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Text und Coverfoto: © Copyright by Björn Blaak

Herstellung und Verlag

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7460-2231-4

Das nervte Jared: Männer in blauen Overalls standen hinter der Theke und schraubten, montierten und lärmten gleichzeitig. Er war der einzige Gast an diesem Morgen im Fastfood-Restaurant. Sein Blick fiel durch die großen, schlecht geputzten Fenster. Davor huschten Autos vorbei Richtung Autobahn. Pendler, Monteure, Lkw, Pkw, alle eilig, alle alleine. Vor ihm dampfte ein Kaffee. Daneben stand sein Notebook, aufgeklappt, wartend. Er konnte sich nicht recht konzentrieren. Für die größte ortsansässige Tageszeitung musste er einen Artikel über die hohen Kosten eines Straßenbauprojektes schreiben. O-Töne dazu hatte er bereits auf der am Vorabend abgehaltenen Ortsratssitzung gesammelt, nun musste drum herum noch ein lesbarer Text entstehen - mit entrüstetem Grundton. Er sollte aufregen, sagte der Chefredakteur, der Jared den Auftrag gegeben hatte. Zumindest sollte er mehr aufregen, als der Artikel der Konkurrenz, der kostenlosen Anzeigenblätter, die der Bezahlzeitung so nach und nach den Garaus machten. Der Leser sollte am Ende des Artikels zumindest kopfschüttelnd zur nächsten Seite umblättern. Dorthin, wo die wahren Skandale des Universums stattfanden, zum Boulevard. Jared hasste Boulevard. Er hasste Promigeschichten, auch wenn prominente Verfehlungen anscheinend immer Konjunktur zu haben schienen. Seriöse Berichterstattung anscheinend nicht mehr. Er fragte sich immer wieder, warum Tageszeitungen überhaupt noch funktionierten? Warum Gedrucktes vom Vorabend lesen, wenn die Welt sich doch schon Stunden weiter gedreht hatte, und im Internet alle Storys längst weiter gestrickt worden waren. Es gab nie einen neuesten Stand in der Zeitung. Es waren immer Geschichten aus der Vergangenheit. Es ist so, als würde nur über die erste Halbzeit eines Spiels berichtet, obwohl alle anderen längst das Endergebnis wissen. Jared nippte an seinem Kaffee. Er erinnerte sich, was ihm ein Verleger einmal erzählt hatte, er würde das haptische Erlebnis des Zeitungslesens nicht missen wollen. Scheiß drauf, dachte Jared, sich den Hintern abwischen, ist auch ein haptisches Erlebnis. Und das Erstaunliche war, dass beides für'n Arsch ist, schloss Jared seinen Gedankengang ab. Niemand hätte behaupten können, Jared wäre an diesem Morgen guter Laune gewesen. Doch, war er das je? Er liebte seinen Job. Journalist zu sein, das war sein Ding. Was die Verlage allerdings daraus gemacht haben, nicht. Sie schafften den Beruf, ohne große Not, einfach ab, und schaufelten ihm und sich ein Grab - ein tiefes, eines aus dem sie nicht mehr auferstehen würden. Und sie gruben verdammt schnell.

Die Männer in den Overalls hantierten unverdrossen weiter. Ihnen war die Zukunft der Zeitung sicherlich wurscht. Hauptsache ihre „Bild“ war davon nicht betroffen, mutmaßte Jared. „Was soll dieser Lärm?“, fragte Jared schließlich Steffen, der seine langen Haare zum Pferdeschwanz gebunden hatte. Steffen, Jareds Freund seit Schultagen erklärte, dass eine neue Fritteuse eingebaut werden sollte. „Eine E-Fritteuse“, fügte er noch hinzu. Maulig gab Jared zur Antwort, dass ihm dass ziemlich „egal“ war und dass er keine Ruhe finden würde, um zu arbeiten. „Ein Fastfood-Restaurant ist nun einmal kein Kloster“, antwortete Steffen und ließ Jareds miese Laune einfach abprallen. Jared war die Lust auf den geselligen Morgen vergangen. Er klappte sein Notebook zusammen, verstaute es im Rucksack, und gerade als er aufstehen wollte, vibrierte sein Smartphone auf dem Tisch. Jared wischte über das Display und meldete sich: „Jared Textfabrik, guten Tag“. Jenen Namen hatte er sich gegeben, als er sich selbstständig machte, in einer Zeit, als selbstständig noch nicht mit Doppel-st geschrieben wurde. Unter dem Namen ging er seinem Beruf als freier Journalist nach und schrieb für Zeitungen, Magazine, auch Reden und manchmal redigierte er sogar Bücher. Auch an Drehbüchern hatte er sich versucht, hatte aber schnell die Lust daran verloren, sinnfreie Dialoge für eine „Scripted-Doku" für das Vorabendprogramm zu schreiben. Auch wenn man als Einzelkämpfer in einer Branche die zu implodieren droht nicht wählerisch sein durfte. Sein Job war nun einmal, Buchstaben zu Geld zu machen, egal in welcher Reihenfolge sie gewünscht waren oder was sie ausdrücken sollten. Doch Leute an der Nase herumführen wollte er nicht.

Die Stimme aus dem Smartphone stellte sich kurz vor. Man wurde sich schnell einig, sich zu duzen. Ein gewisser Ulrich war am anderen Ende und erzählte, dass er von einem Freund Jareds Telefonnummer bekommen hatte. Er fuhr fort, dass er möglicherweise einen Auftrag für ihn habe. Jared wollte mehr wissen, konnte Ulrich aber nicht überreden, mehr zu verraten. So verabredeten sie einen Termin. Jared sollte zu seinem Kunden in spe kommen, damit er Genaueres erfahren würde. Die Adresse verriet, dass es sich um einen Vorort handelte. Jared stimmte zu und legte auf. Er nahm einen weiteren Schluck Kaffee, zog seinen analogen Kalender aus dem Rucksack, einen mit echten Papierseiten, und notierte den Termin. Dabei fiel ihm auf, dass an dem Tag ansonsten noch nichts zu Buche stand. Das war kein gutes Zeichen, denn nicht nur der Tag entbehrte Termine. Normalerweise benötigte er um die 20 Aufträge im Monat um finanziell irgendwie über die Runden zu kommen. Danach sah es in diesem Monat jedoch nicht aus. Zum Glück, resümierte Jared beim Blick auf die überwiegend leeren Seiten seines Kalenders, musste er noch für die Bürgermeisterin einer Samtgemeinde eine Rede schreiben. Sie war neu im Amt und hatte per Annonce einen Redenschreiber gesucht, der auch ein wenig die PR für die Gemeinde übernehmen konnte. Zwar hatte Jared nicht wirklich Ahnung von PR, aber er konnte das ganz gut verschleiern, weil während des Vorstellungsgespräches herauskam, dass seine Gegenüber die auch nicht hatte. Das Vertrauen der Bürgermeisterin resultierte demnach aus purer Unwissenheit. Doch Unwissenheit und Politiker waren in Jareds Augen ohnehin eineiige Zwillinge. Nun stand Jared wirklich auf. Er winkte Steffen im Hinausgehen zu. "Bis morgen", rief Steffen über den Lärm der Blaumänner hinweg.

Draußen schien Jared die Sonne ins Gesicht. Sie stand noch recht tief, sodass er geblendet wurde. Er setzte seine Sonnenbrille auf und lief auf sein Auto zu, das am hinteren Ende des Parkplatzes stand. Er musste also die gesamte Fläche kreuzen. Gerade als er sein Auto erreichte und die Fahrertür öffnen wollte, sah er über das Dach des Fahrzeuges, wie ein übergewichtiger Mann schnaufend auf ihm zukam. Solch einen Typ musste Herbert Grönemeyer gemeint haben, als er den Song „Was soll das?“ schrieb, überlegte Jared noch, als der Mann ihn ansprach:

„Ist das Ihr Wagen?“, fragte er.

„Ja, wieso?“, antwortete Jared. „Haben Sie eine Beule rein gefahren?“

“Wenn, dann eine Delle", erwiderte der Mann mit glänzendem Gesicht. „Keine Sorge, habe ich nicht. Ich sah nur gerade ihren Aufkleber an der Tür. Sie schreiben Texte?“

„Wenn, dann ein Magnet“, antwortete Jared spitz.

„Bitte?“ Der Mann zog die Augenbrauen zusammen.

„An der Tür, das ist ein Magnet, kein Aufkleber.“

„Aha. Na, wie dem auch sei. Sie schreiben Texte?“

„Ja“, Jareds Antworten wurden zunehmend kürzer.

Der Mann öffnete per Fernbedienung die Kofferraumklappe seines Audis, der direkt neben Jared parkte und holte eine Zeitschrift heraus. Er drückte Jared das Magazin mit dem Namen „Glimmer“ in die Hand. Eines voller Hochglanzbilder und, wie Jared vermutete, PR-Texten. Jared las pflichtschuldig ein wenig darin herum, weil der Mann ihn erwartungsvoll anschaute. Jareds Blick aber ging über den Zeitschriftenrand hinaus auf den hochglänzenden Audi des Mannes. „Weiße Sitze, das sagt doch alles“, sagte Jared durch die Zähne. Der Mann wie ein Schwamm hörte das nicht, weil er zur gleichen Zeit ein Telefongespräch annahm. „Gott, was für ein mieses Blatt und überflüssig. Überflüssiger, mieser Hochglanz“, dachte Jared und suchte die Seite mit dem Impressum. „Herausgeber: Klaus-Dieter Wollschläger“, las er darin. Schaumschläger wohl eher“, bemerkte Jared trocken. Wollschläger hatte auch das Editorial geschrieben und nannte sich zusätzlich noch Chefredakteur und V.i.S.d.P. Das Bild neben dem Editorial hatte nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Parkplatz. Jünger war er auf dem Bild und Dank einer Menge Schatten darauf auch schlanker. Auf der U2 machte derselbe Mann Werbung für sein eigenes Buch. „,Ich, du, er_folg’ - Na, supi, weiße Sitze lügen nicht.“

„Bitte?“ Plötzlich stand der Mann hinter Jared. Der erschrak und stammelte: „Weise Sätze…“, sagte er unvollkommen und wollte das Magazin wieder zurück geben.

„Meinen Sie, Sie können so etwas auch?“ fragte der Mann, der sich noch immer nicht vorgestellt hatte. Er blinzelte Jared an. „Warten Sie…“, er ging wieder an seinen Kofferraum und fingerte eine Visitenkarte heraus. „Und?“ „Und was“, fragte Jared, „ob ich auch schreiben kann? Selbstverständlich.“ Auch er zog eine Visitenkarte heraus. Allerdings nicht aus dem Kofferraum, sondern aus seiner Jackentasche. Was gut war, denn in seinem Kofferraum lag eine Menge unsortierter Kram, der alles machte, nur keinen guten Eindruck. Auch hätte er die Klappe von Hand öffnen müssen. Eine Fernbedienung war damals, vor einer Dekade, noch nicht im „Lieferumfang“ seines Autos enthalten. Und er wollte nun nicht abstinken gegen den Herausgeber, Chefredakteur und Buchautor in Personalunion.

So hielten beide ein Kärtchen in der Hand und der Mann, den die Karte nun tatsächlich als Wollschläger auswies, drückte ihm die Hand zum Abschluss. „Ach, übrigens, wissen Sie, was Erfolg ist?“, fragte Wollschläger beim Einsteigen in sein blitzendes Gefährt „Nein“, antwortete Jared, und bereute das auch gleich. „Das sieht man“, sagte Wollschläger und deutete mit dem Kopf auf Jareds Auto. Wollschläger grinste breit und sein Wagen rollte an. „Melden Sie sich bei mir“, sagte er durch die heruntergelassene Scheibe, fuhr los und quietschte um die Ecke. Jared antwortete nicht, weil Wollschläger das ohnehin nicht mehr gehört hätte und blieb auf dem Parkplatz zurück. Die Männer in den blauen Latzhosen bestiegen einen Transporter und machten sich ebenfalls vom Hof. Jared hielt noch immer das Magazin und die Visitenkarte in den Händen. Gerne hätte er beides in die Mülltonne neben ihm geworfen. Aber, wenn sich ein Auftrag anbahnte, sollte man Gefühle besser außen vor lassen, dachte er sich, warf das Magazin und die Visitenkarte auf den Beifahrersitz, stieg in sein Auto und dachte: „Der Parkplatz ist der neue Golfplatz.“

Am Ketchup-Hersteller vorbei“, hatte Ulrich gesagt, als er ihm am Telefon den Weg zu sich erklärte, „und dann die zweite links.“ So oft war Jared schon in jene Richtung unterwegs gewesen, dass es dort einen Produzenten für Tomatensoßen gab, war ihm dennoch völlig fremd. Wie blind er doch oft war. Ein Leben voller Scheuklappen, sinnierte er, als das Telefon klingelte. Fahren und telefonieren zur selben Zeit kann teuer werden, überlegte er, suchte sich eine Einfahrt an der Landstraße und fuhr rechts ran. Auch eine Freisprechanlage gehörte damals noch nicht zur Ausstattung seines Wagens. Er stellte das Radio leiser und meldete sich wieder ganz geschäftsmäßig mit „Jared Textfabrik“. Er legte die Stirn in Falten, so als hätte er nicht recht verstanden, was er hörte. Um sicher zu gehen, fragte er noch einmal nach: „Susan? Du bist es wirklich? Wie komme ich denn zu der Ehre? Schön von dir zu hören. Bin auf dem Weg zum Kunden. Keine Ahnung, eine Stunde. Worum geht es? O. K., wenn ich da durch bin, melde ich mich“, waren Jareds Anteile an dem Gespräch. Er legte auf und war ehrlich überrascht. Susan, die inzwischen den Status einer blassen Erinnerung in seinem Leben angenommen hatte, war auf einmal wieder direkt und voller Farbe in seine Gedankenwelt gesprungen. Jared kniff die Augen zusammen, so als würde das die Gedanken an früher schärfen. Und ohne lange nachdenken zu müssen, tauchten überall in seinem Hirn Erinnerungen auf. Jared genoss das Kopfkino, das ihn geradewegs in das Fußballstadion führte: Es waren die 1980er-Jahre. Sein Verein spielte damals in der zweiten Liga und er hatte einen Job im Stadion ergattert. Gemeinsam mit Steffen hatte er unter der Treppe zur Nordgeraden Sitzkissen für die Tribüne verkauft. Dafür hatte er einen kleinen Verschlag unter der Treppe zugewiesen bekommen, darin die Kissen. Zu jedem Spiel baute er davor einen Tisch auf und wartete auf Kunden, die keinen kalten Hintern bekommen wollten. Nach Spielschluss musste er dann die Kissen wieder einsammeln und zurück in den Verschlag bringen. Susan war dabei immer in seiner Nähe. Erst unsichtbar, nach wenigen Spieltagen bekam sie für ihn jedoch so langsam Konturen. Sie verkaufte, unweit von Jareds Kissendepot in einem Imbisswagen Bratwürste. Und so kamen sie sich Spiel für Spiel näher. Erste Blicke, alberne Scherze und nach ein paar Wochen Spielzeit half Susan Jared bereits nach dem Spiel die Sitzkissen wieder einzusammeln. Und während Jared jene Sammeltätigkeit am Anfang der Saison noch hasste, konnte es Ende der Spielzeit gar nicht genug Kissen auf den Rängen geben. Sie sammelten die Kissen gemeinsam aus Bierlachen und Senfhaufen ein, klaubten sie unter den Sitzen hervor und trugen Stapel um Stapel die Treppen hinunter zum Verschlag. Sie hatten viel gelacht dabei, denn die glatten Kissen, zu akkuraten Stapeln aufgerichtet, rutschten immer wieder auseinander. Erste zufällige Berührungen waren die Folge und das erste spontane Zurückweichen ebenfalls. Es dauerte aber fast eine ganze Saison, bis es zum ersten Kuss zwischen beiden kam. An jenem Abend waren an den Flutlichttürmen nur noch wenige Lampen eingeschaltet, wie es immer war, wenn das Publikum gegangen war und die guten Geister des Stadions wieder für Ordnung sorgten. Susan und Jared hatten sich kurz zuvor in den Armen gelegen, spontan, umgeben von über 30.000 Menschen die, wie sie auch, sich freuten, dass ihr Verein den Wiederaufstieg in die erste Liga geschafft hatte. Bei Jareds stürmischer Umarmung, die mehr dem Aufstieg als Susan galt, kamen sie sich zum ersten mal richtig nahe und spürten nicht nur ihre Körper aneinandergepresst, sondern auch, dass es ein Mehr für sie geben musste, als Sitzkissen einzusammeln. An dem Abend verließen sie das Stadion zum ersten Mal Hand in Hand. Um sie herum taumelnde Fußballfans, die den lauen Abend und den Aufstieg ausgelassen feierten. Susan und Jared setzten sich an den Deich, der zum Stadion führte, schauten auf den Fluss, die Menschen, die letzten Lichtstrahlen aus dem Stadion und ihre Lippen fanden zueinander.

Das Haus war nicht sehr modern. 1950er-Jahre vielleicht. Nachkriegsbau, schmucklos, zweckmäßig, so jedenfalls Jareds erster Eindruck. Die Einfahrt war von der Hauptstraße nicht gut zu erkennen, sodass Jared auch direkt daran vorbeifuhr. Vor einem Reiterhof musste er wenden und traf die Auffahrt dann im zweiten Anlauf. Diese führte von der Landstraße recht steil nach unten. Er rollte sie langsam hinab, stellte seinen Chrysler vor ein offenes Garagentor, holte seinen Notizblock heraus und steckte neue Visitenkarten nach. Er stiefelte um das Haus herum, bis er direkt davor stand. Jared klingelte. Der kleine Vorgarten war verkümmert. Keinerlei Blumen oder sonst etwas Ansehnliches. Nicht einmal Gras hatte überlebt. Nur staubtrockene Erde. Rechts vom Haus war der Reiterhof. Eine kleine Anzahl Islandpferde graste auf saftigem Grün, kaute langmütig und verscheuchte die Insekten mit ihren Schweifen. Ein kleines Mädchen sattelte eines der Tiere. Wieder ratterte ein Lkw dicht am Haus vorbei. Die Gartenpforte wackelte. Jared klingelte erneut, sah auf die Uhr und schaute sicherheitshalber noch einmal in seinen Kalender, ob mit dem Termin alles stimmte. Jared drehte sich von der Tür weg und sah den nächsten Laster über die Bundesstraße rattern. Auf der anderen Spur heulte ein Motorrad stadteinwärts. Jared setzte sich auf die Stufen vor dem Haus. Sollte er warten?

Mit einem Tritt kickte Ulrich die dreckige Wäsche in das Schlafzimmer und zog die Tür zu. Danach hetzte er in die Küche und räumte schnell das Geschirr beiseite. Er stopfte alles in den Geschirrspüler, kippte Getränkereste weg und schmiss leere Bierdosen, die noch auf dem Wohnzimmertisch standen, aus dem Fenster zum Hof. Schnell sprang er in seine Jeans und warf die Jogginghose die Treppe hinauf. Wieder klingelte es. Er hatte den Chrysler auf den Hof fahren sehen und ihm war klar, dass er sich vollkommen in der Zeit verzettelt hatte. „Scheiß Nachtschicht“, zischte er. Jedes Mal brachte sie ihn aus dem Rhythmus. Er warf noch einen letzten Blick durch das Untergeschoss seines Hauses. Ja, so würde es gehen. Er öffnete die Tür.

„Oh, Hallo, ich dachte schon, ich hätte mich mit dem Termin vertan. Du bist Ulrich?“, fragte Jared während er aufstand.

„Ja, entschuldige, dass du warten musstest. Ich hatte noch ein Telefonat“, gab Ulrich als gelogene Antwort. „Macht ja nix, nun hast du ja aufgemacht“, Jared war froh, dass der Termin nun stattfinden konnte. „Komm doch rein“, bat Ulrich und ging voran. Jared folgte ihm. Das Haus erschien ihm wie eine dunkle Höhle, die vom Sonnenlicht draußen so überhaupt nichts abhaben wollte. Der Flur war lang und schmal. Die Garderobe voll gehängt, davor diverse Schuhe. Der Geruch war alt. Altes Haus, altes Essen, alte Luft. „Garantiert Single“, fuhr es Jared durch den Kopf.

„Tschuldige das Chaos. Ich komme zu nichts.“

„Immerhin hast du es doch geschafft, die Tür zu öffnen“ ließ Jared tonlos fallen und schaute sich weiter um, während er Ulrich folgte. Alle Türen, die vom Flur abgingen, waren verschlossen. Nur ganz am Ende fiel ein wenig Licht in den schlauchartigen Raum. „Wie in Indien“, sagte Jared zu seinem Vordermann, „es wird Licht am Ende des Ganges…“

Ulrich ging auf jenen Kalauer nicht ein. Vielleicht hatte er ihn auch nicht gehört. Jedenfalls reagierte er nicht darauf. Ulrich bog nach links ab. Jared folgte ihm. Der enge Flur löste sich in eine große Küche auf. Eine chaotische Küche. Überall stand irgendetwas herum. Leere Flaschen, Safttüten, Cornflakes und mitten auf dem Esstisch flimmerte ein aufgeklapptes Notebook, umrahmt von Papierstapeln. Der Fliesenboden klebte, sodass die beiden Männer mit jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch von sich gaben. Ulrich ging darauf nicht weiter ein, und Jared wollte nicht wirklich wissen, was es nun genau war, was da unter den Füßen klebte. Es war eine Wohnküche, also eine, an die sich das Wohnzimmer direkt anschloss. Das wurde dominiert von einer schweren, schwarzen Ledersitzgarnitur. In der Ecke stand ein riesiger Flachbildschirm. Ansonsten war der Raum nur spärlich eingerichtet.

„Willst du was trinken?“, fragte Ulrich.

„Wasser wäre nicht schlecht“, bestellte Jared.

„Kein Problem“, befand Ulrich und zog eine Flasche Wasser aus einer Getränkekiste, die unter dem Küchentisch stand.

Dann ging er zum Schrank und suchte zwei Gläser.

Direkt aus dem Wohnzimmer wand sich eine Wendeltreppe in ein oberes Stockwerk. Jared schaute in das Dunkel und fragte: „Du wohnst allein?“

„Ja. Nimm Platz“, sagte Ulrich und deutete auf einen der Küchenstühle.

„Also, du hast es ja mächtig spannend gemacht am Telefon“, brachte Jared das Gespräch direkt auf den Punkt und fragte:

„Erzähl, was ist es, das ich für dich tun kann?

„Nun“, Ulrich druckste herum und sah Jared aus den Augenwinkeln an. „Nun, was?“, bohrte Jared

Ulrich trank zwei Schlucke hintereinander: „Ich brauche deine Hilfe, um…“, wieder stockte Ulrich.

„Um?“ Jared schaute Ulrich direkt an. Mit wem hatte er es da eigentlich zu tun? Ein Mann, dem lediglich ein Haarkranz geblieben war. Jared schätzte ihn auf 50 Jahre, große Hände und sanfte Augen.

„Ich soll etwas für dich schreiben?“ versuchte Jared den Weg zu ebnen. Dabei sah er, dass auf dem Tisch ausgedruckte Frauenfotos lagen. Auf dem Blatt, das ihm am nächsten lag, las er „hanna17“ und darunter einen Steckbrief: „Ich bin ein waschechter Skorpion, leidenschaftlich…“ Jared wusste nicht recht, ob er das sehen durfte. Er las nicht weiter, weil Ulrich endlich die Sprache wiedergefunden hatte. Mit leiser Stimme sagte er: „Ich würde gerne eine Frau kennen lernen.“

Damit hatte Jared nicht gerechnet und begegnete: „Und dann lädst du mich ein?“ In Jareds Kopf ratterte es. „Was ist das denn für ein Typ, Was will der von mir?“

„Ich…bin…seit kurzem… bei DateMade registriert…“, kam es kleinlaut aus Ulrich.

„Wo?“ wollte Jared wissen.

„DateMade, das ist eine Internetplattform für Partnersuche“ erklärte Ulrich mit unsicherer Stimme.

„Früher hieß so was Autoskooter“, machte Jared ein Scherzchen, auf das Ulrich allerdings nicht weiter einging.

Es schien, als hätte er nicht zugehört. Er nahm noch ein Schluck Wasser und führte fort: „Ich habe da auch schon einige Frauen im Auge, aber ich kann das mit dem Schreiben nicht. Also, nicht so gut. Ich brauche Stunden dafür, um einen kleinen Text runterzutippen.“

„Und was genau soll ich tun?“ fragte Jared erneut nach.

„Na ja, ich dachte, ich sag dir, was ich gerne geschrieben haben möchte. Und du machst da dann einen Text draus.“

Ulrich fühlte sich anscheinend nicht ganz wohl in seiner Haut. Es fiel ihm nicht gerade leicht, zuzugeben, dass er als erwachsener Mann nicht fähig war, ein paar einfache Sätze zu schreiben. Jared war Profi genug, darauf auch nicht weiter herumzureiten. Er fragte stattdessen: „Und wie soll das vonstatten gehen?

Ulrich suchte drei der ausgedruckten Steckbriefe und die passenden Gesichter dazu vom Tisch, legte sie vor Jared hin und rückte dichter an ihn heran. Jared las nun offiziell von „hanna17“ und dass sie ein waschechter Skorpion sei. Es gab auch noch „lady1228“ und eine weitere Dame. Alle um die vierzig und auf der Suche nach ihm. Also, nicht unbedingt Ulrich, sondern nach dem, den sie sich unter seinem Nicknamen schön dachten. Sein Profil „deichkind1111“ hätte ihm seine Schwester geschrieben, erklärte er, wohl wissend, welche Frage Jared gerade stellen wollte.

„Das Profil muss aber auch neu“, sagte Ulrich ansatzlos.

Jared lehnte sich in seinem Stuhl zurück und atmete hörbar aus. „Und wie soll das gehen, also was soll ich denen schreiben?“, wollte er wissen.

„Du musst ein bisschen auf das eingehen, was sie geschrieben haben und dann kannst du ja das Gespräch auf ein Treffen bringen. Irgendwo auf einen Kaffee. Am besten nicht so weit weg von hier“, Ulrich fasste ein wenig mehr Mut, von seinem Plan zu berichten.

Jared allerdings konnte ihm nicht so recht folgen, wollte es vielleicht auch nicht. „Ein Treffen?“ wiederholte er. „Gleich mit der ersten Antwort. Du verlierst ja keine Zeit.“

„Ich will nicht so lange schreiben. Ach so, und baue ruhig ein paar Fehler ein. Sonst erkennen sie vielleicht schnell, wenn sie sich später mit mir unterhalten, dass ich das nicht geschrieben habe“, fügte Ulrich hinzu.

Jared staunte. Das war das erste Mal, dass ein Auftraggeber ihm sagte, dass er ruhig Fehler machen dürfte.

„Wie gehst du jetzt vor?“ wollte Ulrich, nun bereits voller Ungeduld, wissen.

„Ich weiß nicht. Am besten mache ich dir Textvorschläge, in denen du dann ruhig herum verbessern kannst und dann stellst du das selbst online“, goss Jared den Auftrag in Form.

„Und wenn sie antwortet, schicke ich dir das gleich weiter. Dann kannst du wieder die Antwort schreiben“, fügte Ulrich ungeduldig hinzu.

Als Jared aus dem dunklen Hausflur trat, donnerte wieder ein Lkw vorbei. Die Sonne schien noch immer. An der Gartenpforte drehte er sich noch einmal um. Die abblätternde Farbe der Tür passte gut zu dem Rest des Hauses und seinem Besitzer. Nebenan auf dem Reiterhof saß das Mädchen inzwischen hoch zu Ross und drehte seine Kreise. Der Chrysler stand im Schatten der Garage und wartete geduldig. Jared stieg ein und wusste nicht so recht, wo er anfangen sollte zu denken. Er ließ den Motor an und rollte die Auffahrt hinauf. Am Fenster sah er Ulrich stehen, der ein wenig unschlüssig winkte. Jared lenkte den Wagen auf die Straße und wurde dort von einem herannahenden Lkw mit lautem Hupen begrüßt. Vom Schrecken geküsst, fuhr er zurück Richtung Stadt. An einem Kreisverkehr zwischen Autohaus, Tankstelle, Wohnhaus und Bäcker dachte er an Ulrich. Er kramte während der Fahrt Ulrichs Profiltext hervor. Er überflog ihn nur und fühlte sich unbehaglich, solch private Details kennen zu lernen, die nicht für ihn bestimmt waren: „Weltoffen“ und „kulturell interessiert“ textete seine Schwester für und über ihn.

„Kinderwunsch“ sei vorhanden", „Humorvoll“ gab er sich und auch „sportlich“. Er wolle keine Affäre, sondern etwas Festes. Es hupte. Hinter Jared gestikulierte ein Mercedesfahrer. Jared hielt den Verkehr auf. Also lenkte er sein Auto auf den Parkplatz des Bäckers, holte sich einen Kaffee und setzte sich an einen Tisch auf der Außenterrasse.

Er blickte auf den Kreisverkehr und auch seine Gedanken begannen zu kreisen. Er überlegte, ob das wohl der außergewöhnlichste Auftrag seines Texter-Daseins war?

Nicht ganz, resümierte er.

Vor ein paar Jahren kam er auf einer Journalisten-Tagung mit einem Mann ins Gespräch, der ihm am Ende der Zusammenkunft eine Visitenkarte in die Hand drückte und den Auftrag an ihn richtete, ein paar Zeilen Text für einen Bildband beizusteuern. Jared willigte ein und war überrascht, wie viel Geld es dafür geben sollte. Als er ein paar Tage später die Adresse auf der Visitenkarte aufgesucht hatte, befand er sich mitten im Hafengelände. Ein kleines Messingschild auf einer unscheinbaren Holztür verriet nur "E. Rotik Verlag". Blöder Name dachte Jared als er klingelte. Über ihm kreischten ein paar Möwen und die Luft stank nach Fischabfällen. Große Kühltransporter standen dröhnend am Straßenrand und warteten auf Ladung.

Eingangs der Straße gab es ein Eiswerk. Der Türsummer brummte. Jared drückte die Tür auf und kletterte viele Stufen hinauf. Oben angekommen, begrüßte ihn ein Anzugträger mit schütterem Haar und bat ihn in ein Besprechungszimmer. Jared nahm das Angebot, einen Kaffee zu trinken, gerne an. Die Fenster waren geöffnet und so konnte er die Möwen auch weiterhin kreischen hören. Er schaute hinaus. Auf der anderen Straßenseite stand ein kleines Rauchergrüppchen vor einer Schuppentür. Ein Gabelstapler ratterte durch die Straße. Die Tür öffnete sich und eine Frau mit Leder-Minirock und tief ausgeschnittenem T-Shirt auf dem „all we have is now“ stand, brachte ein Tablett herein. Darauf eine Tasse Kaffee, Zucker, Milch und Gebäck. Sie stellte es geräuschvoll ab und lächelte Jared an.

„Herr Dieter kommt gleich“, sagte sie mit starkem osteuropäischen Akzent. Vielleicht sagte sie auch "Nieder mit Frankreich". Der Lederrock samt darin befindlicher Frau quietsche nach draußen. Jared packte sich ein paar Stückchen Würfelzucker in den Kaffee und rührte um. Er nahm die Tasse und ging wieder zum Fenster zurück Die Rauchergruppe hatte sich aufgelöst, die Filter aber nicht. Sie lagen im Halbkreis vor der Tür. Einer qualmte sogar noch.

„Guten Tag Herr, Entschuldigung, wie war noch gleich Ihr Name?“

„Jared reicht.“

„Also, Herr Reicht. Unser Verlagsleiter hatte Sie ja bereits involviert…!“ redete Herr Dieter auf Jared ein. Er sprach schnell und hatte ein Timbre, das Widerspruch nicht duldete.

„Nur, insofern, dass ich einen Bildband texten soll“, erwiderte Jared.

Herr Dieter zog die Augenbrauen hoch: „Ach, mehr hatte er Ihnen nicht erzählt.“

„Doch, die Adresse hier nannte er mir auch“, gab Jared flapsig zurück.

Herr Dieter schüttelte daraufhin den Kopf, ging zum Telefon und drückte einen Knopf: „Dieter hier, sag mal Schätzchen, wo ist Ernst? Wo? Auf der Messe?“ Herr Dieter legte auf.

„Gut, es handelt sich nicht wirklich um einen Bildband im klassischen Sinne“, begann er zu erklären. Nur wenig später hatte Jared den Auftrag in der Tasche, Pornos zu texten. Und er wusste noch zu gut, dass jener Job ihn ins Schwitzen gebracht hatte.

Plötzlich fiel ihm Susan wieder ein, und die Pornogeschichte wanderte wieder in die große Schublade der Erinnerungen.

Sie hatten ja vereinbart, dass er sie wieder anrufen soll.

Jared drückte die Rückruffunktion seines Smartphones. Es klingelte. Dreimal. Doch nicht Susan ging ans Telefon, eine Männerstimme sagte:

„Hallo?“

„Hier ist, ähm, bin ich nicht bei Susan Remar?“ Jared fiel auf, dass er, sollte sie geheiratet haben, gar nicht ihren aktuellen Nachnamen kannte. Hieß sie noch immer so wie früher, Remar?

„Wer ist denn da?“, wollte die Männerstimme wissen.

„Ein alter Freund von Susan.“ Jared wusste nicht, ob er das hätte sagen sollen. Auch wusste er nicht, ob er besser hätte lügen sollen. Seine Rufnummer war aber sowieso nicht unterdrückt und so hätte der Mann den Anruf ohnehin zurückverfolgen können. Also fuhr er fort: „Sind Sie ihr Mann?“

„Der bin ich.“ Die Stimme klang gereizt.

Jared schluckte. Ein Zurück gab es ohnehin nicht mehr.

„Ihre Frau hatte mich angerufen“, Jared zog die Wörter auseinander. „Vielleicht wollte sie etwas Geschäftliches…?

Ich meinte, es geht ganz bestimmt um etwas Geschäftliches…“ „…Ich weiß von nichts. Ein alter Freund? Wie alt?“

unterbrach Jareds Gesprächspartner.

„So alt, wie alt eben ist. Lange her. Sehr lange. Und auch ewig nichts von einander gehört“, Jared fühlte sich zunehmend unwohl bei dem Gespräch.

„Und warum ruft sie Sie an?“, wollte der Mann am anderen Ende wissen.

„Das müssen Sie nicht mich fragen.“ Jared wurde es langsam zu bunt: „Ist sie nun da oder nicht. Wenn nicht, hätten Sie vielleicht die Güte, ihr auszurichten, dass ich angerufen habe?“

Eine Antwort bekam Jared darauf nicht mehr. Er las auf dem Display „Gespräch beendet“.

Es war gegen neun Uhr abends, als Jared zu Hause noch einmal den Text für die Zeitung überflog, den er noch abzuliefern hatte. Vor zwei Stunden, also gerade noch rechtzeitig, hatte er ihn an die Chefredaktion abgesandt. Den Pulitzerpreis würde er dafür nicht bekommen, aber immerhin füllten die Buchstaben nun die weiße Fläche zwischen zwei Anzeigen und das Honorar sein Konto. Und das war es, worauf es ankam. Jared machte die Balkontür auf und ließ frische Luft herein. Er setzte sich aufs Sofa, schaltete den Fernseher an und loggte sich bei Facebook ein.

Ein neuer Kontakt, wollte sein Freund sein. Er schaute nach, um wen es sich handelte. Es war jemand, der sich SusaRe nannte.

Grübelnd ging er zum Kühlschrank und holte eine Flasche Rotwein heraus. Die Flasche hatte er bei einer Tombola gewonnen, die letzte Woche auf einem Xing-Event ausgelobt wurde. Ein riesiger Raum voller Netzwerker, die von der chronischen Panik getrieben wurden, einen gewinnbringenden Kontakt verpassen zu können. Menschen mit Namensschildern, die sich nicht mehr in die Augen schauten, sondern zuerst nur auf das Etikett, das man trug.

Und wenn das interessant klang oder nutzbringend, wurde man angesprochen. Es war eine Art professionelles Speeddating. Jared war zum ersten Mal bei einem dieser Treffen anwesend und das auch nur, weil es in seiner Nähe stattfand. Am Ende des Tages hatte er nur einen Illustrator kennen gelernt, der sich unbedingt mal wieder mit ihm in Kontakt setzen wollte, was er nicht tat. Immerhin durfte er eine Flasche Wein mit nach Hause nehmen. Diese, und die köpfte er an jenem Abend. Er schenkte sich ein Glas ein und schaute auf den Bildschirm. Ein oder eine SusanRe wollte sich virtuell mit ihm anfreunden. Es konnte sich nur um SusanRe, also Remar, handeln. Leider hatte sie kein Foto von sich in ihrem Profil hinterlegt. Er konnte also nur vermuten, dass sie es war. Immerhin erfuhr er so den Anfang ihres Nachnamens Re Jared überlegte noch kurz aber dann bestätigte er die Freundschaftsanfrage mit dem Kommentar. „Habe heute mit deinem Mann telefoniert. Der hat sich gefreut ;-)“. Er wusste auch nicht, warum er das tat.

Genauso wenig verstand er, wieso er und Susan erst viele Jahre überhaupt keinen Kontakt hatten, und dann gleich zweimal an einem Tag.

Jared rief ein leeres Word-Dokument auf. Er hatte noch etwas zu erledigen. Er musste für „Deichkind1111“ eine Antwort finden. Er textete vor sich hin, verwarf dann wieder und schenkte sich erneut Wein ein. So recht wollte ihm nichts gelingen. Aus der Wohnung über ihm erklang Klaviermusik. Die ältere Dame war früher einmal Konzertpianistin und spielte im Alter nur noch dann, wenn ihre Enkel sie mal besuchten. Dass die Kids im Hause waren, hatte er bereits durch das Treppenhaus schallen hören. Jared stellte sich vor, wie die Kinder dort oben nun um ihre Oma herumsaßen und der Musik lauschten. Doch anscheinend verloren die Kinder schnell das Interesse an der musizierenden Oma, die das Tasten dann auch kurze Zeit später wieder ließ. Durch die Wand zum rechten Nachbarn dröhnte derweil das Fernsehprogramm. Der alte Mann mit der hohen Stimme war schwerhörig. Und so konnte Jared, wenn er das gleiche Programm eingeschaltet hatte, wie sein Nachbar, den Ton wegdrehen, weil der von nebenan geliefert wurde. Dumm war das nur, wenn unterschiedliche Programme liefen. Manchmal passte das dann aber auch noch einigermaßen.

„Es ist mit der Liebe nicht so, dass sie einem einfach zufliegt. Man muss sie auch wollen. Muss nach ihr Ausschau halten und, vor allem, man muss ihre zarten, Flügelschlag ähnlichen, Andeutungen auch verstehen. Das ist natürlich im www besonders schwierig. Aber auch die ganz große Liebe, kann ja mit einem einzigen Klick beginnen. Und wer sind wir, dass wir das nicht den Versuch dem Verzicht vorziehen?“

Jared las sich den Text wieder und wieder durch. Korrigierte dort und löschte da. Aber im Großen und Ganzen entschied er sich für den Text. Er schickte ihn noch am Abend zu Ulrich und riet ihm in seiner Mail, doch an die drei von ihm Auserwählten denselben Text zu schicken. Er würde dann auch nur den einen berechnen.