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Im Laufe des Lebens wechseln die meisten Menschen ihren Wohnsitz. Zur Heimat wird nur ein Einziger. Oft ist es der Ort der Kindheit. Mit der Erinnerung an die Schulzeit, die ersten Freunde, Nachbarn, Traditionen zieht schafft dieser Begriff ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit . Ganz gleich, ob man im Verlauf seines Lebens an verschiedenen Orten sesshaft wurde, der Begriff Heimat ist fest belegt. Meine Heimat ist die kleine Stadt Geising im Osterzgebirge, der Ort meiner Kindheit und Jugend.
Ich wurde zum denkbar ungünstigen Zeitpunkt geboren. Die vorbestimmte Zeit war am zweiten Februar 1945 zu Ende. Ich musste heraus aus dem schützenden Mutterleib und hinein in die kalte, lebensbedrohliche Welt der letzten Kriegswochen. Noch war die Bergstadt Altenberg verschont von Zerstörungen, das Leid war aber längst in den Familien angekommen. Die Ahnung, Furcht oder Gewissheit einer nahen , unausweichlichen Katastrophe hing wie eine dunkle Gewitterwolke über dem Alltag.
Ein schwerer Schicksalsschlag hatte unsere Familie bereits getroffen. Der Vater war wenige Tage vor meiner Geburt gestorben, weit entfernt in einem französischen Gefangenenlager, geschwächt von Hunger, Krankheit, Hoffnungslosigkeit. Einen Tag vor seinem Tod schickte er die letzte Feldpostkarte auf den Weg .Die Beförderung solcher Nachrichten hatte keine Priorität gegenüber den verzweifelten Bemühungen um den Endsieg mit Chaos, Tod und Vernichtung. So erreichte uns dieses letzte Lebenszeichen und die amtliche Todesnachricht erst am Ende des folgenden Jahres. Diesem Umstand verdanke ich mein Leben. Mutter hatte mir Jahre später gestanden, dass sie mit dem Wissen vom Tod des geliebten Gatten die ganze Familie ausgelöscht hätte. Ein Schicksal, das am Ende dieses sinnlosen Krieges durchaus nicht selten war. So war die Hoffnung auf eine Rückkehr des Vaters die wichtigste Motivation für das Überleben unserer Familie.
Mutter behauptete, ich sei ein Wunschkind gewesen. Für meine Geschwister mochte das zutreffen. Als die beiden Schwestern geboren wurden, war Vater beamteter Schuldirektor mit einer glänzenden Karriere im sächsischen Landwirtschaftsministerium vor Augen. Mutter, eine schöne junge Frau aus Siebenbürgen, war angekommen in einer neuen Heimat , geachtet, ein bescheidener Wohlstand inklusive Dienstwohnung, Auto, Hund und Dienstmädchen war garantiert.
Als der Krieg begann, wurde Vaters Schule geschlossen und er selbst als Unteroffizier an die Front befohlen. Ein erster Heimaturlaub genügte, und das dritte Kind der Familie Weise machte sich auf den Weg- mein Bruder Walther. Vater war vom raschen Endsieg und der Fortsetzung seiner Karriere fest überzeugt -ein folgenschwerer Irrtum. In logischer Folge wurde er in fünf Kriegsjahren befördert, verwundet, ausgezeichnet und im August 1944 von amerikanischen Truppen in Südfrankreich überraschend gefangen genommen. Drei Monate vorher war er zum letzten Mal zu Hause .Ein freudiges Ereignis für die ganze Familie und der Anlass für meine Existenz. Wollten die Eltern unter diesen Umständen wirklich ein viertes Kind?
In den fünf Monaten Gefangenschaft wurde Vater krank , gedemütigt, in seinem Stolz gebrochen. Er verstarb schließlich am 30. Januar 1945, vom Hunger geschwächt, an einer Lungenentzündung .
Teile der geschlagenen deutschen Armee wollten sich wenige Wochen danach in Richtung Prag absetzen und ließen viele Waffen in Altenberg zurück. Die nacheilende Rote Armee fand sie, und der nächste Schicksalsschlag folgte. Zusammen mit anderen Familien musste Mutter unser Haus verlassen, mit drei Kindern im Alter von zehn, acht und vier Jahren, einem Leiterwagen mit wenigen Habseligkeiten- obenauf ich plärrender Säugling.
Der 9.Mai markierte für Mutter das Ende des gutbürgerlichen Lebens, die russischen Soldaten feierten ihn als Sieg. Vom Barackenlager am Geisingberg konnten wir an diesem Tag unser brennendes Haus sehen, endgültiges Symbol für die zerbrochene Existenz unserer Familie.
Die Eltern unseres Dienstmädchens, Malermeister Tröger und seine Frau, boten uns Unterschlupf in ihrem kleinen Haus in Geising. Die Hoffnung auf die Rückkehr unseres Vaters aus der Gefangenschaft hielt Mutter am Leben. Helfende Verwandte waren unerreichbar. Sie lebten in der Nähe von Wurzen und im fernen Siebenbürgen. Irgendwie schaffte sie es jeden Tag, karges Essen und Kleidung zu besorgen. Mich kümmerte das wenig. Mit dem typischen Egoismus des Säuglings forderte ich die tägliche Portion Milch. Mutter verdiente sie sich mit harter Arbeit in der Mühle und Landwirtschaft von Paul Petzold. Reste von Brot aus seiner Bäckerei stillten den schlimmsten Hunger meiner Geschwister. Als dann die Nachricht vom Tod des Vaters eintraf, war schon wieder ausreichend Lebensmut da.
So wurde die kleine , von Zerstörung verschonte Stadt Geising zur Heimat meiner Kindheit und Jugend, die ich trotz Armut und Verzicht als glücklich empfunden habe. Freunde fand ich schnell. Die Wälder zu beiden Seiten des Tales waren unsere Spielplätze, Holzstöcke und Tannenzapfen das Spielzeug . Abenteuer warteten zu jeder Zeit und an vielen Orten auf mich. Die Wälder waren voll von zerstörtem Kriegsgerät und Munition. Die Erwachsenen hatten keine Zeit, uns zu kontrollieren, und so probierten wir auch solches Spielgerät aus, was Kinder im Nachbarort mit ihrem Leben bezahlten.
Die Armut wurde mir erst später bewusst. Ich trug meist geflickte Kleidung, die meine Geschwister abgelegt oder freundliche Menschen gespendet hatten. Neue Hosen kaufte Mutter selten, dann aber immer zwei Nummern zu groß. Die letzte Lederhose, die mir der Schuster Toni Kristof im Alter von 14 Jahren nähte, passt mir noch heute. Auf Spielsachen und Sportgerät musste ich oft verzichten. Solche Defizite habe ich durch Frechheit und Mut ausgeglichen.
Im Kreis der Freunde war ich geachtet, bei Spielen zum Führer gewählt , bei riskanten Abenteuern oft Anstifter.
Ich denke an meine Kindheit, an die Zeit in der Schule und im Kirchenchor, an den Geisinger Schi-und Eisfasching und die Geborgenheit in dieser verträumten Stadt mit Freude und Dankbarkeit zurück. Die kleine Stadt Geising mit ihren lebendigen Traditionen und den Familien Petzold, Schomer und Ehrlich verbinde ich bis heute mit dem Begriff Heimat.
Meine Erlebnisse aus der Geisinger Zeit sind in die folgenden heiteren und besinnlichen Geschichten eingeflossen, ebenso Episoden anderer Lebensabschnitte. Mir ist durchaus bewusst, dass Erinnerungen oft tückisch sind. Realität und Wunschdenken fügen sich manchmal zu einem trügerischen Bild. Wer dieses Buch liest , Zweifel verspürt, oder seine Persönlichkeit verletzt sieht, sollte mich anrufen.
Pfarrer Pätzold ließ die Worte im Raum stehen und eilte mit federnden Schritten davon. Meine Zustimmung war nicht erforderlich .
Ab sofort sollte ich die Sopranstimmen der Kurrende bei der hiesigen Kirchgemeinde unterstützen. Gesangbuch und schwarze Kutte waren dienstliche Grundausstattung. Unsere kindlichen Stimmen erklangen zum sonntäglichen Gottesdienst, zu Hochzeiten, Taufen. Wenn ein Mitglied der Kirchgemeinde die Augen für immer geschlossen hatte, sangen wir auch zu seiner Beerdigung.
Wir waren Kinder und nahmen den Dienst mit heiterem Gleichmut. Unsere Fröhlichkeit wurde durch die ernste Pflicht nicht beschädigt. Bald zog Routine ein, und wir wechselten bei jeder Gelegenheit , wie in einer Programmfolge, von ernsten Gesängen zu unbeschwertem Schwatzen .
Die frommen Lieder, die Bibeltexte und Predigten drangen nicht in unser Denken. Wir versuchten erst gar nicht sie zu verstehen. Was im Programm stand sangen wir und füllten die Pausen mit allerlei geflüstertem Geschwätz und Spielen.
Unser traditioneller Auftrittsort war die Orgelempore, die unseren Gesang in das große Kirchenschiff trug und uns vor den Blicken der Gemeinde und des Pfarrers schützte. Hinter der etwa einen Meter hohen dekorativen Balustrade befand sich eine umlaufende Fußbank, die wir in den Pausen zwischen den Programmpunkten besetzten. Dann hatten wir den unverbauten Blick auf die schöne Orgel mit ihren silber glänzenden Pfeifen und den Rücken der Kantorin. Die schwarzen Knöpfe links und rechts des Manuals, mit denen sie die Stimmlage veränderte, und die unverständlichen Aufschriften in einer alten Schrift darauf faszinierten mich immer.
Ich bin sicher, dass sich der liebe Gott manchmal ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte, wenn er uns beobachtete.
Der Dienst der Kurrende wurde vom Pfarrer und der Kantorin organisiert und überwacht. Wie in einem Verein sah eine ungeschriebene Satzung Belobigungen und Bestrafungen vor.
Pfarrer Pätzold, ein hagerer, Respekt einflößender Mann mit schöner, voller Stimme, stand der Gemeinde seit Kriegszeiten vor. Er hatte sich einen nachhaltigen Ruf als Beschützer der Verfolgten und als lebenslustiger Mensch erworben.
Nach hohen Feiertagen besuchte er oft meine Großmutter Anna, die meist mit einem Tropfen an der Nase im Ohrensessel am Ofen saß und die Katze auf ihrem Schoß kraulte. Sie lauschte dann seinen Worten , nickte ab und zu bestätigend mit dem Kopf und las am Folgetag eine Kopie der Predigt .
Wenn der Pfarrer unsere Wohnung verließ und ich in der Nähe war, legte er mir stets kurz die Hand auf den Kopf. Ein beruhigendes, schönes Gefühl mit der wehmütigen Erinnerung an den Vater, den ich nie kennen gelernt hatte..
In der Kirche, bei seinen religiösen Handlungen, verkörperte der Pfarrer den respektablen Kirchenmann. Außerhalb war er normaler Mensch und Bürger mit realistischen Ansichten. Die biblischen Geschichten erzählte er uns im Religionsunterricht glaubhaft und spannend. Joseph , den einfachen Zimmermann, und Maria, die Ehefrau, beschrieb er uns als normale Menschen , nahm ihnen den Heiligenschein und brachte sie uns näher. Die kitzlige Frage, wie Maria ihr Kind von Gott empfangen hatte, ersparten wir ihm. Bevor unsere pubertären Phantasien solche Zusammenhänge erkundeten, verließ der Pfarrer Geising. Mein Verhältnis zum Christentum hat er bis heute geprägt .
Einfallsreich war er auch. Den Mangel wusste er zum Vorteil zu wandeln. Wein war in der Nachkriegszeit Mangelware. Warum sollte er also dieses Luxusgetränk beim Abendmahl als Zeichen für Christi Blut in großen Schlucken verabreichen? Mengenangaben waren ja in der Bibel nicht zu finden. So tauchte er die Hostie in den Kelch mit Wein und legte sie den andachtsvollen Gläubigen auf die ausgestreckte Zunge. Gerüchte über Feiern im Pfarrhaus, bei denen er angeblich den eingesparten Messwein an den hiesigen Drogisten und den Zigarrenhändler ausschenkte, klangen durchaus glaubhaft. Auch die Kunde von der lockeren Erziehung seiner Kinder und seinen internen Familienangelegenheiten wurden von den Klatschmäulern der Stadt genussvoll diskutiert und verbreitet.
Als Mitglied der städtischen Feuerwehr, für einen Kirchenmann ein durchaus ungewöhnliches Amt, half er begeistert Feuer zu löschen, die göttliche Blitze oder sündige Gemeindemitglieder gezündet hatten. Auch bei dieser Tätigkeit handelte er praktisch . Als plötzlich während eines Gottesdienstes die Sirene erschallte, unterbrach er seine sonntägliche Predigt und rief : "Gottes Wort kann ich später predigen, jetzt brennt es". Sprach´s und eilte von der Kanzel zum Spritzenhaus.
Seine mangelnde Distanz zu weltlichen Freuden, Frauen eingeschlossen, passte nicht zum heiligen Amt, befanden seine vorgesetzten Behörden und beriefen ihn ab. Der oberste Dienstherr im Himmel hüllte sich dazu in Schweigen. Die Gemeinde liebte Pfarrer Pätzold trotzdem. Ich erinnere mich gut an seinen letzten Gottesdienst im Herbst 1955, bevor er versetzt wurde. Die Kirche war überfüllt, und die Tränen der Frauen flossen reichlich.
Der Pfarrer unterrichtete uns wöchentlich in der Christenlehre. Der Gemeinderaum im Pfarrhaus war mit einem kleinen Harmonium und harten Holzstühlen für die potentiellen Sünder bestückt. Die Mitte des Raumes dominierte ein imposantes Lesepult . Von dort aus lehrte er mit weiträumigen Gesten , wobei er das Pult vor und zurück bewegte. Er kippelte, behielt jedoch immer die Balance. Wir warteten boshaft darauf, dass er einmal umkipptvergeblich.
Ein Freund hatte mir eines Tages arglos eine sehr gotteslästerliche Version des vierten Gebotes vorgetragen. Gelegentlich neige ich bis heute zu spontanem Handeln, ohne mein Tun und seine Folgen zu bedenken. So auch damals. Ich meldete mich kühn und trug dem Pfarrer und der versammelten Schulklasse vor. "Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren-wenn sie Dich schlagen, sollst Du Dich wehren..." Die folgenden zwei Zeilen verschweige ich schamvoll.
Das Kichern meiner Freunde verstummte genau so schnell, wie der Pfarrer handelte. Er holte von seinem Standort am Stehpult aus . Die linke Hand fixierte mich am Kragen, die rechte explodierte in meinem Gesicht. Meine erste und bisher einzige Ohrfeige .Der traditionelle Strafplatz für die großen Sünder war die Ecke im Gemeindesaal hinter dem Harmonium. Trotz Schmerz und Scham ,die Strafe empfand ich als gerecht . Meine Mutter erfuhr davon nichts, weder vom Pfarrer noch von mir.
Wer über die körperlichen Voraussetzungen verfügte und nicht negativ aufgefallen war, durfte die Glocken läuten. Schüchterne Anträge für dieses verantwortungsvolle und spannende Amt nahm der Pfarrer entgegen. Genehmigte er den Wunsch wohlwollend, kletterte der stolze Junge die Hierarchie der "Glöckner" Stufe für Stufe empor.
Am Anfang stand die bloße Anwesenheit im Glockenstuhl , Herzklopfen kostenlos. Über eine steile Stiege erreichte der "Lehrling" einen engen, dunklen Raum. Der typische Geruch von altem Holz und dem Kot der Fledermäuse drang aus jedem Winkel .Die runden Schalllöcher ließen nur wenig Licht ein. Es war richtig gruselig. Wenn dann die drei schweren Glocken hin und her schwangen, von erfahrenen Chorknaben und dem Küster mit Muskelkraft bewegt, und ihre Klöppel anschlugen, hielten auch die mutigsten Jungen den Atem an. Theoretische Einweisungen folgten. Langsames Einschwingen war wichtig, wobei der Klöppel nicht anschlagen durfte. Erst exakt auf den letzten Schlag der Stundenglocke wurde das Seil durchgezogen, und das dreistimmige Geläut füllte den kleinen Raum mit ohrenbetäubendem Lärm . In rhythmischen Wellen drückte der Schall auf den Körper. Eine Verständigung war unmöglich. Neben dem exakten Start war aber auch das Ende des Geläuts wichtig. Alle drei Glocken mussten gleichzeitig verstummen, was vor Allem bei der Bedienung der großen Glocke schwierig war. Der jeweilige Glöckner hing sich dann mit dem gesamten Körpergewicht an das Seil und fing den Klöppel mit der Hand ab. Ein gefährlicher Akt, für Kinder tabu.
Wie langweilig ist doch heute das Geläut. Ein elektrisch betriebener Mechanismus setzt auf Knopfdruck alle drei Glocken holpernd in Bewegung, und eine der Glocken schlägt am Ende immer nach. Die Chorknaben, falls es sie noch gibt, sind um eine spannende Aufgabe betrogen.
Die Kantorin, eine füllige, gütige und damals unverheiratete Dame traktierte während des Gottesdienstes die Orgel mit Händen und Füßen-eine wahrhaft akrobatische Leistung. Über einen Spiegel hielt sie Blickkontakt mit dem Pfarrer. Während der Predigt lauschte sie mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen seinen erbauenden Worten . Unbeobachtet begann für uns der angenehme Teil des Dienstes. Die Fußbank der Orgelempore lud uns zum Ausruhen ein. Anfangs waren wir noch ehrfürchtig still. Schnell kam aber eine geflüsterte Unterhaltung und ein Kichern auf. Anlass für die Kantorin, ab und zu einen zischenden Laut abzugeben. Der Effekt war gering.
Eines Sonntags eskalierte die Situation. Wir spielten während der Predigt das beliebte Kartenspiel 66 und vergaßen unsere Umgebung. Der Lärmpegel stieg langsam aber stetig an. Schließlich wurde es dem Pfarrer zu bunt. Er unterbrach die Predigt und rief laut und drohend von der Kanzel "ist denn bald Ruhe da oben". Spätestens jetzt war die verdiente Strafe fällig- Blasebalg treten.
In dem Raum hinter der Orgel thronte ein hölzerner Kasten von beträchtlichen Ausmaßen, gefüllt mit einem Sack, der das wohl tönende In