Arztroman von Glenn Stirling
Der Umfang dieses Buchs entspricht 189 Taschenbuchseiten.
Eva Stoll ist glücklich, denn sie ist auf dem Weg nach Venedig, um dort ihren Matthias zu heiraten. Aber dann erreicht sie eine Nachricht, die sie am Boden zerstört. Matthias wird nicht kommen. In ihrer Trauer stürzt sie sich in die Arbeit, was ihr aber nicht ausreicht. Der Zufall will es, dass sie durch Professor Dr. Winter an die Eheleute Busch gerät, die fünf Waisenkinder unterschiedlicher Nationalitäten bei sich aufgenommen haben. Dieses Paar benötigt dringend Hilfe, denn die Ehefrau ist schwer erkrankt. Eva ist sofort bereit, sich um die Kinder zu kümmern, und zieht mit ihnen aufs Land. Doch so einfach ist das alles nicht, Probleme sind vorprogrammiert ...
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de
Die heiße Welle wogte bei strahlendem Sonnenschein und azurblauem Himmel nach Süden. Eva Stoll rollte in dieser Welle mit ihrem Wagen, das Urlaubsgepäck im Kofferraum. Gut gelaunt pfiff sie die Melodie, die Melodie, die aus dem Radio kam, mit. Plötzlich wurde die Sendung unterbrochen. Die Postillon-Melodie von Bayern 3 ertönte. Dann sagte der Sprecher: „Hier ein Reiseruf des ADAC. Frau Eva Stoll, unterwegs im süddeutschen Raum in Richtung Österreich mit einem roten BMW, amtliches Kennzeichen F - K 826, wird gebeten, umgehend in einer dringenden Familienangelegenheit ihre Schwester, Frau Doktor Simon-Stoll, in der Paul-Ehrlich-Klinik in Bonn anzurufen. Ich wiederhole ...“
Eva Stoll hatte Mühe, sich auf die Straße zu konzentrieren. Der Verkehr war zu lebhaft, als dass sie einfach rechts heranfahren und anhalten konnte, dazu noch auf der Autobahn. Sie fuhr weiter, aber sie tat es rein mechanisch. Sie hatte auch noch die Wiederholung dieses Reiserufs gehört, aber da befand sie sich schon wie in einem Schock.
An der Ausfahrt „Ottobrunn“ fuhr sie von der Autobahn ab, langsam, als sei Glatteis. Sie kroch dahin, und ein anderer Autofahrer, der es eilig hatte, schoss mit wildem Gehupe in der Kurve an ihr vorbei.
Als sie dann eine Parkmöglichkeit fand, fuhr sie rechts heran und hielt. Wie gelähmt sitzend starrte sie vor sich auf das Lenkrad. In einer dringenden Familienangelegenheit, dachte sie entsetzt. Was, in aller Welt, kann das sein? Ob Mutter ... ob ihr etwas zugestoßen ist? Unvorstellbar. Sie ist doch immer noch so gesund, so rüstig gewesen. Ich muss Inge anrufen. Aber wieso denn sie? Mutter ist doch bei Tante Lucie in Hamburg. Wenn ihr etwas zugestoßen wäre, hätte man ja gesagt, dass ich Tante Lucie anrufen soll und nicht Inge.
Sie musste an Matthias denken, ihren langjährigen Lebensgefährten. Mit Matthias wollte sie sich morgen in Venedig treffen. Um Gottes willen, dachte sie, der kommt an, und ich bin nicht da.
Oder sollte etwas mit Matthias sein?, dachte sie entsetzt. Unsinn, dann wüsste ja Inge nichts davon. Dann würde es seine Mutter wissen. Dann müsste ich sicher bei ihr anrufen, und außerdem, überlegte sie weiter, hat es ja geheißen, in einer Familienangelegenheit. Offiziell zählt Matthias ja noch nicht zur Familie. Sie lächelte und vergaß völlig den Ernst dieses Reiserufes.
Wir werden heiraten. In Venedig heiraten, mein Traum. Ich hab’ es mir immer gewünscht. Als Ausländer braucht man das Aufgebot bloß eine Woche aushängen zu lassen. Wir werden also eine Woche dort warten und heiraten, in einer Woche, nach sechsjähriger Freundschaft. Wenn es möglich war, haben wir zusammen gelebt. In Zukunft soll alles anders werden, werden wir immer zusammen sein. Oh, ich bin so glücklich, dass ich ihn habe!
Plötzlich musste sie wieder an den Reiseruf denken, und sie bekam ein schlechtes Gewissen. Wie kann ich mich freuen, wenn ich nicht weiß, was passiert ist? Um Gottes willen, was steckt nur dahinter? Die nehmen doch so einen Reiseruf nicht wegen einer Lappalie an. Da muss doch jemand ernstlich krank sein oder ...
Es ist doch Mutti! Sie ist krank. Das muss es sein. Mutti ist krank, und Tante Lucie könnte womöglich nicht imstande sein, mir das alles richtig zu sagen. Natürlich. Das ist es. Tante Lucie hört ja nicht gut. Vielleicht soll ich deshalb bei Inge anrufen. O Gott, die schöne Urlaubsreise! Ich hatte mich so darauf gefreut und jetzt ...
Es hat keinen Sinn. Ich muss zu einem Telefon fahren. Ich muss sofort anrufen und ...
Plötzlich hupte es hinter ihr. Ein anderer Wagen hielt neben ihr an. Der Fahrer, ein älterer Mann, deutete immer auf sie, machte die Gebärde des Telefonierens. Dann drehte er endlich die Scheibe herunter und rief durch seinen Wagen hindurch Eva zu: „Ich hab einen Reiseruf gehört. Ihre Autonummer. Sie sollen in Bonn anrufen.“
„Ich weiß, ich weiß“, sagte Eva. „Danke schön!“ Sie quälte sich ein Lächeln ab. Der Autofahrer lächelte zurück, dann fuhr er weiter.
Ein Telefon, dachte sie. Ich muss anrufen, bevor mir noch weitere hundert Autofahrer sagen, dass ich telefonieren soll. Aber immerhin ist es sehr aufmerksam. Sie konnten ja nicht wissen, dass ich es gehört habe.
Sie spürte, dass sie zitterte, als sie weiterfuhr, und deshalb wagte sie nicht schnell zu fahren. Nun tauchte auf einer Landstraße, unmittelbar vor einem Dorf, eine Tankstelle auf.
Ich muss sowieso tanken. Dann werde ich da telefonieren, entschloss sie sich und hielt an der Tankstelle. Während der Tankwart tankte, sagte sie: „Ich möchte einmal telefonieren.“
Er deutete wortlos auf ein Schild mit einem Telefonhörer am Gebäude. Kurz darauf stand Eva Stoll in der Zelle und drehte an der Scheibe die Durchwahl ihrer Schwester. Eine Frauenstimme meldete sich, aber das war nicht Inge. Eva verlangte ihre Schwester. Kurz darauf hörte sie Inge sprechen. „Ja, wer ist es?“
„Ich bin es, Eva. Ist etwas mit Mutti? Ich hab’ den Reiseruf gehört. Hast du den aufgegeben?“
Sie hörte deutlich, wie ihre Schwester durchatmete.
„Es ist schlecht hier am Telefon, liebe Eva“, hörte sie Inge sprechen, und sie wusste genau, dass es der Tonfall war, in dem Inge sonst nie redete. So hatte sie damals das Gedicht bei der Abiturfeier vorgetragen, und so sprach sie auch bei wichtigen und würdigen Anlässen. Das war nicht Inges wirkliches Wesen. Und deshalb erschrak Eva.
„Es ist nicht wegen Mutter“, hörte sie ihre Schwester sagen. „Es ist … es ist, Eva ... Du musst sehr stark sein. Matthias hat einen Unfall gehabt ...“
Eva stand wie aus Eis. Sie hatte das Gefühl, ihre Glieder würden absterben. Sie war nicht imstande, sich zu bewegen, sie wagte nicht einmal zu atmen, und sie hatte nicht die Kraft zu sprechen.
„Eva, hörst du noch? Eva bist du noch da?“, rief ihre Schwester.
Eva räusperte sich.
„Ja ... ja, ich bin noch da. Was ist, was ist mit Matthias? Inge, du musst es sagen! Sag es jetzt! Sag!“
„Ich sollte es dir sagen, aber nicht am Telefon.“
„Ich halte es nicht aus, hier länger zu warten. Du musst es mir jetzt sagen! Jetzt, hörst du, Inge?! Hörst du?!“
„Das Flugzeug hatte einen Unfall ...“
Vor Evas geistigem Auge baute sich eine entsetzliche Szene auf. Ein Flugzeug, dessen Rumpf sich in die Erde gebohrt hatte und aus dem Rauchwolken aufstiegen zwischen herumliegenden Trümmern, und sie glaubte, die Schreie von verletzten Menschen zu hören. Es kam ihr vor wie aus einem Film.
„Hörst du. mich, Eva? Eva, antworte doch!“
„Ja, ich höre dich.“ Aber es war Eva selbst, als habe eine Fremde gesprochen; als sei das die Stimme einer anderen und nicht ihre eigene.
„Es ist ein schlimmer Unfall gewesen.“
„Ist er ... ist er tot?“ Als sie dieses Wort ausgesprochen hatte, kam es Eva so vor, als träfe es sie selbst wie ein Hammerschlag. Dieses Wort schien von den Wänden der kleinen Zelle widerzuhallen. Tot, tot, tot, tot ... So hallte es ihr in den Ohren. Sie meinte, in dieser Zelle zu ersticken. Sie stieß die Tür auf, ohne den Hörer vom Ohr zu nehmen, hielt den Fuß zwischen die Tür, und ein wenig frische Luft strömte herein. Alles drehte sich vor ihren Augen. Und wie aus weiter Ferne, ganz leise, hörte sie ihre Schwester rufen: „Eva, nun sag doch etwas! Was ist mit dir, Eva? So melde dich doch, Eva ...“
„Ja“, sagte sie leise, aber ihre Schwester schien sie gehört zu haben. Und da raffte Eva noch einmal alle Kraft zusammen und fragte: „Ist er tot?“ Es war eigenartig, jetzt konnte sie dieses Wort aussprechen, ohne zu erschrecken. Und es hallte ihr nun nicht mehr in den Ohren wider.
„Eva, du musst dich zusammennehmen. Es ist schlimm, aber ihr wart ja noch gar nicht verheiratet, zum Glück. Ich weiß, daß du ihn sehr geliebt hast und er dich, aber ...“ Inge hatte es nicht gesagt, aber Eva wusste, dass nun Gewissheit bestand. Er musste tot sein.
„Wo ist es ... wo ist es passiert?“, fragte sie. Sie hatte Mühe, diese Worte auszusprechen. Ihr war, als würde sie von einer riesigen Faust gewürgt.
„Paris Orly, bei der Landung, als die Maschine aus New York kam“, hörte Eva ihre Schwester sagen. Zwei, drei Sekunden überlegte sie fieberhaft, dann sagte sie hastig: „Ich muss hin! Ich muss nach Paris! Ich muss ...“
„Es ist gestern schon passiert“, sagte Evas Schwester. „Du kannst nicht ... ich meine, es wäre besser, wenn du nicht hinfährst. Die Toten sollen in ihre Heimat übergeführt werden.“
Eva Stoll spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Wieder kroch die Kälte ihr von unten durch alle Glieder. Sie spürte, dass ihr übel wurde. Verzweifelt klammerte sie sich mit der Rechten an dem kleinen Tisch fest, auf dem das Telefonbuch lag. Ihre Linke umschloss den Telefonhörer, dass die Knöchel sich weiß färbten.
„Eva, es ist das Beste, du kommst zu mir nach Bonn.“
Eva sagte nichts. Besorgt über ihre Schwester sagte Inge Simon-Stoll: „Eva, ist was mit dir? Wo bist zu überhaupt?“
Eva fasste sich. Es ging ihr etwas besser. Aber in ihr schien alles abzusterben. Sie hatte Mühe, das zu tun, was sie tun wollte. Ihre Glieder schienen ihr nicht mehr zu gehorchen. Aber die Sprache funktionierte noch. Sie sagte: „Ich bin noch da. Es ist eine Straße hinter der Abfahrt ,Ottobrunn“, eine Tankstelle. Ich weiß selbst nicht ...“
„Du fühlst dich nicht wohl, nicht wahr?“, hörte sie ihre Schwester fragen. „Du solltest ein Taxi nehmen. Lass den Wagen irgendwo stehen bei Leuten, denen du vertrauen kannst! Vielleicht in dieser Tankstelle. Und dann nimm den Zug! Fahr nicht selbst! Oder soll ich zu dir kommen und dich holen?“
Eva merkte selber, dass sie möglicherweise nicht die Kraft hatte, jetzt Auto zu fahren. Sie hätte ja zu einer Gefahr auf der Autobahn werden können, einer Gefahr für die anderen.
„Vielleicht nehme ich den Zug. Aber ich will doch zu ihm. Wo ist er? Wo bringen sie ihn hin?“
„Du wirst erschrecken, wenn du ihn siehst. Du solltest ihn nicht mehr sehen. Du weißt doch, dass ein Flugzeugabsturz ... ich meine, du kannst dir doch denken, wie es aussieht und wie er aussieht. Willst du ihn nicht so in Erinnerung behalten, wie er aussah, als du ihn das letzte Mal gesehen hast?“
„Ich muss ihn sehen! Ich muss dahin! Wohin bringen sie ihn?“
„Zu seinen Eltern, das weißt du doch. Sie bringen ihn zu seinen Eltern nach Hanau. Er wird dort bestattet werden, nehme ich an. Sie haben es vor allen anderen gewusst, natürlich. Er hatte ihre Adresse angegeben und deine. Aber dich konnten sie nicht finden. Da haben seine Eltern mich angerufen.“
Eva sah das Bild der beiden Alten vor sich, Matthias’ Eltern. Es musste grauenhaft für sie gewesen sein. Sie hatten so an ihrem Sohn gehangen, ihrem einzigen Kind.
„Vielleicht ist es besser ... ich meine, du wirst es nicht verstehen, Inge, aber ich denke immer, ich sollte nicht nach Hanau gehen, nicht zu ihnen. Es muss doch schlimm für sie sein.“
„Nicht schlimmer als für dich“, erwiderte Inge. „Soll ich dich holen?“
„Nein. Ich werde vielleicht nicht sofort fahren, aber ich komme. Ich brauche nur etwas Zeit. Bitte, lass mir Zeit! Morgen bin ich bei dir. Ja, ich komme morgen zu dir.“
„Du könntest im Vorbeifahren mit ihnen reden. Vielleicht erfährst du dann“, sagte Inge zu ihrer Schwester, „wie sie es vorhaben.“
„Er war auf dem Weg zu mir. Ich kenn’ ja die Strecke. Er wollte von Paris weiter nach Venedig. Er hatte in Paris umsteigen müssen. Und dann wollten wir uns treffen. Wir wollten eine Gondelfahrt machen, wollten unser Aufgebot bestellen. Wir wollten in einer Woche heiraten. Ganz heimlich. Es sollte für euch alle eine Überraschung sein und ...“ Eva konnte nicht mehr. Sie hatte abgebrochen, und nun schüttelte sich ihr ganzer Körper unter dem Schluchzen, das sie nicht mehr zu unterdrücken vermochte. Ohne noch ein Wort zu sagen, hängte sie den Hörer ein, schlug beide Hände vors Gesicht und stand eine ganze Weile so in der Zelle.
Draußen wartete ein Mann, wollte telefonieren. Durch das kleine Fenster sah er drinnen die weinende Frau, öffnete jetzt die Tür und sagte: „Kann ich Ihnen helfen, mein Fräulein? Kann ich Ihnen helfen?“
Eva nahm eine Hand vom Gesicht, sah aus tränenüberfluteten Augen den Mann an und ging wortlos an ihm vorbei, schüttelte nur den Kopf, während die Tränen nur so aus ihren Augen strömten. Sie ging zu ihrem Wagen zurück, und der Tankwart, der ihr eben noch entgegen gelächelt hatte, sah ihr Gesicht, wurde ernst und fragte: „Kann ich etwas für Sie tun?“
Sie schluckte nur, schüttelte abermals den Kopf und kramte in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie. Er nannte den Preis, sie bezahlte, stieg, ohne ein Wort zu sagen, in den Wagen, sank in den Sitz und dachte nur das Eine: Ich möchte mich irgendwohin verkriechen, wo mich keiner sieht! Ich möchte irgendwohin gehen, wo ich völlig allein bin!
Der Entschluss, zu irgendeiner Stelle zu fahren, wo es einsam war, beflügelte ihre Energie. Sie fuhr von der Tankstelle herunter, zurück zur Autobahn. Als sie die erreicht hatte, hielt sie Ausschau nach einem Parkplatz, auf dem möglichst wenig oder gar keine Autos standen. Und sie hatte Glück. Da sie sich gegen den Strom der Reisewelle bewegte, war die Autobahn in Richtung Norden ziemlich leer, und die Parkplätze ebenfalls. Als sie den ersten Parkplatz erreichte und leer gefunden hatte, fuhr sie ab, hielt den Wagen an und saß eine ganze Weile wie versteinert.
Sie sah ein Traumbild vor ihren Augen. Sie selbst im weißen Kostüm, das sie sich extra für diese Hochzeit hatte schneidern lassen. Zwei Freundinnen, die das konnten, waren die Schneiderinnen gewesen. Es war ein fantastisch schönes Kostüm. Und sie sah Matthias an ihrer Seite, den großen blonden Matthias, den sie immer so geliebt hatte. Der Mensch, für den sie ein Leben lang da sein wollte. Und sie glaubte, die Glocken zu hören. Aber das Bild wurde undeutlich, zerflatterte und wieder tauchte dieses Bild von dem abgestürzten Flugzeug auf. In den Rauchschwaden glaubte sie plötzlich Matthias zu sehen, blutüberströmt, mit zerfetzter Kleidung, Rauchschwaden um ihn herum. Aber dann, als er näherkam, war es doch nicht Matthias, sondern das Gesicht eines Schauspielers. Und das alles war die Szene aus einem Film, an den sie sich erinnerte.
Sie rieb sich die Augen. Es ist Wahnsinn, dachte sie. Ich martere mich mit solchen Visionen selbst. Vielleicht ist es ein Irrtum. Womöglich haben sie einen ganz anderen identifiziert. Vielleicht hat er gar nicht in der Maschine gesessen?
Unsinn! So kann es nicht gewesen sein. Bevor Angehörige unterrichtet werden, muss absolute Gewissheit bestehen. Nein, nein, ich fühle es. Mir ist ja alles von Anfang an so unwirklich vorgekommen. Meine Fahrt in den Süden nach Venedig, die Vorfreude auf die Hochzeit; so richtig habe ich mich nie freuen können. Und eigentlich war immer die Angst dabei, die Angst, dass es nicht Wirklichkeit werden könnte. Und jetzt hatte es sich bestätigt. Es kann niemals Wirklichkeit werden. Ich glaube, ich werde verrückt. Ich werde verrückt, ihn verloren zu haben. Was soll ich alleine ohne ihn?
Oh, ich könnte viel tun. Was hat Mutti damals getan, als Papa gestorben ist? Da hat sie sich in die Arbeit gestürzt. Sie erzählt es heute noch so oft. Sie hat geschuftet, und trotzdem wären wir nicht durchgekommen, hätte sie auch das Studium und den Unterhalt von Inge bezahlen müssen. Aber Inge hat sich selber durchgeschleppt. Schwer genug ist es ihr geworden. Mir ging es da schon besser, obgleich mein Pharmaziestudium auch kein Honigschlecken gewesen ist.
Ihre Gedanken irrten wieder hin zu dem, was sie zusammen mit Matthias vorgehabt hatte. Die Eltern überraschen wollten sie; ihr zukünftiges Glück für alle Zeiten besiegeln; eine Traumhochzeit in Venedig, das ihnen beiden immer als die Stadt erschienen war, wo sich ihre Träume erfüllen sollten, denn in Venedig hatten sie sich kennengelernt.
Aber als die ersten Bilder der Erinnerung vor ihr auftauchten, wie es damals gewesen war, da schrak sie wie unter Schmerzen zusammen. Und abermals tauchte diese Vision auf, dieser von Rauchschwaden umwehte, blutende, in Lumpen gehüllte Mensch, der auf sie zurannte, und der das Gesicht von Matthias hatte, dann aber wieder das des Schauspielers annahm, den sie aus dem Film kannte.
Plötzlich begann sie wieder zu weinen. Und sie schluchzte: „Was mach’ ich bloß? Was tu ich bloß ohne ihn?“
Es muss weitergehen, sagte sie sich entschlossen. Es muss weitergehen. Ich werde es so machen wie Mutter. Ja, ich werde mich in die Arbeit stürzen. Ich muss mir eine Aufgabe vornehmen; ein richtiges Ziel. In der Apotheke stehen, das reicht nicht. Abends dann, wenn ich alleine bin, dann wird es über mich kommen, da werden mich die Gedanken quälen, so wie jetzt. Diese Visionen, diese Bilder! Ich muss mir ein Ziel setzen. Aber was, was soll ich denn tun? Du wirst einen Plan machen. Du hast für alles in deinem Leben immer einen Plan gemacht. Auch Inge denkt so. Ich werde ganz schematisch vorgehen. Zuerst fahre ich zu seinen Eltern.
Aber schon der Gedanke daran, quälte sie schmerzhaft. Es muss sein! Ich werde erst zu ihnen fahren, dann zu Inge. Vielleicht begleitet sie mich, wenn die Beisetzung ...
Der Gedanke an die Beisetzung, daran, dass dort ein Mensch begraben würde, der in Wirklichkeit ihr Bräutigam, ihr geliebter Matthias gewesen war - dieser Gedanke folterte sie geradezu.
Aber dann wieder hatte sie das Gefühl, als sei alles gar nicht wahr, als sei diese Nachricht etwas, das sie in Wirklichkeit gar nicht wirklich betraf. Aber sie war nüchtern genug zu überlegen, wie es weitergehen sollte.
Wie sollte es denn weitergehen? Werde ich wahnsinnig vor Schmerz? Vor Trauer um Matthias? Wird das alles noch viel schlimmer werden, wenn erst ein paar Tage vergangen sind und ich mir voll bewusst würde, dass er nie mehr wiederkommt? Oder komme ich darüber hinweg? Schaffe ich es, ein neues Leben zu beginnen, ein Leben ohne ihn?
Nein, dachte sie, ich glaube nicht, dass ich das je schaffen werde.
Ärzte und Schwestern nannten das kleine Zimmer neben dem Vorbereitungsraum zum OP das Kaffeezimmer. Und auch jetzt, in einer Operationspause, stand das Team von Professor Dr. Winter in diesem Raum in Operationskleidung, den Mundschutz herunterhängend, und trank Kaffee. Schwester Manka, die zierliche nette Koreanerin, schenkte ein.
Vorn am Fenster stand der große blonde Professor Winter mit der Stationsärztin Dr. Inge Simon-Stoll zusammen mit ihrem Mann Dr. Michael Simon. Der schlanke dunkelhaarige Dr. Simon war Anästhesist. Er hatte an diesem Tag Dienst im OP, wo die gynäkologischen Operationen durchgeführt wurden. Dr. Inge Simon-Stoll war eine Frau mit herben Gesichtszügen, ein burschikoser Typ, der aber gewann durch die Ausstrahlung, die von dieser Frau ausging.
Sie hatten sich eben noch über die letzte Operation unterhalten. Da fiel Professor Winter etwas ein, und er fragte Inge Simon-Stoll: „Sagen Sie, was ist eigentlich aus Ihrer Schwester geworden? Ist sie nun über das Schlimmste hinweggekommen? Wo lebt sie jetzt?“
Inge Simon-Stoll sah erst ihren Mann an, dann wandte sie sich ihrem Chefarzt zu und sagte: „Sie ist schon drei Wochen bei uns. Das mit ihrem Verlobten vor zwei Monaten war fürchterlich. Aber sie ist erstaunlich gut darüber hinweggekommen. Ich hatte ihr das nicht zugetraut, nicht wahr, Michael, was meinst du?“
Dr. Simon nickte. „Ja ja, wir hatten gedacht, das geht irgendwie schief. Ich war sogar auf die Idee gekommen, man dürfe sie nicht allein lassen. Aber das ist Unsinn. Sie ist eine enorm energische Frau. Sie hat sich bewundernswert selbst im Griff. Jedenfalls ist sie nicht ausgeflippt. Im Gegenteil. Wenn wir heute Abend nach Haus kommen, dann haben wir Glück, wenn sie da ist.“
Professor Winter zog erstaunt die Augenbrauen hoch, und Inge Simon-Stoll ahnte, was er dachte.
„Nein, nein, so nicht, Nicht, dass sie sich schon mit einem anderen getröstet hätte. Für sie gibt es gar keine Männer, kommt es mir vor. Und es ist auch verständlich. Sie haben sich sehr, sehr gern gehabt, die beiden. Entsetzlich, was da passiert ist. Aber meine Schwester hat sich Aufgaben gesucht. Neben ihrer Arbeit als Apothekerin betreut sie in einem Heim gelähmte Kinder, Behinderte. Aber sie meint, gerade dort werde denen schon genug geholfen. Sie sucht etwas, wo ihre Hilfe wirklich dringend gebraucht wird, wo man ohne sie nicht weiterkommt. Sie sucht nach Menschen, die in wirklicher Not sind und ist bereit, sich für diese Menschen aufzuopfern.“
„Dann unterscheidet sie sich nicht wesentlich von Ihnen, liebe Frau Simon“, sagte Professor Winter. „Sie sind doch genauso.“
Michael Simon nickte. „Ja, Inge ist so. Sie würde sich für ihre Patienten umbringen lassen. Ich merke das oft genug, wenn sie abends noch einmal in die Klinik rennt.“
„Aber doch nicht jeden Abend, Michael, das darfst du nicht sagen. Nur in ganz schlimmen Fällen. Und du machst es übrigens genauso mit deiner Intensivstation.“
„Ich habe nicht immer dort Dienst“, wehrte Michael Simon ab, wandte sich dann Professor Winter zu und sagte: „Doch, Sie haben recht. Die beiden sind sich sehr ähnlich.“
„Wissen Sie übrigens, Frau Simon“, sagte Professor Winter, „dass bei uns im Haus hier eine der beiden Apothekerstellen frei wird?“
Inge Simon-Stoll schaute überrascht auf.
„Hier in der Paul-Ehrlich-Klinik? Das ist das Neueste, was ich höre.“
„Das hängt die Verwaltung nicht gleich an die große Glocke. Aber da ich nun Vertrauensarzt bin, erlebe ich einige der Sitzungen mit, ganz besonders die, wenn es um Personalfragen geht. Gestern war so eine Sitzung. Und dort habe ich das erfahren, aus erster Hand. Die Kündigung soll vorgestern eingegangen sein.“
„Wer geht denn da weg?“, fragten Michael und Inge Simon gleichzeitig.
„Doktor Gerber geht weg“, entgegnete Professor Winter. „Es wäre eine gute Gelegenheit, wenn Ihre Schwester hier im Hause ...“
„Oh, nicht schlecht. Sie ist da in einer kleinen Apotheke in Rhöndorf. Das ist viel Fahrerei für sie. Immer über den Rhein.“
„Sie wohnt ja bei Ihnen. Sprechen Sie doch mit ihr! Vielleicht kann sie bei uns anfangen. Die Bezahlung erfolgt ja sowieso nach einer festen Norm. Da werden keine Unterschiede sein. Aber es ist bequemer. Und ich habe da auch eine Nebenaufgabe für sie.“
„Eine Nebenaufgabe?“, fragte Inge Simon-Stoll sofort, und auch ihr Mann horchte auf.
Professor Winter nickte, trank aber erst seinen Kaffee aus, setzte die Tasse aufs Fensterbrett und blickte dann Inge Simon-Stoll an.
„Sie haben ja gesagt, sie möchte etwas tun, möchte Menschen helfen, die wirklich in Not sind.“
„Und das wäre?“
„Zwei Häuser von dem meinen entfernt ist eine Familie, die haben fünf Kinder aufgenommen. Kinder, die Waisen sind. Es sind aber bis auf eines keine deutschen Kinder. Es sind Farbige. So genau weiß ich es nicht. Meine Frau verbringt einen Großteil ihrer Freizeit, die ihr unsere beiden Kinder lassen, damit, diese Kinder im Augenblick zu betreuen, denn die Frau des Ehepaares, das diese Kinder auf genommen hat, ist schwer erkrankt und wird, wie ich die Dinge sehe, nicht mehr gesund. Ein Gehirntumor, bösartig, nicht operabel. Und nun heißt es, diese Kinder unterzubringen. Denen ist es in dieser Familie nicht schlecht gegangen, aber wenn sie da weg müssten, kämen sie in Heime. Ich brauche Ihnen beiden nicht zu sagen, was das bedeutet. Es müsste also jemand da sein, der sich um diese Kinder kümmert. Bald schon. Meine Frau hat selbst zwei kleine, und wir haben auch gewisse Verpflichtungen. Sie wird sich ein paar Stunden am Tag um diese Kinder kümmern können. Aber abends und auch frühmorgens ist das etwas problematisch. Meine Frau hatte sogar erwogen, diese Kinder bei uns aufzunehmen. Fünf Kinder zu unseren beiden. Zwei wäre ja möglich gewesen. Aber fünf ...“
Inge Simon-Stoll sah ihren Mann an. Der nickte ihr kaum merklich zu und hatte verstanden, was die Frage in ihrem Blick zu bedeuten hatte. Dann wandte sich Inge Simon-Stoll wieder an Professor Winter und sagte: „Ich möchte unbedingt mit Ihnen darüber sprechen. Ist es möglich, dass meine Schwester und ich heute Abend und natürlich auch mein Mann ...“
„Natürlich ist das möglich“, erwiderte Professor Winter, bevor sie ihre Frage voll ausgesprochen hatte. „Kommen Sie zu mir! Kommen Sie, und wir gehen zusammen zu unseren Nachbarn hin, das heißt, es ist nur der Mann da. Die Frau liegt oben auf dem Venusberg in der Neurochirurgischen Uni-Klinik. Ich glaube auch nicht, dass sie noch mal nach Hause kommt. Aber abgesehen davon, es geht ja um die Kinder. Und wir würden dieser Frau kein größeres Geschenk machen, als ihr die Gewissheit zu vermitteln, dass es jemanden gibt, der sich um diese Kinder kümmern kann. Der Mann kann es nicht. Der ist Vertreter in einer großen Firma, war eh und je schon viel unterwegs, und das ist ja ein Hauptgrund mit gewesen, dass diese kinderlose Frau sich dieser bedauernswerten Wesen angenommen hat.“
„Herr Chefarzt, ich spreche mit meiner Schwester darüber“, rief Inge Simon-Stoll spontan, und sie tat es so laut, dass alle anderen im Raum überrascht zu ihr hinsahen. „Ja“, sagte sie, ohne sich um die neugierigen Gesichter zu kümmern, die sich ihr zugewandt hatten, „ich mache das! Ich spreche mit Eva. Und es ist auch etwas, was mich selbst angeht, Michael und mich. Nicht wahr, Michael?“ Sie blickte auf ihren Mann. Der lächelte. Es war ein verstehendes, inniges Lächeln. Das sah auch Professor Winter, als er den Anästhesisten anblickte.
Eine der Operationsschwestern kam vom Vorbereitungsraum herüber. „Herr Doktor Simon, die sechzigjährige Frau mit der Bartholin-Zyste liegt im Vorbereitungsraum. Kommen Sie jetzt? Wir sind soweit.“
„In Ordnung.“ Er wandte sich Professor Winter zu. „Ich bin gleich fertig. In fünf Minuten können wir anfangen.“
Es ging weiter. Und wenig später wartete eine andere Patientin auf die Hilfe der Ärzte, standen Professor Winter und sein Team wieder am Tisch. Der Ernst ihrer Arbeit hatte sie wieder. Und es war keine Zeit, an etwas anderes zu denken.