Helmut Spudich:
Der Spion in meiner Tasche
Alle Rechte vorbehalten
©2020 edition a, Wien
www.edition-a.at
Cover und Gestaltung: Isabella Starowicz
Lektorat: Alexandra Grass
ISBN 978-3-99001-386-1
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
»Dies ist nur ein Vorgeschmack dessen,
was kommen wird,
und nur der Schatten dessen,
was sein wird.«
Alan Turing, Mathematiker & Informatiker
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Einleitung
Geliebter Spion
Das Jesus-Phone
Wo waren Sie gestern Abend?
Schau mir in die Augen, Kleines
Alexa, was war das für ein Geräusch im Hintergrund?
Prince Charles wäre heute lieber Camillas Smartphone
Ibiza ist überall
Wie viele Lebensjahre ist Ihnen Ihre Privatsphäre wert?
Die fünfte Generation
Zurück in die Zukunft
Vorwort, in dem wir einen Überblick darüber erhalten, wie unser geliebtes Handy ein geheimes Leben als Spion großer Konzerne und Behörden führt. Und welchen Beitrag dieses Buch zur Enttarnung und Wiederherstellung unserer digitalen Selbstbestimmung leisten will.
Wissen Sie, wie oft Sie heute schon auf Ihr Handy geschaut haben, ehe Sie dieses Buch zur Hand nahmen? Vielleicht ist es ein verregneter Sonntagvormittag und der schnelle Blick auf die Wetter-App zeigt, dass es nicht viel besser wird. Gelegenheit, wieder einmal ein Buch anzufangen. Davor noch schnell eine WhatsApp an die Freunde, mit denen der gestrige Abend etwas länger wurde. Ein paar Nachrichten sind schon da, die beantwortet werden müssen. Zur Kontrolle noch kurz auf Facebook schauen, was die anderen heute so treiben. Aber jetzt. Ich wette, Sie greifen wieder zu Ihrem Handy noch ehe Sie zum Ende des ersten Kapitels gekommen sind.
Dabei fing alles so gut an. Wir verliebten uns in unsere Handys, als SMS schreiben noch wirklich mühsam war. Weniger als ein Jahrzehnt dauerte es, bis sich selbst die hartnäckigsten Verweigerer widerwillig dem Trend anschlossen. Es war ja so praktisch!
Dann kamen iPhone- und Android-Manie und aus Verliebtheit wurde pure Obsession. Seither können wir den Blick kaum vom Bildschirm wenden. Selbst wenn wir unser Handy gerade nicht benötigen, halten wir es liebevoll, streichen gedankenverloren über das Display, warten angespannt auf das Piepsen und Blinken neuer Verständigungen.
Das Smartphone ist die universelle Fernsteuerung unseres Lebens. Die erinnerungswürdigen, verrückten, banalen Details unseres Alltags ablichten und sofort mit unserer Crowd teilen. Texten, als ob das Gerät nicht zum Sprechen erfunden worden wäre. Kein Weg nah und fern, den wir noch ohne unserer Navi-App finden würden. Musik, bis wir mit unseren drahtlosen Ohrenstöpseln verwachsen sind. YouTuben, bis Ibiza zum Spottwort wird und ein YouTuber namens Rezo die leeren Versprechen einer Großpartei vorführt.
Längst sind wir mit unserem Smartphone zu einer untrennbaren geistigen, seelischen und körperlichen Symbiose verschmolzen. Der intime Begleiter in unserer Tasche weiß, wofür und für wen wir unser Geld ausgeben – worüber nach einer Beobachtung von Sigmund Freud Eheleute noch weniger reden als über ihren Sex. Er weiß, mit wem und worüber wir endlos chatten, wer unsere »Friends« sind, welche Ärzte und Therapeuten wir regelmäßig besuchen, und ob es wirklich nur ein langer Abend im Büro war, wenn wir spät nach Hause kommen. Wie hoch am Morgen nach der Party der Restalkohol in unserem Blut ist. Und mit wem und wie oft wir Sex haben.
In Verbindung mit Smartwatches wird unsere Symbiose noch enger: Herzfrequenz, Körpertemperatur, Blutzucker, Bewegungen – nichts entgeht unserem aufmerksamen Alter Ego. Ein Sturz mit anschließender Bewegungslosigkeit alarmiert die Rettung und übermittelt dieser die genauen Standortdaten. Früher als von jedem Arzt können damit Krankheiten wie Herzinsuffizienz, Parkinson oder ein bevorstehender Asthmaanfall diagnostiziert werden.
Es ist ja so praktisch! Wenn da nicht ein Problem wäre: Der geliebte Spion in Ihrer Tasche ist – genau das. Denn anders als die sanften Stimmen von Alexa und Siri suggerieren, ist unsere Liebe einseitig, erweist sich der persönliche Assistent als Diener vieler Meister.
Dank eines immer vielfältigeren Sensoriums an Mikrofonen, Kameras, GPS und Bewegungssensoren, Funkverbindungen und Bildschirmimpressionen werden die Daten aus unseren Smartphones immer detaillierter. Das Ergebnis dieser Überwachung rund um die Uhr wird Smartphone-Herstellern, Netzbetreibern und einer Unzahl an Apps übergeben.
»Privatsphäre ist keine soziale Norm mehr«, so postulierte Facebook-CEO Mark Zuckerberg schon 2010 und stellte sich damit außerhalb des zivilen Konsenses unserer Gesellschaft. Sieben Jahre danach deckte der Cambridge-Analytica-Skandal auf, dass die Missachtung der Privatsphäre Zuckerbergs Geschäftsmodell ist: Aber-Millionen Userdaten wurden von Facebook zum Zwecke der politischen Manipulation verkauft. Den überwiegenden Teil dieser intimen Daten lieferten die Handys der gutgläubigen Benutzer.
Bewegungsprofile, die aus dem GPS am Handy stammen und von Diensten wie Google und Facebook praktisch ewig gespeichert werden, werden auf Anfrage von Polizei und Behörden zur umfassenden digitalen Rasterfahndung. In Phoenix, Arizona, wurde erstmals ein unschuldiger Mann im Zusammenhang mit einem Mord wochenlang in Untersuchungshaft genommen. Nur weil die Methoden – einstweilen – noch nicht die Genauigkeit von DNA-Tests aufweisen, kam er wieder frei. Ein anderer wurde schließlich überführt und verurteilt.
Herz- und Pulsfrequenz, Bewegungsmuster und Schlafgewohneiten sind nicht nur eine sinnvolle Information für medizinische Zwecke. In den Händen von Versicherungen und Arbeitgebern können sie, selbst in anonymisierter Form, zu einem mächtigen Instrument zur Verhaltenssteuerung werden. Tausende Datenpunkte aus unzähligen Apps kommen so im Laufe einer Woche zusammen, ein Gigabyte an persönlichen Daten und mehr ist im Laufe eines Monats keine Seltenheit. Viele lustige Apps, die nach einigen Versuchen ungenutzt auf unserem Handy wohnen, wurden ausschließlich zu diesem Zweck entwickelt und funktionieren wie trojanische Pferde.
Scheinbar harmlose Apps öffnen potenziellem Missbrauch Tür und Tor. Etwa TikTok, die westliche Version der chinesischen App Douyin. Mit Kurzvideos seiner Benutzer wurde TikTok in kurzer Zeit zur beliebtesten Selbstdarstellungs-App unserer Tage. Verbunden mit Gesichtserkennung und künstlicher Intelligenz wird daraus ein mächtiges Überwachungstool, das unliebsame Botschaften wie ihre Botschafter erkennen und zensieren kann. In China wird dies als Instrument verwendet, um potenzielle Dissidenten zu maßregeln. Im Westen sammelt TikTok Daten über Gesichter, über Menschen, über ihre Interessen und Einstellungen. Die US-Streitkräfte haben inzwischen ihren Soldaten verboten, TikTok zu verwenden: Geheimdienste können die Bilder auswerten, um Hinweise zu Truppen, Ausstattung und Standorten zu erhalten.
Übergriffe auf unsere persönlichen Daten beginnen meist bei benachteiligten Personengruppen und in Situationen, in denen Widerspruch schwierig ist. Migranten und Flüchtlinge müssen längst den Behörden ihre Handys aushändigen, damit ihre Angaben kontrolliert werden können. Dies widerspricht dem Grundrecht, dass sich niemand selbst belasten muss. Für Visumsanträge für die USA und einer Reihe anderer Länder sind Angaben zu persönlichen Mail- und Social-Media-Konten zu machen, bei der Einreise kann der Inhalt des Smartphones durchsucht werden – bleib zu Hause, wenn du unsere Kontrolle nicht willst.
Doch es muss nicht böse enden, was so gut anfing. Smartphones sind das mächtigste Werkzeug, das Menschen je erfunden haben, um ihr Leben besser gestalten zu können. Zugegeben, das klingt etwas pathetisch und fordert Widerspruch geradezu heraus. Aber ein halbes Jahrhundert, nachdem der erste Mensch auf dem Mond gelandet ist, verfügen dreieinhalb Milliarden Menschen über einen Supercomputer in ihrer Tasche – in jeder Hand wesentlich mehr Rechenleistung als für die Mondmission vorhanden war. Vier Milliarden Menschen haben bereits Zugang zum Internet, zum Großteil über diese Smartphones und die Geräte ihrer Freunde. Fünf Milliarden Menschen sind über Mobilfunk mit der Welt verbunden und werden in wenigen Jahren gleichfalls über Smartphones verfügen.
Wir haben es in der Hand, damit zu unseren persönlichen Sternen zu greifen. Handys machen die Organisation des Alltags leichter, halten in mobilen Gesellschaften Freunde und Familien zusammen, die viel Zeit örtlich getrennt verbringen. Smartphones können uns dabei unterstützen, fit und gesund zu bleiben, unseren Beruf wie unser Privatleben reichhaltiger zu gestalten. Sie geben uns Zugang zum gesamten Wissen der Menschheit, jederzeit und an fast jedem Ort des Planeten. Man muss sein Smartphone nur einmal für eine Woche abschalten und wegsperren, um zu merken, wieviel komplizierter das Leben plötzlich ist.
Dieses Buch wurde geschrieben, damit wir das enorme Potenzial unserer Handys weiterhin positiv nutzen können. Dazu müssen wir, bei aller Liebe zum Smartphone, dieses als den Spion enttarnen, der sich in unser Vertrauen eingeschlichen hat: Denn das ist der erste Schritt, unsere digitale Selbstbestimmung wieder zu erlangen. Der umfangreichen Enttarnung widmen sich darum die meisten Kapitel, zusammen mit Hinweisen zum umsichtigen Gebrauch unserer Smartphones. Auch wenn manchen dabei der Gedanke kommen wird, besser das Smartphone zu verbannen: Das Ziel der Diskussion besteht im wirksamen Schutz unserer privaten Daten vor Missbrauch, nicht im Verzicht auf die tollen Möglichkeiten unserer Handys. Apropos Handy: Das Buch verwendet diese wunderbare deutsche Wortschöpfung synonym mit dem technoiden Ausdruck »Smartphone«, außer an den Stellen wo es um frühere Generationen von Mobiltelefonen geht. Wappnen Sie sich für unangenehme Enthüllungen. Damit am Ende wieder alles gut werden kann.
Erstes Kapitel, in dem wir erfahren, wie die Welt bei einer echten Verfolgungsjagd erstmals lernte, dass jeder mittels Handyortung gefunden werden kann. Und wir uns trotz dieser denkwürdigen Einsicht nicht davon abhalten lassen, mit dem geliebten Spion Tag und Nacht zu verbringen.
Ein Vierteljahrhundert ist es her, als rund 100 Millionen Menschen vor ihren Fernsehern stundenlang dem Drama einer merkwürdigen Live-Verfolgungsjagd zuschauen. Unter strenger Einhaltung des gesetzlichen Tempolimits fährt ein weißer Ford Bronco in der kalifornischen Abendsonne die mehrspurige Interstate 5 in Orange County entlang. Mit Respektabstand folgt ihm eine Autokolonne der California Highway Patrol mit blau und rot blinkenden Lichtern, ohne je zu versuchen, den weißen SUV aufzuhalten. Über ihnen kreisen Polizei- und TV-Hubschrauber. Auf der Gegenseite halten Fahrer an und winken dem vorbeifahrenden Konvoi, als ob es eine Karnevalsveranstaltung wäre.
Auf dem Rücksitz des Bronco hält sich der zu einem beliebten Filmstar und TV-Entertainer gewandelte frühere Football-Star O.J. Simpson eine Pistole an die Schläfe und droht mit Suizid. Am Steuer des Wagens sein bester Freund und früherer Football-Teamkamerad Al Cowling. An diesem Tag hätte sich Simpson der Polizei stellen sollen: Er wird verdächtigt, seine Ex-Frau Nicole Brown Simpson und deren Freund Roland Goldman ermordet zu haben. Als Simpson nicht bei der Polizei erscheint und zuhause nicht angetroffen wird, leiten die Cops die Fahndung ein.
Um 17.51 Uhr begeht O.J. einen entscheidenden Fehler: Er meldet sich telefonisch bei 911, dem US-Polizeinotruf, um sich zu erklären. Jetzt kennt die Polizei seine Handynummer, wenige Minuten später lokalisiert sie ihn auf der Interstate 5 in Orange County nahe dem Friedhof, wo seine Ex-Frau bestattet ist. Eine Stunde später haben sie Sichtkontakt zum weißen Ford Bronco seines Freundes Cowling und nehmen die Verfolgung auf. Über das Handy hält Cowling Kontakt zu den Polizisten: Sie müssen Abstand halten, andernfalls schießt sich Simpson eine Kugel in den Kopf.
Die mehrstündige Fahrt durch das südliche Kalifornien wird zum filmreifen Spektakel: Von Autobahnbrücken jubeln Menschen Simpson zu, er möge durchhalten. Alle TV-Networks in den USA übernehmen die Live-Feeds aus den Hubschraubern. Dabei findet am Abend dieses 17. Juni 1994 ein prominentes Football-Finalspiel statt: Mit geteiltem Bildschirm können die Zuschauer auf der einen Seite den Bronco samt Polizeikonvoi verfolgen, auf der anderen Seite das Spiel. Gegen 21 Uhr gibt Simpson schließlich auf und wird verhaftet.
Erstmals wurde bei dem Spektakel die Öffentlichkeit auf einen neuen vertraulichen Informanten der Polizei aufmerksam: das Handy von O.J. Simpson. Zu einer Zeit, da erst Stars und Bosse über das neue, coole Gadget verfügten, gab es noch wenig Bewusstsein darüber, wie die Technologie eigentlich funktionierte. Man konnte auf der Straße, am Strand, am Swimmingpool und im Auto telefonieren: Das reichte den Meisten, um Handys cool zu finden und über eine Anschaffung nachzudenken. Viele Menschen dachten wohl, man könne bei einem mobilen Gerät im Gegensatz zu einem Festnetzanschluss nicht herausfinden, wo sich der Teilnehmer gerade aufhielt – wie denn, wenn das Handy ständig woanders war?
Welch kolossaler Irrtum. Das musste O.J. Simpson an diesem Tag erfahren, und mit ihm erstmals alle, die atemlos seine Flucht mitverfolgten. So neu war die Entdeckung, dass die »Los Angeles Times« und die meisten Medien diesem Umstand in ihrer Berichterstattung breiten Raum widmete: »Flüchtender verließ sich auf sein Handy und wurde von ihm verraten«, titelte die Zeitung in fetten Lettern. Bis in die kleinste Einzelheit wurde beschrieben, wie die Polizei mit Hilfe eines Durchsuchungsbefehls und der Mitarbeit des Mobilfunkbetreibers den ungefähren Aufenthaltsort von Simpson und seine Fahrt wenige Minuten nach seinem ahnungslosen Anruf beim Polizeinotruf ausmachen konnte. Und staunend erfuhren die Leser bei dieser Gelegenheit, dass sich Polizisten bereits seit längerem dieses neuen Werkzeugs in ihrem Ermittlungskoffer bedienten. Erst wenige Monate davor wurde so der flüchtige Drogenboss Pablo Escobar in Kolumbien aufgespürt. »Sobald Simpson einen seiner Freunde angerufen hätte, hätten wir ihn sofort gefunden«, erklärte ein stolzer Detektiv der »Los Angeles Times«. Praktisch, dass er sich gleich direkt an die Polizei wandte.
1994 hatten gerade einmal sechs Prozent der US-Bevölkerung ein Mobilfunkgerät. Die größte Handydichte fand sich in Los Angeles und New York. Österreich und Deutschland lagen damals noch ein wenig hinter diesem Verbreitungsgrad zurück. Nur wenige ahnten, dass es nur ein Jahrzehnt dauern sollte, bis das Statussymbol der Schönen und Reichen aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken war.
Seine Inspiration für die Erfindung des ersten »handheld mobile phones« bezog der Motorola-Techniker Martin Cooper aus der Science-Fiction-Serie »Star Trek«, in der Captain Kirk dank seines Communicators quer durch die Galaxie telefonieren kann. Der studierte Elektroingenieur Cooper hatte bei Motorola zuvor Autotelefone gebaut, jetzt wollte er ein Gerät, das Menschen mit sich führen konnten. In nur 90 Tagen entwickelte er 1973 mit seinem Team das erste »Handgerät«, das DynaTAC 8000, ein Kilogramm schwer und mit einer Akkulaufzeit von gerade 20 Minuten. Dennoch war ein kabelloses Mobiltelefon eine Sensation zu einer Zeit, da noch nicht einmal das Schnurlostelefon zum Festnetz erfunden war. »Als wir vor Motorolas New Yorker Büro auf der Straße unseren ersten Anruf machten, blieb den vorübergehenden Passanten der Mund offenstehen«, erinnerte sich Cooper Jahre später in einem Interview. Es dauerte weitere zehn Jahre, ehe das DynaTAC 8000 zu kaufen war und es – zumindest in Städten – ein Funknetz zum Telefonieren gab. Ende der 1980er-Jahre brachte Motorola das MicroTAC heraus, ein Klapphandy ganz in der Art von Kirks Communicator. »Als wir das erste Handgerät auf den Markt brachten, dachten wir schon, dass eines Tages jeder ein Mobiltelefon haben würde. Aber dass dies noch zu unserer Lebenszeit passiert, damit hat keiner bei Motorola gerechnet«, zeigte Cooper noch Jahre später sein Erstaunen über die rasante Entwicklung.
Ab Mitte der 1990er-Jahre startete Mobilfunk auch in Europa richtig durch. Zwei Umstände bildeten dafür die Grundlage: Erstens der neue Mobilfunkstandard GSM (Global System for Telecommunication), ein einheitlicher digitaler Standard. Und zweitens die »Deregulierung« des Telekom-Marktes in der Europäischen Union, die für lebhafte private Konkurrenz zu den einstigen staatlichen Monopolbetrieben sorgte. Dank GSM wurde es zum ersten Mal möglich, mit einem Handy nicht nur im eigenen Land zu telefonieren, sondern in ganz Europa zu »roamen«, später in den meisten Ländern der Welt.
GSM brachte den Produzenten von Mobilfunkgeräten einen enormen Vorteil: Sie mussten nicht mehr eine Vielzahl technisch unterschiedlicher Modelle zu hohen Kosten für zersplitterte Märkte erzeugen. Damit sanken die Handypreise rapide und wurden obendrein weitgehend in den monatlichen Gebühren für den Mobilfunkbetreiber versteckt. Für den Mobilfunkmarkt wurde das (scheinbar) um »Null Euro« erhältliche Handy so wichtig wie seinerzeit Fords günstiges Modell T für den automobilen Massenmarkt.
1995 gab es in Österreich 450.000 Teilnehmer beim (noch) einzigen Anbieter mobilkom austria, Tochter der staatlichen Telekom Austria. 1996 zog mit max.mobil (heute T-Mobile Austria bzw. Magenta) die erste private Konkurrenz ins Land, 1998 folgte One (später Orange, heute in Drei aufgegangen). Schon zur Jahrtausendwende hatte sich die Zahl der Anschlüsse auf 4,64 Millionen verfünffacht, 2005 kam mit 6,83 Millionen Anschlüssen praktisch ein Handy auf jeden Erwachsenen.
Nicht viel anders war das Bild in Deutschland, wo Mannesmann (später Vodafone), E-Plus (heute Telefónica) und Viag Interkom (wurde o2, gehört heute gleichfalls zur Telefónica) der teilstaatlichen Deutschen Telekom Konkurrenz machten. Von 1995 bis 2005 explodierte die Teilnehmerzahl förmlich, von weniger als vier Millionen auf 80 Millionen Anschlüsse.
Innerhalb eines Jahrzehnts ein Handy in jeder Hand. Mit dieser Revolution unseres Alltags verbinden wir an erster Stelle einen Namen: Nokia. Niemand hatte mit dem biederen Konzern aus Finnland gerechnet, dem damaligen politischen wie industriellen Hinterland Europas mit exotischer Sprache, langen, finsteren Winternächten und dem skurrilen Humor von »Leningrad Cowboys«. Nokia war alles andere als ein High-Tech-Unternehmen. Im 19. Jahrhundert aus einer Papierfabrik am namensgebenden Fluss Nokianvirta entstanden, wurde es im 20. Jahrhundert ein Mischkonzern. Nokia produzierte Gummistiefel und Radmäntel für Rollstühle, Traktor- und Autoreifen und Strom. Erst ab 1975 stellte Nokia Radio- und Fernsehgeräte und ab den 1980er-Jahren Autotelefone her: Das war die unglaubliche Mixtur, aus dem ein Handy-Champion entstehen sollte.
In einer der radikalsten Wetten auf die Zukunft, die je das Management eines Traditionsunternehmens einging, setzte der visionäre Nokia-Chef Jorma Ollila in den 1980er-Jahren alles auf eine Karte. Er verkauft die verlässliche, aber langweilige Gummi-, Kabel- und TV-Geräteproduktion, die 90 Prozent des Umsatzes ausmachte, und macht Nokia zu der Marke, die zum Weltmarktführer bei Mobiltelefonen werden sollte. Nokia macht und beherrscht den Handyboom: Zur Jahrtausendwende bringt es das legendäre Nokia 3310 heraus, das in fünf Jahren mit 126 Millionen Stück zum populärsten Handy des Nokia-Jahrzehnts wurde.
Mehr als zehn Jahre vor Apple emotionalisiert Nokia das Handy und macht es zum modischen Accessoire. Individuelle Cover für die Geräte ermöglichen jeder und jedem sein ureigenes Handy. Damit Benutzer ihren persönlichen Talisman oder angeblich strahlenabschirmende Steinchen befestigen konnten, integrieren die Designer eine winzige Schlaufe in der Hülle. Man experimentiert mit Designerstoffen anstatt kaltem Metall, um Handys das Technoide zu nehmen. Aus der Modeindustrie übernimmt der Konzern das Ritual von Frühjahrs- und Herbstkollektionen, die in Cannes, Helsinki, Barcelona, Berlin, London und New York als mediale Spektakel inszeniert werden.
Mit seinen Innovationen sorgte Nokia dafür, dass es immer öfters einen Grund gab, zum Handy zu greifen. Vom 2-Zeilen- zum 4-Zeilen-Display, von schwarz-weiß zu Farbe, von Textzeilen zu grafischen Displays. Freisprechfunktion, Wecker, Organizer, Vibrationsalarm. Ein eingebautes UKW-Radio und eine Taschenlampe. Dafür verschwindet die Antenne, damit das Handy beim Herausziehen aus der Tasche nicht hängenbleibt. Immer kleiner, immer dünner. Die ersten Datenverbindungen GPRS und EDGE, und mit Mail und »WAP« (Wireless Application Protocol) Babyschritte Richtung Internet. 1996 kam der erste Nokia Communicator heraus, ein vollwertiger Organizer für den Arbeitsalltag, der sogar faxen konnte. Mit der Jahrtausendwende wurden aus den Handys immer öfter Unterhaltungsgeräte: Als MP3-Player, Spielkonsole, Fotoapparat, portabler Fernseher. Mit jedem neuen Feature wurde die Beziehung zu unseren Handys inniger, der Suchtfaktor stärker. Zweijahresverträge mit dem Mobilfunker stellten sicher, dass die neuen Geräte mit ihren neuen Funktionen rasch weite Verbreitung fanden.
Nichts und niemand berühren wir im Laufe eines Tages so oft und zärtlich wie unser Handy. Die »Generation Nokia« erkennt noch heute den Einschaltton, der täglich auf hunderten Millionen Handys überall ertönte. 1994 erklang zum ersten Mal die Bearbeitung einiger Takte eines bis dahin unbekannten Gitarrenstücks von Francisco Tárrega als unverwechselbarer Nokia-Klingelton. In wenigen Jahren wurde er zur bekanntesten Melodie der Welt.
Lebhafte Erinnerungen an dieses erste Handy zeigen, welche starke Veränderung es im Alltag von Menschen bedeutete. Für junge Leute, deren stundenlange Telefoniergewohnheiten von ihren Oldies mit Argwohn kommentiert wurden, war das erste Handy eine Befreiung. »Bei uns zuhause hieß es immer, fasse dich kurz, vielleicht braucht jemand das Telefon für einen Notfall«, erzählt S. Sogenannte Vierteltelefone waren in Österreich noch in den 1990er-Jahren weit verbreitet – keine Anspielung auf die Weinkultur des Landes, sondern eine Telefonleitung, die sich vier Parteien teilen mussten. Wenn ein Teilnehmer telefonierte, hieß es Pause machen für die anderen drei.
»Mein Freund schickte mir ein eigenes Handy in die Arbeit. Es war gelb und zum Aufklappen. Ich weiß noch, welche Freiheit das für mich bedeutete.« Freiheit, zuhause nicht mehr auf den freien Anschluss warten zu müssen. Unabhängigkeit, nicht mehr zu genau bestimmten Zeiten Samstagabend am üblichen Platz die Clique zu treffen. Wer später kam, wurde mit Anruf oder SMS verständigt, wo die Freundinnen und Freunde inzwischen waren. Für H. brachte das erste Handy (»ein blaues Nokia 6110«) bei einem Auslandsstudienjahr in London die Freiheit, mit billigen SMS statt den teuren Ferngesprächen vom Münzfernsprecher im Studentenheim mit Freunden und Familie daheim in Kontakt zu bleiben.
»Mein erstes Handy bekam ich mit 18 zu Weihnachten. Ich wusste, wo die Eltern die Geschenke versteckten und habe es schon davor gefunden«, erinnert sich B. wie alles anfing. »Snake« spielen wurde zur Leidenschaft – ein einfach gestricktes Spiel, das auf Vierzeilen-Displays ohne Grafik und mit Tastensteuerung funktionierte. SMS wurden damals durch schnelles mehrfaches Drücken auf eine Zifferntaste geschrieben, um den gewünschten Buchstaben zu erzeugen (für jüngere Leserinnen und Leser: das Touch-Tastenfeld auf Smartphones zeigt noch heute die Buchstaben an, mit denen jede Ziffer verbunden ist. Um beispielsweise ein »F« zu schreiben, musste die »3« dreimal rasch gedrückt werden). »Ich konnte unter der Schulbank blind SMS schreiben.« Eine lebhafte Erinnerung mit Erklärungsbedarf, die man heute staunenden Enkeln zum Einschlafen erzählen kann.
Das erste Handy ein gelbes Ericsson, ein lila Alcatel, ein blaues Nokia 6110; zu Weihnachten, zum Führerschein, zur Matura geschenkt; ein Akku, der eine Woche hielt: Wie die Erinnerung an das erste Auto oder an einschneidende Ereignisse, wie der Fall der Berliner Mauer 1989, bezeugen solche Aussagen die große Veränderung, die mit dem Handy in unserem Leben einzogen. Wenige technologische Neuerungen lösten von der Stunde Null an solchen Enthusiasmus aus.
Einschneidende, berufliche Änderungen brachte für manche »der BlackBerry«, ein Kultgerät von Jungmanagern, um Tag und Nacht mit ihren E-Mails verbunden zu sein. Die Meisterschaft, mit zwei Daumen im Stakkato am »Mäuseklavier« (der Mini-Schreibmaschinentastatur) Mails verfassen zu können, erwies sich als karriereförderlich. Plötzlich kam die Arbeit mit nach Hause: Der unablässig piepsende Signalton beim Eintreffen neuer Mails war der Vorbote von WhatsApp. »Es war toll«, und es war belastend, sagt S. »Ich musste keinen Laptop mehr mitnehmen, um für dringende Fälle erreichbar zu sein. Aber ich blieb immer angespannt und schaute alle Viertelstunden nach, ob eine neue Mail gekommen war. Für mich hat hier der Begriff Work-Life-Balance seinen Ursprung.«
Aber solche Bedenken gegen übermäßigen Handygebrauch wurden vorerst in Diskussionen in der Familie, unter Freunden und Kollegen unter den Tisch gekehrt. Es überwogen Spaß und praktischer Nutzen und es sollte noch Jahre dauern, bis über Handysucht, Burnout oder Beziehungen diskutiert wurde, die auf dem Altar der Hinwendung zum Smartphone geopfert wurden. Lehrerinnen und Lehrer fanden einen neuen Feind in ihrem Kampf um die Aufmerksamkeit pubertierender Jugendlicher. Manche Schulen wussten sich nicht anders zu helfen, als die Handys ihrer Schüler vor dem Unterricht einzusammeln, um SMS-Austausch und Handyspiele unter der Schulbank zu unterbinden (was meist nur die vorübergehende Rückkehr zu papierenen Kassibern und Comics zeitigte).
Nicht mehr jede Innovation wurde gleichermaßen bejubelt. Als Kameras ins Handy einzogen und zunehmend den populären digitalen Kompaktkameras Konkurrenz machten, reagierten Unternehmen mit sensiblen Unterlagen und Produktionsstätten mit Misstrauen. Daraufhin brachte Nokia von seinem Manager-Liebling Communicator kameralose Versionen heraus, um ihre lukrativen Geschäftskunden nicht zu vergraulen.
Von Zeit zu Zeit sorgten Protokolle vertraulicher Telefonate in Zeitungen für Schlagzeilen, etwa im Zusammenhang mit der Beschaffung milliardenteurer Abfangjäger in Österreich. Die Quellen blieben naturgemäß verborgen, Geheimdienste wurden verdächtig, und vermeintlich Wissende sprachen mit verschwörerisch halblauter Stimme von »IMSI-Catchern«, mit denen Mobilfunkgespräche abgehört werden könnten – ein Gerät, das in der Nähe von Handys Telefonate und SMS zum Mithören »einfängt« und erst dann an eine Mobilfunkzelle weiterleitet (mehr über den Einsatz und das Geschäft mit IMSI-Catchern erfahren wir im Kapitel »Die fünfte Generation«).
Fälle wie diese und aufsehenerregende Kriminalfälle, bei denen wie bei O.J. Simpson die Handyortung eine wesentliche Rolle spielte, sowie der Einzug von Handys in den Ermittlungsalltag im sonntäglichen »Tatort« und andere Fernsehkrimis weckten nur langsam das Bewusstsein, dass das geliebte Handy im Zweifelsfall kein sicherer Hafen für Umtriebe war.
Dabei oszillieren Film und Fernsehen zwischen furchterregenden, jedoch technisch plausiblen Schreckensvisionen der Überwachung, und technischem wie gesetzlichem Humbug. Der bereits 1998 in die Kinos gekommene Film »Der Staatsfeind Nummer 1« zeichnet die Allmacht eines Überwachungsstaates dank Standortpeilung, Handy-manipulation, Gesichtserkennung, versteckten Videokameras und missbrauchten Onlinediensten. In den folgenden Kapiteln werden wir erfahren, wie mit Smartphones, datenhungrigen Apps, Cloud-Diensten, Face-Recognition und anderen Technologien diese Vision heute technisch weitgehend Realität ist. Ein prominenter Player in »Staatsfeind Nummer 1«, damals noch weitgehend unbekannt, verkörpert heute den Überwachungsstaat: die NSA, der elektronische Geheimdienst der USA.
Auf der anderen Seite finden sich SOKO-Serien, in denen zwei Kommissare mit K.-o.-Tropfen außer Gefecht gesetzt und ihrer Handys beraubt werden. Doch keine Sorge: Die Kollegen eilen zu Hilfe, orten am PC im Kommissariat eines der gestohlenen Handys und schicken eine Kollegin zur Parkbank, wo sie dem gerade telefonierenden Übeltäter auf die Schulter klopft und das Handy abnimmt. Nett, aber doppelt falsch: Erstens wäre am PC des Kommissariats die Lokalisierung eines Handys durch Kriminalbeamte nicht möglich. Zweitens wäre eine Lokalisierung über das Mobilfunknetz so ungenau, dass damit unmöglich auf einem öffentlichen Platz ein konkretes Handy identifiziert werden könnte.
Standortinformationen erhält der Mobilfunkbetreiber von einem Handy in den älteren Teilen seines Netzes entweder, wenn das Handy telefoniert oder gerade eine SMS verschickt, oder wenn die Mobilfunkzelle das Handy »anpiepst«. Ältere Netzteile: Das sind GSM, die so genannte zweite Generation des Mobilfunks, und das ab 2000 gebaute Datennetz 3G, anfangs als UMTS bekannt. Diese beiden Generationen sind weiterhin ein wichtiges Rückgrat der aktuellen Mobilfunknetze, obwohl inzwischen der Großteil des Datenverkehrs über 4G alias LTE vermittelt wird (auch über diese Entwicklung erfahren wir mehr im Kapitel »Die fünfte Generation«).
Den Standort zu bestimmen, fällt in 2G- und 3G-Netzen relativ ungenau aus, da nur wenige Betreiber über »Triangulation« verfügen – die Möglichkeit, durch die Anmeldung des Handys bei mehreren Mobilfunkzellen in seiner Umgebung genauer den konkreten Ort zu bestimmen. Diese Genauigkeit erhöht sich bei LTE (4G): Denn Smartphones melden sich relativ häufig bei »ihrer« Mobilfunkzelle, und diese wiederum sendet ihre Radiowellen in engeren Sektoren aus, was wiederum den möglichen Standort eingrenzt.
Anders sieht es aus, wenn es nicht um einen genauen Standort geht, sondern um die Bewegung eines Handys und seiner Benutzerin oder seines Benutzers. Durch die Verfolgung des Geräts über mehrere Funkzellen entstehen relativ genaue Bewegungsprofile. Ausreichend genau, um bei einer Ermittlung eine Person in Zusammenhang mit einem oder mehreren Tatorten zu bringen.
Hingegen ist der Zugriff auf den genaueren GPS-Teil (Satellitennavigation) von Handys dem Betreiber nicht möglich und damit der Polizei verwehrt. Dazu bedürfte es der Manipulation eines Handys durch entsprechende Software, einem »Bundestrojaner«, wie diese Schadsoftware umgangssprachlich genannt wird. In Deutschland ist dies den Behörden beim Verdacht auf schwere Straftaten seit einigen Jahren erlaubt. In Österreich wurde der Polizei dieser dringende Wunsch Ende 2019 vom Verfassungsgerichtshof versagt: Zu groß sei der mögliche Kollateralschaden für die Zivilgesellschaft (mehr darüber im Kapitel »Ibiza ist überall«).
Gemessen daran, was Smartphones heute über uns wissen und wir in den folgenden Kapiteln erfahren werden, ist dem Mobilfunkbetreiber nur eine Handvoll persönlicher Daten über das jeweilige Handy bekannt. Betreiber wissen, wer der Inhaber einer Mobilfunknummer ist, inzwischen auch bei registrierungspflichtigen Prepaid-Karten. Sie kennen den – mehr oder weniger genauen – Standort zu bestimmten Zeiten und können ein Bewegungsprofil über einen gewissen Zeitraum erstellen. Dazu kommen Verbindungsdaten: Wer wann angerufen wurde, wer wann welche SMS geschickt hat, welche Webseiten von einem Handy angesurft wurden. Und der Betreiber kennt Daten des konkreten Geräts wie dessen (manipulierbare) Seriennummer, das verbrauchte Datenvolumen, die Zahl der SMS, die Länge der geführten Gespräche.