehr beansprucht – und drei Prozent vom Radverkehr. Die Verteilung der zurückgelegten Wege sieht jedoch ganz anders aus: Knapp 30 Prozent der Wege entfallen hier auf den motorisierten Individualverkehr (MIV); 13 Prozent (innerhalb des S-Bahnringes sogar 18 Prozent) auf das Fahrrad.
Auch in anderen Städten wird dem Auto der meiste Platz überlassen, obschon es für die Mobilität nur einen nachgeordneten Rang hat. 2013 wurden in Mannheim zum Beispiel 33 Prozent der Wege mit dem Pkw zurückgelegt, fünf Jahre zuvor waren es noch 36 Prozent. Der Radverkehr nahm parallel zu: Hatten die Mannheimer 2008 noch 13 Prozent der Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt, waren es 2013 schon 18 Prozent.15
Anders als auf dem Land werden die meisten Wege in der Stadt also nicht mit dem Flächenfresser und Gesundheitsräuber Auto bestritten. Schließlich gibt es das Netz des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), und die in der Stadt zu erledigende Wege sind durchschnittlich nur sechs Kilometer lang – eine klassische Raddistanz!
So viel zum Flächenverbrauch in der Stadt. Doch wie hoch ist der Anteil der einzelnen Verkehrsmittel an den insgesamt zurückgelegten Kilometern in ganz Deutschland? Laut der Studie »Mobilität in Deutschland 2017« des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur legen in Deutschland im Durchschnitt alle Menschen zusammen jeden Tag gut drei Milliarden Personenkilometer auf rund 257 Millionen Wegen zurück. Rund 57 Prozent dieser Wege werden mit dem Auto zurückgelegt, auf dem Land sind es bis zu 70 Prozent. Den größten Anteil am motorisierten Individualverkehr in Deutschland hatten 2016 Urlaubs- und Freizeitfahrten mit über 35 Prozent. Nur 20 Prozent waren Berufs- und knapp 15 Prozent Ausbildungs- und Geschäftsverkehr.16
Die Anteile des Fuß- und Radverkehrs sowie des öffentlichen Personennahverkehrs unterscheiden sich in Abhängigkeit vom Wohnort. In Metropolen hat der ÖPNV etwa einen Anteil von 20 Prozent (Bundesweit zehn Prozent), der Fußverkehrsanteil liegt dort ebenso mit 27 Prozent etwa fünf Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt. Der Anteil der Fahrradfahrer liegt bei unter 20 Prozent. Wünschenswert wäre, dass dieser Anteil erheblich steigt, die Radinfrastruktur verbessert und die innerstädtische Raumgestaltung insgesamt verändert wird – sodass auch Kinder wieder in unseren Städten leben, atmen und spielen mögen.
Man stelle sich vor, jemand erfände eine Maschine für Erwachsene, die nur nach aufwendiger und kostspieliger Schulung genutzt werden könnte, dennoch aber voraussichtlich allein in Deutschland jährlich Tausende Menschen das Leben und Zehntausende die Gesundheit kosten würde. Zugleich würde sie Tag und Nacht Lärm und Gestank verursachen und dadurch noch einmal hunderttausende Menschen in ihrer Gesundheit schädigen. Verrückte Idee, oder?
Nun, das Auto ist bereits erfunden. Und 2018 starben allein auf Deutschlands Straßen 3275 Menschen, fast 400 000 wurden teilweise schwer verletzt. Um die Zahlen in ihrer Höhe einzuordnen: Das sind neun Verkehrstote und 1100 Verletzte pro Tag. Und der Vergleich zum deutlich stärker angstbesetzten Flugverkehr: 2018 starben weltweit 556 Menschen bei Flugzeugabstürzen.
Man stelle sich also vor, es gäbe an einem Tag mehrere Fabrikunfälle mit insgesamt neun Toten und mehr als 1000 Verletzten. Die Medien überschlügen sich mit Sondersendungen und -beiträgen. Wiederholten sich solche Unglücksfälle nun jeden Tag, käme spätestens nach einer Woche das Kabinett zu einer Sondersitzung zusammen, um entschieden einzuschreiten. Die Verkehrstoten und -verletzten haben hingegen nur noch Kurzmeldungscharakter.
Immerhin sank die Gesamtzahl der jährlichen Verkehrstoten in den letzten Jahren, was vor allem mit verbesserter Sicherheitstechnik für die Autofahrer zusammenhängt. So hat ein modernes Auto Dreipunktsicherheitsgurte, Airbags und ein Elektronisches Stabilitätsprogramm, auch Kindersitze sind verpflichtend. Für Verkehrsteilnehmer, die nicht im Auto unterwegs sind, sondern sich selbst bewegen, bringen diese Neuerungen jedoch nur wenig, denn von außen ist das Auto nicht sicherer geworden, die Anzahl getöteter Radfahrer ist nicht gesunken.
Verkehrstote in Deutschland: Fahrer/-innen bzw. Mitfahrer/-innen von:17
*2018: S-Pedelecs: 4
**2018: Fahrräder ohne Elektroantrieb: 356 / Pedelecs: 89 (Pedelec = Pedal Electric Cycle; ein Fahrrad mit elektrischer Tretkraftunterstützung)
Innerorts ist die Gefahr, der Radfahrer ausgesetzt sind, in den vergangenen Jahren sogar erheblich gestiegen.
Innerorts verunglückte Radfahrer:18
Und wer verursacht diese Unfälle? Die größte Gefahr für Radfahrer lauert hinter dem Steuer: Obschon Kraftfahrzeuge und ihre Fahrer die Mehrheit der Fläche für sich beanspruchen dürfen, obschon Verkehrsregeln und Ampelphasen auf ihre Bedürfnisse abgestimmt sind, obschon Kinder aus dem öffentlichen Raum verdrängt sind und zu ihrer vermeintlichen Sicherheit mit dem Auto zu Kita und Schule gebracht werden – obschon also ein Maximum an Raum und Entgegenkommen auf Autos fokussiert ist, verursachen sie selbst innerorts die erhebliche Mehrheit aller Unfälle!
Autofahrer begehen die meisten Unfälle innerorts untereinander, indem sie sich gegenseitig ihre Wagen kaputtfahren, doch häufig trifft es auch Fahrradfahrer und andere Verkehrsteilnehmer. So waren laut Polizeiangaben 2017 bei nur 43 Prozent der Radunfälle mit Personenschaden Radfahrer Hauptverursacher des Unfalls. Bei Unfällen mit einem Pkw waren 25 Prozent der Radfahrer hauptverantwortlich, bei Unfällen mit Güterkraftfahrzeugen 20 Prozent – nur bei Unfällen mit Fußgängern lag bei 60 Prozent der beteiligten Radfahrer die Hauptschuld.19
Und welche Regelverletzungen begehen Autofahrer, die zu Unfällen führen?
Hier eine Auflistung der häufigsten Fehler von Autofahrern bei Unfällen mit Personenschaden:20
Fehlverhalten |
Häufigkeit |
Fehler beim Abbiegen, Wenden, Rückwärtsfahren, Ein- und Anfahren |
56.642 |
Missachten der Vorfahrt / des Vorrangs |
52.332 |
Ungenügender Abstand |
50.267 |
Fahren mit unangepasster Geschwindigkeit |
45.058 |
Falsche Straßenbenutzung |
24.203 |
Andere Ursachen |
132.234 |
Insgesamt |
360.736 |
Bei Betrachtung der Unfallursachen fällt Folgendes ins Auge: Ungenügender Abstand ist meist Folge einer unangepassten Geschwindigkeit (bei langsamerer Geschwindigkeit vergrößert sich meistens der Abstand zum Vorder- und Nebenmann). Ebenso erfolgen viele Vorfahrtsverletzungen und Abbiegefehler aufgrund zu hoher Geschwindigkeit – die Unfallgegner werden »übersehen«, gerade wenn sie nicht aus tonnenschwerem Metall bestehen, sondern nur Menschenbreite aufweisen.
Eine zu hohe Geschwindigkeit ist somit Unfallursache Nummer eins und auch der häufigste Fehler von Fahrern bei Unfällen mit Getöteten.21 Der motorisierte Verkehr hält sich in großem Maße nicht einmal an die jeweils vorgeschriebene Maximalgeschwindigkeit. Wäre dies anders, bräuchte es keine aktuellen Blitzerwarnungen im Radio – denn die Gefahr, geblitzt zu werden, droht nur denjenigen Verkehrsteilnehmern, die vorhaben, an der überprüften Stelle zu schnell zu fahren.
Neben überhöhter Geschwindigkeit steigert auch Ablenkung das Unfallrisiko erheblich. Das Telefon ist bei vielen Autofahrern immer griffbereit – und wird selbst während der Fahrt von vielen regelmäßig bedient. Egal ob als Navigationssystem, dem immer mal wieder ein Blick geschenkt wird, zum Telefonieren – oder gar um mal eben Textnachrichten zu lesen oder gar zu schreiben. Allein: Selbst beim erlaubten Telefonieren mit einer Freisprechanlage fährt für die Dauer des Gesprächs eine Parallelwelt mit, die vom Verkehrsgeschehen ablenkt und die Unfallgefahr vervielfacht. Der Effekt durch die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnik liest sich folgendermaßen: »Er liegt im Wesentlichen auf der Einschränkung des nutzbaren Sehfelds, der Vernachlässigung im Sichern (Spiegel-, Schulter-, Anzeigeblicke), in verlängerter Reaktionszeit, Nichtbeachten kritischer Ereignisse sowie Übervorsichtigkeit, wie sie aus der Alkoholwirkung beschrieben wird (zu langsam, zu große Abstände).«22
Noch gravierender als Telefonieren wirkt sich das Lesen und Schreiben von Kurznachrichten während der Fahrt aus. Schaut ein Autofahrer bei 50 Kilometern pro Stunde nur zwei Sekunden auf sein Handy, legt er in dieser Zeit rund 28 Meter zurück. Im Blindflug. Selbst vergleichsweise harmlose Nebentätigkeiten, wie eine Brille aus dem Etui zu nehmen oder aus der Wasserflasche zu trinken, können verheerende Auswirkungen haben23. In einer Studie konnten auch bei innerstädtisch üblichen Geschwindigkeiten zwischen 30 und 50 Kilometern pro Stunde 76 Prozent der Fahrer vor einem plötzlich auftretenden Hindernis nicht mehr bremsen.
Mit plötzlich auftretenden Hindernissen muss innerhalb von Stadtzentren indes ständig gerechnet werden: Dort leben und bewegen sich nämlich viele Menschen.
Und was machen nun Radfahrer – mit Unfallfolgen – am häufigsten falsch? Sie befahren Radwege auf der falschen Seite. Das wiederum ist statistisch gesehen wirklich gefährlich – im Gegensatz zu vielen als gravierender wahrgenommenen Verkehrsverstößen wie etwa dem Überfahren einer roten Ampel.24
Der Autoverkehr erledigt innerorts also nicht die Mehrheit der Wege, verbraucht aber mit Abstand am meisten Fläche und ist Verursacher der Mehrheit von Unfällen mit anderen Verkehrsteilnehmern. Und wer zahlt das Ganze?
Die Steuerzahler – also auch alle, die kein Auto besitzen, sondern nur von ihm eingeengt und gefährdet werden.
Wie kann das sein? Reichen denn die Milliarden Steuern nicht, die Autofahrer ohnehin schon zahlen? Nein, das tun sie nicht.
Wer an die Kosten des Autoverkehrs denkt, hat meist nur Bau und Erhalt von Straßen im Kopf. Hinzu kommen aber noch der Unterhalt und Bau von Parkplätzen, Straßenreinigung, Straßenbeleuchtung und Straßenentwässerung. Darüber hinaus sind erhebliche Mehraufwendungen bei Feuerwehr, Polizei, Wirtschaftsförderung, Grünflächenämtern und städtischen Bauhöfen durch den Autoverkehr bedingt. Je nach Kommune, rechnet der Verkehrsclub Deutschland (VCD) aus, sind bei Einrechnung dieser Nebenkosten nur 15 bis 45 Prozent der Kfz-Ausgaben durch -Einnahmen gedeckt.1 Jeder Bürger finanziert somit den städtischen Autoverkehr mit durchschnittlich 150 Euro pro Jahr mit.2 Zudem wird das Auto unter anderem durch die Dienstwagenbesteuerung steuerlich begünstig und subventioniert.
Einen Schritt weiter geht die 2017 im Auftrag des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen (NEE) erstellte, explorative Studie zu den »Kosten der Verkehrsträger im Vergleich«. Studienautor Prof. Böttger errechnete, dass für Investitionen und Betrieb der