Dem Tod verfallen
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Ausgabe 22.03/2021/TL
Korrektorat: Natalie Röllig
Covergestaltung: TomJay - bookcover4everyone / www.tomjay.de
Bilder: Photo Images © Shutterstock / Nik Merkulov, Oksana Telesheva, Marcin Perkowski
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Über das Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Schlusswort und Anmerkungen
Einmal mit dem Morden begonnen, ließ es ihn nicht mehr los. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Faustschlag: Er war dem Tod verfallen!
Wer steckt hinter den grausamen Morden im Hügelsheimer Wald? Viola Ahlfeld, unglücklich geschiedene Society-Lady, plant Rache an ihrem untreuen Ex-Mann Josef. Noch bevor sie ihn jedoch in die Knie zwingen kann, wird sie getötet. Jemand schießt der einstigen Schönheit kaltblütig ins Gesicht.
Hauptkommissar Heerse wird mit den Ermittlungen betraut; er und sein Team finden schnell heraus, dass das Opfer in der Baden-Badener Gesellschaft alles andere als beliebt war. Sowohl der Tatort als auch die unheimliche Sage vom Wilden Mann scheinen eine besondere Rolle für den Mörder zu spielen. Kurz darauf wird die verstümmelte Leiche einer weiteren Frau gefunden, und der Verdacht kommt auf, dass es eine Verbindung zu einem Verbrechen aus den Neunzigern gibt.
Bald weitet sich der Kreis der Verdächtigen aus, und Heerse muss erkennen, dass der brutale Serienkiller seinen Blutdurst längst nicht gestillt hat.
Der Wilde Mann im dunklen Wald, sein Herz erstarrt, die Seele kalt … Wer kann ihm entkommen?
Der Wilde Mann
»Im dunklen Wald ganz tief verborgen, lebt jener Mann mit Zottelhaar von Moos bedeckt seit hundert Jahr. Meist bleibt er unter Laub versteckt, doch riecht er ein gar böses Kind, dann kommt er eines Nachts bestimmt. Drum sei im Herzen rein und klar, sonst frisst er dich mit Haut und Haar. Der Wilde Mann im dunklen Wald, sein Herz erstarrt, die Seele kalt.«
I. B.
Ein wiederkehrender Traum
Sie waren, wie sie die Natur geschaffen hatte. Grob, brutal und völlig gewissenlos. Ein gewaltiger Wolf mit breiter Schnauze schien die Gruppe zu beherrschen. Sein Zähnefletschen machte deutlich, wie leicht er jede Beute in Stücke reißen konnte. Der Keiler neben ihm reichte selbst mit seinen gewaltigen Wildschweinhauern nicht an ihn heran; aber ohne Zweifel würde er seine Opfer mit Leichtigkeit aufspießen.
Die Menschen unterschätzten die Bestien in ihrer Umgebung. Sie lebten nicht verborgen in den Wäldern, sondern suchten dort lediglich einen Platz zum Verschnaufen, um dann wieder zuzuschlagen – grausamer und entschlossener als je zuvor.
Im trüben Licht des Mondes wirkten die Tierköpfe wie verzerrte Fratzen, so als würde man sie durch ein schlecht eingestelltes Fernglas betrachten. Jede ihrer Bewegungen verriet, dass sie Teil eines Traumes waren. Sie hatten ihre naturgegebene Geschmeidigkeit verloren, staksten stattdessen ungelenk im Kreis herum, gaben dabei diffuse Laute von sich und bleckten gelegentlich im Rausch der eigenen Überlegenheit die Zähne.
Aber das war nur eine kurze Einführungsphase. Denn so wie bei jedem Albtraum fehlte es auch hier an einer moderaten Steigerung. Für den Schlafenden ging es sofort mit dem grausamen Ende weiter, als plötzlich eine schattenhafte Gestalt auftauchte. Sie gesellte sich zu dem zusammengewürfelten Rudel und schien weder Mensch noch Tier zu sein. Schwarze Lumpen umhüllten den gesichtslosen Körper, dennoch stand sofort fest, dass es sich bei dem Neuen um den Henker handelte. Deutlich wurde das auch durch das dunkle, tiefe Loch in seiner Brust, an der Stelle, an der eigentlich sein Herz hätte sein müssen.
Der Albtraum näherte sich dem Höhepunkt. Schon folgte der laute Knall, jemandes Kopf sackte nach vorne, das Kinn berührte die Brust. Blut spritzte in die Höhe, streifte die Lefzen der lauernden Raubtiere und entlockte ihnen ein hungriges Aufheulen.
Der Träumende begann sich hin und her zu wälzen, sein Blick erfasste die tiefe Wunde im Schädel des Toten, die klebrigen Haare, die sie umgaben, und die blasse Haut des nackten Rückens, der gezeichnet war von Spuren des Schmerzes. Bissverletzungen, blutige Striemen und gefesselte Gelenke ließen keinen Zweifel daran, dass ein gequältes Opfer eben den Gnadenschuss erhalten hatte.
Noch einmal änderte sich die Szenerie, gleich würde er aufwachen, aber zuvor musste er noch in das Gesicht des Toten blicken und ihn erkennen.
»Nein!«, entglitt dem Schlafenden ein markerschütternder Schrei. Er schreckte auf, blickte sich um; hellwach und zu allem entschlossen. Soeben war ein Mörder geboren worden.
* * *
Juli 2020
Sie zu töten, war leichter gewesen als gedacht. Natürlich hatte sie es nicht kommen sehen, wie auch? Das Gespräch war völlig ruhig verlaufen. Vermutlich hatte sie angenommen, einen Verbündeten in ihrem Gegenüber zu haben, sogar ein Lächeln war bei den Erinnerungen an eine andere Zeit auf ihrem Gesicht erschienen. Wie dumm von ihr, keinen Verdacht zu schöpfen. War es Überheblichkeit, der Glaube, unantastbar zu sein, oder Gutmütigkeit und die Bereitschaft, dem Falschen zu vertrauen, was sie in die Falle gelockt hatte?
In dem Moment, in dem die Waffe ihre Haut berührte, peitschte auch schon der Schuss durch den Wald. Heißes Metall verbrannte das Gewebe an der Stelle, an der der Lauf gegen die Schläfe gepresst worden war. Weniger Blut als erwartet trat aus. Auch hörte man nicht, wie das Geschoss die Knochen durchschlug oder das Fleisch beim Austritt auseinanderriss. Dafür geschah es zu schnell.
Sie stürzte sofort zu Boden. Der zweite, ebenfalls aufgesetzte Schuss zerfetzte ihr die Lippen und zermalmte die Zähne. Er war mit zittriger Hand geführt worden und deshalb unsauber. Ein drittes Mal zu feuern, um auch den Rest des Gebisses zu zerstören, wagte der Mann am Abzug jedoch nicht. Die Lautstärke des Knalls hatte ihn überrascht. Man musste das Abfeuern der Waffe kilometerweit gehört haben.
Der Mord löste ein unvorhersehbares Gefühlschaos aus. Euphorie und Panik schienen miteinander zu ringen – und das war ein einzigartiges Erlebnis. Beängstigend auf der einen Seite und damit etwas, das man schnellstmöglich loswerden wollte, auf der anderen Seite überlagerte es alle anderen Empfindungen, hatte deshalb etwas Befreiendes und ließ ihn plötzlich alles verstehen. Im Wissen, das Richtige zu tun, beeilte er sich, die Leiche vor neugierigen Blicken zu verbergen.
* * *
Drei Tage später
Gerd Stolz strich sich mit der Hand über seine Glatze. Trotz des lauwarmen Nieselregens und der blutsaugenden Stechmücken wollte er sich heute nicht beklagen. Das unbeständige Wetter hielt nämlich zumindest die Waldspaziergänger ab, das erleichterte dem Forstarbeiter und seinen Kollegen den Job. Nicht weit entfernt dröhnte die Motorsäge des Neuen. Er machte seine Arbeit gut.
Kunststück, dachte Gerd und schlug sich kräftiger, als es vielleicht nötig gewesen wäre, auf den Arm. Der Moskito, den er dabei zerquetschte, ließ einen Blutfleck zurück. »Verdammtes Vieh«, fluchte der Fünfundfünfzigjährige laut und ließ einen verstohlenen Blick auf den jungen Kollegen gleiten, der mühelos die nächste Kerbe in die Rinde fräste, als hätte die Motorsäge kein Gewicht.
Auch Gerd griff wieder zu seinem Werkzeug. Sein Ego trieb ihn an, und so schaffte er es, den dicken Stamm, der vor ihm auf dem feuchten, dunklen Grund lag, innerhalb kürzester Zeit zu entasten.
Schnaufend trat er einen Schritt zurück. »Ich bin fertig«, prahlte er in Richtung des Vorarbeiters.
Ein anerkennendes »Gut« schlüpfte dem über die Lippen, dann teilte er Gerd eine neue Aufgabe zu. Kurz darauf fand der sich vor einer alten Eiche wieder, die zum Fällen freigegeben worden war. Im Stillen verfluchte er sich für seinen Eifer. Jetzt hatte er jede Menge Arbeit an der Backe. Für einen Augenblick lehnte er sich gegen den Baum und flüsterte: »Ja, so geht es uns allen, wenn wir alt werden. Irgendwann müssen wir weg.« Er seufzte und tatsächlich spürte er Bedauern, als er daraufhin begann, die Fallkerbe in den Stamm zu sägen.
Gerd Stolz hatte ein gutes Auge für den richtigen Winkel, dennoch stoppte er die Säge, trat einen Schritt zurück und betrachtete noch einmal den Baum, um den besten Ansatz für den unteren Schnitt auszumachen. Plötzlich hörte er über sich ein verdächtiges Knacken. Trockene Sommer hatten die Äste der Baumkronen morsch werden lassen. In letzter Zeit war es deshalb öfter zu Unfällen mit herunterbrechendem Holz gekommen. Die Erfahrung und seine immer noch sehr guten Reflexe ließen ihn augenblicklich zur Seite springen, allerdings verfing sich sein Fuß in einer Wurzel und er stürzte zu Boden. Das Knacken wurde lauter. Ein gutes Stück von ihm entfernt landete ein Teil der Baumkrone auf der Erde. Den Ästen war er entkommen, allerdings galt das nicht für den Spott seiner Kollegen, wenn die ihn niedergestreckt wie einen Käfer auf dem Rücken entdecken würden. Gerd Stolz wandte den Kopf zur Seite und wollte sich schnell aufrichten, während er das fröhliche Trällern einer Amsel hörte.
Eigentlich war es nicht seine Art, die Fassung zu verlieren. Die letzten Jahrzehnte hatte er fast täglich im Wald verbracht, da sah man einiges, und ja, er hatte auch schon einmal eine Leiche gefunden. Ein alter Mann, gestorben bei einem Spaziergang, friedlich, während er auf einer der Holzbänke gesessen hatte, die man für müde Wanderer zur Verfügung stellte. Aber das, was hier direkt neben ihm lag, sozusagen Nase an Nase, zeugte nicht von sanftem Dahinscheiden. Wie ein Springteufel kam er auf die Füße; er spürte Brechreiz und bildete sich ein, Verwesungsgeruch wahrzunehmen.
»Himmel«, stöhnte er leise und bemerkte nicht einmal, wie sich ihm seine Kollegen näherten. Er wollte unbedingt zur Seite blicken, aber wie auf die meisten Menschen übte der Schrecken auch auf ihn eine seltsame Faszination aus. Deshalb starrte er noch lange auf die zerfetzten Lippen in dem bleichen Gesicht, während die von Vogelschnäbeln geplünderten Augenhöhlen der Toten seinem Blick standhielten.
* * *
Etwa zur gleichen Zeit
Hauptkommissar Rolf Heerse nickte einem Kollegen zu, während er zögerlich eine der Butterbrezeln vom Tablett nahm. Im Prinzip missfiel es ihm, auf einer Trauerfeier zu essen oder zu trinken. Alte Traditionen schön und gut, aber sich nach einer Beerdigung den Bauch vollzuschlagen, bereitete ihm ein schlechtes Gewissen. Allerdings hatte er seit einem übersichtlichen Apfelmüsli am Morgen nichts mehr gegessen und deshalb knurrte dem dreiundfünfzigjährigen Beamten der Magen.
»Die sind gut«, sagte ein Mann neben ihm und lud sich gleich zwei Stücke des schmackhaften Laugengebäcks auf einen bereits gut gefüllten Teller.
Heerse zog sich mit einem »Hm« in die nächste Ecke zurück und sah sich nach Oberkommissar Müller um. Der saß an einem der Tische, die man mit weißen Decken und dezentem Blumenschmuck hergerichtet hatte. Müller schien sich angeregt zu unterhalten, und Heerse unterdrückte ein Grinsen. Vermutlich hatte sein Kollege, seit das Baby da war, wenig Gelegenheit gehabt, sich mit Gleichaltrigen auszutauschen. Nicht herzhaft zu seufzen bei dem Gedanken, wie schnell die Zeit doch verging, kostete Heerse ein wenig Beherrschung.
»Entschuldigung«, unterbrach eine freundliche Stimme seine Grübeleien. »Sie sind doch Rolf Heerse, oder?«
Der Hauptkommissar blickte auf.
»Ich bin Kalli, Kalli Lessig«, stellte sich sein Gegenüber vor und fügte leise an: »Ich bin der Sohn.«
»Natürlich«, beeilte sich Heerse zu reagieren und streckte dem anderen die Hand entgegen. »Es tut mir sehr leid«, bekundete er sein Mitgefühl. Nach der Kirche hatte man die Anwesenden gebeten, davon Abstand zu nehmen, aber jetzt bei einer persönlichen Begegnung war es ein Gebot der Höflichkeit, den Verwandten des Verstorbenen zu kondolieren.
»Ich wollte mich nur bedanken, dass Sie gekommen sind. Das hätte meinem Vater wirklich sehr viel bedeutet«, überging Kalli Lessig die tröstenden Worte, vermutlich weil er sie am heutigen Tage schon zu oft gehört hatte.
Der Hauptkommissar wirkte überrascht und machte daraus auch kein Geheimnis, indem er antwortete: »Wir haben uns nicht sehr gut gekannt, aber ich weiß, wie engagiert Ihr Vater immer war. Wir haben ihn nach seiner Pensionierung sehr vermisst.« Heerse war mit der Formulierung zufrieden. Was hätte er auch sonst sagen sollen? Manfred Lessig hatte als Hausmeister im Dienstgebäude der Polizei gearbeitet. Nachdem er vor fünf Jahren in Rente gegangen war, ließ man die Stelle unbesetzt, verteilte die Aufgaben des Mannes an das vorhandene Personal und beauftragte eine Firma mit der Reinigung des Gebäudes. Angeblich war das billiger, ganz gewiss jedoch auch unpersönlicher. Manfred Lessig war stets zur Stelle gewesen, wenn es darum gegangen war, eine Glühbirne auszutauschen, ein undichtes Waschbecken zu reparieren oder mit Fingerspitzengefühl eine verbogene Büroklammer aus dem Drucker zu fischen. Allerdings erinnerte sich Heerse nicht daran, mit Lessig viele persönliche Gespräche geführt zu haben. Wenn er ganz ehrlich war, dann hatte er den Hausmeister sogar ein wenig wichtigtuerisch gefunden.
»Mein Vater war kein Mann, der Sympathie besonders gut ausdrücken konnte«, erklärte Kalli mit einem bedauernden Lächeln. Dann fragte er: »Haben Sie vielleicht Lust, ein paar Schritte mit mir zu gehen? Ich habe das Gefühl, hier drinnen zu ersticken.«
Heerse nickte verständnisvoll und schloss sich dem jungen Mann, den er auf Ende zwanzig schätzte, gerne an.
Vor dem Gasthaus sog Kalli die schwüle Luft ein und bemerkte: »Furchtbares Wetter für eine Beerdigung, wie im Dschungel. Mein Vater hätte sich vermutlich nicht darüber beklagt, das hat er nie«, schloss Kalli und sah nachdenklich zum Himmel. »Wussten Sie, dass er selbst gerne Polizist geworden wäre?«, fragte er unvermittelt und lud Heerse mit einer Handbewegung ein, ihm zu folgen.
»Er hat es nie erwähnt«, erwiderte der Hauptkommissar und genoss ausnahmsweise den leichten Nieselregen im Gesicht, der bei den tropischen Temperaturen ein bisschen Erfrischung brachte.
»Mein Vater hatte ziemlich viel Pech«, sprach Kalli weiter. »Eigentlich hatte er sich bei der Bundeswehr verpflichten wollen.« Er lachte auf. »Man stelle sich das vor: In einer Zeit, in der die Jugend nach Berlin geflüchtet ist, um sich dem Wehrdienst zu entziehen, wollte er zur Truppe gehören.«
»Und was ging schief?«, fragte Heerse, der nun neugierig geworden war.
»Mein Vater hatte einen angeborenen Herzfehler, man attestierte ihm Untauglichkeit.« Kalli zuckte mit den Schultern. »Trotzdem hat er neunundsechzig Jahre durchgehalten. Hätte sich selbst vermutlich als zähen Hund bezeichnet.« Er kramte in seiner Tasche und zog eine Schachtel Zigaretten heraus. »Stört es Sie?«, fragte er verlegen und Heerse schüttelte den Kopf.
»Das Leben hat ihn enttäuscht, die Bundeswehr wollte ihn nicht und die Polizei konnte ihn natürlich auch nicht einstellen. Na ja …« Das Feuerzeug klickte und Manfred Lessigs Sohn zog kräftig an der filterlosen Kippe. »Und ich war wohl auch eine Enttäuschung für ihn. Er hat mich nicht sonderlich gemocht.«
Heerse hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. »Wir können es unseren Vätern sicher nicht immer recht machen, aber das heißt noch lange nicht, dass wir sie enttäuschen. Sie haben die Trauerfeier organisiert, ihm einen würdigen Abschied ermöglicht. Das zeugt doch von der Zuneigung, die zwischen Ihnen bestand.«
»Sie sind sehr nett«, antwortete der Jüngere emotionslos und der Hauptkommissar warf einen verstohlenen Blick auf seinen Begleiter.
Kalli Lessig war sehr schmal, fast schon mager, und er hatte eine ungewöhnliche Art, sich zu bewegen. Die ganze Zeit hielt er sich vorbildlich aufrecht, so als würde ein Korsett seine Wirbelsäule stützen. Das Gesicht des Mannes wirkte blass, aber das war unter diesen Umständen kein Wunder. Die dunklen Haare, die über den Nacken hingen, kräuselten sich im Regen, und seine Augen, groß und blau, verliehen ihm etwas Anrührendes. Automatisch fragte sich Heerse, wie ein Vater so einen Jungen nicht hätte mögen können.
Als hätte der andere seine Gedanken erraten, sagte der jetzt: »Er wollte, dass ich zur Polizei gehe, hat mir oft von Ihnen erzählt. Hat sich für mich Ihre Karriere gewünscht.«
»Wir müssen unsere eigenen Wege gehen«, gab Heerse Antwort.
Plötzlich bedeckte Kalli seine Augen. »Ich war nicht da, als er starb. Er lag zwei Tage tot im Haus. Ich fühle mich schuldig. Ich war nie genug für ihn da.«
Auf diese Art von Gespräch war Rolf Heerse nicht vorbereitet, allerdings erwartete sein Begleiter keine Antwort, sondern fuhr fort: »Meine Mutter starb drei Jahre nach meiner Geburt und ich verließ ihn mit achtzehn. Es gab einen furchtbaren Streit, als er davon erfuhr, dass ich eine Tanzausbildung machen wollte. Ich bekam sogar ein Stipendium an einem renommierten Institut. Die letzten Jahre bin ich mit einem Ensemble durch die halbe Welt gereist. Ab Herbst habe ich ein Engagement in Süddeutschland.«
»Das hört sich so an, als hätten Sie Ihr Glück gefunden.«
»Ja, das habe ich«, entgegnete Kalli und wischte sich übers Gesicht. »Aber ich hätte es gerne mit meinem Vater geteilt. In der Vergangenheit hatten wir nicht viel Kontakt, allerdings wollten wir uns aussprechen. Kurz vor seinem Tod hat er mich angerufen und um ein Treffen gebeten. Aber als ich zu unserer Verabredung kam, da …« Er brach ab. Sie hatten die Gaststätte mehrmals umrundet und waren nun wieder am Eingang angekommen.
»Das klingt jetzt vielleicht komisch«, begann Kalli umständlich, »aber ich hatte bei diesem letzten Telefonat ein merkwürdiges Gefühl. Mein Vater war anders, so als würde ihn etwas beunruhigen. Als hätte er Angst.«
Die Art, wie Kalli den letzten Satz formulierte, ließ den Hauptkommissar aufhorchen. »Angst?«
»Ja, als würde er um sein Leben fürchten.« Er bemerkte Heerses Stirnrunzeln und warf schnell ein: »Natürlich war er krank und in einem Alter, in dem man den Tod fürchten muss, aber das meine ich nicht. Er wirkte vielmehr gehetzt.«
»Hat er denn gesagt, dass er sich bedroht fühlte?«
»Nein«, gab Kalli sofort zu. »Vielleicht bilde ich mir das im Nachhinein auch nur ein, aber …« Er zögerte und Heerse beobachtete ihn wachsam. »Ich hätte nicht davon anfangen sollen«, zierte er sich und wirkte plötzlich so, als würde er sich für seine Offenheit schämen.
»Was aber?«, ließ Heerse jedoch nicht locker.
»Also schön«, lenkte sein Gegenüber ein, »ich hatte das Gefühl, dass jemand im Haus war. Es fiel mir zum Beispiel auf, dass Dinge nicht mehr an ihrem Platz standen, obwohl mein Vater da immer sehr genau gewesen war.«
»Was hat der Arzt gesagt, der den Leichnam …« Heerse verbesserte sich schnell: »… der Ihren Vater nach dessen Tod untersucht hat?«
»Herzversagen, wie erwartet.«
»Und gab es Einbruchsspuren?«, fragte der Hauptkommissar.
»Nein, das nicht.« Kalli winkte ab. »Jetzt, wo ich es ausgesprochen habe, klingt es absurd. Wahrscheinlich fällt es mir nur schwer, seinen Tod zu akzeptieren. Hirngespinste lenken einen ja für gewöhnlich ab.«
»Sie brauchen Zeit, das alles zu verarbeiten, meistens …« Weiter kam Heerse nicht, denn in diesem Augenblick fuhr eine große schwarze Limousine auf das Gelände und blieb direkt vor den beiden Männern stehen.
Wenige Sekunden später sprang der Fahrer aus dem Wagen und öffnete die hintere Tür. Anschließend eilte er zum Kofferraum, zog dort in Windeseile einen Rollstuhl heraus und klappte ihn auf.
»Schneller«, blökte jemand aus dem Innenraum.
Der Fahrer stürzte sofort herbei und half dem Mann im Fahrzeug, sich in den Rollstuhl zu hieven.
»Wer ist das?«, flüsterte Heerse, der bemerkte, wie sich Kallis Miene versteinerte, als der jetzt antwortete: »Jemand, von dem ich gehofft hatte, er würde nicht hier auftauchen.«
* * *
Josef Ahlfeld musterte die beiden Männer vor der Gaststätte abschätzend. Er schien nicht viel von Kalli zu halten, denn obwohl er zuvorkommend sein Beileid aussprach, machte die Frage: »Immer noch im Tingeltangel-Geschäft?«, seine ablehnende Haltung deutlich.
»Herr Ahlfeld«, reagierte Kalli beherrscht, »danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben. Darf ich Ihnen Hauptkommissar Heerse vorstellen?«
Die Augen des Mannes im Rollstuhl verengten sich. »Natürlich, ich nehme an, Sie waren ein Kollege des Verstorbenen?« Wachsam beobachtete Ahlfeld den Beamten.
Heerse nickte bedächtig, entschloss sich aber, ansonsten zu schweigen. Er glaubte, den Namen Josef Ahlfeld schon einmal irgendwo gehört zu haben, wusste aber nicht mehr, in welchem Zusammenhang.
»Ich würde jetzt gerne hineingehen«, schnappte der Alte in Richtung seines Chauffeurs. »Wenn ich nass werden will, dann stelle ich mich unter die Dusche.«
»Ja, natürlich, Herr Ahlfeld«, reagierte der Angestellte ehrerbietig und drehte den Mann im Rollstuhl Richtung Rampe.
»Schrecklicher Ort für eine Trauerfeier«, hörte man Josef Ahlfeld noch sagen, dann verschwand er im Inneren der Gaststätte.
Kalli stieß geräuschvoll die Luft aus. »Auch dieser Besuch hätte meinen Vater sicher mit Stolz erfüllt«, sagte er resigniert. »Er hat sich immer etwas auf die Bekanntschaft mit den Ahlfelds eingebildet, dabei war er für die nichts weiter als ein Diener.«
»Woher kannten sich die Männer?«, hakte Heerse neugierig nach.
»Mein Vater war im gleichen Schützenverein wie Josef Ahlfeld. Die beiden gingen zusammen auf die Jagd. Sie verstehen.« Kalli rang sich ein Lächeln ab und erklärte: »Der wohlwollende Gutsherr und sein treuer Begleiter Manfred Lessig. Der Mann, der die Waffen tragen durfte.«
»Sie mögen Ahlfeld nicht«, antwortete Heerse offen.
»Sagen wir eher, ich hätte mir gewünscht, mein Vater wäre öfter zu Hause gewesen, um mit mir Zeit zu verbringen. Vermutlich bin ich ungerecht. Ahlfeld hat immerhin ordentlich bezahlt. Nichts für ungut, aber sein Hausmeistergehalt war überschaubar und Rechnungen mussten beglichen werden.« Er seufzte. »Vielleicht sollte ich besser wieder hineingehen, bevor Ahlfeld die anderen Gäste vergrault.«
Heerse stimmte ihm zu und wollte Kalli schon folgen, als der Anruf kam. Für ihn sollten die Feierlichkeiten enden.
Er hörte die Stimme von Oberkommissarin Maren Teuber, die gerade sagte: »Wir haben einen Leichenfund im Hügelsheimer Wald.«
* * *
Durchgeschwitzt erreichte Janina Baer ihr Ziel. Sie hatte sich für das heutige Lauftraining eine Bergstrecke vorgenommen, und einer der Wanderwege auf den Merkur, den Hausberg von Baden-Baden, bot dafür ideale Bedingungen. Jeden Spaziergänger, auf den sie getroffen war, hatte sie innerlich verflucht, so sehr sehnte sie sich nach Einsamkeit und Ruhe. Menschen gingen ihr momentan auf die Nerven, hatte sie doch ständig das Gefühl, die würden ihr ansehen, was passiert war.
Mit der Hand wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Es war richtig gewesen, die Stelle in Baden-Baden anzunehmen. Die sechsundzwanzigjährige Kommissarin würde noch einmal von vorne anfangen. Aber dieses Mal würde sie alles richtig machen, mehr als das; sie wollte Buße tun.
Das gebrüllte »Achtung« eines hinter ihr auftauchenden Mountainbikers ließ sie zur Seite springen.
Arschloch, dachte die Polizistin und konnte sich nur schwer zurückhalten, das nicht auch laut auszusprechen. Glaubte eigentlich jeder, er könnte sie herumschubsen, einfach beiseite scheuchen, um sich dann rücksichtslos an ihr vorbeizudrängeln?
Eine weitere Gruppe Radfahrer näherte sich ihr, und dieses Mal ertönte zumindest eine Klingel. Schrill und unnachgiebig schien die jedoch das Gleiche zu sagen: »Verschwinde, und zwar schnell!«
Artig trat Janina auch jetzt zur Seite und nicht einmal das fröhliche »Vielen Dank« der Vorbeiradelnden konnte sie versöhnen.
Zeit für den Abstieg, beschloss Janina, da vibrierte ihr Handy.
Sofort verkrampfte sich ihr Magen. Könnte das vielleicht …? Sie sah auf das Display und zischte etwas Unverständliches. Als wäre wirklich noch mit einem Anruf zu rechnen, der den Sturz ins Gefühlschaos, den sie hinter sich hatte, abfangen könnte.
Die Beschwerden in der Magengegend nahmen zu, als sie sah, dass ausgerechnet jetzt Oberkommissarin Teuber anrief.
Zwar hatte Janina heute ihren freien Tag, aber sollte es sich um einen Notfall handeln, dann bräuchte sie eine gefühlte Ewigkeit, um wieder an der Talstation anzukommen.
Bitte lass es nur die Anfrage wegen einer verlegten Akte sein, sendete die junge Frau ein Stoßgebet Richtung Himmel, aber das wurde nicht erhört.
Kurze Zeit später stand Janina Baer durchgeschwitzt in der Kabine der Bergbahn und wartete auf die Abfahrt. Dabei hatte sie das Gefühl, die Zeiger ihrer Uhr würden sich dreimal so schnell bewegen wie gewöhnlich. Ihr Frust steigerte sich – sie würde zu spät kommen, so wie immer.
* * *
Rolf Heerse traf als Erster am Tatort ein, was daran lag, dass das Gasthaus, in dem Manfred Lessigs Trauerfeier stattfand, nicht weit entfernt vom Fundort der Leiche lag.
Die dichten Äste der hochgewachsenen Bäume breiteten sich wie ein Dach über den Teams der Gerichtsmedizin und der Kriminaltechnik aus und schützten die Beamten vor dem feinen Regen.
Hauptkommissar Heerse begrüßte die Männer und Frauen, die allesamt unter der schwülen Hitze litten.
»Sie liegt da vorne«, rief ihm jemand zu, den er unter der Schutzkleidung nicht erkennen konnte.
Aus irgendeinem Grund hatte Heerse die Leiche einer jüngeren Frau erwartet. Wie die meisten Menschen widerstrebte ihm der Gedanke, dass jemand im Großmutteralter Opfer einer Gewalttat werden konnte. Omas waren lieb und nett, backten Kuchen, verwöhnten ihre Enkel und wurden auf keinen Fall ermordet. Er wusste, dass das natürlich Blödsinn war und niemand nur aufgrund seines guten Herzens oder seines Alters vom Schicksal verschont wurde. Dennoch beruhigte es ihn, als plötzlich jemand sagte: »Wer tut denn einer alten Frau so etwas an?« Es war Maren Teuber, die neben ihn trat und leise seufzte.
Die dreiunddreißigjährige Oberkommissarin mit dem hübschen Gesicht und der leicht schrägen Nase, die sie umso anziehender aussehen ließ, betrachtete die Tote auf der Erde. Seit der Geburt ihres kleinen Sohnes Noah fiel es ihr gelegentlich schwer, die Kontrolle über ihre Tränendrüsen zu behalten. Die Hormone, hatte man ihr gesagt, als würde diese Information helfen, die professionelle Abgeklärtheit zu bewahren. Trotzdem bemühte sie sich, so emotionslos wie möglich zusammenzufassen, was sie bereits wusste: »Einer der Forstarbeiter hat sie zufällig entdeckt. Die Leiche war unter einem Berg welker Blätter versteckt. Nicht besonders raffiniert, aber so weit ab vom Weg wäre sie vielleicht nie gefunden worden.«
»Todesursache?« Diese Frage galt dem Gerichtsmediziner, der bereits eine erste Leichenschau vorgenommen hatte.
»Mehrere Schussverletzungen. Der tödliche Schuss ging durch die Schläfe.« Der Arzt deutete mit seinem behandschuhten Finger auf eine kleine kreisförmige Wunde am Kopf der Toten. »Außerdem hat man der Frau noch in den Mund geschossen. Allerdings trat die Kugel direkt an der Wange wieder aus.« Um das zu veranschaulichen, drehte er den Kopf der Leiche, sodass man die aufgerissene Haut sehen konnte. Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Jeweils Ein- und Austrittswunden, was bedeutet, keine Projektile im Körper. Wir werden natürlich trotzdem ein CT machen und das überprüfen, aber ich rate dringend dazu, das Gelände gründlich zu durchsuchen.«
»Wurde sie denn an dieser Stelle erschossen?«
»Nein. Ich nehme an, das geschah auf dem Fußweg und anschließend hat man sie hierher geschleift. Die Kollegen haben Blut neben einem aufgeschichteten Holzstapel entdeckt. Außerdem gibt es Schürfwunden und andere Verletzungen, die darauf hindeuten, dass man sie ins Gebüsch gezerrt hat. Viel werden wir jedoch nicht mehr finden. Wir hatten letzte Nacht starken Regen und es gibt deutliche Spuren von Tierfraß an der Leiche.«
»Was ist mit den Patronenhülsen?«, fragte Heerse in die Runde.
»Bisher nichts«, gab ihm einer der Kriminaltechniker Antwort. »Wir werden alles durchkämmen, aber gut möglich, dass der Schütze sowohl die Hülsen als auch die Geschosse mitgenommen hat.«
»Na prima«, entfuhr es Maren. »Keine Spuren, und unser Superhirn hat sich auch noch nicht blicken lassen«, fügte sie noch genervt an.
Heerse wusste, wem die letzte Bemerkung galt. In den vergangenen Monaten war das Team mehrfach neu aufgestellt worden. Seit etwa fünf Wochen hatten sie eine neue Kollegin, und sehr zu Heerses Bedauern litt seit deren Erscheinen die Harmonie in der Dreiergruppe. Auch er wünschte sich Oberkommissar Müller zurück, aber der war in Vaterschaftsurlaub und versorgte den kleinen Noah, damit seine Frau arbeiten konnte. Maren Teuber und Müller waren erst Freunde gewesen, schließlich ein Ehepaar und vor Kurzem Eltern geworden. Ihre jeweiligen Nachnamen hatten die beiden behalten.
»Was haben wir hier?«, riss ihn die Stimme der neuen Kollegin aus seinen Gedanken.
Der Hauptkommissar hatte sich längst an die etwas militärische Art der Kommissarin gewöhnt. Janina Baer war ehrgeizig und engagiert. Noch fehlte es ihr gelegentlich an Einfühlungsvermögen, aber daran konnte man arbeiten.
Im Gegensatz zu ihm war Maren Teuber weniger verständnisvoll und antwortete schnippisch: »Wir gehen von Mord aus, aber vermutlich sollten wir erst dein Urteil abwarten.«
Janina Baer tat so, als hätte sie die Spitze der Kollegin nicht gehört. Eine Erwiderung konnte sie sich zum Glück sparen, weil in diesem Moment der Gerichtsmediziner sagte: »Ich schätze, die Frau ist seit drei Tagen tot. Die Hitze hat den Fäulnisprozess vermutlich beschleunigt. Genaueres nach der Autopsie.«
»Drei Tage, da muss sie doch jemand vermisst haben«, warf Maren ein. »Vielleicht hat die Vermisstenstelle etwas.«
Heerse stimmte ihr zu und betrachtete die dreckige Kleidung der Toten.
Janina kam ihm zuvor und rief: »Sie trug keinen Schlafanzug oder etwas, das auf die Insassin eines Krankenhauses oder Pflegeheims hindeutet. Das ist normale Straßenkleidung.«
»Richtig«, nahm der Hauptkommissar den Faden auf. »Das scheint mir zudem ein recht kostspieliges Outfit zu sein.« Sein Finger deutete aus der Entfernung auf ein Label am Rock der toten Frau, das sogar einem Modemuffel wie ihm verriet, dass der feine Stoff viel Geld gekostet hatte. »Seht euch die Ringe und die Uhr an, das war offensichtlich kein Raubmord. Man sollte doch annehmen, dass eine Frau, die so gekleidet ist, nicht ohne passende Handtasche aus dem Haus gehen würde«, führte er seine Überlegungen fort.
»Bisher haben wir nichts gefunden«, entgegnete Maren, woraufhin Janina herausplatzte: »Vielleicht wollte der Mörder die Identität der Frau verschleiern. Kein Ausweis, dann der Schuss in den Mund …«
Unwillkürlich blickten die Beamten wieder auf die zerfetzten Lippen der Toten.
»Hätten wir ein Zahnschema der Frau, könnten wir immer noch einen Abgleich machen«, mischte sich der Gerichtsmediziner ein. »Nur die Zähne im rechten Kiefer sind zerstört. Außerdem hat der Täter die Fingerkuppen unversehrt gelassen. Schlampige Arbeit, wenn man die Identität seines Opfers verschleiern will«, fügte der Mann noch an.
Während Maren ihrer Kollegin einen spöttischen Blick zuwarf, wollte Heerse gerade die Anweisung geben, das Gelände gründlich abzusuchen. Aber bevor er die Stimme erheben konnte, erreichte sie eine Meldung. Ein Streifenkollege hatte auf dem Waldparkplatz, etwa einen Kilometer vom Fundort der Leiche entfernt, einen PKW entdeckt.
* * *
»Normalerweise hätte ich das Fahrzeug für unverdächtig gehalten«, erklärte der Uniformierte dem Hauptkommissar kurze Zeit später.
Sie standen vor einer dunkelgrünen Limousine, die sehr gepflegt aussah und bei Liebhabern alter Autos garantiert Entzücken auslösen würde.
»Ist ja ein offizieller Waldparkplatz«, fuhr der Beamte fort. »Allerdings hat mich etwas stutzig gemacht.« Er deutete Richtung Beifahrersitz. Dort stand eine Schale schimmlig gewordener Erdbeeren. »Niemand, der so ein Auto fährt, bewahrt darin vergammeltes Obst auf. Hier gibt es Mülleimer zum Entsorgen. Also dachte ich mir, vielleicht war das Obst frisch, als der Wagen geparkt wurde, aber dann stand es zu lange in der Sonne. Dazu die Meldung von eurem Leichenfund, da wurde ich misstrauisch.« Er zog sein Diensthandy aus der Tasche. »Ich habe das Kennzeichen überprüft und hier …« Er reichte Heerse das Telefon. »Ist das eure Tote?«
Der Hauptkommissar betrachtete das Foto einer Frau auf dem Display. Sie sah gut aus, hoheitsvoll, mochte auf der Aufnahme Mitte sechzig sein, vielleicht sogar älter. Eine Frau, deren Alter schwer zu schätzen war, weil sie eine klassische Schönheit besaß. Dennoch erkannte der Beamte in ihr die Tote im Wald. »Wer ist das?«, fragte er mit belegter Stimme, auch da ihm wieder einmal bewusst wurde, wie vergänglich das Leben doch war.
»Sie heißt Viola Ahlfeld.«
»Ahlfeld?«, entgegnete Heerse perplex.
»Du kennst sie?«, fragte Maren überrascht.
»Nein, das nicht«, antwortete ihr der Hauptkommissar nachdenklich, »aber es könnte sein, dass ich heute einem ihrer Verwandten begegnet bin.«
* * *
»Du bist nicht, was ich mir für mich vorgestellt habe« – ein Satz, der Janina Baer oft durch den Kopf ging. Mittlerweile hatte sie das Gefühl, dass Menschen grundsätzlich so empfanden, wenn sie mit ihr zusammentrafen. Ihr neuer Vorgesetzter schien sie mehr oder weniger zu ignorieren und Maren Teuber versuchte erst gar nicht, ihre Abneigung zu verbergen. Dabei wollte Janina einfach nur ihre Arbeit erledigen, sich beweisen, etwas wiedergutmachen. Lügen waren eine Qual. Sie verstand mittlerweile, warum so viele Verdächtige, wenn sie erst einmal in Polizeigewahrsam waren, einknickten und gestanden. Selbst wenn die Beweislage gegen sie mehr als dürftig war.
Wie befreiend musste es sein, die zentnerschwere Last der Schuld einfach abwerfen zu können und in die Welt hinauszuschreien: »Ja, ich habe das getan, ich war es und es tut mir leid, und jetzt richtet über mich, damit ich wieder atmen kann.«
»Was gefunden?«, unterbrach sie Oberkommissarin Teuber.
Janina lief rot an, sie hatte ihren Tagträumen nachgehangen anstatt der Recherche über Viola Ahlfeld. Sie wusste, dass Heerse auf die Infos wartete.
»Bin noch dabei«, gab sie knapp Antwort. Es sollte beschäftigt klingen, machte aber eher den Eindruck, als würde sie sich gestört fühlen.
»Na dann«, erwiderte Maren unfreundlich und verschwand wieder.
Janina spürte erneut die Feindseligkeit der Kollegin, unterdrückte mühsam das Bedürfnis, darüber nachzugrübeln, und widmete sich ihrer Aufgabe.
Zwanzig Minuten später gab sie bei der Teambesprechung mit klarer Stimme wieder, was sie bisher herausgefunden hatte.
»Die Ahlfelds sind eine Unternehmerfamilie, die anfangs ihr Geld mit dem Holzhandel verdient hat. Zuerst gehörte denen ein kleines Sägewerk, nach dem Zweiten Weltkrieg kam eine eigene Möbelproduktion dazu, und mittlerweile exportieren sie in die ganze Welt. Der Firmensitz ist in Rastatt, aber der Kopf der Familie, Josef Ahlfeld, wohnt hier in Baden-Baden.« Mit monotoner Stimme fuhr sie fort: »Josef Ahlfeld, zweiundsiebzig Jahre, leitet das Unternehmen immer noch. Seit 1996 sitzt der Mann im Rollstuhl. Autounfall, selbst verschuldet, kam von der Fahrbahn ab, als ihm ein Reh vor den Wagen lief. Viola Ahlfeld, unser Opfer, war seine Frau.« Janina verbesserte sich: »Seine erste Frau. Die beiden waren seit zwölf Jahren geschieden. Kinder gibt es keine.«
»Skandale?«, fragte Heerse ein wenig resigniert, als Janina endete. Sicher, sie hatte nicht viel Zeit gehabt, trotzdem hatte er sich mehr als nur diesen dürftigen Bericht erhofft.
Die junge Kommissarin sah ihn hilflos an. Als Maren dann einsprang, verfärbte sich ihr Gesicht dunkelrot.
»Es gab einige Ungereimtheiten bei der Familie Ahlfeld«, erklärte Oberkommissarin Teuber, bemüht, nicht allzu gehässig zu klingen. Eigentlich war sie nicht der Typ für Bürozickereien, aber diese Janina Baer hatte etwas an sich, das sie auf die Palme brachte. »In der Presse gab es Spekulationen über den Unfall – Drogen, Alkohol und so weiter. Aber dafür fehlten Beweise. Einige Monate zuvor ist übrigens der jüngere Bruder Konrad von der Bildfläche verschwunden. Erst galt er als vermisst, dann wurde er elf Jahre später für tot erklärt. Und die Scheidung vor zwölf Jahren war alles andere als einvernehmlich. Angeblich hat Viola ihren Mann für die Trennung teuer bezahlen lassen. Immerhin wurde sie damals zugunsten einer Dreißigjährigen sitzen gelassen. Der Klassiker«, fügte Maren noch an und vermied es, in Janinas Richtung zu blicken. »Viola Ahlfeld lebte seither allein und spielte immer noch die Grande Dame, so zumindest die Klatschpresse im Internet. Das werden sicher interessante Befragungen.«
»Ich habe Ahlfeld auf Manfred Lessigs Trauerfeier kennengelernt. Der Sohn des Verstorbenen, Kalli, hat uns vorgestellt. Ich schätze, das wird eher eine äußerst unerfreuliche zweite Begegnung werden«, murmelte Heerse, der, nachdem sich diese Erkenntnis in seinem Kopf festgesetzt hatte, unbewusst die Schublade aufzog und eine Packung Kekse herausnahm. Sein Gehirn registrierte die Aufdrucke »Vollkorn« und »zuckerreduziert«, was ihn dazu veranlasste, das Gesicht zu verziehen und seinen Kolleginnen bereitwillig davon anzubieten. Beide lehnten dankend ab.
* * *
Kurze Zeit später
Dass Viola Ahlfeld die Abgeschiedenheit gesucht hatte, als sie sich für eine Villa hinter hohen Mauern entschieden hatte, bezweifelte Hauptkommissar Heerse. Das Gebäude lag nämlich in der Baden-Badener Innenstadt, nicht weit entfernt von der Lichtentaler Allee. Was man jedoch feststellen konnte, war, dass genug Schutz gegen neugierige Blicke bestand und die Privatsphäre der Bewohner dadurch bewahrt werden konnte.
Es dauerte eine Weile, bis jemand auf das Klingeln der Polizisten reagierte.
Die Stimme, die durch die Gegensprechanlage nach draußen drang, klang geübt. Nicht unfreundlich, schließlich war man ein vornehmes Haus, aber auch nicht zu nett, sonst wurde man ungebetene Gäste nicht mehr los.
Heerse, ebenfalls vertraut mit solchen Situationen, bat höflich, aber bestimmt um Einlass. Das Haus von Viola Ahlfeld musste durchsucht, die nächsten Angehörigen mussten verständigt und mögliche Zeugen befragt werden. Gerne hätte er diese Dinge von Angesicht zu Angesicht besprochen und nicht mit einer Stimme über einen Lautsprecher verhandelt, aber manchmal gab es eben nur den unangenehmen Weg.
Wenige Minuten später begrüßte ihn in der Villa ein Mann um die vierzig mit den Worten: »Sie sehen mich bestürzt!«
Er deutete mit der Hand in Richtung einer Tür und sagte: »Wir können das gerne im Salon besprechen.« Missbilligend fiel sein Blick auf den Tross Beamter, der hinter dem Hauptkommissar eintrat.
»Die Kollegen von der Spurensicherung müssen sich hier umsehen, wer ist noch anwesend?«, fragte Heerse daraufhin und der Angesprochene erwiderte irritiert: »Niemand außer mir.«
Nach seiner Funktion und seinem Namen befragt, entgegnete er: »Ich bin Stefan Weiser und ich verwalte das Anwesen für Frau Ahlfeld.« Gekünstelt riss er die Hände in die Höhe und sagte: »Die arme Frau, wer hat ihr das nur angetan?«
»Um das herauszufinden, sind wir hier«, antwortete ihm Heerse knapp und nahm das Angebot an, das Gespräch im Salon weiterzuführen.
Während Maren die Kriminaltechniker begleiten sollte, war es an Janina Baer, mit Heerse zusammen die Befragungen durchzuführen. Sie fühlte sich nicht wohl in der Gegenwart von Stefan Weiser. Er sah gut aus, und gut aussehende Menschen verunsicherten die Sechsundzwanzigjährige.
Wieder jammerte Weiser: »Die arme Frau Ahlfeld, das hat sie nicht verdient.«
»Sie haben Ihre Arbeitgeberin gemocht?«, fragte Heerse harmlos.
»Selbstverständlich«, brauste Weiser auf. »Sie war ein wunderbarer Mensch.«
»Aber nicht so wunderbar, dass es sich gelohnt hätte, sie zu suchen, nachdem sie drei Tage nicht mehr zu Hause gewesen war.«
Der Hausverwalter schnappte nach Luft und wurde kalkweiß. Plötzlich wirkte er angespannt und stammelte: »Ich bin hier nur angestellt, kümmere mich um Reparaturen und den Gärtner, mir steht es nicht zu, Frau Ahlfeld zu überwachen.«
»Ihre Arbeitgeberin ist plötzlich verschwunden und Ihnen ist das nicht aufgefallen?«, wurde der Hauptkommissar deutlicher.
Weiser verzog das Gesicht. »Also schön, vielleicht ist das Wort wunderbar ein wenig übertrieben gewesen«, wand er sich heraus. »Bisweilen sind ältere Damen der Gesellschaft anstrengend.« Er grinste und Janina zuckte zusammen. Sie kannte diesen Ausdruck, den man als charmant bezeichnen konnte, der aber bei genauer Betrachtung auch etwas Verschlagenes hatte.
»Mein Dienst beginnt morgens um neun, offenes Ende, je nachdem, was anliegt. Wenn es etwas zu erledigen gibt, mich Frau Ahlfeld als Chauffeur braucht oder Berater, hinterlässt sie mir eine Notiz auf meinem Schreibtisch. Die letzten Morgen lag da nichts und ich habe mich nicht beschwert, konnte früher Feierabend machen. Ich wohne im ehemaligen Pförtnerhaus am Ende des Grundstücks.«
»War es denn normal, Frau Ahlfeld mehrere Tage lang nicht zu begegnen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich sagte doch, sie konnte manchmal schwierig sein.«
Heerse wurde ungeduldig. »Sie sollten schleunigst ein bisschen konkreter werden«, ermahnte er den Mann. »Wir untersuchen einen Mordfall, die Angelegenheit ist ernst.«