Die 1971 in München geborene Autorin widmete sich von Jugend an dem Schreiben. Nach einer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau wechselte sie als Angestellte in den öffentlichen Dienst über. Der Drang zu schreiben hielt jedoch in jeder Lebensphase an.
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Von Sylvia Seyboth bei Books on Demand und als E-Book erschienen:
2010 –Tod unter der Mönchsweide | Roman |
2010 - Katzenaugen können Herzen rauben | Tiergeschichten |
2014 – Vampir in Untermiete | Roman |
2014 – Rebellion der Vampire | Roman |
2014 – Absaloms Heimsuchung | Roman |
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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2. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2009 by Sylvia Seyboth
Kopien, auch auszugsweise, bedürfen der Genehmigung der Autorin
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Umschlaggestaltung: Alexander Krause
Weitere Informationen unter www.sylviaseyboth.cms4people.de
ISBN: 978-3-7386-8239-7
Fehler sind da, um gemacht zu werden. Und ich bin mir sicher, einige dieser kleinen Teufel produziert zu haben. Bitte jedoch um Nachsicht, da der gesamte Roman ohne professionelle Hilfe entstand. Ich hoffe trotzdem auf Gnade vor des Lesers Auge zu treffen, und eine gute Unterhaltung bieten zu können.
Nebelschwaden stiegen wabernd vom Heidegras bewachsenen Bodengrund auf, wehten im Dämmerlicht vor ihnen über die schmale Straße, strichen mit ihren körperlosen Strukturen über die Motorhaube des goldbraunen Aston Martin. Wie von Zauberhand verflüchtigten sich die weißen Geisterhände über die Windschutzscheibe und das Autodach in ein dunkler werdendes Nirgendwo, das sie inzwischen von allen Seiten zu umgeben schien.
Einzig die beiden milchigen Streifen, der sich durch die unwirkliche Landschaft kämpfenden Scheinwerfer, durchbrachen die bizarr anmutende, um sie herum hermetisch abgeriegelt wirkende Welt.
Hin und wieder schmuggelte sich grobes Mauerwerk, das seitlich der eng bemessenen Landstraße parallel zu ihnen verlief, in das Bild ihrer, von der Umgebung abgeschlossenen, scheinbaren Fantasiewelt.
Der seine Umgebung mit einer undurchdringlichen Schutzschicht überdeckende Nebel hatte ihnen vor etwa einer halben Stunde, als abweisendes Tor zum Eintritt in eine neue, unbekannte Gegend gedient. Seitdem sie dieses befremdliche Tor durchfahren hatten, war es, als hätte sich die gewohnt geschäftige Welt der Neuzeit schlagartig zurückgezogen.
In dieser unwirtlichen Umgebung schien sich das gesamte Leben zu verlangsamen. Einen sich zur Ewigkeit ausdehnenden Herzschlag lang, war es, als würde sich ein Teil ihrer Vergangenheit mit dem Nebel verflüchtigen, der zäh an ihnen zu kleben schien und doch ständig in Bewegung war, gleich einem substanzlosen Strom aus farblosem Nichts.
Ein Gedanke, der für die junge Frau auf dem Beifahrersitz, nicht unbedingt unangenehm war. Die Vorstellung, gleich einer alten Haut, einen Teil ihres unrühmlichen Vorlebens einfach abstreifen und für alle Zeit aus ihrem Gedächtnis tilgen zu können, schien verlockend.
Sie hatte es inzwischen aufgegeben, hinter all dem ungastlichen Nebel, eine mit Sicherheit vorhandene Landschaft erkennen zu wollen. Die einzigen, für ihre Augen klar auszumachenden Dinge waren das Armaturenbrett des sündhaft teuren Autos, der restliche Innenraum des sportlichen Gefährts und das gut aussehende Profil ihres aufgezwungenen Chauffeurs.
Eindeutig zu wenig, um sie für die vergangene Stunde in einem Vakuum aus feuchtkalten Wetterbedingungen zu entschädigen.
Zum wiederholten Male glitt ihr wachsamer Blick über das Profil des großen, schlanken Mannes. Es fiel ihr schwer, ihn einzuordnen. Er war eine Mischung aus englischem Gentleman und gebildeten Dandy, mit einem Beruf, der ihr ganz und gar nicht behagte. Wenn sie auf etwas keinen Wert legte, dann auf die Gesellschaft eines in ihrem Privatleben schnüffelnden Bullen. Und genau das war er in ihren Augen, ein Schnüffler, ein Staatsscherge, ein Diener falscher Prioritäten. Darüber konnten weder sein gutes Aussehen noch seine ausgezeichneten Manieren hinwegtäuschen.
Da saß er, in seinem geschniegelten, faltenfreien Anzug. Die überkorrekt geschlungene, edle Seidenkrawatte ordentlich in den Bund seiner Hose versenkt, kein Anzeichen von Müdigkeit auf den makellos männlichen Gesichtszügen. Von seinen guten Manieren hatte sie sich in den letzten Tagen zur Genüge überzeugen dürfen. Die angenehmen Nebenerscheinungen, wie das Aufhalten einer Türe, oder das ganz selbstverständliche in eine Jacke helfen, waren Formen der Höflichkeit, die sie bisher in ihrem Leben nicht kennengelernt hatte. Es fiel ihr schwer diese Verhaltensweise nicht als den Versuch zu werten, an die Informationen zu gelangen, die er in ihrem Besitz vermutete.
Sehr schnell offenbarte sich jedoch, dass er dieses Verhalten jeder Frau gegenüber an den Tag legte und sie keineswegs eine zweckdienliche Sonderbehandlung erfuhr.
Daher ging sie ohne Scheu dazu über, das Verhalten der wohlerzogenen englischen Damen zu imitieren, die sie in seiner Gegenwart kennenzulernen unweigerlich gezwungen wurde. Die feinen Ladys rauschten im Fünfminutentakt auf Fluren, Zimmern, Treppenhäusern oder der Straße auf ihn zu. Sie ließen sich durch angedeutete Handküsse oder ein höfliches Nicken des Kopfes begrüßen und ergossen sich, in von grazilen Bewegungen untermalten, inhaltslosen Gesprächen. Dabei immer einen abschätzenden Seitenblick auf seine derzeitige, in ihren Augen offensichtlich unpassende Begleitung werfend.
Sie musste sich unweigerlich eingestehen, dass sie wahrlich nicht dem Bild Frau entsprach, welche sich für gewöhnlich im Dunstkreis seiner Herrlichkeit aufzuhalten pflegten. Die in Seide und Kaschmir gekleideten, wohlerzogenen Damen in ihren hochhackigen, edlen Pumps mit dem geschmackvoll dezenten, aber horrend teuren Schmuck, stellten die Gesellschaft dar, die er normalerweise um sich zu versammeln gewohnt war.
Verglich sie sich in ihrer schwarzen Lederhose, den ausgetretenen Bikerboots, dem locker über dem Hosenbund hängenden Herrenhemd und den Lederbändern um Arm und Hals mit diesen Damen der Gesellschaft, dann musste sie nicht über allzu viel Fantasie verfügen, um sich die Gedanken hinter den gepflegten, nahezu glattgebügelten Stirnen vorzustellen.
Hätte sie nicht über ein gesundes Selbstbewusstsein verfügt, sie wäre glatt in den wenigen, weit auseinanderliegenden Stunden seiner aufgezwungenen Gesellschaft in Depressionen versunken. So drückte sie nur bei jedem neuerlichen Angriff auf ihr Selbstwertgefühl das Rückgrat ein wenig mehr durch und bewahrte zu guter Letzt eine bessere Haltung, als es das lebenslange Training den Ladys der englischen Gesellschaft hatte vermitteln können.
Ihre Nasenspitze überragte, am Ende des ersten Tages ihrer aufgezwungenen Bekanntschaft, die allermeisten gesellschaftlichen Hindernisse. Das Unwohlsein in ihrem Inneren überspielte sie gekonnt.
Scotland Yard, war eigentlich eine irreführende Bezeichnung für die Londoner Polizeibehörde, sinnierte Chiara gelangweilt in ihrer Erinnerung an die letzten Tage verhangen. Die Bedeutung des Namens leitete sich aus dem englischen „Schottischer Hof“ ab und bezog sich im Besonderen auf die dort ansässige Kriminalpolizei, das Criminal Investigation Department (CID).
Die Namensgebung der Behörde leitete sich ehemals von dem ehemaligen schottischen Residenzhof ab, in dem sich das Hauptgebäude der Londoner Polizei zwischen 1829 und 1890 befand. Erst 1890 wurde Scotland Yard in ein neues Gebäude, in einer Straße am Themse-Ufer umgesiedelt, das Thames Embankment, das bald als New Scotland Yard bezeichnet wurde. Im Jahre 1967 eröffnete man schließlich das heutige Hauptgebäude in der Nähe des Parlaments.
Der Wechsel vom Bürogebäude Scottland Yards in die hochherrschaftliche Stadtwohnung Wetherbys, am Morgen ihrer gemeinsamen Abreise aus London, verschlug ihr in ungewohnter Weise die Sprache.
Ehrfürchtig strichen ihre braunen Augen über die Kostbarkeiten, die ganz nebensächlich auf edlen Abstelltischen, Kommoden, marmornen Kaminsimsen und in vor Sauberkeit glänzenden Glasvitrinen standen.
Ihren aufmerksamen Augen entgingen trotz Nervosität die Schätze nicht, die er sein Eigen nannte. Mit geübtem Blick unterschied sie zwischen erstklassigen Reproduktionen und echten alten Meistern, die die Wände im Übermaß schmückten. In Kürze hochgerechnet befand sich alleine in seinem Arbeitszimmer, ein geschätzter Wert von mehreren Hunderttausend Pfund, die auf den ersten Blick ungesichert auf einen kundigen Dieb warteten. Erst bei näherem Hinsehen erkannte sie, die geschickt verborgenen Sicherheitsmaßnahmen.
„Schmieden Sie schon wieder düstere Pläne, Miss Frankenburger?“, wandte er sich im einschmeichelnden Ton an sie.
Seine Aussprache machte aus ihrem eh schon ungeliebten, allzu deutschen Nachnamen, ein seltsam verzehrtes „Frenkenbörger“, das in ihren Ohren noch unangenehmer klang.
„Könnten Sie sich vielleicht endlich damit anfreunden, mich mit einem meiner Vornamen anzusprechen? Ihre Form der Aussprache meines Namens ist unerträglich“, erwiderte sie dreist in herausfordernden Tonfall, dabei fest in seine blauen, emotionslosen Augen blickend.
Angestrengt versuchte sie ihn, seit ihrem ersten Aufeinandertreffen, herauszufordern und von seinem hohen Ross auf ihre unterirdische Ebene herunterzuholen. Doch wie all ihre vorangegangenen Versuche, war auch dieser, dank seiner guten Erziehung, zum Scheitern verurteilt.
Mit einem angedeuteten, eleganten Wink seiner Hand, verwarf er diesen geradezu anmaßenden Gedanken. „Chiara oder Penthesilea erscheint mir nicht passend, nach einer derart kurzen und noch dazu rein dienstlichen Bekanntschaft.“
Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete er ihre Reaktion auf sein gespielt überhebliches Verhalten. Und wie erwartet tat sie ihm den Gefallen und viel prompt aus der für sie unpassenden Rolle der wohlerzogenen Dame, die sie sich im Lauf ihrer Bekanntschaft selbst auferlegt hatte.
Für einen kurzen Moment entglitten ihr die vorgetäuscht kühlen Gesichtszüge und ein wütendes Funkeln trat in ihre äußerst lebendigen Augen. „Na gut, Wetherby, dann bleiben Sie eben bei Frenkenbörger“, zischte sie ihn wenig damenhaft zwischen zusammengebissenen Zähnen an.
Er mochte es, wie sie seinen Namen aussprach. Die Betonung lag bei ihr auf den ersten Buchstaben, glitt über die mittleren hinweg und spuckte die letzten beiden geradezu verachtend heraus. Ein zartes Lächeln umspielte seine schmalen Lippen, wurde jedoch sofort wieder von seinem schauspielerisch trainierten Gesicht verdammt, um ihr keinen Einblick in seine wahren Gedanken zu ermöglichen.
Doch er hatte sie unterschätzt, ihr war der Sekundenbruchteil freundlichen Entgegenkommens nicht entgangen. Sie mochte aus einer anderen Gesellschaftsschicht stammen, ihr Auffassungsvermögen war jedoch überdurchschnittlich gut ausgeprägt.
„Sie spielen den Snob sehr überzeugend, aber vielleicht wären Sie bereit, mir ein paar Sprossen auf Ihrer mächtig langen Leiter des Dünkels nach unten entgegen zu kommen, dann fiele es mir auch leichter, ein wenig offener zu sein.“
Ihre Worte grenzten in seinen Augen an Erpressung. Seit er sie vor einigen Tagen, im Zuge seiner Ermittlungen kennengelernt hatte, war sie verstockt und zu keinerlei Aussagen bereit gewesen. Mit einem frechen Grinsen auf den wohlgeformten Lippen hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass es nichts gab, was sie mit ihm zu bereden hätte. Dabei lag es auf der Hand, dass sie voll in die Sache involviert war. Ein Blinder mit Krückstock hätte diesen Umstand erkannt, geschweige denn ein gut ausgebildeter Chefinspektor von Scottland Yard, wie er einer war.
Duzende von Besuchen in ihrer Unterkunft, einer kleinen, sauberen, mit viel Liebe zum Detail eingerichteten Wohnung am Rande Londons, hatten ihn nicht einen Deut weitergebracht in seinen Ermittlungen. Dabei stand für ihn fest, dass sie über das Grundwissen verfügte, welches ihn ohne Umwege zu den Beweisen gegen die eigentlich gesuchten Personen geführt hätte.
Und nun warf sie einen trockenen Krummen auf den Boden und erwartete, dass er ihn gleich einen gierigen Spatz verschlingen würde. Es stellte kein Problem für ihn dar, ihr entgegen zu kommen, er fühlte sich ihr keineswegs von seiner Abstammung her überlegen, Standesdünkel kannte er nicht. Aber er wollte sich nicht auf ihre raffinierten Spielchen einlassen. Er hatte sehr schnell erkennen müssen, dass dieses schlanke Persönchen, mit dem wild gelockten, schulterlangen, braunen Haar, über eine Gerissenheit verfügte, die einem Genie das Wasser reichen konnte.
Schon einmal hatte er sich von ihr gekonnt über den Tisch ziehen lassen und ihr damit ungewollt wichtige Informationen zugespielt. Das sollte ihm kein zweites Mal passieren. Durch seine Unvorsichtigkeit hatte sie erfahren, warum er den Aufenthaltsort ihres Bekannten herausfinden wollte, und sofort war sie in ihrem eisenbeschlagenen Schneckenhaus verschwunden und hatte nicht einmal mehr einen Fühler nach draußen gestreckt, um, wie sie so schön sagte, ihm entgegen zu kommen.
Das war auch der Grund für sein hartes Durchgreifen und die Beantragung eines Haftbefehls für sie gewesen. Doch auch in diesem Fall hatte er erkennen müssen, dass es sich sehr schwierig gestaltete, ihrer habhaft zu werden.
Mehrere Tage hatte sie ihn an der Nase herumgeführt, bis er mehr oder weniger durch einen Zufall ihrer habhaft wurde und sie unter Einsatz seiner Gesundheit in sein Büro schleifen konnte.
Er hatte nicht allzu viele Informationen über die Deutschstämmige, einzig die Erkenntnis, dass sie in Sachen Kickboxen kein Anfänger mehr war. Und dieses Wissen hatte sich schmerzhaft in seinen Körper eingeprägt.
Auf die zusätzliche Anzeige wegen Körperverletzung, Widerstandes gegen die Staatsgewalt und diverser anderer verbaler Entgleisungen ihrerseits, verzichtete er großzügig. Er wollte Auskünfte, keine Verhaftung aufgrund seines angeschlagenen Stolzes.
Um eine vorläufige Verhaftung kam er jedoch nicht herum, es sollte ein Einschüchterungsversuch sein, um sie zum Sprechen zu bewegen. Doch ganz gegen seine Erwartungen wurde sie nur noch verstockter. Wenn man das so nennen konnte, denn eigentlich hatte sie sich auch zuvor keinen Deut auf ihn zu bewegt.
Schließlich lies er sie nach einigen Stunden wieder laufen, in der Hoffnung, seine Handlungsweise würde ihr Vertrauen einflössen und ihre chronische Maulsperre lösen. Fehlanzeige!
Bei ihrer nächsten Begegnung, fünf Stunden später, erhielt er die nächste Tracht Prügel, diesmal allerdings in Vertretung für eine andere Person.
Er hatte sie in ihrer Wohnung aufsuchen wollen, um ihr noch einmal ins nicht vorhandene schlechte Gewissen zu reden. Als er die Wohnungstür angelehnt vorfand, war er von Misstrauen erfüllt in die, in nächtlicher Dunkelheit liegende Wohnung geschlichen. Es war nur seinen schnellen Reflexen zu verdanken gewesen, dass er es schaffte, sich unter dem hart ausgeführten Schlag wegzuducken und mittels seines laut in die Dunkelheit gerufenen Namens kenntlich machen konnte, womit er weiteren Angriffen rechtzeitig entgegenwirkte.
Ein Gutes hatten die nachfolgenden Schmerzen in seiner Schulter. Der ungewollte Angriff löste einen winzigen Teilbereich ihrer Verstocktheit. Sie berichtete von einer Person, die sie zu verfolgen schien und mit deren Erscheinen sie eigentlich gerechnet hatte.
Erstaunlicherweise nahm er ihr die Behauptung, nicht zu wissen, um wen es sich bei diesem geheimnisvollen Verfolger handelte, sogar ab. Sie war in eine Sache verstrickt, die nur allzu leicht Feinde auf den Plan rief und genau davor wollte er sie schützen. Darum nahm er sie erneut fest, diesmal in Schutzhaft.
Und in eben dieser befand sie sich immer noch und führte ihn auch weiterhin an der Nase herum, was den eigentlichen Grund seines Verhöres betraf. Es war nichts aus ihr herauszubekommen.
Sie wollte ein Entgegenkommen seinerseits? Das konnte sie haben. „Chiara“, begann er seinen einschmeichelnden Feldzug gegen die Mauern ihrer dahinter in einem Burgfried versteckten Redseligkeit. „Wenn Sie mich in alles einweihen, kann ich Ihnen am effektivsten helfen“, schlug der erste, seiner von einer verbalen Schleuder abgefeuerte Stein, in ihr schützendes Mauerwerk.
Hinterließ jedoch keinen bleibenden Schaden. Ganz im Gegenteil, eine Batterie brennender Pfeile war die Antwort und bohrte sich in sein genervtes Fleisch. „Ich liebe es, wenn ein Engländer für kurze Zeit seine Herkunft vergisst, nur, um auf den Jahrhunderte lang ausgetretenen Pfaden der Scheinheiligkeit zu wandeln. Aber das können Sie sich bei mir schenken, Wetherby.“
Wieder dieses merkwürdig betonte We…ther…by. Es reizte ihn zur Weißglut, nicht einen Schritt weiter zu kommen, aber er würde auf dem von ihr erwähnten Pfaden weiter schleichen, um vielleicht irgendwann auf den harten Boden ihres geteerten Wissens zu gelangen. „Ich glaube Ihnen, dass Sie nicht wissen, wer Ihr geheimnisvoller Verfolger ist. Aber Sie können mir keinen glaubhaften Grund liefern, warum Sie jemand verfolgen sollte und der einzige Grund, der mir dafür einfällt, wird von Ihnen hartnäckig bestritten. Mir bleibt also nur eine Wahl. Um Sie aus dem Dunstkreis der Gefahr zu bewegen, werde ich Sie solange in Schutzhaft behalten und an einen sicheren Ort verbringen, bis Sie entweder den Mund aufmachen oder Ihr unsichtbarer Feind sein Ziel erreicht hat.“
Dieser Gedanke war schon Stunden zuvor in seinem heimtückischen Gehirn gereift. Er kannte eine Person und einen Ort, der sogar den hartnäckigsten Schweiger mit Sicherheit zum Sprechen bewegen würde.
Und auf dem Weg dorthin befanden sie sich nun. Ein Lächeln der Vorfreude glitt über seine, auf die nur schleierhaft vorhandene Straße konzentrierten Züge.
Das heimtückische Grinsen entging Chiara nicht. In einer nervösen Geste wischte sie die lästigen Locken aus ihrem herzförmigen Gesicht, die braunen Augen weiterhin auf den Mann an ihrer Seite geheftet.
Als er ihr mitgeteilt hatte, sie zu ihrem eigenen Schutz an einem sicheren Ort zu verstecken, da dachte sie an ein Gebäude irgendwo in London oder dessen näherem Umland. Doch ihre Reise hatte sich als weitaus langwieriger herausgestellt, als sie in ihren kühnsten Träumen erwartet hatte.
Von London aus ging es über Luton, Northampton, Leicester, Nottingham unaufhaltsam gen Norden. Als sie die Grenze zu Schottland hinter sich gelassen hatten, machte sie ihren ersten schwerwiegenden Fehler. Sie offenbarte ihm, ihre stetig anwachsende Unsicherheit.
„Wohin um Himmelswillen bringen Sie mich? Wenn Sie mich foltern wollen, um an Informationen zu kommen, dann hätten Sie das auch in London tun können.“ Ihr Hinterteil schmerzte mittlerweile von der unendlich lang anmutenden Autofahrt, ihr Magen ließ seit etwa einer Stunde laut und vernehmlich ein durchgehendes gieriges Knurren vernehmen und ihr Gehirn schien aufgrund von Luftmangel, die sonst so rege Denkfähigkeit auf ein Minimum herab gefahren zu haben.
Es breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem bisher so verschlossenen Gesicht aus. Erste Erfolge seiner Taktik wurden bemerkbar.
Trotz verminderter Gehirntätigkeit wurde Chiara sofort auf den von ihr begangenen Fehler aufmerksam und unterließ von da an jegliche Konversation mit dem derzeitigen Staatsfeind Nr.1.
Doch inzwischen waren weitere zwei Stunden vergangen und der ehemals schmerzende Hintern war endgültig abgestorben. Das nagende Hungergefühl hatte sich, aufgrund totaler Hoffnungslosigkeit in Bezug auf feste Nahrungsaufnahme, wie von selbst verflüchtigt. Einzig ihr Kopf schien ihr wieder gute Dienste zu leisten. Nachdem sie eine halbe Stunde lang, auch gegen den vehementen Einspruch ihres Begleiters, dass Fenster auf ihrer Seite weit heruntergekurbelt und sich den frischen Wind um die Ohren hatte wehen lassen, begann ihr Gehirn die gewohnte Tätigkeit wieder aufzunehmen.
Der alles überdeckende Nebel verhinderte einen informativen Blick auf etwaige Straßenschilder, daher tappte Chiara, was ihren derzeitigen Aufenthaltsort betraf, völlig im Dunkeln.
Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, Wetherby danach zu fragen, doch das sichere Wissen, ein weiteres siegessicheres Lächeln zu ernten, verhinderte den Versuch, sich einen Überblick zu verschaffen.
Sein sandfarbenes Haar lag wie gemeißelt an seinem wohlgeformten Kopf an, daran hatte auch der Fahrtwind, der durch das heruntergelassene Fenster geweht war, nur vorübergehend etwas ändern können. Nachdem sie das Fenster endlich wieder geschlossen hatte, war es ihm mit einem Handgriff gelungen, die volle Pracht wieder zu Recht zu rücken.
Allein dieser Umstand führte dazu, dass Chiaras Gefühle für den Mann in ein noch negativeres Licht gerückt wurden. Wie konnte er es wagen, derart perfekt gestylt neben ihr zu sitzen, keinerlei Anzeichen von Müdigkeit zu zeigen und ohne Probleme eine stundenlange schweigsame Fahrt zu akzeptieren, während ihr jeder Knochen wehtat, ihr Haar wahrscheinlich eher einem zu oft benutzten Wischmopp glich und sie ein Gähnen kaum noch unterdrücken konnte?
Ein Blick zur Seite verdeutlichte Wetherby den zerrütteten Gemütszustand seiner „Gefangenen“ und versetzte ihn in einen siegessicheren Freudenzustand. Wenn er sie erst einmal an ihrem Zielort abgeliefert und mit ihrem neuen „Beschützer“ konfrontiert hatte, war es sicher um das Letzte bisschen Selbstbeherrschung geschehen.
Er wusste, wie unfair sein Vorhaben gegenüber dem Mann war, den er aufzusuchen gedachte, aber es schien ihm die wirksamste Waffe, gegen die verstockte zukünftige Zeugin, seinen besten Freund zum Einsatz zu bringen.
Trotz seines makellosen Aussehens fühlte er sich keineswegs mehr taufrisch. Auch sein Magen verlangte energisch nach Nahrungsaufnahme, allerdings wesentlich weniger lautstark, als der ihre. Seine Gesäßmuskeln verdienten ihren Namen nicht mehr, sie hätten in Gesäßburger umgetauft werden müssen und seine scheinbare Aufmerksamkeit ging langsam aber sicher, in einen von Sekundenschlaf bedrohten Zustand über. Es war ein Glück, das sie sich bereits ganz in der Nähe ihres Zieles befanden, sonst hätte er nicht mehr für ihre Sicherheit garantieren können. Sein Fahrstil ließ merklich nach und grenzte ans Selbstmörderische.
(Michael Bruce 1746 – 1767)
Endlich rollte der Wagen auf einer großzügigen Kiesauffahrt aus und der monotone Motor verstummte zum ersten Mal seit Stunden. Die kurzen Pausen an diversen Tankstellen und Toilettenhäuschen hatten weniger der Entspannung als dem Verrichten der nötigsten menschlichen Bedürfnisse gedient. Die gierig verschlungenen, wenig schmackhaften Sandwiches stillten den Hunger zwar zeitweilig, hinterließen aber auch ein Gefühl von sinnloser Völle. Der an hochwertig zubereitete Mahlzeiten gewöhnte Magen des Engländers konnte sich nur äußerst widerstrebend mit der Nahrungszufuhr von überlebenswichtigen Halbheiten abfinden.
Der sie immer noch umgebende Nebel verdichtete sich um das zur Ruhe gekommene Transportmittel und verwehrte somit weiterhin einen klaren Blick auf die nähere und weiter entfernte Umgebung.
Dankbar für den Umstand endlich ihre abgestorbenen Glieder wieder in Bewegung versetzen zu dürfen und somit das alte Leben in ihre schmerzenden Muskeln zurück zu bringen, entstieg Chiara dem Aston Martin und lehnte sich in Dehnübungen begriffen mit den Händen gegen den Rand des Autodaches.
Zu sehen gab es bei der sie mittlerweile umgebenden Dunkelheit und dem allzeit auf ihnen lastenden Nebel sowieso nichts.
Ihr fragender Blick auf die Armbanduhr verkündete eine nachtschlafende Zeit von 2:36 Uhr und beantwortete gleichzeitig den Umstand jeglichen Fehlens von künstlicher Beleuchtung um sie herum. Um diese Zeit lag das hinter einer Mauer aus Nebel verborgene Gebäude natürlich in absoluter Dunkelheit versteckt.
Es hätte sie nicht gewundert, wenn der Bewohner des unsichtbaren Hauses sich nicht erbarmte, ihnen die Tür zu öffnen. Sie wusste nicht ob ihr Begleiter die Voraussicht besessen hatte ihren Besuch anzukündigen.
Wetherby hatte sich inzwischen des spärlichen Gepäcks aus dem Kofferraum bemächtigt und trat lässig neben sie, als wäre er gerade erst von London aufgebrochen und die stundenlange Fahrt hätte niemals stattgefunden.
Neidvoll musste sie ihm zugestehen, dass er, was lange Autofahrten anging, eindeutig über die bessere Kondition verfügte. Ihr Zustand ließ sich auch freundlich umschrieben nur mit lädiert bezeichnen.
Die Aussicht auf eine warme Dusche und ein hoffentlich bequemes Bett spornte sie an und wischte ihre zweifelsohne vorhandenen Ängste vor dem Kommenden beiseite. Mit einer energischen Geste schlug sie die Wagentür zu und folgte dem geschniegelten Engländer über den Kiesweg.
Der Weg schien ihm wohlbekannt zu sein, ohne Zögern orientierte er sich, und kaum zehn Meter weiter betraten sie die ersten steinernen Stufen, die hinauf zu einer überdimensionalen Holztür führten, die von Eisenbeschlägen verstärkt wurde und den Eindruck erweckte, jeglichen Besuch von vorneherein abwehren zu wollen.
Der nagende Zweifel kämpfte sich bei Chiara wieder in den Vordergrund. Warum brachte er sie ausgerechnet hierher? Hätte es kein näherliegendes Versteck gegeben?
Forschend tasteten ihre Augen das raue Mauerwerk ab, was ihrer düsteren Stimmung nicht unbedingt zuträglich war. Aus groben Steinklötzen erbaut ragte die Gebäudefront vor ihr auf und schien ebenfalls ein deutlicher Verweis auf eine ungastliche Gesinnung des Besitzers zu sein.
Die Fenster im 1. Stock konnte sie aufgrund des Nebels nicht ausmachen, aber schon der Anblick der von schweren Läden verschlossenen Fenster im Erdgeschoss, trug weiter zu dem abweisenden Eindruck bei, der sich ihrer in den letzten Minuten bemächtigt hatte.
Völlig unbefangen betätigte Wetherby hingegen zuerst die Glocke, die einen harmonischen, dunklen gongähnlichen Ton ins Innere des Hauses aussandte, nur um einen kurzen Moment später ungeduldig den schweren, gusseisernen Türklopfer in Anspruch zu nehmen.
Seine Anstrengungen schienen nicht von Erfolg gekrönt zu werden. Es herrschte absolute Stille hinter der schweren Holztür. Das hielt Wetherby nicht davon ab wiederholt die Glocke und den Klopfer zu benutzen bis sich endlich hinter einem der kleinen, ladenlosen Fenster seitlich der Tür ein zarter Lichtschein abzeichnete, der näher zu kommen schien.
„Ich glaube ich bin ins Mittelalter zurückversetzt. Benutzen die hier etwa noch Kerzen? Bisher dachte ich die Glocke wäre elektrisch betrieben. Aber vielleicht sitzt da auch nur ein armer Sklave hinter der Tür, angekettet, auf Befehle wartend die ihn dazu veranlassen laut aufzuheulen, wenn der Knopf betätigt wird“, witzelte sie mit einem schiefen Grinsen auf dem müden Gesicht.
Erstaunt blickte Wetherby auf sie herab. Er war einen halben Kopf größer als sie mit ihren 1,72 m Körpergröße und anscheinend benötigten die ca. 20 cm Höhenunterschied von ihrem Mund zu seinem Gehirn eine gewisse Zeitspanne um ihren Witz an sein Verständnis weiterzureichen, denn es dauerte einen Augenblick, bevor sich sein Gesicht zu einem Lächeln verzog. Dann strahlte er sie jedoch offen an und stieß einen einzigen kurzen abgehackten Lacher aus.
Chiara zog ihre schmalen Augenbrauen zu einem Bogen nach oben, was eine Kräuselung ihrer sonst so glatten Stirn zur Folge hatte. War das ein Lachen? Wie klang es wohl, wenn sich dieser englische Stockfisch wirklich amüsierte? Kam dann ein herzhaftes: „Ha, ha“, über seine Lippen?
Ihre Aufmerksamkeit wurde von den schabenden Geräuschen hinter der Tür abgelenkt. Offenbar löste jemand einen Riegel, dann noch einen und schließlich sogar einen Dritten. Erst danach vernahm man das Drehen eines Schlüssels im überdimensionierten Schloss und die Tür wurde langsam einen Spaltbreit aufgezogen.
Ein müde blinzelndes Gesicht schob sich in die Aussparung zwischen Tor und Türrahmen und hob mit einer anscheinend ohne dazugehörigen Körper fungierenden Hand einen altmodischen Kerzenhalter in die Höhe, um die späten Besucher besser erkennen zu können.
Der alte Mann benötigte einen Moment, bis er sein männliches Gegenüber im Zwielicht erkannte, dann breitete sich allerdings schlagartig ein breites Grinsen auf seinem schrumpeligen, einem alten Apfel gleichenden Gesicht aus, und die schwere Holztür wurde einladend weiter aufgezogen.
„Master Wetherby, welch eine Freude!“, stieß er zwischen nicht vorhandenen Zähnen lispelnd hervor und griff nach der mit Chiaras Rucksack belasteten Hand um sie trotz der daran hängenden Last erstaunlich kräftig zu schütteln. „Ihr habt euch viel zu lange nicht mehr hier blicken lassen. Dabei tut es Master Bartholomew so gut, wenn Sie Zeit mit ihm verbringen.“
„Meine Güte“, ging es Chiara durch den Kopf. „Ich bin tatsächlich im Mittelalter gelandet und der Aston Martin war nur ein Ablenkungsmanöver, damit ich nicht früh genug erkennen konnte, dass wir uns in einer Zeitmaschine rückwärts bewegen. Kein Wunder, das die Fahrt so lange gedauert hat, bis ins Jahr 1400 ist ein weiter Weg.“
Außerdem schien es sich bei dem Bewohner dieses Hauses um einen kranken oder senilen Mann zu handeln, der den Besuchen des schnöseligen Wetherby geradezu entgegenfieberte. Das waren schöne Aussichten. Sie würde die nächsten Tage in der Gesellschaft von alten, ausgelaugten Menschen verbringen, ihnen beim mühseligen Kauen zusehen, und sich in Unterhaltungen über deren Jugend, und die, mit dem Alter entstehenden gesundheitlichen Wehwehchen ergießen. Vielleicht war eine allumfassende Aussage doch die erfreulichere Variante ihrer nahen Zukunft.
„Ist er noch wach, oder hat er einfach vergessen, dass wir heute ankommen?“, fragte Wetherby mit einem Augenzwinkern und humorigen Unterton in der angenehmen Stimme.
Der alte Mann nahm dem willkommenen Gast hastig den Rucksack ab und wies mit dem Arm, der den Leuchter hielt mit einer einladenden Geste ins Innere des Hauses. „Master Bartholomew erwartet euch.“ Nach einem kurzen Zögern fügte er flüsternd hinzu: „Allerdings hat er nicht mit einem weiteren Gast gerechnet.“
Ein verhuschter Blick in Chiaras Richtung zeigte sehr deutlich das ein Besuch, wenn er unerwartet kam, nicht unbedingt gern gesehen war bei „Master Bartholomew“.
Es fiel Chiara schwer, ein Grinsen zu unterdrücken. Vielleicht hatte sich Wetherby verrechnet und „Master Bartholomew“ verweigerte ihm den Gefallen, seinen ungebetenen Gast aufzunehmen. Dann hatte er ein ernst zu nehmendes Problem und musste sich eine neue Möglichkeit ausdenken, um sie gleichzeitig unter Aufsicht zu stellen und aus der erhofften Informationsquelle schöpfen zu können.
„Er wird mir schon nicht den Kopf abreißen. Wo ist er denn?“, ging Wetherby locker über den Einwand des Alten hinweg.
Der ließ sich jedoch nicht so schnell von seinen offen zutage tretenden Ängsten befreien: „Er wird überhaupt nicht begeistert sein. Seine Launen sind in letzter Zeit, falls das überhaupt noch möglich ist, wesentlich schlimmer geworden. Es kann ihm kaum noch jemand etwas recht machen. Die Bediensteten wechseln fast wöchentlich und sogar mit Mrs. Livington und mir redet er kaum noch. Er sperrt sich entweder stundenlang in seinem Glaskasten ein oder reitet wie ein Wahnsinniger durch die Gegend.“
Ein nachdenklicher Ausdruck schlich sich in Wetherbys Augen und er warf einen zweifelnden Blick auf Chiara. War es ihr wirklich zuzumuten, hier untergebracht zu werden? Er kannte die Launenhaftigkeit des Mannes, dem er sie anvertrauen wollte, nur zu gut und wusste, wie leicht ein schwacher Mensch an ihm zerbrechen konnte.
„Und wenn er der Teufel in Person ist, ich werde dieses Haus nicht vor morgen verlassen. Mich bekommen keine zehn Pferde zurück in diesen verdammten, unbequemen Wagen nur um weiter durch die Gegend geschaukelt zu werden“, wischte sie jeden Zweifel an ihren Ansichten aus der Welt. Störrisch die Arme vor der Brust verschränkt stampfte sie gleich einem kleinen Kind mit dem Fuß auf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.
Nun gut, sie wollte es also nicht anders. Dann sollte sie den Besitzer des Hauses kennenlernen und sich seinem aufbrausenden Temperament stellen, entschied Wetherby todesmutig.
Er nickte dem alten Mann auffordern zu und folgte ihm dann im kurzen Abstand durch die große Halle auf einen Raum zur Linken zu.
Unaufgefordert folgte Chiara dem Chefinspektor und dem Faktotum des Hauses auf die zweiflüglige Tür zu, die in ihren Dimensionen ebenfalls eher an ein Burgtor erinnerte als an eine gewöhnliche Zimmertür.
Ihren Rucksack und den Kerzenleuchter in den Händen haltend, versuchte der alte Mann das Tor zur Kammer des Schreckens, in der sich „Master Bartholomew“ befinden musste, zu öffnen.
Langsam gingen mit Chiara die überanstrengten Nerven durch. Sie konnte den mühseligen Versuchen des Alten, die Tür zu öffnen nicht mehr einfach nur zusehen. Hilfreich griff sie nach dem riesigen Knauf und schob die erstaunlich leicht beiseite schwingende Tür kräftig nach innen auf.
Ihrem Eintritt in den Raum, der dahinter lag wurde, jedoch durch Wetherbys Hand, die sich mit festem Griff um ihren Oberarm legte, Einhalt geboten. Er schüttelte abwehrend den Kopf.
„Sie bleiben, wo Sie sind. Ich werde zuerst alleine mit ihm reden. Verstanden?“, sprach er leise aber bestimmt auf sie ein.
Ihre auf dem Knauf ruhende Hand verkrampfte sich vor unterdrückter Ungeduld.
„Richten Sie dem Herrscher der Finsternis schöne Grüße von mir aus und teilen Sie „Master Bartholomew“ mit, dass ich notfalls hier auf dem Läufer vor seiner Türe nächtige, wenn ich nicht bald hereingebeten werde.“
Ihre Drohung wurde von einem entsetzten Blick des Alten und einem schelmischen Grinsen des Chefinspektors begleitet, änderte jedoch nichts an der Tatsache das Wetherby das Zimmer alleine betrat und die Tür hinter sich zuzog.
Ein wenig nutzlos stand sie vor dem Tor zur Hölle und starte auf die Maserung des dunklen Holzes, nur beschienen von dem spärlichen Licht des Kerzenhalters.
Doch auch dieses wenige Licht entfernte sich kurz darauf ein paar Meter, und der alte Mann entzündete einen weiteren kerzenbestückten Kandelaber, den er ihr mit einem beschwichtigenden Lächeln reichte. Wortlos entfernte er sich und verschwand hinter einer erstaunlich kleinen Tür neben der breiten Treppe, die nach oben in die erste Etage führte.
Erstaunt verfolgte Chiara das Schauspiel. Nun noch nutzloser, dafür mit einer eigenen Lichtquelle ausgestattet stand sie weiterhin vor dem Tor und wartete auf Einlass. „Welch ein Fortschritt“, ging es ihr durch den Kopf.
Bisher hatte sie nur Angst vor einem unbekannten Verfolger haben müssen, der vielleicht nur in ihrer überspannten Fantasie existierte. Nun musste sie sich auch noch vor einem unheimlichen Gastgeber fürchten, der offensichtlich fähig war, jeden alleine durch seine Anwesenheit in die Flucht zu schlagen. Es ging aufwärts.
Neugierig näherte sie ihr Ohr dem Holz der Tür an und lauschte auf verräterische Geräusche im Inneren. Das dicke Holz ließ jedoch keinen Laut zu ihr nach draußen dringen.
Enttäuscht zog sie sich ein Stück zurück. Was ging wohl gerade dort drinnen vor sich?
Die Frage nach den Vorgängen war zu drängend um sich ihr zu verschließen. Daher stellte sie den Kerzenhalter neben sich auf den Boden und griff mit beiden Händen nach dem Knauf. Vorsichtig bewegte sie ihn Millimeter für Millimeter nach unten, bis sich die Tür einen winzigen Spaltbreit aufziehen ließ.
Es drang gedämpftes Licht durch den schmalen Spalt zu ihr heraus, ein Blick in den Raum wurde ihr allerdings verwehrt. Sie wollte nicht riskieren entdeckt zu werden, daher blieb die Ritze so eng wie möglich bemessen, es reichte, wenn sie dem Gespräch folgen konnte.
Und tatsächlich drang Wetherbys sanfte Stimme leise aber noch verständlich an ihr empfindliches Gehör. „Du bist mir einen Gefallen schuldig.“
Sie rückte ihr Ohr ein wenig näher an den Spalt.
„Wofür?“, donnerte ein lauter Bariton in erstaunlicher Härte an ihr neugieriges Organ.
Beinahe wäre sie einen Schritt zurückgewichen und hätte die Tür mit sich gezogen. Es war nur ihrer angeborenen Raffinesse zu verdanken, das sie sich nicht dazu hinreißen ließ, sondern starr der Dinge harrte, die da noch kommen mochten.
„Etwa für deine seltenen Besuche in meiner Einsamkeit? Alter Freund, du nimmst dir ein wenig zu viel heraus. Du weißt, wie ich über Besuch im Allgemeinen, und Unangemeldeten im Besonderen denke. Es kommt gar nicht infrage, dass hier ein Frauenzimmer einzieht und mein Leben ihretwegen aus den Fugen gerät“, fuhr die raue, ausdrucksstarke Stimme Wetherby hart und unnachgiebig an.
Schritte bewegten sich durch den Raum. Einen Moment glaubte Chiara Wetherby würde das Zimmer unverrichteter Dinge wieder verlassen und drückte die Klinke nach unten um rechtzeitig die Tür ins Schloss fallen lassen zu können und nicht als heimlicher Lauscher enttarnt zu werden.
Doch die einschmeichelnde Stimme ihres Leibgardisten drang erneut zu ihr heraus und ließ sich nicht von dem eigentlichen Zweck dieser Reise abbringen: „Sie ist in Gefahr und mir fällt kein besserer Platz ein, um sie für eine Weile sicher unterzubringen. Du wärest in ihrer Nähe und könntest ein wachsames Auge auf sie haben. Es wäre mir eine große Hilfe!“
Nun appelliert er auch noch an das Gewissen des „Masters“ spottete Chiara in Gedanken.
„Komm mir nicht auf diese Tour. Für mich ist es völlig gleichgültig, was mit der Frau geschieht. Als du angerufen hast, dachte ich es handele sich um einen Freundschaftsbesuch. Ich habe nicht erwartet als Hotel für Straffällige missbraucht zu werden“, lehnte die Baritonstimme auch für die Zukunft etwaige Hilfsaktionen äußerst energisch ab.
Sie war nahe dran die Tür aufzureißen, und diesem ungastlichen Stimmwunder ihre Meinung zu sagen. Was hieß denn hier „Straffällige“? Noch stand sie nur unter Verdacht, es gab keine Beweise für ihre angeblichen Schandtaten.
Auch mit Wetherbys Ruhe schien es langsam ein Ende zu haben. Im veränderten knurrigen Tonfall trat er seinem befreundeten Widersacher energisch entgegen. „Verdammt! Was ist nur los mit dir? Du warst doch früher nicht so. Deine Launen werden immer unerträglicher. Steig endlich von deinem Streitross und versöhne dich mit dem einfachen Volk.“
Der Appell traf auf ablehnende Ohren. Die kräftige, dunkle Stimme senkte sich zu einem leisen, dafür umso bedrohlicheren Tonfall. „Bancroft Maitland Wetherby, wir sind zu lange Freunde, als dass ich das einfach vergessen könnte. Aber du kannst nicht über mein Leben bestimmen. Mein Weg hat sich vor acht Jahren schlagartig in eine andere Richtung gewandt. Das ist nicht mehr zu ändern. Noch sind es mein Haus und mein Land, es obliegt einzig mir zu entscheiden, wen ich in meiner Nähe dulde.“
Im Grunde gab Chiara dem Mann recht. Auf seinem eigenen Besitz hatte er uneingeschränkt die Wahl, wen er als Gesellschaft zuließ und wem er sich verweigerte. Allerdings hätte sie allzu gerne gewusst, wodurch seine strikte Ablehnung begründet wurde.
Nicht etwa dass sie scharf darauf gewesen wäre sich diesem Rüpel aufzudrängen, aber ein triftiger Grund für seine rigorose Ablehnung einer für ihn Unbekannten grenzte ans Neurotische.
Wetherby schlug hingegen ihrer Erwartung plötzlich versöhnlicher Töne an. „Sieh sie dir doch erst einmal an. Sie ist nicht ganz unser gewohnter Umgang, aber ganz erträglich. Du musst sie ja auch nicht wie ein kleines Kind rund um die Uhr beaufsichtigen. Hier wird man sie wohl kaum finden, sie wäre also nur eine Art von Hotelgast, der einem hin und wieder über die Füße läuft.“
Angewidert verzog Chiara hinter ihrer schützenden Tür das Gesicht. Nicht der gewohnte Umgang und ganz erträglich? Was war sie für Wetherby, eine untere Kaste, ein unter seiner Würde befindliches Lebewesen? Nun wusste sie doch wenigstens, woran sie war. Er benutzte sie, um an die heiß ersehnten Informationen zu kommen, es ging ihm nicht um ihren Schutz als menschliches Wesen, sondern um die lebenserhaltenden Maßnahmen bis zu ihrer Aussage.
Im Geiste sah sie sich an Schläuche angeschlossen, die einerseits die lebenswichtige Ernährung und Atemzufuhr sicherten und anderseits wurde gleichzeitig mit einer riesigen Pumpe das Wissen um seinen Fall aus ihrem geschwächten Körper herausgesogen. Die leergesaugte Hülle ihres nutz- und wertlosen Körpers wurde dann nach Verrichtung der ihr zugedachten Aufgabe möglichst unauffällig im Müll der Gesellschaft entsorgt.
Es kehrte eine geradezu beängstigende Ruhe in dem Raum ein. Dann schien jemand ungeduldig mit den Fingern auf Holz zu trommeln. Das rhythmische Geräusch drang nervenaufreibend lange an ihr neugierig gespitztes Ohr, ehe die kraftvolle, energische Stimme, diesmal erstaunlich sanft laut wurde. „Entweder willst oder kannst du meine Situation nicht verstehen. Nichts ist noch, wie es einmal war.“ Es schwang ein trauriger Unterton in der eigentlich sehr angenehmen rauchigen Stimme mit.
Sogar der wortgewandte Wetherby, schien darauf keine Antwort parat zu haben. Sein Schweigen lastete auf Chiara wie ein Damoklesschwert. Die Entscheidung über ihren weiteren Verbleib hing in der Luft.
Die nervösen Finger schlugen weiter ihren nervenaufreibenden Takt.
„Ich werde dir helfen, aber glaub nicht mich immer so leicht um den Finger wickeln zu können“, ließ sich endlich wieder die raue, dunkle Stimme vernehmen.
Vorsichtig ließ Chiara die Klinke einrasten, nahm den Kerzenleuchter vom Boden auf und stellte sich abwartend ein paar Meter entfernt von der Tür auf.
Wenn dies „Master Bartholomews“ Variante von einem leichten Überzeugungsfeldzug war, dann wollte sie lieber nicht erfahren, was es hieß, mit ihm eine echte Meinungsverschiedenheit auszufechten. Was hatte den Mann nur derart hart werden lassen? Es musste ein Ereignis gewesen sein, das vor acht Jahren seinen Anfang genommen hatte, das war alles was sie aus dem Gespräch hatte herausfiltern können.
Das Alter des Mannes konnte sie anhand der Stimme nicht einordnen, aber sie tippte auf einen älteren Herrn mit schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit der sich nun freiwillig für den Rest seines Lebens von den Menschen absonderte. Ein spleeniger Kauz ohne Drang nach Gesellschaft. Ihr erster Gedanke vom Altherrenklub dem Sie anvertraut werden sollte stieg wieder in ihr auf und gaukelte ihr Bilder von einem todlangweiligen Aufenthalt in diesem stromlosen Haushalt vor.
Ihre durchwegs negativen Gedanken wurden von der sich öffnenden Tür unterbrochen. In aller Unschuld blickte sie dem auffordernd winkenden Wetherby entgegen und trat zu ihm.
Vertraulich beugte er sich zu ihrem bereits reichlich abgenutzten Ohr herunter und flüsterte: „Nehmen Sie ihn nicht allzu ernst, er ist nicht halb so schlimm, wie er sich gibt.“
Mit diesen Worten machte er den Weg in die Höhle des Löwen für sie frei. Einen Augenblick lang zögerte sie, dann kehrte der gewohnte Kampfgeist zurück und sie durchschritt den Torbogen mit dem Kerzenhalter in der Hand. Ein schneller Blick in die Runde zeigte ein Arbeitszimmer im Stil des letzten Jahrhunderts. Ein wuchtiger Schreibtisch stand vor der Fensterfront, der dazugehörige mächtige Lederchefsessel wandte dem Fenster den Rücken zu. Er war leer.
Außer dem Feuer im Kamin gab es nur eine einzige weitere Lichtquelle in dem etwa acht Mal acht Meter großen quadratischen Raum. Eine einzelne, breite von verschlungenen Mustern überzogene bordeauxfarbene Kerze auf einem massiven Messinghalter stand auf dem Schreibtisch.
Ehe Chiara sich versah, nahm Wetherby ihr den Leuchter aus der Hand und verschwand, die Tür leise hinter sich ins Schloss ziehend aus dem Raum.
Die leicht rückständigen Zustände in diesem Haus erstaunten Chiara ein ums andere Mal. Verfügte dieses Gebäude tatsächlich nicht über Elektrizität? Sie ahnte, dass man sie in die hintersten Gebiete Schottlands verpflanzt hatte, aber sogar hier sollte man mittlerweile über den Luxus der Neuzeit verfügen.
Ein wenig hilflos stand sie in der Nähe der Tür und versucht in dem zusätzliche Schatten vortäuschenden Dämmerlicht die zweite im Raum befindliche Person auszumachen. Doch außer den fast jeden Zentimeter der Wände überziehenden Bücherregalen konnte sie keine Details erkennen. Und sogar die machten sich nur als Schemen in der sie umgebenden Lichtlosigkeit aus.
Im hintersten Winkel, vor einem jener Regale, die vom Boden bis hinauf zu der etwa vier Meter hohen Decke reichten, schien sich ein noch dunklerer Fleck abzuzeichnen. Doch dabei konnte es sich wohl kaum um den älteren Herrn handeln, den sie zu sehen erwartete. Der Schatten war sehr groß und schien kerzengerade zu sein. Vielleicht eine Stehlampe?
Die Stehlampe begann sich zu bewegen und streckte einen ihrer Arme nach einem der Bücher in den Regalen aus.
Jedenfalls nahm Chiara an das der Schatten diese Handlung vollführte, es war für sie in der Dunkelheit, genaugenommen nicht wirklich zu erkennen.
Langsam zog die zum Leben erwachte Lampe das Buch aus dem Regal und begann darin zu blättern. Das schloss Chiara aus dem eindeutigen Geräusch von raschelnden Blättern, womit auch ihr erster Verdacht bestätigt wurde.
Eine wirklich unsinnige Handlung in einem Raum ohne Licht ging es ihr durch den verwirrten Kopf. Das seltsame Benehmen ihres unfreiwilligen Gastgebers schien sich von Minute zu Minute zu steigern.
Sie verengte die Augen zu Schlitzen um in dem täuschenden Halbdunkel konkretere Konturen ihres Gegenübers ausmachen zu können, aber er blieb ein undefinierbarer Schatten vor noch mehr Schatten.
Das Rascheln verstummte.