Hat sich der einflussreiche Firmenboss Alan Wainwright wirklich selbst umgebracht? Sein Sohn Graham zweifelt daran, nachdem er plötzlich nur noch die Hälfte des Vermögens erben soll. Er wendet sich an die Polizei und wieder einmal steht Inspektor Fenwick vor einer großen Herausforderung. Die neue Haupterbin Sally Wainwrigth benimmt sich äußerst merkwürdig - aber das alleine beweist noch nicht ihre Schuld. Fenwick ermittelt - und stößt auf unvorstellbare Abgründe ...
Nachruf
auf eine Rose
Roman
Aus dem Englischen von
Anja Jonuleit-Schreiner
Über Elizabeth Corley
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PROLOG
ERSTER TEIL
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
ZWEITER TEIL
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
DRITTER TEIL
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
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30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
VIERTER TEIL
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
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43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
Impressum
PROLOG
Ich habe eine Verabredung mit dem Tod.
Alan Seeger
Die Nacht war frostklar, viel zu kalt, als dass es hätte schneien können. Ein scharfer Ostwind ging, der ihm unter den Kragen kroch und ihm Tränen in die Augen trieb. Ein für diese Jahreszeit untypischer Kälteeinbruch hatte die Zweige mit Raureif überzogen und die ersten Blatt-Triebe erfrieren lassen. Hoch oben am Nachthimmel leuchteten die Sterne beinahe zögerlich und furchtsam, unendlich weit entfernt. Der Weg war von einem Wellenmuster aus hart gefrorenem Schlamm bedeckt. Pfützen, die noch von Schneefällen der vergangenen Woche herrührten, waren mit einer dicken, schwarzen Eisschicht bedeckt, die jedoch nicht stark genug war, um das Gewicht eines kräftigen Mannes zu tragen.
Die massige Gestalt stolperte den sternenbeschienenen Pfad entlang, verlor das Gleichgewicht und landete dumpf und schwer in einer großen Wasserlache.
«Verdammte Scheiße!» Wie ein Peitschenhieb zerschnitt seine Stimme die nächtliche Stille.
Das Eis unter ihm zerbarst, und er sank mit dem Hinterteil schmählich in eiskaltes Wasser. Schlammiges Nass drang durch seinen teuren Trenchcoat bis auf die Haut.
«Was für ein bescheuerter Treffpunkt», schimpfte er halblaut vor sich hin, während er mühsam versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Seine Bewegungen waren schwerfällig und unkoordiniert und verrieten einen Mann in mittleren Jahren, der seine Tage größtenteils am Schreibtisch sitzend verbrachte und schon lange nichts mehr für seine körperliche Fitness getan hatte.
Zielstrebig machte er sich wieder auf und trottete weiter. Er fror nun, trotz seines schweren Mantels und des Jagdanzugs. Der Wind jagte Wolkenfetzen über den Himmel, so dass der Mond ihm den Weg leuchten konnte, als er tiefer in den Foxtail Wood eintauchte. Es war fast zwei Uhr morgens, und keine lebende Seele schien sich in dieser unwirtlichen Nacht zu regen.
Da erblickte er plötzlich das unstete Licht einer Taschenlampe und eilte weiter, erleichtert, endlich am Ziel zu sein. Eine freundliche Stimme rief ihn.
«Hier drüben, Alan! Achtung, da ist ein Baumstumpf – autsch, das hat bestimmt wehgetan. Alles in Ordnung mit dir?»
Alan rieb sich das Schienbein und stieß noch wüstere Verwünschungen aus, als er endlich die kleine Lichtung erreichte, wo das Licht der Taschenlampe leuchtete.
«Auf die Minute pünktlich wie immer.» Die Stimme klang beschwichtigend, aber Alan war zu schlecht gelaunt, um sich so leicht besänftigen zu lassen.
«Eine selten blöde Uhrzeit, das kann ich dir sagen!»
«Ich weiß, aber es gibt einen guten Grund. Ich sagte dir bereits am Telefon, dass wir sehr vorsichtig sein müssen.»
«Aber warum? Was ist denn passiert? Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, war doch alles bestens.»
«Jetzt beruhige dich und trink erst mal einen Schluck – das wird dich aufwärmen.»
Alan nahm die Thermosflasche und schenkte sich einen ordentlichen Schluck von dem, was immer sie enthalten mochte, ein. Anerkennend sog er den Duft der dampfenden Flüssigkeit ein, und seine Nase erkannte stark gewürzten Glühwein. Er leerte den halben Becher in einem Zug. Einen verdammt guten Bordeaux hatten sie da genommen, eigentlich ein Jammer, so einen Wein derart zu verpanschen, aber er würde sich gewiss nicht beklagen. Neben dem reichen, fruchtigen Aroma schmeckte er Brandy, Gewürznelken, Zimt, Zitrone und noch etwas anderes … was konnte das sein? Während er den Becher vollends leerte, ließ ihn ein bitterer Nachgeschmack erschauern.
«Ist dir immer noch kalt? Komm, nimm noch einen Schluck.»
Er ergriff den Becher und trank, ohne nachzudenken. Wenigstens war ihm jetzt wärmer, und er fühlte sich etwas gelöster. Als er den zweiten Becher ausgetrunken hatte, wandte er sich seinem Gegenüber zu.
«Was ist so wichtig, so außerordentlich dringend, dass du mich zu dieser unchristlichen Zeit an diesen gottverlassenen Ort bestellst? Was soll diese Ge… Ge… Geheimnistuerei?» Er stolperte über seine eigenen Worte. Der Wein war ihm ganz schön zu Kopf gestiegen. Er würde sich zusammenreißen müssen.
«Ich werde dir alles erklären. Komm erst mal hier rüber.»
Alan folgte dem anderen über die mondbeschienene Lichtung. Auch die letzte Wolke hatte sich inzwischen verzogen. Der Untergrund war tückisch glatt, und er rutschte auf einer dunklen Fläche, die er zu spät als Eis erkannte, aus und landete hart auf seiner Hüfte.
«Komm, ich helf dir.» Überraschend fest wurde er am Ellbogen gepackt, hochgezogen und einige Schritte weiter geführt. Inzwischen war er sehr unsicher auf den Beinen, und als er aufblickte und mühsam versuchte, seine Haltung wiederzugewinnen, sah er Bäume, die in einem merkwürdigen Winkel wuchsen und deren Zweige hin- und herschwankten. Die ganze Szenerie schien vom Wind durcheinander gewirbelt zu werden. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.
«Mir … mir geht es nicht besonders. Muss mich einen Moment setzen.»
«Nein, noch nicht. Warte, bis wir beim Auto sind, dann kannst du dich setzen.»
«Beim Auto? Du hattest doch gesagt, ich sollte nicht mit dem Wagen kommen.»
«Ich weiß, aber ich habe ihn für dich geholt, keine Sorge.»
Weiter vorne konnte er verschwommen die Umrisse seines silbergrauen Rolls-Royce ausmachen.
«Aber wie …? Ich verstehe nicht.»
«Nein, natürlich nicht. Das sind die Tabletten, sie wirken schon. Kann ja auch gar nicht anders sein, mit dem ganzen Alkohol.»
Jetzt verspürte Alan zum ersten Mal einen Anflug von Furcht, als er in das vertraute Gesicht neben ihm blickte. Der bittere Nachgeschmack fiel ihm ein.
«Willst du mich vergiften?»
«Nein, das nicht. Ich habe dir nur so viel gegeben, damit du es mir ein bisschen leichter machst. Jetzt bleib mal ganz ruhig, wir sind gleich da.» Ehe er sich’s versah, wurden ihm die Handschuhe von den steifen Fingern gestreift. Er konnte kaum noch klar sehen, doch die Form seines geliebten Autos war ihm so vertraut, dass er selbst in seinem benebelten Zustand erkannte, dass etwas nicht stimmte. Was war das für ein langer, dünner Schwanz, der sich im Wind hin- und herschlängelte? Als er das Fahrzeug endlich erreicht hatte, streckte er seine Hand aus, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, und seine Fingerspitzen berührten den Schwanz. Die Oberfläche fühlte sich geriffelt und gummiartig an.
«Gut so, mein Junge, jetzt fass ihn noch hier unten an … und hier auch noch. Prima, auf geht’s.»
Er wurde zur Fahrerseite hin gedreht, die Wagentür war schon offen, und der Motor lief.
«Meine Güte, bist du schwer. Komm, gib mir deine Hand, du lässt dich ja hängen wie ein nasser Sack!»
Alan klammerte sich fest und suchte in dem vertrauten Gesicht verzweifelt nach so etwas wie Mitgefühl. Als er schließlich folgsam auf dem Fahrersitz saß, wurde er mit einem kleinen Lächeln belohnt. Er führte sich vor Augen, dass er es schließlich mit einem Freund zu tun hatte. Er musste jetzt nur erklären, wie schlecht es ihm ging, und alles wäre gut.
Die Hand griff nach seinem Arm und drückte ihn weiter ins Wageninnere.
«Achtung, nicht zu fest! Wir wollen doch nicht, dass du blaue Flecken bekommst. Vorsichtig, hoch mit den Beinen. Braver Junge.»
Unfähig, sich zu rühren oder einen klaren Gedanken zu fassen, saß Alan da, verzweifelt bemüht zu verstehen, was hier mit ihm geschah. Er fühlte, wie seine bloßen Finger um eine kleine Plastikflasche gedrückt wurden, die kurz darauf auf dem Beifahrersitz landete. Dann spürte er, wie eine Weinflasche zwischen seine Oberschenkel geklemmt wurde. Seine Finger berührten die Flasche leicht.
Mit einem Mal bemerkte er einen süßlichen, chemischen Geruch, der ihm zwar bekannt vorkam, den er aber nicht näher einordnen konnte. Von neuem überfiel ihn die Angst und nahm ihm die Luft zum Atmen. Übelkeit stieg in ihm auf, und er begann unkontrolliert zu zittern. Er war so müde. Er wollte schlafen, aber vorher musste er noch verstehen, was vor sich ging. Verzweifelt versuchte er die richtigen Worte zu bilden.
«Was ist hier los? Bitte, sag es mir!»
Das vertraute Gesicht wandte sich ihm zu und starrte ihn jetzt unverwandt an.
«Ganz einfach: Du wirst sterben, Alan, und zwar hier und jetzt. Du wirst sterben, weil du alt und nutzlos bist, ein lästiger Klotz, der sich selbst überlebt hat. Schlaf wohl!»
Die Autotür wurde zugeschlagen und von außen verriegelt. Unter Aufbietung all seiner Kraft versuchte er den Türgriff zu erreichen, aber seine Hand gehorchte ihm nicht. Er war zu weit entfernt. Millimeter für Millimeter krochen seine Finger nach oben über das Lederpolster der Armstützen, doch Alkohol und Drogen machten seinen Kopf taub und seine Gliedmaßen bleischwer. Mit einem Seufzer sank sein Kopf auf die Nackenstütze, während ekelhaft süßlicher Abgasgestank das Wageninnere schwängerte.
Aus reiner Neugierde sammelte die junge Polizistin leere Geschosshülsen mit einem Bleistift ein und ließ sie in kleine Plastiktüten für Beweisstücke gleiten, die sie rasch etikettierte. Sie waren von feuchtem Laub bedeckt gewesen, und es könnten noch Fingerabdrücke erhalten sein. Vielleicht waren auch seine darauf.
Ein Förster aus der Gegend, der die Futterkrippen im Wald überprüfen wollte, hatte die Leiche gefunden. Er hatte den Wagen auf Anhieb erkannt. Er kam nur selten zu der Lichtung, weil das Wild hier direkt vor die Flinte lief und die Jäger nicht besonders geübt sein mussten, und es barg eine gewisse Ironie, dass der Tote mehr oder weniger regelmäßig hier gejagt hatte. Wenn er in diesem Revier auf die Pirsch gegangen war, so würde das erklären, woher er von dem schmalen Pfad, der auf die Lichtung führte, gewusst hatte.
Die Polizistin hatte zunächst gezögert, das Team der Spurensicherung und den Fotografen herbeizuzitieren, aber nach Rücksprache mit dem wachhabenden Sergeant hatte sie es doch getan. Sie würden jeden Moment kommen. Sie musste ihre Ankunft und den Abtransport der Leiche abwarten, dann konnte sie gehen. Das war die unangenehme Seite ihres Jobs, diese Warterei, die sich manchmal über Stunden hinziehen konnte.
Aufmerksam und vorsichtig ging sie um den Wagen herum, weit genug entfernt, dass sie den schlimmsten Gestank nicht einatmen musste, doch das Summen der Fliegen war immer noch deutlich zu hören. Der Waldweg, der zu der Lichtung führte, war von unzähligen Reifenspuren zerfahren, und man konnte unmöglich erkennen, welche dieser Spuren zu dem Rolls-Royce gehörten.
Noch einmal näherte sie sich dem Wagen, eine Hand fest gegen Mund und Nase gedrückt, den Blick auf den einzigen Fahrgast und das Fliegengeschwirr gerichtet. Es war grotesk, was der Zerfall mit einem Menschen anrichtete, und doch, auf eine gewisse Art war es faszinierend. In den zehn Tagen seit seinem Verschwinden hatte eine plötzliche Warmfront die Zerstörung des im Wagen eingeschlossenen Körpers vorangetrieben. Der Zersetzungsprozess befand sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium, und sie beneidete den Pathologen nicht um seine Arbeit.
Ein Schlauch war an das Auspuffrohr angeschlossen und in das Wagenfenster geklemmt worden, wobei der zwei Finger breite Spalt mit braunem Paketband abgedichtet worden war. Die anderen Fenster waren mit dem restlichen Band versiegelt worden, und die leere Papprolle lag im Fußraum des Beifahrersitzes. Ihr fiel auf, dass alles von innen verklebt worden war.
Detective Constable Nightingale spürte, wie ihr die Luft ausging, und trat beiseite, um tief einzuatmen. Sie warf noch einen letzten Blick auf den verwesenden Körper, der in seinen teuren Kleidern auf dem Fahrersitz hing. Dann wandte sie der Szenerie den Rücken zu, in der Gewissheit, dass sie diesen Anblick ein Leben lang nicht vergessen würde.
ERSTER TEIL
Besser, in der Hölle zu herrschen,
als im Himmel zu dienen.
John Milton
ZWEITER TEIL
Der Tod begleicht alle Schulden.
Sprichwort aus dem
17. Jahrhundert
DRITTER TEIL
Mord und Talent scheinen gleichermaßen vererbbar zu sein.
G. H. Lewes
VIERTER TEIL
Der Tod, er breitet seine Schwingen aus heut Nacht
Zu holen das, was längst schon sein.
Matthew Arnold
Rasch sprach es sich herum, dass Alan Wainwright sich in einer eisigen Winternacht das Leben genommen hatte, eine Tatsache, die bei seiner Familie und seinen Bekannten in gleichem Maße Freude und Entsetzen hervorrief. Abgesehen von einem harmlosen Herzleiden galt der dreiundsechzigjährige Witwer als ein Mann, der von vielen beneidet wurde. Seine Frau, die recht schwierig gewesen war, hatte schon vor Jahren das Zeitliche gesegnet, und so war er in den Genuss eines späten Junggesellendaseins gekommen. Und schließlich war er, was nicht ganz unerheblich war, mehrfacher Millionär.
Über dreißig Jahre lang stand er an der Spitze von Wainwright Enterprises, einem riesigen Konglomerat aus ortsansässigen Firmen, das zu den erfolgreichsten Unternehmen der Grafschaft zählte. In seiner Freizeit pendelte er zwischen seinem Anwesen in Schottland und seinen Besitztümern in der Karibik. Der Stammsitz der Familie, Wainwright Hall, umfasste mehrere hundert Hektar fruchtbaren Boden und zählte zu den ertragreichsten land- und forstwirtschaftlich genutzten Ländereien in Sussex. Für das Unternehmen war sein plötzlicher Tod ein schwerer Schlag; für manchen Angehörigen könnte sich sein Tod allerdings als unverhoffter Glücksfall entpuppen. Und so waren sie weniger bestrebt, als sie vielleicht sein sollten, herauszufinden, was Alan Wainwright dazu getrieben haben mochte, seinem Leben ohne Vorankündigung und ohne jegliche Erklärung ein Ende zu bereiten.
Zwei Wochen nach dem Auffinden der Leiche saßen Alexander Wainwright-Smith, ein Neffe des Verstorbenen, und seine frisch angetraute Ehefrau Sally unauffällig in einem Raum der Anwaltskanzlei und warteten auf die Eröffnung von Onkel Alans Testament. Sie hatten sich für zwei Stühle in der hintersten Ecke entschieden, um die bequemeren, ledergepolsterten Sitzgelegenheiten für in der Erbfolge bedeutendere Familienangehörige frei zu lassen. In der ersten Reihe, direkt gegenüber dem ausladenden Nussbaumschreibtisch, hatten Colin, der Schwager des Verstorbenen, und seine Frau Julia, die Schwester von Alexanders Mutter, Platz genommen. In würdevoller Stille, ganz nach der neuesten Mode gekleidet, saß sie da, eine immer noch schöne Frau, obgleich sie das mittlere Lebensalter schon erreicht hatte.
Dahinter saßen oder lümmelten sich ihre sechs erwachsenen Töchter und warteten ungeduldig darauf, zu erfahren, was ihr reicher Onkel ihnen hinterlassen hatte. Von seinen sechs Cousinen war Lucy, die jüngste der Schwestern, die Einzige, die Alexander wenigstens halbwegs leiden konnte. In seiner Kindheit hatte er im Hause seines Onkels immer wiederkehrende Demütigungen erfahren, und keiner hatte sich seiner angenommen.
Während sie auf den Rechtsanwalt warteten, wurde die Luft im Raum stickig. Seit vielen Jahren war Jeremy Kemp der Rechtsberater der Familie Wainwright, und er würde sich hüten, vor dem Eintreffen von Alan Wainwrights einzigem Sohn Graham mit der Testamentseröffnung zu beginnen. Obwohl dieser die vierzig bereits hinter sich gelassen hatte, kam er als unverbesserlicher Bohemien stets zu spät und galt allseits als das schwarze Schaf der Familie. Von einer überfürsorglichen Mutter hoffnungslos verwöhnt und einem eifersüchtigen Vater abgelehnt, war es nicht verwunderlich, dass Graham seinem Zuhause und auch dem Familienunternehmen bald den Rücken gekehrt hatte.
Um Viertel nach drei, genau fünfzehn Minuten zu spät, betrat Graham den Raum. Er war nicht allein.
«Allmächtiger, was schleppst du denn diesmal an?» Colin wurde puterrot im Gesicht.
Graham lächelte erfreut, dass seine Absicht nicht unbemerkt geblieben war.
«Kein was, lieber Onkel, sondern wen! Das ist Jenny, eine Freundin.»
Jenny war, gelinde gesagt, sehr spärlich bekleidet. Trotz des kalten Vorfrühlingstags trug sie einen kurzen, bis zum Oberschenkel geschlitzten Rock sowie ein weißes Top mit dünnen Trägern. Beide Kleidungsstücke verrieten deutlich, dass sie sich heute gegen das Tragen von Unterwäsche entschieden hatte. Alexander wunderte sich, dass sie nicht fror. Colin hatte Mühe, sie nicht anzustarren.
Jeremy Kemp betrat hinter Graham das Büro. Rasch und unauffällig musterte er die Anwesenden, wobei er Sally, Alexanders Frau, mit einem etwas längeren Blick bedachte und ihr leicht zulächelte, daraufhin frischen Tee bestellte und jeden der Besucher mit Namen begrüßte. Er kannte sie alle, da sowohl die privaten als auch geschäftlichen Angelegenheiten der Familie Wainwright den größten Teil seines Umsatzes und den gesamten Gewinn seiner Kanzlei ausmachten. Als der Tee serviert wurde, setzte er sich schweigend an seinen Schreibtisch und rief die plappernde Gruppe vor ihm zur Ordnung.
«Guten Tag, meine Herrschaften. Wie Sie alle wissen, sind wir hier versammelt, um den letzten Willen von Alan Winston Wainwright zu verlesen.» Er legte die Schriftstücke vor sich auf dem Schreibtisch aus und blickte in die erwartungsvollen Gesichter.
«Dies ist der letzte Wille und das Testament von Alan Winston Wainwright, erstellt am dritten Januar dieses Jahres.»
Jemand der Anwesenden ließ ein schwaches Keuchen vernehmen. Er hatte sein Testament zwei Monate vor seinem Tod geändert. Warum?
«Ich, Alan Winston Wainwright, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte …» Angestrengt lauschend warteten die Familienmitglieder auf die erste Erwähnung des Nachlasses. «… vermache meiner Schwester, Julia Wainwright-McAdam, ein Einkommen von dreißigtausend Pfund jährlich, als Anerkennung der moralischen Unterstützung, die sie meinem Unternehmen in den vergangenen dreißig Jahren hat zukommen lassen.»
Julia hatte das Unternehmen völlig ignoriert und von dem Treuhandfonds ihrer Mutter gelebt, ihre Zeit guten Werken gewidmet, die gerade en vogue waren, bis sie schließlich Colin kennen gelernt und geheiratet hatte. Sie hatte in dem festen Glauben gelebt, einmal ein ernst zu nehmendes Mitglied in wohltätigen Kreisen zu werden, und im Moment sah sie ausgesprochen zornig aus. Nach ihren Maßstäben war diese Summe ein Witz und würde noch nicht einmal ihre Ausgaben für Garderobe und Schönheitsbehandlungen decken. Niemand der Umsitzenden wagte es, ihr in die Augen zu sehen. Sie wirkten entweder nervös oder erwartungsvoll, je nachdem, welchen Zustand ihr Gewissen aufwies oder ob sie von Natur aus optimistisch waren.
Nur Alexander schien völlig unberührt. Da seine Mutter sich vor 32 Jahren, als sie mit einem Handelsreisenden durchgebrannt war, sehr unbeliebt gemacht hatte, konnte Alexander wohl keine ernsthaften Hoffnungen auf eine Erbschaft hegen. Obwohl sie einmal die Lieblingsschwester seines Onkels gewesen war, hatte er ihr niemals verziehen, und nun, da sie tot war, hätten alte Erinnerungen umso weniger Bedeutung.
«Meinem Schwager, Colin Wainwright-McAdam, vermache ich eine Leibrente von zehntausend Pfund sowie das lebenslange Nutzungsrecht von Manor Cottage in Anerkennung seiner Liebe zu meinem Anwesen in Sussex.»
Colin wurde tiefrot und Julia kreidebleich. Ihre Träume von örtlicher Schirmherrschaft und einem Vorsitz im Wohltätigkeitsverein brachen endgültig in sich zusammen. Zumindest mit dem Anwesen in Sussex hatten sie fest gerechnet. In all den Jahren waren schließlich genügend Andeutungen diesbezüglich gemacht worden. Julia wusste nicht einmal mehr, wie Manor Cottage eigentlich aussah. Colin wusste es dafür umso besser und erkannte die Beleidigung, die damit einherging.
Alle Augen richteten sich auf Graham, der lässig zurückgelehnt Jennys linken Oberschenkel streichelte, die hinter ihm saß. Jenny lächelte Alexander zu, der neben ihr saß und von alldem nahezu unberührt schien.
«Meinem Sohn Graham hinterlasse ich die Hälfte meines übrigen Eigentums wie in Anhang I aufgeführt und am 31. Dezember erstellt sowie meine Hütte in Schottland, die Hälfe des Schätzwertes des Wainwright Familien-Trusts und Kunstwerke seiner Wahl im Wert von dreißigtausend Pfund.»
Graham machte ein finsteres Gesicht. Er hatte erwartet, alles zu bekommen, wie viel auch immer es war, und mit kaum verhohlenem Arger wartete er darauf, den Namen der wohltätigen Einrichtung zu erfahren, an die seiner Meinung nach der Rest des väterlichen Erbes fallen sollte.
«Wie viel ist der Wainwright Familien-Trust wert?», fiel er Kemp ins Wort. Der Rechtsanwalt zog schweigend einen Computer-Ausdruck aus einem Aktendeckel auf seinem Schreibtisch.
«Die Hälfte des Trusts wurde nach dem letzten Vierteljahresabschluss auf 7.567.308 Pfund geschätzt. Ich habe Ihren Anteil an dem Nachlass auf insgesamt knapp über fünfzehn Millionen Pfund festgelegt.»
Die Atmosphäre im Raum kühlte sich merklich ab, als Alans Schwester und seinem Schwager klar wurde, in welchem Ausmaß sie hier beleidigt worden waren. Einen Augenblick lang sagte keiner ein Wort. Dann konnten Colin, Julia und ihre Kinder nicht mehr an sich halten.
«Wie konnte er so etwas tun?»
«Er muss verrückt gewesen sein.»
«Eine Frechheit von diesem Mann!»
«Colin, bitte! Wir sollten uns zumindest wie zivilisierte Menschen benehmen. Jedenfalls werden wir darüber nachdenken müssen, ob wir das Testament nicht anfechten.» Julias kühler, wohl artikulierter Ton brachte die erregten Stimmen zum Schweigen.
Kemp sprach in die Stille hinein. «Die Wainwright-McAdam-Kinder wurden in dem Testament ebenfalls bedacht.»
«Wollen Sie etwa behaupten, dass die andere Hälfte des Nachlasses den Kindern zufällt?» Sein Tonfall verriet Entsetzen, doch seine Töchter verstummten abrupt. «Lassen Sie uns weitermachen und uns das Schlimmste anhören.»
«Ihr Schwager hat genaue Anweisungen hinterlassen, in welcher Reihenfolge das Testament zu verlesen ist.» Kemp räusperte sich und fuhr fort. «Jeder meiner Nichten, den Kindern meiner Schwester Julia Wainwright-McAdam, vermache ich dreißigtausend Pfund sowie Schmuck oder Einrichtungsgegenstände ihrer Wahl im Wert von zweitausendfünfhundert Pfund aus dem Bestand von Wainwright Hall.»
«Und was ist mit den übrigen fünfzehn Millionen?», fragte Julia indigniert. «O mein Gott, er wird doch nicht alles der Wohlfahrt vermacht haben? Wenn das so ist, dann war er nicht bei klarem Verstand! In seinem ganzen Leben hat er nichts gespendet.»
Jeremy Kemp fuhr fort, als hätte sie nichts gesagt. «Und schließlich hinterlasse ich mein ganzes übriges Vermögen, wie in Anhang II aufgeführt, einschließlich Wainwright Hall samt Inventar (ausgenommen den anderweitig verfolgten Erbstücken), mein Anwesen in der Karibik, wie in den hierzu angefügten Übertragungsurkunden aufgeführt, sowie die andere Hälfte des Wainwright Familien-Trusts meinem Neffen, Alexander Wainwright-Smith, und seiner Frau Sally als gemeinsamen Begünstigten.»
Eine furchtbare Stille senkte sich über den Raum. Alexander sah verblüfft aus. Sally hatte die ganze Zeit über steif und aufrecht dagesessen und starrte nun unverwandt vor sich hin. Keiner der Anwesenden sagte ein Wort. Einer nach dem anderen richtete seinen Blick auf Alexander, und ihre Gesichter ließen Abscheu, Ekel, Ärger oder Eifersucht erkennen. Sie konnten einfach nicht glauben, was sie gerade gehört hatten. Ausgerechnet Alexander!
«Wie hast du das fertig gebracht, du hinterhältige Ratte? Du Bastard mit deinen Wochenendbesuchen und deinen Anrufen und all deinen langweiligen Arbeiten in der Firma. Das hattest du von Anfang an geplant. Wer hätte dir je den notwendigen Grips dafür zugetraut! Vielleicht hast du ihn ja auch überhaupt nicht.» Mit wutverzerrtem Gesicht wandte sich Graham an Sally. «Du steckst dahinter, nicht wahr? Du gerissenes kleines –»
«Jetzt reicht’s!» Kemp schnitt ihm das Wort ab. «Es besteht keine Notwendigkeit, persönlich zu werden. Das führt zu nichts. Wenn es keine konkreten Fragen zu regeln gibt, dann schlage ich vor, dass wir diese Zusammenkunft beenden und dass alle, die diese Angelegenheit mit mir näher besprechen möchten, sich morgen oder Freitag einzelne Termine geben lassen.»
Doch Graham war noch nicht zu Ende.
«Was ist mit Vaters Anteil am Familienunternehmen? Wainwright Enterprises muss mindestens fünfzig Millionen wert sein. Du lieber Gott, die halbe Grafschaft ist dort angestellt.»
«Die Hauptanteile Ihres Vaters an Wainwright Enterprises wurden schon vor Jahren veräußert. Die wenigen Anteile, die er noch besaß, gehören zum Familien-Trust, den er Ihnen hinterlassen hat.»
Ein Schock jagte den nächsten. Sie alle waren davon ausgegangen, dass Alan Wainwright der alleinige Eigentümer des Unternehmens, das sie entweder gemieden oder für das sie ihr ganzes Erwachsenenleben hindurch geschuftet hatten, gewesen war.
Mit hochrotem Gesicht wandte Colin sich Jeremy Kemp zu und blickte den Anwalt mit einem beinahe hasserfüllten Ausdruck an. «Sie wussten, dass er sein Testament geändert hatte, und Sie haben kein Wort gesagt. Ich wette, Sie bekommen ein fettes Honorar dafür, und je komplizierter es wird, desto mehr verdienen Sie daran.»
Kühl erwiderte Kemp den Blick des anderen und hielt ihm ohne mit der Wimper zu zucken stand. Er war an die Ausbrüche des Mannes gewöhnt.
«Colin, du hast keinen Grund, auf Mr Kemp ärgerlich zu sein. Du weißt so gut wie ich, dass Alan dafür verantwortlich ist.» Julia wandte sich dem Rechtsanwalt zu. «Ich halte Ihren Vorschlag für sehr vernünftig, Jeremy. Wir werden jetzt gehen, aber seien Sie versichert: Wir werden morgen wiederkommen.»
Einer nach dem anderen verließ den Raum, bis nur noch Graham, Jenny, Alexander und Sally anwesend waren. Kemp wandte sich an Alexander. «Sie wissen sicher, dass unsere Kanzlei allein als Testamentsvollstrecker von Ihrem Onkel betraut wurde.»
«Also hatte der gute alte Colin Recht, und Sie ziehen einen sauberen Gewinn aus der ganzen Angelegenheit.» Graham erhob sich, während er sprach, bemüht, Eindruck zu machen, indem er seine abfallenden Schultern straffte und seinen knochigen Brustkorb nach außen wölbte. «Es gibt immerhin noch einen Teil des Unternehmens, auf den du keinen Einfluss haben wirst, und das ist meiner. Komm, Jenny, wir gehen.»
Alexander suchte nach einer passenden Erwiderung, aber noch während er überlegte, war Graham gegangen und hatte ihn mit seiner Frau allein im Büro des Rechtsanwalts zurückgelassen. Während er noch wie benommen vor sich hin starrte, sprach Sally leise mit Kemp, dann nahm sie ihren Mann fest beim Arm und führte ihn hinaus.
«Ich glaube, das verlangt nach einer guten Tasse Tee», sagte sie, und Kemp blickte ihr lächelnd nach, wie sie, ihm den Rücken zugewandt, zur Tür hinausging.
Jeremy Kemp hatte seiner Sekretärin strikte Anweisungen gegeben, zwischen den Terminen der einzelnen Mitglieder der Familie Wainwright mindestens eine halbe Stunde Luft zu lassen. Das Letzte, was er wollte, war ein zufälliges Zusammentreffen, das sich zu einer Schlägerei auswachsen könnte.
Colin und Julia trafen als Erste ein, ohne Kinder. Die Besprechung verlief in unbehaglicher Stimmung und dauerte länger als vorgesehen, so dass Julia beim Hinausgehen auf Sally traf. Als diese freundlich beiseite treten wollte, blockierte die andere Frau ihr den Weg.
«Wo wollen Sie hin, junge Frau? Ich will mit Ihnen sprechen.»
Sally schüttelte den Kopf, unberührt von Julias Ärger. Seit ihrer Hochzeit mit Alex hatte Julia sie von oben herab behandelt, und sie wusste, dass das Wissen um die Erbschaft Grund genug war, sie ihre Wut und Verzweiflung spüren zu lassen.
«Bitte, Julia. Dies ist weder der rechte Ort noch die rechte Zeit. Warum besprechen wir die ganze Angelegenheit nicht später bei einer Tasse Tee?»
«Bei einer Tasse Tee? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Was glauben Sie, wer Sie sind, dass Sie mich gnädigerweise zum Tee einladen? Offen gestanden sind Sie der letzte Mensch, mit dem ich mich an einen Tisch setzen würde. Ich gebe mich schließlich nicht mit jedem ab.»
Alexander machte einen Schritt nach vorne und fasste Julia fest an der Schulter.
«Reg dich bitte nicht auf, Tante Julia. Das Letzte, was Onkel Alan gewollt hätte, wäre, dass diese Angelegenheit die Familie auseinander bringt.»
Julia warf ihren Kopf zurück und lachte schrill.
«Du Einfaltspinsel! Eben das hat er doch bezweckt. Diese Angelegenheit dient wohl kaum dazu, eine Familie glücklich zu vereinen. Du bist so dumm. Aber das überrascht mich nicht, da dein Vater ein Idiot war. Was soll man da anderes erwarten?»
«Jetzt reicht’s.» Alexanders Ton war kaum noch höflich zu nennen, und es schwang ein nicht zu überhörender autoritärer Klang in seiner Stimme mit. Alle sahen ihn an und hielten überrascht die Luft an. Julia fasste sich als Erste wieder, doch ihre Worte klangen nörglerisch, und sie hatte das meiste ihrer anmaßenden Selbstsicherheit verloren.
«Bilde dir ja nicht ein, ich wüsste nicht, wie es zu dem Ganzen gekommen ist. Wartet nur, bis ich euch beide vor Gericht bringe. Dann wird alles ans Tageslicht kommen, über dich und dein Flittchen!»
«Genug jetzt, Julia!» Colin blickte seine Frau entgeistert an. Der neue Alexander, den sie soeben kennen gelernt hatten, stand vor ihm und schien durchaus willens, auf ihren Ausbruch mit einer Verleumdungsklage zu reagieren. Er blickte das junge Paar von der Seite an. Wenn seine Frau mit ihren wütenden Beleidigungen vorgehabt hatte, sie aus der Fassung zu bringen, so war dies gründlich misslungen. Seine angeheiratete Nichte erwiderte seinen Blick mit kühler, distanzierter Verachtung, sein Neffe sah ihn ungeduldig an. Dann gingen sie selbstbewusst und völlig unberührt an Julia vorbei, um Jeremy Kemp mit einem warmen Händedruck zu begrüßen, und überließen es ihm, seine ungewohnt schweigsame Frau hinauszubegleiten.
Kemp bat Alexander und Sally, auf den bequemen ledergepolsterten Stühlen Platz zu nehmen, und bot ihnen einen Sherry an. Es war erst elf Uhr, aber er hatte das Gefühl, sie könnten alle einen Schluck gebrauchen. Die Besprechung dauerte an, und als es schließlich auf ein Uhr zuging, wurde Kemp in seinen Ausführungen durch laute Stimmen aus dem Vorzimmer unterbrochen. Ihm fiel ein, dass er den Termin mit Graham um Viertel nach eins vergessen hatte. Er warf seinen Mandanten einen entschuldigenden Blick zu.
«Graham sollte um 13.15 Uhr kommen. Da er es offensichtlich einmal geschafft hat, rechtzeitig da zu sein, weigert er sich zu warten.»
Die Tür wurde mit solcher Vehemenz aufgerissen, dass die Fenster vibrierten, und Graham stolzierte herein, eine leichte Whisky-Fahne hinter sich. Jenny stand mit bedauernder Miene hinter ihm.
«Typisch. Ich hätte mir denken können, dass ihr zwei zuerst drankommen würdet.»
«Wir wollten gerade gehen. Und was wir besprochen haben, war ganz und gar nicht vertraulich, und wenn du einen Augenblick Zeit hast, dann würden wir es gerne auch mit dir bereden.» Sally lächelte entspannt. Alexander nahm ihren Arm und wandte sich an Kemp.
«Wir überlassen das lieber Ihnen, Jeremy. Komm, Sally.»
Er wollte etwas zu Graham sagen, entschied sich dann aber dagegen und schüttelte den Kopf, als wäre er unfähig, die richtigen Worte zu finden. Graham starrte ihm hinterher, verblüfft über die plötzliche Wandlung, die sein Cousin durchgemacht hatte.
Alexander hätte sich vielleicht problemlos an seinen unerwarteten Reichtum gewöhnt, doch seine Welt sollte noch komplizierter werden. Um drei Uhr nachmittags betrat er die Büroräume der Firma Doggett and Hawes, die mit der Buchhaltung von Wainwright Enterprises betraut war, in der Hand eine Liste mit simplen Fragen. Um sieben Uhr abends verließ er die Firma mit einem ausgedehnten neuen Verantwortungsbereich, in Anbetracht dessen selbst der erfahrenste Geschäftsmann erst einmal leer geschluckt hätte.
Das anonyme und diskrete Äußere des Bürogebäudes, in dem Doggett and Hawes untergebracht waren, ließ nicht ahnen, was einen hinter dieser Fassade erwartete, wenn man erst einmal die nur mit einem Sicherheitscode zu öffnende Eingangstür und den mit einer Plastikkarte zu bedienenden Lift hinter sich gebracht hatte. Dann wurde man von einer Atmosphäre von gediegenem Luxus eingehüllt. Der Empfangschef war ein kleiner Mann mit schütterem Haar, bekleidet mit einem makellos weißen Hemd, einer Uniformkrawatte und einem dreiteiligen, dunkelblauen Nadelstreifenanzug.
Noch bevor Alexander drei Schritte weit gekommen war, stand er bereits vor ihm und empfing ihn mit den Worten: «Mr Alexander Wainwright? Mr Doggett erwartet Sie, Sir. Möchten Sie Ihren, em, Anorak ablegen?»
Eine Uhr schlug drei, als Alexander dem Mann einen kurzen Gang entlang folgte, vorbei an geschlossenen Türen aus Mahagoni mit Messingbeschlägen, die zu einem matten Glanz aufpoliert waren, bis zur letzten Tür links. Der dritte Schlag ertönte, als der Empfangschef die Außentür ohne anzuklopfen öffnete und fest gegen die Innentür klopfte.
«Mr Alexander Wainwright, Sir.» Er führte Alexander herein und schloss beide Türen hinter sich.
Frederick Doggett saß hinter einem antiken Schreibtisch. Sein Büro war mehr als doppelt so groß wie Alexanders Wohnzimmer, und besser eingerichtet war es auch. In einem offenen Marmorkamin flackerte auf einem gusseisernen Rost ein Feuer aus Holzscheiten und Kohle. Bücherregale aus Nussbaumholz säumten die eine Wand, und eine Sammlung von Stichen mit Jagdszenen bedeckte die übrigen drei.
Alexander war so in die Betrachtung des Raumes versunken, dass ihm die Gelegenheit entging, Doggett genau zu betrachten, bevor der Mann an seiner Seite war, ihn mit Handschlag begrüßte und ihn gleichzeitig zu einem Ohrensessel vor dem Kamin dirigierte.
«Ich freue mich, Sie zu sehen, Alexander, wenn auch unter so tragischen Umständen. Gestatten Sie mir, Ihnen und Ihrer Familie mein aufrichtiges Beileid auszusprechen. Ein großer Verlust, der sicher tiefe Trauer hervorgerufen hat.»
Der Mann wirkte so sanft, dass man unmöglich sagen konnte, ob diese etwas außergewöhnliche Beileidsbekundung doppeldeutig gemeint war. Er wusste doch sicher, dass Onkel Alan wenig beliebt gewesen war. Das Gefühl, dass der andere, wenngleich auf eine sehr subtile Weise, sich über ihn lustig machte, ärgerte Alexander, und der Buchhalter war ihm augenblicklich unsympathisch, egal, was er auch sagen oder tun würde. Als Alexander ein liniertes DINA4-Blatt aus seiner Tasche zog, beobachtete Doggett ihn schweigend mit einem leicht schiefen Lächeln, das sich, sobald Alexander aufblickte, in einen Ausdruck von Beflissenheit wandelte.
«Ich habe hier eine Liste mit Fragen, die meine Frau und ich Ihnen gerne über Wainwright Enterprises stellen würden. Ich habe Ihnen ja bereits eine Kopie zukommen lassen.»
«Aber selbstverständlich. Sollen wir sie jetzt durchgehen, oder möchten Sie zunächst hören, was Ihr Onkel wegen der zukünftigen Leitung seiner Unternehmen verfugt hat?»
Alexander fühlte sich wie ein dummer Junge und das ärgerte ihn noch mehr. Dennoch erwiderte er ruhig: «Das ist ein guter Vorschlag. Nehmen wir uns also Onkel Alans Verfügungen zuerst vor.»
Während er schweigend den Worten seines verstorbenen Onkels lauschte, wurde ihm mit wachsender Befriedigung klar, dass sein Leben nie wieder so sein würde wie vorher. Sein Onkel hatte ihn als Geschäftsführer von Wainwright Enterprises vorgeschlagen. Er sollte einen Sitz im Vorstand erhalten und eine leitende Position in den Tochtergesellschaften einnehmen.
«Ich weiß, das ist ein bisschen viel auf einmal, und es ist eine ganze Menge Verantwortung, aber Ihr Onkel hielt große Stücke auf Sie. Es lag ihm sehr viel daran, dass Sie in seine Fußstapfen treten. Sie haben viel in den verschiedenen Unternehmen Ihres Onkels gearbeitet, und Ihr Onkel berichtete mir, Sie hätten Ihre Sache gut gemacht. Ich weiß, ihm wäre daran gelegen, wenn Sie das Ruder in die Hand nähmen, Alexander. Keiner von uns dachte, dass es so früh sein würde, dennoch war es sein Wunsch.»
Alexander lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. Vom geringschätzig behandelten Familienmitglied zum Geschäftsführer des ganzen Unternehmens, das war eine berauschende Vorstellung, und doch schien Doggett überzeugt, dass es einiger Überredungskunst bedurfte. Wie falsch sie ihn doch alle einschätzten! Nach einer angemessenen Pause nickte er.
«Ich bin einverstanden. Nun sollten Sie mir vielleicht erklären, was genau in meinen Verantwortungsbereich fällt.»
Doggett erläuterte jeden einzelnen Aspekt der Tätigkeit. Es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig, als detailliert auf Alexanders hartnäckige Fragen zu antworten. Nach mehr als drei Stunden hob Doggett müde die Hand, wie zum Zeichen, dass er genug habe, doch Alexander hatte noch eine abschließende Frage.
«Als Geschäftsführer muss ich den Aktionären Rechenschaft ablegen. Was sind das für Leute?»
Der Ausdruck interessierter Hilfsbereitschaft auf Doggetts Gesicht blieb unverändert, doch sein ganzer Körper versteifte sich unmerklich.
«Wir haben hier eine komplizierte Unternehmensstruktur. Die Firma hat in den letzten dreißig Jahren einen ziemlichen, sagen wir einmal, Wildwuchs erfahren. Wainwright Enterprises gehört zu achtzig Prozent der Wainwright Holdinggesellschaft; zehn Prozent der Anteile gehörten Ihrem Onkel persönlich und fallen nun je zur Hälfte an Sie und Ihren Cousin Graham Wainwright; und zehn Prozent gehören Stadtrat Ward.»
«George Ward? Ich habe ihn gewählt.»
«Ja.»
«Und wem gehört die Wainwright Holdinggesellschaft?»
Doggett rutschte auf seinem Sitz hin und her.
«Hier wird’s noch ein wenig komplizierter. Aus verschiedenen Gründen, hauptsächlich aus steuerrechtlichen – wobei ich Ihnen versichere, dass alles ganz legal ist –, gehört die Wainwright Holdinggesellschaft verschiedenen Trusts, die sich aus mehreren Geschäftsleuten aus der Gegend zusammensetzen.»
«Und die wären?»
Drei Namen kannte er: Frederick Doggett, der Mann, der ihm gegenüber saß, Jeremy Kemp, der Rechtsanwalt, und James Fitzgerald, der Finanzberater seines verstorbenen Onkels.
Die Uhr schlug die Viertelstunde. Doggett warf einen raschen Blick darauf und erhob sich.
«Im Moment ist es ungünstig für mich, Alexander, ich habe eine Verabredung zum Dinner und sollte eigentlich bereits dort sein. Könnten wir unsere Besprechung ein andermal fortsetzen?»
«Natürlich. Wie wäre es gleich morgen früh?»
«Mein Terminkalender ist leider ziemlich voll. Ich werde meine Sekretärin bitten, einen Zeitpunkt auszumachen.»
Trotz seiner dringenden Verabredung zum Abendessen beobachtete Doggett von seinem Bürofenster aus, wie der neue Geschäftsführer von Wainwright Enterprises in seinem Anorak das Gebäude verließ, um die Häuserecke bog und aus seinem Blickfeld verschwand. Das bevorstehende Dinner war anscheinend nicht mehr so wichtig, denn er setzte sich an seinen Schreibtisch und griff nach dem Telefonhörer.
Der Anruf wurde sofort beantwortet und er sprach ohne Einleitung: «James, er ist eben gegangen. Es lief nicht so gut, wie wir erwartet hatten. Er ist hartnäckiger, als wir dachten … Schlau? Nun, ich würde sagen, ja, überraschend schlau, aber ich glaube, um was wir uns Sorgen machen müssen, ist eher seine Beharrlichkeit als seine Intelligenz. Er hat mehr Wainwright-Blut, als wir alle annahmen.»
Eine ganze Weile hörte Doggett dem anderen schweigend zu und rutschte unbehaglich in seinem ausladenden Ledersessel hin und her, während sich langsam Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Als er wieder zum Sprechen ansetzte, hatte er Mühe, ruhig zu bleiben.
«Ja, natürlich, wenn du meinst. Ich rufe Jeremy an und warte hier auf dich.»
James FitzGerald schloss die Hintertür, die in das Bürogebäude führte, mit seinem eigenen Schlüssel auf. Frederick Doggett und Jeremy Kemp waren bereits da und warteten auf ihn in dem lächerlich großen Büro, das Fred so wichtig war, und er warf ihnen sein typisches Lächeln zu. Er wusste, es würde ihnen Unbehagen einflößen, und dieser Gedanke ließ sein Lächeln noch breiter strahlen.
«Hey, Leute!» Er hatte sich nie die Mühe gemacht, seinen Sussexer Arbeiterslang abzulegen, und er genoss ihr unterdrücktes Schaudern, als sie seinen Tonfall vernahmen. «Ich nehme das, was Jeremy im Glas hat, danke.»
Doggett reichte ihm einen Gin Tonic mit Eis, und er setzte sich in den Sessel, der am dichtesten am Kamin stand, und wartete, bis die anderen ebenfalls Platz genommen hatten, bevor er fragte: «Wie lautet deine hoch geschätzte Meinung, Fred?»
«Alexander Wainwright-Smith. Er ist sehr neugierig und alles andere als leichtgläubig, wie Alan uns das glauben machen wollte.»
«Er ist eben ein Wainwright, da kann er nur ein elender Scheißkerl sein. Als wir uns damit einverstanden erklärten, dass er, wenn Alan im Ruhestand wäre, sein Nachfolger als Geschäftsführer werden sollte, hatten wir eigentlich angenommen, dass der Alte den Posten von George als Vorsitzendem einnehmen würde, um seinen Neffen in Schach zu halten. Jetzt ist er tot, und ihr müsst selbst dafür sorgen. Ich werde euch beide in den Vorstand bringen.»
James wartete, welche Reaktion seine Worte auslösen würden. Keiner von den beiden war aus demselben Holz geschnitzt wie ihr Vater, und in einem plötzlich aufkommenden Gefühl der Wehmut vermisste er seine alten Partner. Mit Alans Tod war er der einzige Überlebende aus der alten Garde, die seinerzeit Wainwright Enterprises umstrukturiert hatte, so dass es ihren Zwecken dienlich war. Fred Doggetts Vater hatte im stattlichen Alter von neunzig das Zeitliche gesegnet und damit einem Schwächling von Sohn, der in seiner Freizeit mit kleinen Jungen spielte, die Buchhaltung übertragen. Einen Monat später war Jeremys Vater einem Herzanfall erlegen.
«Ich glaube nicht, dass ein Sitz im Vorstand eine angemessene Lösung darstellen würde, James. In meiner Eigenschaft als euer Buchprüfer würde ich nur misstrauische Blicke ernten.»
«Da könntest du Recht haben. Was ist mit dir, Jeremy?»
Der Rechtsanwalt errötete und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Kristallglas.
«Ich, also … Wir sind ziemlich eng miteinander verbunden, und als Rechtsbeistand von Wainwright…»
«Ich verstehe. Kein Interesse.» James hatte gar nicht erwartet, dass einer von ihnen so eng mit dem Unternehmen in Verbindung gebracht werden wollte, er hatte nur die Probe aufs Exempel machen wollen. Schwungvoll stellte er sein leeres Glas auf den Beistelltisch und erhob sich, um zu gehen.
«Wir tun erst mal gar nichts. Warten wir ab, wie er sich macht. Fred, du schaust ihm auf die Finger, und Jeremy, du kümmerst dich um seine reizende Gattin. Das dürfte keine zu schwierige Aufgabe sein, nicht einmal für dich!»
Ohne ihre Antworten abzuwarten, wandte er sich um und überließ sie ihrem Feierabend, der sowohl von den Geistern der Vergangenheit als auch von der Furcht vor einer ungewissen Zukunft überschattet sein würde.
Graham zog einen vergoldeten Polsterstuhl heraus, und Julia nahm graziös darauf Platz. Gegenüber am Tisch rückte Colin Jennys Stuhl zurecht, ließ sich selbst schwer auf einen Stuhl daneben sinken, hob sein Glas und nahm einen großen Schluck Martini mit viel Gin.
Das Restaurant war gut besucht, doch das Stimmengewirr um sie herum entschädigte für die lange Wartezeit, denn die Geräuschkulisse gestattete ihnen eine Unterhaltung ohne ungebetene Zuhörer.
Graham bestellte Champagner und lächelte, als er die missbilligende Miene seiner Tante gewahr wurde.
«Vater zu Ehren. Nach dieser Gedenkfeier wäre das ganz in seinem Sinne, und wir wollen doch wenigstens etwas für den alten Dreckskerl tun.»
«Es war sehr …», Julia suchte nach Worten, «bescheiden.»
«Der Gottesdienst war in Ordnung. Ich denke, Alexander hat gut daran getan, es in einem kleinen Rahmen zu halten. Die Beerdigung ist schließlich erst drei Wochen her. Es war dieser schreckliche Leichenschmaus, der mir zugesetzt hat. Schaumwein und Schinken-Sandwiches, du meine Güte!»
«Das dürfte auf Sallys Konto gehen, sie ist unglaublich geizig.» Julias Tonfall verriet ihre Gefühle.
«Du magst sie wohl wirklich nicht, Tante Julia?»
«Ich finde sie abscheulich. Ein billiges, kleines Flittchen mit Flausen im Kopf, das ist sie.» Julia zog Graham dichter zu sich heran und senkte ihre Stimme.
«Ich bin überzeugt, sie … Wie soll ich es vornehm ausdrücken?» Julia machte eine Pause, offensichtlich unangenehm berührt von dem Gedanken, den sie in Worte kleiden wollte. «Also, Graham, offen gestanden, ich glaube, sie hat deinen Vater dazu verführt, sein Testament zu ändern.»
«Interessant. Ein paar seiner Freunde versuchten mich davon zu überzeugen, dass es auf keinen Fall Selbstmord gewesen sein konnte.»
«Es wird wohl kaum ein Unfall gewesen sein!»
«Ganz meine Meinung.»
Julia warf Graham einen anerkennenden Blick zu, dann beugte sie sich noch ein wenig weiter zu ihm herüber und flüsterte ihm ins Ohr: «Es war also kein Selbstmord …?» Sie verstummte, als ihr bewusst wurde, dass Graham einer der Hauptnutznießer durch den Tod seines Vaters war. Er spürte ihr Unbehagen und wechselte das Thema.
«Weißt du etwas über Sally, Tante?»