Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7431-8449-7

Inhalt

Unseren Träumen laufen wir hinterher

Du hältst fest, an viel zu großen Träumen.

Du hast Angst, vor viel zu kleinen Räumen.

Du kennst Geschichten, von Helden und Idioten.

Magst solche, von Seglern und Piloten.

Ich appelliere an die Vernunft, ich als Realist.

Sag dir, dass du eine Träumerin bist.

Nenne dich naiv, weil du lebst in den Wolken.

Und ich weiß Bescheid, hab sogar schon Kühe gemolken.

Träume sind nie zu groß.

Wagst du den Vorstoß?

Du fühltest dich nur stets zu klein.

Dabei musst du um die zwei Meter sein.

Unseren Träumen laufen wir hinterher.

Reden nicht bloß und schießen quer.

Denn ein bisschen Träumen sei doch wohl erlaubt.

Als einzig Wahres, was das Leben noch nicht geraubt.

Teil 1: Der kleine Mischa

1. Der Problemschüler

Die Tür flog auf und der Lärm brach ab. Ein kalter Luftzug erfüllte das Klassenzimmer. Die wild aufgereihten Zweiertische schienen wie nach einem Erdbeben zu vibrieren.

Das Lehrermonster trat herein.

Mit beiden Händen klammerte sich Michael Keller an den Tisch vor sich, als würde er sonst von einem Tornado verschlungen. So stellte er sich den personifizierten Tod vor: Bleiches Gesicht, schwarzes Kostüm, zwei Zahnstocher, die Beine darstellen sollten.

Es ging ans Pult. Die hohen Absätze klackerten wie mörderische Waffen. Große aber völlig leere Augen schweiften hinter der kleinen Brille in die Runde der sechzehn Schüler, als es die Arme verschränkte.

Bei Mischa Keller blieb ihr Blick hängen. Sie musterte ihn mit einem Ausdruck voller Hass.

Der Viertklässler sah mit ängstlicher Miene zurück und sehnte jetzt schon das Ende dieses Moments herbei. Im Augenwinkel vernahm er schockierte, blasse Kindergesichter, die ihn anstarrten. Sein Sitznachbar Max German seufzte leise auf.

Endlich wanderte ihr Blick zum Fenster hinaus und zur Landschaft Berjosowkas, einem deutschen Dorf im russischen Sibirien.

Im Birkendorf, wie die wörtliche Übersetzung lautet, lebten in jenem März 1980 in vier Straßen etwa dreihunderundfünfzig Einwohner. Man sprach hauptsächlich Schwäbisch, aber der Schulunterricht fand, außer in Deutsch, ausschließlich auf Russisch statt.

Frau Koslowa räusperte sich jetzt – Mischa tat es in Gedanken. Mit ihrer bebenden Stimme sagte sie auf Russisch: »Na, dann lasst uns mal anfangen. Es gibt viel zu tun.«

Wehe, du führst mich noch mal vor allen andern vor, dachte Mischa, und ein Schaudern lief durch seinen ganzen Körper.

Es war die letzte Stunde, und Frau Irina Koslowa teilte ein Gedicht von Alexander Puschkin aus. Kristina Neuhaus sollte anfangen laut vorzulesen, was sie klar und flüssig tat. Max verschränkte die Arme hinter dem Kopf, während er hinab aufs Blatt blickte. Das tat er immer, wenn er angestrengt überlegte. Auch Mischa versuchte konzentriert die Bedeutung hinter den Versen vor sich auszumachen. Gerade so konnte er immerhin erkennen, dass es um unerfüllte Liebe ging.

Als die erste Strophe endete, sagte Frau Koslowa: »Kristina. Jetzt nimm du jemand dran.«

Kristina, die an der Wandseite saß, blickte in die Runde.

Nimm Rosa dran. Oder Sergej. Oder Konstantin, dachte Mischa, aber sie hielt kurz inne, grinste ihn schadenfroh an und sagte: »Mischa.«

Sofort warf er Kristina einen bösen Blick zu, was nichts an ihrem triumphierenden Ausdruck änderte.

»Mischa, das schaffst du«, flüsterte Max neben ihm.

Michael Keller probierte es. Verbissen schaute er auf das Blatt vor sich und dachte: So schwer kann das doch wirklich nicht sein ein paar Verszeilen vorzulesen …

Er atmete tief aus. Die Spannung im Raum war fast greifbar. Er öffnete den Mund … doch kein Wort wollte seiner Kehle entweichen. Diese fühlte sich staubtrocken an, und er gab ein würgendes Geräusch von sich.

»Michael«, sagte Frau Koslowa.

Es ging nicht, er versuchte es ja.

»Lies vor.«

Mischas rechtes Auge begann unwillkürlich zu zucken.

»Michael. Wenn du jetzt nicht sofort vorliest … «

Er sprang vom Stuhl auf.

»Mischa, nein«, rief Max.

Doch er hatte die Klassentür bereits im Visier und lief so schnell er konnte darauf zu.

Kristina fing schallend an zu lachen und ein paar Mitschüler folgten ihrem Beispiel.

»Nicht schon wieder. Bleib sofort hier!«, schrie Frau Koslowa Mischa nach, was ihm jedoch ziemlich gleichgültig war.

Während er den Schulflur entlangrannte, quietschte der Boden nur so unter seinen Schuhen. Ein Glücksgefühl erfüllte ihn, wie immer wenn er vom Schulunterricht flüchtete. Später würde er es sicher wieder bereuen, aber was kümmerte ihn später?

Er stieß die mächtige Eingangstür auf und schmiedete schon Pläne für den Nachmittag, als er vom Schulgelände auf die Schulstraße trat.

Er stoppte, warf einen routinierten Blick nach links und rechts und machte sich bereit, wieder loszurennen.

Schockiert hielt er inne, denn da hatte jemand gestanden, in nur fünf Metern Entfernung.

»Na warte!«, rief Andrej Neuhaus, der Kolchosleiter und Vater von Kristina, und lief mit ausgestreckten Armen auf ihn zu.

Mischa drehte sich nach links, um losrennen, doch da packte Andrej Neuhaus ihn schon am Hemdkragen. An diesem zerrte er ihn sogleich Richtung Nordstraße, statt ihn auf geradem Wege zurück in den Unterricht zu bringen.

»Wenn dein Papa das erfährt. Der wird dir was erzählen. Wart´s mal ab!«, verkündete Neuhaus zufrieden, als habe er gerade eine Beute im Wald erlegt und könne sie nun überall herumzeigen.

Mischa wandte sich unaufhörlich hin und her und warf ihm russische Schimpfwörter an den Kopf: »Suka! Bled!«, doch konnte sich nicht aus Neuhaus´ Griff entreißen. Dessen Mundgeruch nach Knoblauch bereitete Mischa derart Übelkeit, dass er sich mit beiden Händen den Mund zuhielt.

»Du schimpfst ja wie nichts Gutes. Dich muss man mal erziehen«, sagte Andrej Neuhaus, aber grinste gleichzeitig dabei.

Schließlich erreichten sie die Ställe der Kolchose. Jetzt roch Mischa keinen Knoblauch mehr, sondern nur noch den intensiven Gestank nach Mist. Sie betraten den ersten Stall, und im hintersten Teil stand auch schon Mischas Vater. Adam Keller war gerade dabei ein paar massigen Säuen Wasser in einen Trog zu füllen.

Als dieser den Kopf drehte und sah wie Andrej Neuhaus Mischa am Hemdkragen hinter sich her schleifte, kam er rasch auf sie zu. Sein Gesicht hatte einen äußerst bitteren Ausdruck angenommen. Mischa musste daran denken, wie sein Vater sich zu Hause immer über den Kommunisten Andrej Neuhaus beschwerte, dass er sich benahm, als leite er die gesamte rote Armee statt nur der Dorfkolchose.

»Der ist schon wieder aus der Schule geflüchtet«, erzählte Neuhaus und ließ Mischa los, der sich sofort den Kragen seines Hemdes wieder zu recht zupfte.

Adam Keller gab ein leises Räuspern von sich und blickte unglücklich auf seinen Sohn hinab. Nach einem Moment sagte er: »Ich bringe ihn nach Hause. Bin gleich wieder zurück.«

»Gut«, erwiderte Andrej Neuhaus und präsentierte mit einem Lächeln seinen strahlenden Goldzahn.

Sie gingen in raschem Tempo, Mischa stets bemüht seinem Vater hinterher zu kommen. Dieser schwieg beharrlich, auch noch, als irgendwo in der Südstraße der Motor eines Traktors aufbrummte.

Im Wohnzimmer des Hauses angekommen, griff Adam Keller, ohne den Blick von seinem Sohn abzuwenden, zum Gürtel seiner Hose. Als er ihn aufschnallte, schienen seine Augen und Lippen starr und leblos. Mit geballter Faust hielt er den schwarzen Ledergürtel fest, dessen silberne Schnalle im Raum glänzte. Mischa fixierte das graue schüttere Haar seines Vaters. Der Gürtel in seiner Hand konnte auch nicht über sein schmächtiges Aussehen hinwegtäuschen.

Sein Vater holte aus und Mischa schrak vor ihm zusammen und ging in Schutzhaltung.

Platsch!, machte es auf Mischas linkem Unterarm und er stöhnte auf. Adam Keller holte gleich wieder aus; es waren offenbar noch mehr Schläge vonnöten, um seinen Sohn zu züchtigen. Bei jedem Aufstöhnen von Mischa verzog sein Vater das Gesicht, als kriege auch er einen Schlag ab. Er zielte stets auf seine Arme und traf jedes Mal. Es dauerte alles in allem nur eine Minute, kam Mischa aber wie eine Ewigkeit vor.

Sein Vater machte sich den Gürtel wieder um seine Cordhose. »Ich muss zurück zur Arbeit. Und jetzt denk drüber nach, was du getan hast«, sagte er und flüchtete regelrecht aus dem Haus.

Mischa vergoss einige Minuten lang leise Tränen, aufgrund des im wahrsten Sinne des Wortes einschneidenden Erlebnisses. Es war das erste Mal, dass sein Vater ihn mit dem Gürtel geschlagen hatte. Bei Max´ Vater, wusste er, gehörte es zur Tagesordnung, wenn dieser Unsinn angestellt hatte.

Während Mischa schluchzend auf seine Verletzungen herabschaute, dachte er tatsächlich darüber nach.

Bereits mit drei Jahren eignete Michael Keller sich seine äußerst merkwürdige Angewohnheit an. Am ersten Kindergartentag führte ihn die Erzieherin zu seiner Kindergartengruppe, während er seine Mutter ganz fest an der Hand hielt. Am liebsten wäre er gleich wieder mit ihr zurück nach Hause gekommen. Auch das Spielzeug in der »Sonnenblumengruppe« und die anderen Kinder darin konnten den kleinen Mischa nicht überzeugen.

Also hatte jener Kindergarten nicht besonders viel von ihm, denn er büxte wann immer er konnte aus diesem aus. Dazu musste er lediglich durch die drei losen Bretter am Zaun draußen im Spielbereich kriechen, und schon war er im Sprint auf dem Weg nach Hause, was nur rund eine Strecke von fünfzig Metern war. Seine Mutter, Marie Keller, melkte zu dieser Tageszeit für gewöhnlich bereits in der Kolchose die Kühe, sodass Mischa sich glücklich in sein Zimmer setzen und spielen konnte. Allerdings nicht lange, denn meistens holte ihn die Erzieherin sichtlich genervt wieder zurück. »Du kleiner Saboteur«, schimpfte sie dann, während sie ihn auf dem Arm zurückbrachte und er unaufhörlich schrie. »Was soll nur aus dir mal werden?«

Bald trieb Mischa jenes Verhalten auf die Spitze. Ganz gleich welches noch so kleine Problem im Alltag auftrat, er lief einfach buchstäblich davor weg. So klaute ihm ein anderes Kind sein Spielzeug, also riss er heulend aus. Zu Hause gefiel ihm der Sitzplatz am Abendbrottisch nicht, und er nahm die Beine in die Hand und war auf und davon.

Immer lief ihm irgendein Erwachsener ganz aus der Puste nach und rief wortwörtlich auf schwäbisch: »Ach, moj Jung, pleib toch jetzt stehje. Tu konnst toch net immr weglowe, wenn tu n Probläm host.« Doch wie man sah konnte er das, und diese Art der Konfliktlösung funktionierte nun einmal.

Eines Samstags, als Mischa bereits sechs war, nahm sein Vater ihn unter die Fittiche. Es war Winter und der Schnee lag kniehoch. Sein Vater ging mit ihm nach draußen und fragte ihn, wie es ihm so ginge. »Gut«, sagte Mischa. »Gut«, wiederholte sein Vater zögernd. Er grübelte über etwas nach – das war ihm ganz leicht von der Nasenspitze abzulesen. Dann nahm er etwas Schnee in seine Hand und formte einen Schneeball. Mischa stand skeptisch da und wusste nicht, was das Ganze sollte.

»Ich werfe dich gleich mit dem Schneeball ab. Und du wirst versuchen, nicht wegzulaufen … Okay?«

Eine Weile schaute Mischa seinen Vater perplex an. Doch dann beschloss er einzulenken und nickte.

Als ihn der Wurf des Schneeballs aus etwa fünf Metern Entfernung traf – sein Vater warf wirklich nicht hart – wurde sein Gesicht ganz rot und es schossen ihm Tränen in die Augen. Er rannte davon, zurück ins Haus.

Adam Keller bekam daraufhin eine saftige Abreibung von seiner Frau, was ihm denn einfiele, so eine dämliche Taktik bei Mischa anzuwenden, und den eigenen Sohn mit einem Schneeball zu bewerfen. Mischa hörte allem von seinem Zimmer aus zu und feuerte seine Mutter innerlich an, es seinem Vater so richtig zu geben.

Etwa fünf Jahre nach der Schneeballtaktik seines Vaters saß der elfjährige in seinem Zimmer und hörte Musik. Stunden waren seit der Gürtelstrafe vergangen, und es wurde langsam Abend. Mischa hatte auf seinem kleinen Holzstuhl vor dem Schreibtisch Platz genommen, mit dem Kassettenspieler in der Hand und Kopfhörern in den Ohren. Eigentlich tönte nur noch aus einem Kopfhörer Musik – zum Geburtstag Ende August würde er sich neue wünschen. Es spielte ein Album von Sofia Rotaru, und ein Poster jener Pop-Ikone der UdSSR hing auch an Mischas gelbgestrichenen Wänden. Die Arme taten ihm weh und brannten unaufhörlich. Er hatte gehofft, Max würde vielleicht noch kurz vorbeischauen, aber dieser war nicht gekommen. Das schlechte Gewissen wiedermal weggelaufen zu sein, hatte schon lange eingesetzt, und die Wunden halfen dabei.

Mischa machte den Kassettenspieler aus, nahm die Kopfhörer ab und ging zum Fenster.

Als er hinausblickte, auf den Stall und den Heuschuppen daneben, beobachtete er eine Weile wie der Wind das Gras hin und her trieb. Es war schon fast dunkel geworden, und die Nacht bereitete ihm von jeher etwas Angst. Vor dem Fenster hustete er ein paar Mal kräftig in die Hand. Ein flaues, unbestimmtes Gefühl lag ihm seit Stunden im Magen.

Plötzlich hörte er wie die Haustür auf- und zufiel. Mischa vernahm die Stimme seiner Mutter und noch eine andere, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Es waren die bebenden Töne von Frau Koslowa, die wie ein verstimmtes Musikinstrument klangen.

Mischa schlich leise und rasch zur Zimmertür. Frau Koslowas Stimme hörte sich noch wütender an als sonst; er konnte jedoch nicht verstehen, was sie sagte. Sein Herz schlug laut vor sich hin, als wollte es ihm aus der Brust hüpfen. Er überlegte, aus dem Fenster zu klettern und wegzulaufen, doch gleichzeitig sah Mischa auf die Verletzungen durch den Gürtel seines Vaters. Er biss fest die Zähne zusammen. Egal, was er tun würde, diesmal würde er auf keinen Fall davonlaufen.

Die Stimmen wurden lauter. »Das kann so wirklich nicht weitergehen, Frau Keller.«

Wie erstarrt stand Mischa vor der Tür. Er griff leicht zur Klinke. Vielleicht konnte er sich gegen die Tür drücken und sie einfach nicht reinlassen.

»Es tut mir leid, Frau Koslowa.« Die Verletzlichkeit in der Stimme seiner Mutter brachte ihn dazu die Klinke loszulassen und ein paar Schritte zurückzutreten.

Die Zimmertür öffnete sich langsam nach innen. Sie erschraken beide, als Mischa unmittelbar vor ihnen stand und zudem schrecklich aussah.

»Mischa, geht´s dir nicht gut?«, fragte seine Mutter.

Beide bemerkten jetzt entsetzt die Striemen und Blutergüsse auf seinen Armen.

Plötzlich drehte sich Frau Koslowa mit erröteten Wangen zu Mischas Mutter. »Frau Keller, ich habe Ihnen ja mitgeteilt, wie es um Michael steht«. Sie wandte sich zu ihm. »Wir sehen uns morgen. Hoffentlich die volle Stunde.« Dann machte sie kehrt und ging.

Ein paar Sekunden später hörten seine Mutter und er die Haustür zuschlagen. »Setz dich hin«, sagte Marie Keller ernst.

Er folgte ihrer Aufforderung.

»Mischa«, begann sie. »Kannst du dich denn nicht ein bisschen zusammenreißen?«

Mischa erwiderte nichts darauf, fixierte den Blick nach oben an die Decke.

Seine Mutter fuhr fort. »Sie denkt, wir sind schlechte Eltern. Sie denkt, du bist schlecht erzogen.«

»Ich weiß«, murmelte er.

Sie seufzte. »Du läufst in Russisch ungefähr jede zweite Stunde aus der Klasse. Sie sagt, sie gibt dir noch eine letzte Chance. Wenn du noch einmal vom Unterricht wegläufst, musst du das Jahr wiederholen.«

Mischa schluckte, senkte den Kopf und schaute jetzt schuldbewusst auf den roten Teppichboden mit persischen Mustern.

»Und wegen deiner Schwierigkeiten in Russisch … Frau Koslowa vermutet, du hast eine Lernschwäche.«

»Eine was?«

»Du könntest dann nichts dafür. Es würde dir schwerer fallen als deinen Mitschülern, dir Dinge zu merken.«

Er hob schlagartig den Kopf. »Es liegt an Frau Koslowa«, protestierte er. »Die kann mich nicht ausstehen. In allen andern Fächern hab ich gute Noten. Die nimmt mich nicht dran, wenn ich aufzeige – nur wenn ich was nicht weiß. Und wie soll man in ´nem Fach gut sein, wo man zitternd dasitzt.« Mischa verzog beleidigt die Unterlippe nach unten.

»Jetzt schieb nicht alles auf Frau Koslowa. Du musst dich einfach mehr in Russisch anstrengen. Und Angst haben brauchst du erst recht nicht vor ihr«, entgegnete seine Mutter. Die eins achtzig große, etwas stämmige blonde Frau atmete tief ein und aus, um sich wieder zu beruhigen. »Wir könnten ja mal zu jemand hingehen, einem Spezialisten, der sich dich genau anschaut. Frau Koslowa kennt da jemanden. Der könnte uns mehr sagen.«

»Nein!«, schrie Mischa. Er kochte vor Wut, fühlte sich wie in einer verdrehten Welt. In einer Horrorvorstellung fand er sich in einer Zwangsjacke in einem sterilen Raum irgendeiner russischen Anstalt wieder.

Einen Moment lang sah seine Mutter ihn besorgt an. Er hörte, wie die Haustür zuschlug. Jemand trampelte die Treppe hinunter und einen Augenblick ertönten die Stimmen seines großen Bruders Daniel und seines Vaters.

Seine Mutter ging zu ihm hin und strich ihm übers blonde lockige Haar. »Wenn du nicht willst, musst du nicht. Wir zwingen dich nicht.« Sie lächelte ein wenig. »Du kannst das. Zeig´s denen. Mach, dass wir stolz sind.«

Mischa sah sie vertrauensvoll an und nickte.

»Mama?«, fragte er.

»Ja.«

»Kann ich morgen zu Hause bleiben? Mir geht´s nicht gut. Nur einen Tag … Bitte.«

Marie Keller machte ein ernstes Gesicht und legte ihrem Sohn die Hand auf die Stirn. »Habt ihr denn morgen Russisch?«

»Ne, erst übermorgen wieder.«

Langsam nahm sie die Hand wieder herunter und sagte: »Na gut. Aber nur einen Tag, ja? Bis übermorgen musst du wieder gesund sein. Du darfst in Russisch keine einzige Stunde mehr fehlen.«

»Danke, Mama.«

»Ich bring dir nachher noch das Essen rein.«

Mischa nickte wieder.

Seine Mutter zwinkerte ihm zu und ging aus dem Zimmer.

Später brachte sie ihm wie versprochen das Essen aufs Zimmer. Er aß den Teller mit Frikadellen, Kartoffelpüree und Tomatensauce trotz wenig Appetit ganz auf und legte sich gleich ins Bett, um bald wieder gesund zu sein.

2. Jagd auf Arthur Blech

Ein gedämpftes Klopfgeräusch weckte Mischa am nächsten Tag. Er rieb sich die Augen, es musste schon Vormittag oder Mittag sein. Sein Kopf dröhnte, als habe er die Nacht in einer schrecklich lauten Diskothek verbracht. Dann entdeckte er ihn durchs Fenster, Max German, der ihn draußen mit einem verschmitzten Lächeln beobachtete. Schlagartig war Mischa hellwach.

Max klopfte heftig mit drängender Mimik noch drei Mal gegen die Fensterscheibe, sodass Mischa schon dachte, sie würde zerbersten.

»Jaja, ist ja gut.« Mischa verdrehte die Augen, stand vom Bett auf und öffnete das Fenster.

»Komm, komm raus«, sagte Max. »Ich hab den Blech beim Supermarkt gesehen. Los doch. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Wirklich?« Mischas Augen blitzten auf. Arthur Blech war ein stummer Sonderling, der laut Gerüchten in einem versteckten Baumhaus im Mischwald südlich des Dorfs lebte. Seit Monaten schon versuchten Mischa und Max ihn bis zu seinem geheimnisvollen Baumhaus zu verfolgen, bisher ohne Erfolg .

»Mein Gott, was ist denn mit deinen Armen passiert?«, fragte Max plötzlich.

Zögernd antwortete Mischa: »Ach … mein Vater.«

»Oh … Mist«, flüsterte Max.

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus.

Max brach es. »Also los. Zieh dich an. Und beeil dich.«

Mischa seufzte. »Ich bin krankgeschrieben … Meine Eltern bringen mich um. Ist die Schule denn schon vorbei? Es ist doch erst höchstens Mittag.«

»Jetzt haben wir Geschichte, das brauch ich nicht«, erklärte Max wie selbstverständlich. »Also, kommst du nun?« Max blieb wie angewurzelt vor dem Fenster stehen und starrte ihn eindringlich an.

Mischa zögerte, wog alles ab. »Okay.« Sofort begann er hinter sich seine überall verstreuten Klamotten zusammenzusuchen und sich anzuziehen. Er nahm einen Pullover aus dem Kleiderschrank, um seine Arme zu bedecken. »Wenn mich jemand sieht, dann machst du ein halbes Jahr meine Hausaufgaben.«

»Pah«, antwortete Max und zog eine unbeholfene Grimasse, während er vor dem Fenster Mischas Treiben zusah.

»Also los«, feuerte Mischa sich einen Augenblick darauf selbst an, während Max zurückwich, nahm Anlauf und kletterte mit einem wagemutigen Sprung durch das Fenster. Die Landung gelang ihm so einigermaßen, und sogleich liefen die beiden los, um das angestaute Adrenalin in sich abzubauen. Sie mussten aufpassen, da sich die einzige Einkaufsgelegenheit Berjosowkas recht zentral befand und natürlich auch die Schule in der nach ihr benannten Straße lag. Mischa bemerkte schnell, dass er alles andere als fit war, kam kaum Max´ Tempo nach.

Als sie beim Supermarkt ankamen und sich aufgeregt umschauten, war Arthur Blech nirgends zu sehen, weder im Supermarkt noch in seiner Nähe.

Max bewegte den Kopf unaufhörlich wie ein Wackeldackel, lief vor und zurück, seitwärts und wieder zur Ausgangsposition. Schließlich warf er Mischa einen enttäuschten Blick zu. Dieser machte seinem Ärger Luft und begann auf Russisch zu fluchen wie ein Rohrspatz.

»Schau mal da«, rief Max plötzlich mit aufgerissenem Mund und einem Leuchten in den braunen Augen. Er zeigte mit dem Zeigefinger in die Mischa entgegengesetzte Richtung.

Rasch drehte Mischa sich um. Da sah auch er Blech, der den Schulweg an die hundert Meter entfernt davonging. Plötzlich bog Blech rechts in eine Kreuzgasse ab, wo er in der Gartenstraße herauskommen würde. Er war scheinbar also wieder auf dem Weg zurück zu seinem Zuhause im Mischwald.

»Komm, wir müssen uns beeilen«, rief Max.

Als sie wieder losrannten, war Mischa immer noch ganz außer Atem von der ersten Strecke zum Supermarkt hin. Und da sah er Frau Galina Winter, wie sie im Supermarkt an der Kasse stand und den beiden einen kritischen Blick zuwarf.

Gerade sie hat uns gesehen, dachte Mischa. Gerade sie, die so ein gutes Verhältnis zu dem ansonsten scheuen Blech hat. Die den Sonderling umsonst mit Lebensmitteln eindeckt. Und das Beste: Die für den staatlichen Supermarkt zuständigen Kommunisten aus der Stadt wissen nix davon, was hoffentlich so bleiben wird … So lange alle, auch die Kommunisten aus dem Dorf, dicht halten …

Sie sprinteten durch zwei Kreuzgassen bis zur Südstraße und erreichten die erste grüne Wiese am Dorfrand. Etwas außerhalb Berjosowkas hatten sie Arthurs Vorsprung auf nur noch etwa fünfzig Meter verringert.

Sonnenschein und warme Temperaturen sorgten für einen angenehmen Tag, doch hin und wieder mischte sich nun ein starker Wind in ihre Angelegenheiten ein.

Erst jetzt bemerkte Arthur Max´ und Mischas Anwesenheit und schaute, während er weiterging, mehrmals hektisch über seine Schulter zu ihnen zurück. Fast majestätisch flatterte seine schulterlange braune Mähne im Wind.

Vor den dreien begannen sich die Birkenwäldchen aufzureihen, als Max Mischa keuchend zurief: »Bald haben wir ihn.« Mischa neben ihm nickte nur, um Kräfte zu sparen.

Plötzlich beugte sich Arthur Blech vor und rannte vierbeinig mit Armen und Beinen.

Spinn ich, Max? Oder siehst du das auch?, kam es Mischa in den Sinn.

Im hohen grünen Gras wählte Arthur Blech einen Pfad um die kleinen Birkenwälder herum, statt den direkten Weg hindurch.

Max und Mischa tauschten einen Blick und setzten zum Sprint an, ihrer wohl letzten Chance.

Stück für Stück gelang es ihnen den Abstand zu Blech weiter zu verringern, während die Birkenwäldchen, so schnell wie sie aufgetaucht waren, auch schon wieder hinter ihnen lagen.

Der düstere, von Nadelbäumen beherrschte Mischwald erstreckte sich nun vor ihnen.

Mischa konnte nicht mehr. Die Beine wurden ihm immer schwerer.

Und dann, er konnte es kaum glauben, waren es nur noch zehn Meter bis zu Arthur Blech, der vor den beiden immer größer wurde. Mischa hatte ja keine Ahnung, was sie überhaupt vorhatten, wenn sie ihn einholten. Ihn etwa knebeln und zwingen ihnen den Weg zu seinem Baumhaus zu zeigen? Und er glaubte, dass auch Max sich zuvor keine Gedanken darüber gemacht hatte.

Plötzlich jedoch schien Arthur das Doppelte an Geschwindigkeit aufzunehmen. Max und Mischa wussten in dem Moment, dass sie da unmöglich Schritt halten konnten. Außerdem verschossen sie durch den Sprint gerade ihr letztes Pulver. Mischas Lunge, sein Herz, sein Schädel rebellierten, wofür er die Grippe verantwortlich machte. Dennoch lief er aus irgendeinem Grund weiter, als hinge sein Leben und nicht ein dummer Jungenstreich davon ab.

Max neben ihm machte zunehmend verbissene Mund- und Wangenbewegungen, also neigte sich seine Kondition auch so langsam dem Ende.

Und plötzlich stolperte Max und schlug einen dreifachen Purzelbaum.

Mischa stoppte und beugte sich zu ihm hinab, um etwas zu sagen, doch dann: »Lass mich zurück. Lauf, lauf weiter!« Max lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Gras, wie ein im Krieg verwundeter Soldat. Und Mischa, der ihm noch nie eine Bitte hatte abschlagen können, drehte sich um und lief wieder los.

Bald gelangten Arthur und Mischa von der weiten grünen Wiese in den Mischwald, wo es halbdunkel und schattig um sie herum wurde. Als Mischa auf einem unebenen Pfad dahinlief, starb er tausend Tode. Er sah den jungen Arthur Blech schon gar nicht mehr, sah nur noch Erde, Wurzeln, Zweige und Blätter vor sich, die zu einem naturfarbenen Mandala verschwammen. Das nächste woran er sich erinnerte, war absolute Dunkelheit.

Mitten im von Tannen und Fichten bevölkerten Wald fiel Mischa in Ohnmacht.

Als er aufwachte, setzte die Abenddämmerung bereits ein. Aus dem Liegen setzte er sich auf die Knie … und konnte seinen Augen nicht trauen. Er saß in einem Baumhaus, einer simplen Konstruktion mit Geländer und Dach.

Mischa schnaufte schwer auf und griff sich an den Rücken, der etwas vom harten Boden schmerzte. Er verspürte einen neuen, stechenden Kopfschmerz.

Arthur Blech stand zwei Meter neben ihm und beobachtete ihn aufmerksam, wie jemand der nicht so recht wusste, was er von seinem Gegenüber zu erwarten hatte. Nun biss er samt Schale von einer langen Salamiwurst ab, die er wohl im Supermarkt von Galina Winter bekommen hatte. Genüsslich kauend gab er ein befriedigtes Schmatzen von sich.

Mischa lächelte dem jungen Mann zu, der ihn hier hergebracht haben musste, nachdem er in Ohnmacht gefallen war. Aus der erhöhten Perspektive des Baumhauses genoss er die Aussicht, die sich sehen lassen konnte. Er sog den intensiven Geruch der Bäume um sich ein und fühlte sich im Einklang mit der Natur.

»Ehhhhh!«, ertönte ein Stöhn-Laut von Arthur.

Mischa wandte sich ihm zu, und Arthur hielt ihm nun mit ausgestrecktem Arm die Wurst hin und grinste hämisch und zufrieden mit geschlossenen Augen.

»Ne, Danke«, sagte Mischa freundlich und drehte den Kopf wieder zum Holzgeländer.

Arthur zuckte die Achseln, wie Mischa aus dem Augenwinkel sah, und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, um es sich mit seiner Wurst bequem zu machen.

Plötzlich erwachte Arthur aus seiner Nachdenklichkeit. Er hob den Zeigefinger, um zu signalisieren, dass er einen Einfall hatte. Er stand aus seinem Schneidersitz auf und steckte Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand in den Mund. Ein schriller, gellender Pfiff ertönte. Mischa erschrak so sehr, dass er sich unwillkürlich die Ohren zuhielt.

Der Pfiff hallte einen Augenblick im ganzen Wald wieder. Nervös blickte sich Mischa in alle Richtungen um und fragte sich, was das sollte. Arthur Blech, der jetzt die Augen geschlossen hielt, ließ ein friedliches, fast spirituelles Lächeln sehen.

Und auf einmal geriet Bewegung ins Ganze. Mischa vernahm ein Rascheln in mehreren Büschen und Baumkronen.

Unmittelbar unter dem Baumhaus kam ein kleines Eichhörnchen angelaufen, das schließlich stehen blieb und gespannt zu den zweien hinaufschaute.

Doch einen Augenblick später geschah noch mehr. Mischa konnte gar nicht überall gleichzeitig hinschauen, denn Geräusche kamen auf einmal aus allen Himmelsrichtungen.

Ein Piepen, ein vermischtes, eigentümliches Gesangskonzert erklang zuerst leise, und schwoll nach und nach zu immer größerer Lautstärke an. Mehrere Vögel flogen bis auf einen Meter zu ihnen heran und landeten auf einem der dicken Äste über ihnen. Es waren alles Meisen. Unten von links kam ein Reh herangetapst, von rechts ein Hase mit langen Ohren herbei gehoppelt. Auch ein Fuchs und ein grunzendes Wildschwein gesellten sich zu der Runde.

Auf einmal herrschte absolute Ruhe. Alle Tiere schauten zu Mischa und Arthur.

Mischa konnte nicht glauben, was er da sah. Arthur Blech war scheinbar der sibirische Tierflüsterer, der König der Tiere im Mischwald um Berjosowka.

»Willst du mich deinen Freunden vorstellen?«, fragte Mischa Arthur überwältigt und ein wenig nervös.

Arthur nickte ihm zu und blickte dann zu den Meisen direkt über ihnen hinauf, alles unterschiedliche Arten in verschiedenen Farben, die aufgereiht auf dem Ast standen. Kurz dirigierte er anmutig schwenkend mit den Armen, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, und die sechs Musiker, begannen mit ihrer Vorführung.

Im Gegensatz zu ihrer Ankunft sangen die sechs Meisen jetzt allesamt dieselbe schöne, frühlingshafte Melodie. Das war ein wahres Wunder, da war sich Mischa sicher.

Er fragte sich, ob das hier überhaupt der natürliche Lebensraum all dieser Tiere über und unter ihnen war. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn das nicht der Fall gewesen wäre, bei dem charismatischen Magier Blech.

Nach etwa drei Minuten, als die Meisen endeten und ihre hübschen Schnäbel wieder schlossen, begann Arthur euphorisch zu klatschen. Mischa tat es ihm gleich. Aber auch die Tiere unter ihnen – Eichhörnchen, Fuchs, Hase, Reh und Wildschwein – applaudierten auf ihre Weise, in Form ihrer eigenen tierischen Laute.

Darauf verbeugte sich Blech vor den Tieren, und bevor Mischa sich versah, strömten sie alle wieder auseinander. Rasch waren sie verschwunden, als wären sie nie da gewesen.

Arthur und Mischa standen eine Weile ruhig nebeneinander, ohne etwas zu sagen oder zu tun. Blech und ich in inniger Verbindung, dachte Mischa ungläubig. Aber gleichzeitig auch leider wohl in einmaliger.

Mischa runzelte plötzlich die Stirn. »Wo lebst tu eigentlich im Winter? Es muss doch saukalt hier sein.«

Arthur formte ein Wort mit dem Mund, ohne das ein einziger Laut seiner Kehle entwich, drei Silben. Ga-li-na. Mischa konnte es nicht fassen. Und dann legte Arthur Blech den Zeigefinger auf die Lippen und zischte geheimnisvoll: »Pssst.«

Einen Augenblick später und ohne Vorwarnung umarmte Arthur Mischa. Er drückte seine Brust so fest an seine, dass ihm kurz die Luft wegblieb.

Endlich löste Arthur die Umarmung wieder. Das war seine Art zu zeigen, dass für Mischa die Zeit zu gehen gekommen war. Um das zu verdeutlichen, tippte er jetzt nochmal auf eine imaginäre Uhr am Unterarm.

Mischa nickte und verbeugte sich vor Arthur, wie dieser es zuvor bei den Tieren gemacht hatte. In der Ferne sah Mischa die fast gänzlich untergegangene Sonne, einen purpurroten Streifen am Himmel. Fragend sah er nach links und rechts, vorne und hinten. Er hatte nämlich keine Ahnung, wo er langgehen musste, um zurück nach Berjosowka zu kommen.

»Aaaaaah«, rief Arthur, der Mischas Ratlosigkeit begriff.

Er streckte die Hand aus, um mit dem Zeigefinger geradeaus zu weisen, dann summte er etwas: »HMMHHHMHHHMHHH!«, dann zeigte er mit demselben Finger nach links, summte erneut: »HMMHHHMHHHMHHH!«, um als letztes nach rechts zu deuten. Ich muss also eine Weile geradeaus laufen, dann nach links und als letztes nach rechts abbiegen, aber wann jeweils abbiegen?, fragte sich Mischa.

Er zog die Augenbrauen hoch, während er Arthur ansah, da er bezweifelte aufgrund dieser ungenauen Beschreibung jemals auf die Straßen von Berjosowka zurückzukommen.

Arthur ließ die Arme zu beiden Seiten hin fallen, was so viel bedeutete wie: Keine Ahnung, wie ich es dir sonst erklären soll.

»Oh Arthur, kannst du mich nicht nach Hause bringen?«

Arthur schüttelte traurig und zugleich lustlos den Kopf.

Na gut. Ich schaff das. Leider sah Mischa keine Leiter, um vom Baumhaus hinab auf den Waldboden zu gelangen. Wahrscheinlich klettert Arthur jedes Mal einfach den Baum rauf, den höchsten rundherum, und das ohne mit der Wimper zu zucken. Aber wie komm ich hier jetzt runter?

Sehr vorsichtig und langsam bahnte Mischa sich einen Weg den dicken Baum hinab. Am Stamm zerkratzte er sich die ohnehin schon von Striemen übersäten Arme, schaffte es ansonsten aber heil unten anzukommen. Auf dem weichen mit Blättern, Zweigen und Moos übersäten Boden ging er ein paar Meter, drehte sich um und wagte einen letzten Blick hinauf aufs Baumhaus. Oben stand Arthur am Geländer und winkte ihm fröhlich zum Abschied. Mischa winkte zurück. Mach´s gut, Arthur. Und danke!

Und wie zu erwarten: Mit Arthur Blechs durchaus lustigen, künstlerisch aufgeführten Wegbeschreibung konnte er nicht viel anfangen. Er verirrte sich, nahm nicht drei Abzweigungen, sondern gefühlte dreißig, während es zunehmend dunkler und dunkler wurde. Er lauschte jedem Rascheln und Piepsen des Waldes, hatte schon Angst, er müsse verhungern oder würde in der Nacht von Wölfen gerissen (gab es überhaupt Wölfe in diesem Wald?) … Zudem bekam Mischa nun Hunger, sein Kopf schmerzte wieder heftig und er hustete sich von Zeit zu Zeit die Seele aus dem Leib. Tja Mischa, dachte er. Man sollte halt zuhause im Bett bleiben, wenn man die Grippe hat, und nicht endlos lange Sprints hinlegen und im Wald herumirren.

Dann wich er unwillkürlich zurück, da er auf etwas getreten war. Sofort hatte er ein Tier im Sinn, aber es war kein Tier. Es war ein kleines zerfleddertes Buch, bereits ganz vergilbt und an den Seiten eingerissen. Schmutzig war es noch dazu. Mischa fragte sich, wieso es da lag, hatte aber keine Idee. Er beugte sich hinab und hob es auf. »Malenkij Princ«, also »Der kleine Prinz« stand darauf. Instinktiv nahm er es mit und stopfte es sich in die Gesäßtasche seiner verblichenen Jeanshose. Verunsichert ging er weiter.

Mischa wusste nicht annähernd wie, aber schließlich fand er in richtiger Richtung aus dem Mischwald heraus, die Birkenwälder verheißungsvoller denn je in der Ferne vor sich. Von hier aus kannte er den Weg, und im letzten Tageslicht gelangte er endlich an die Südstraße Berjosowkas.

Nicht lange musste er sich fragen, wo Max abgeblieben war, denn dieser hatte Mischa scheinbar schon erwartet. Er stand in der ersten Hälfte der Südstraße, lehnte sich an einen Bretterzaun und biss unüberhörbar in einen Apfel. In seinem Gesicht sah man große Furcht, und Erleichterung, als er Mischa schließlich erblickte. In der anderen Hand hielt er noch einen Apfel. Mischa freute sich ihn zu sehen.

Max warf ihm gleich den anderen Apfel zu, als er näher kam. Mischa fing ihn hastig und begann gleich hungrig zu essen – ein bisschen wirkte er dabei wie Arthur Blech.

»Los, erzähl«, forderte Max Mischa mit vollem Mund auf. »Ich hab mir schrecklich Sorgen gemacht. Dachte schon, ich müsste deinen Eltern Bescheid sagen. «

Mischa schluckte ein Stück Apfel hinunter. »Lass mich erst mal aufessen. Und lass uns zuerst woanders hingehen.«

»Okay.«

Als sie ein paar Minuten später bei den Kellers im Garten hinter dem Heuschuppen standen, erzählte Mischa Max leise jedes Detail von seinem Erlebnis bei Arthur Blech.

»Es ist schon dunkel, ich muss jetzt wirklich wieder rein«, flüsterte er, nachdem er geendet hatte. Mischa hustete stark auf. Er konnte kaum mehr als Max´ Konturen erkennen.

Max tippte sich übertrieben langsam mit dem Zeigefinger auf den Mund und sah Mischa hämisch an.

Mit genervtem Ausdruck rümpfte Mischa die Nase.

»Ja, gleich kannst du dich in dein Bett legen. Aber erst müssen wir das mit dem Blech feiern«, verkündete Max und lächelte Mischa unschuldig an, ganz so wie eine russische Matroschka-Puppe. Er kramte in seiner Gesäßtasche und holte eine Packung Zigaretten heraus. Er nahm eine Kippe heraus und hielt sie Mischa hin. »Du hast das geschafft, was wir zwei seit Monaten und andere seit Jahren versuchen – du hast die Baumhütte vom Blech gesehen.«

»Wo hast du die schon wieder her?«, fragte Mischa angespannt, aber nahm die Zigarette an.

»Na, von wem wohl?«, fragte Max.

»David«, antwortete Mischa etwas gereizt.

»Klar«, sagte Max. David Fischer war ein paar Klassen über ihnen. Er war der lässigste Typ, den sie kannten, traute sich Sachen, von denen Mischa und Max nur träumen konnten.

Nervös betrachtete Mischa die Zigarette in seiner Hand. »Das mit Arthur Blech bleibt aber unter uns, okay?«

»Spinnst du? Die aus unserer Klasse werden dich feiern wie ´nen Helden, wenn die das hören.«

Mischa legte die Stirn in Falten und dachte darüber nach.

Max German holte sein Feuerzeug aus der Hosentasche, hielt es Mischa vor die Nase und machte es an. Im Schein der Feuerzeugflamme sah Max´ Gesicht gespenstisch aus.

Mischa führte die Zigarette zum Mund, hielt sie an die Flamme, zog und hustete zwei Mal, aber sie brannte.

Max lachte amüsiert auf. »Du lernst es wohl nie, oder?«

»Nein.« Mischa hustete nochmal kräftig in die Handfläche, bevor er den nächsten Zug nahm – diesmal ohne zu husten. Obwohl das mit dem Rauchen im Alter von elf Jahren keine gute Sache war, wusste Mischa wenigstens, dass Max es keinem verraten würde.

Max holte sich jetzt selbst eine Zigarette aus der Schachtel, um sie sich entspannt und ohne zu Husten anzuzünden.

»Ich will das trotzdem nicht«, kam Mischa aufs Thema zurück. »Dass du den anderen davon erzählst. Nicht Konstantin, nicht Vitali, niemandem.«

»Na gut«, sagte Max.

Dann erzählte Mischa Max von seiner letzten Chance bei Frau Koslowa.