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Für die Liebe unseres Lebens:
Levi Tomke, der es vermocht hat,
aus dem größten Abenteuer unseres Lebens
ein noch viel größeres zu machen.

 

 

INHALT

Prolog

Etappe I

Am Ende des Winters über die Nordsee oder »Ohne Rollreffanlage fahr’ ich nicht weiter«

Segelmentoren

Etappenpause

Hat jemand einen Platz zum Schlafen?

Organisatorisches und Finanzen

Etappe II

Allein über die Biskaya, Nordafrika und die Kanaren

Sicherheit an Bord

Etappenpause

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel – zu Hause bricht das Chaos aus

Etappe III

Getrennt über den Atlantik und ein kurzer Testtörn in der Karibik

»Chemie« der Crew an Bord

Etappenpause

Leben unter Beobachtung, Levis erster Geburtstag und Frau Schweiger

Etappe IV

Zweifel auf Trinidad und eine traumhafte Passage nach Panama

Krise/Zweifel

Etappenpause

Gerichtstermin und andere Meilensteine

Etappe V

Von Panama über Galapagos in die Südsee

Familienzeit an Bord

»Der gefährliche Archipel« Tuamotu und unser Südseetraum

Navigation in der Südsee

Tonga, Fidschi und Vanuatu

Bootstypen

Der Segelvirus, der uns niemals loslassen wird

Fazit

Epilog

Schiffsriss

Danksagung

PROLOG

Ein paar Tropfen des noch winterlich eisigen Nordseewassers laufen mir in den Kragen. Wie winzige Eiswürfel bahnen sie sich ihren Weg an meinem Hals hinab. Die nächste Welle bricht über uns herein, und das Wasser strömt über die Außenhaut unserer Schlechtwetterkleidung. Um nicht mit dem Wasser vom Deck gespült zu werden, knien wir auf dem schmalen Bug und klammern uns an der Reling fest. Wir zerren am Vorsegel und ziehen es Stück für Stück nach unten.

»Verfluchter Mist!« Während Lutz sich das Salzwasser mit dem Ärmel aus dem Gesicht wischt, grinst er mich an. Das Segel fängt an zu schlagen. Der Wind greift unter das Tuch und zerrt es in Richtung Meer. Es ist stockdunkel, aber Lutz kauert so nah bei mir auf dem Vorschiff, dass ich das Lachen in seinem Gesicht gut erkennen kann. »Was ist das denn bitte?!« Ungläubig schüttelt er den Kopf.

»Du dachtest, wir würden den ganzen Tag im Cockpit sitzen, Kaffee trinken und Seekarten von fernen Ländern studieren, nicht wahr?« Ich muss gegen den Wind und die Wellen anbrüllen. Der Lärm ist ohrenbetäubend, und außerdem haben wir zwei Schichten Stoff, nämlich Fleece- und Regenjacke, auf den Ohren.

»Das trifft es schon eher«, lacht Lutz und bindet das Segel unter Mühen an der Reling fest.

Wir haben keine Rollfockanlage, sondern schlagen unsere Vorsegel mit Haken am Vorstag an. Um das Segel zu wechseln oder zu bergen, müssen wir jedes Mal nach vorn zum Bug. Mit einer Rollanlage hingegen könnte man das Vorsegel bequem vom Cockpit aus bedienen.

In dieser Nacht herrscht ordentlich Wind, und die Wellen erreichen drei Meter Höhe. Die braunen Wassermassen überspülen uns bei jeder dritten oder vierten Welle. Wenn der Bug schwungvoll ins nächste Wellental rauscht, heben wir eine Handbreit vom Vorschiff ab, als ob uns eine unsichtbare Hand immer wieder den Boden unter den Füßen wegzöge.

Die Nordsee ist flach, unser Echolot zeigt an keiner Stelle mehr als 20 bis 30 Meter Tiefe an. Das erklärt die brackige, braune Farbe des Meeres. Der Schlamm vom nahen Grund wird von den Wellen aufgewühlt. Auf so einem flachen Meer sind die Wellen kürzer und steiler als auf dem offenen, mehrere Tausend Meter tiefen Ozean.

Patrik, unser Segelmentor, übernimmt bei diesen Manövern das Steuer. Riesig wie ein Fels in der Brandung steht er am großen Steuerrad und lenkt uns gelassen durch die Dunkelheit. In seinem nagelneuen Schlechtwetterzeug wirkt er noch größer, die dicke Jacke und die riesige Latzhose leuchten rot in der Nacht. Seine blonden, zotteligen Locken gucken unter der Kapuze hervor und kleben nass von der Gischt auf seiner Stirn. Patrik strahlt Ruhe und Besonnenheit aus, und er weiß, was er tut. Wir vertrauen ihm blind.

Das Meerwasser und der Wind peitschen uns um die Ohren, die Wolken verdecken den Mond und verdunkeln die Nacht. Unser geliebtes Boot – die RUND360° – stampft und schnauft durch die raue See. Wir haben nicht nur volles Vertrauen in Patrik, sondern auch in unser Boot und in uns als Team. Wir sind Feuer und Flamme und kämpfen uns Meile für Meile nach Westen, voller Vorfreude auf das, was noch kommen wird.

Ich drehe mich zu Patrik um und hebe kurz die Hand, um zu signalisieren, dass hier vorn auf dem Vorschiff alles klar ist. Er winkt aufmunternd zurück. Daraufhin schweift sein Blick über das düstere Meer, und ich meine, trotz der Distanz einen Schatten auf seinem Gesicht zu erkennen. Vielleicht sind es auch nur die Schultern, die er unmerklich einzieht, so, als wäre ihm irgendetwas nicht ganz geheuer.

Wir segeln um die Welt. Unser Start fällt in den norddeutschen März – eine Jahreszeit, die nicht gerade geeignet ist, um entspannt über Ost- und Nordsee zu segeln. Auf der anderen Seite, so unser Kalkül, ist ein so früher Start ein guter Stresstest, quasi der Sprung ins kalte Wasser. Für uns genauso wie für das Boot. Wenn wir im März den langen Törn über die Nordsee bis nach England überstehen, dann überstehen wir alles. Soweit unsere Überlegung.

Ich bin erleichtert über Lutz’ Grinsen und weiß, dass er das Abenteuer genauso liebt wie ich. Aber wie konnten wir uns sicher sein, dass er diese Art von Abenteuer mögen würde? Bis jetzt waren wir mit einem Jeep in Afrika unterwegs, haben Indien mit dem Zug bereist und auf unserer Hochzeitsreise zu Fuß die Alpen überquert. Auf dem Meer waren wir bislang noch nicht zusammen unterwegs. Lutz hat auch gerade erst in einer Jolle auf dem Wannsee die Grundlagen des Segelns erlernt und den Sportbootführerschein See absolviert.

Ich habe Lutz überredet, mit mir um die Welt zu segeln. Genau genommen habe ich ihn gar nicht überredet, sondern ihn vor vollendete Tatsachen gestellt. Als wir uns kennenlernten, warnte ich ihn, dass ich eines Tages um die Welt segeln wolle. Und dass ein näheres Kennenlernen deshalb nur dann sinnvoll sei, wenn er sich vorstellen könne mitzukommen. Vielleicht hat er mir anfangs nicht geglaubt oder vermutet, dass ich von einer Reise im Rentenalter spräche. Es hat ihn auf jeden Fall nicht davon abgehalten, mich zwei Jahre später zu heiraten. Und schon weitere zwei Jahre später mit mir zusammen das bisher größte Abenteuer unseres Lebens zu beginnen.

Zusammen mit Patrik sind wir in meiner Heimatstadt Kappeln gestartet. Patrik ist Schwede und lebt in Finnland. Er ist kaum jünger als wir, hünenhaft wie ein Seebär und schon um die ganze Erdkugel gesegelt. Er ist nicht nur an Bord, um uns bei den Hafenmanövern und dem ersten Sturm beizustehen, sondern auch zur Beruhigung von Lutz’ Mutter. Obwohl sie ihn nicht kennt, ist sie erleichtert, dass wir jemanden dabeihaben, der schon so viel Segelerfahrung hat. Wir haben Patrik über eine Mitseglerbörse im Internet gefunden. Er hat ein Boot zum Mitsegeln gesucht und wir einen erfahrenen Segler, der uns im Segeln unterrichtet. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch.

Wir wollen in Etappen um die Welt segeln, das heißt mehrere Wochen auf See verbringen und dann wieder eine Weile zu Hause sein. Ursprünglich war die Idee, ein paar Jahre am Stück zu segeln. Das war aber nichts für Lutz. Freunde und Familie für so lange Zeit nicht zu sehen, die Karriere auf Eis zu legen und kein Geld zu verdienen, also ganz auszusteigen, das konnte er sich nicht vorstellen. Lutz wollte zwar mit mir reisen, fremde Länder entdecken und über Ozeane segeln. Auch fand er es faszinierend, Inseln auf dem eigenen Kiel anzusteuern, die man sonst kaum besuchen kann. Ihm gefiel jedoch der Gedanke nicht, für zwei, drei oder sogar vier Jahre unterwegs zu sein. So entstand die Idee, beides miteinander zu verbinden, unser Leben zu Hause und das Langfahrtsegeln. Wir machen einfach beides: Wir segeln Teilzeit – und haben so die perfekte Work-Life-Balance oder besser gesagt Work-Sail-Balance.

Patrik, dem wir von unseren Etappenabsichten erzählten, fand die Idee dahinter bestechend. Er hatte auf seiner Segeltour um die Welt viele Langfahrtsegler kennengelernt, die die Schönheit ihrer Reise nicht mehr zu schätzen wussten. Er drückte es so aus: »They were bored of paradise!« Wenn man regelmäßig nach Hause fährt, sagten wir uns, wird man sicherlich nicht so schnell vom Paradies gelangweilt sein und den Blick für die Reize einer solchen Reise nicht verlieren.

Die nächste große Welle kommt aus der Dunkelheit und kracht auf das Deck. Wir ducken uns, um dem Schwall möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Das eisige Wasser läuft mir diesmal bis in die Gummistiefel – durch einen winzigen Spalt zwischen Latzhose und Stiefelschaft – jetzt sind meine Füße nicht nur kalt, sondern auch klamm, ohne eine Möglichkeit, die Schuhe wieder ordentlich trocknen zu können. Ich drehe mich zu Lutz um und sehe immer noch das erstaunte Lachen auf seinem Gesicht. Ich bin erleichtert, und mir wird warm ums Herz – für dieses Lachen liebe ich ihn noch mehr als je zuvor, vielleicht schaffen wir es ja tatsächlich zusammen um die Welt.

Es ist 2 Uhr morgens, und anstatt wie geplant auf dem Weg nach England zu sein, laufen wir mit defektem Autopiloten in den verlassenen Hafen von Borkum ein.

ETAPPE I

Am Ende des Winters über die Nordsee oder »Ohne Rollreffanlage fahr’ ich nicht weiter«

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Am 24. März 2012 ist es so weit. Wir wollen starten und haben keine Ahnung, worauf wir uns da einlassen. Unser Plan ist es, in einem Rutsch von Kappeln über Schlei, Ostsee, Nord-Ostsee-Kanal, Elbe und Nordsee bis nach England zu segeln. Dann weiter bis nach Marokko und später in den Senegal und nach Gambia. Wir sind aufgeregt und nervös.

»Wollt ihr nicht doch lieber noch ein bisschen warten? Das Eis ist gerade erst geschmolzen, und ihr seid das einzige Boot im Wasser. Das sollte euch zu denken geben!« Henning, Chef der Mittelmann’s Werft in Kappeln, schüttelt den Kopf über so viel Eigensinn. In seiner warmen, dunkelgrauen Segeljacke und den Docksides, die er von der Art her schon seit der 7. Klasse trägt, steht Henning unruhig auf dem Steg herum. In seinem Gesicht ist sein innerer Konflikt klar zu lesen – dass er gerne noch mehr dazu sagen würde, sich aber zurücknimmt. Später wird er von uns als seinen »ersten Patienten der Saison« sprechen. Der Winter war in diesem Jahr besonders kalt in Kappeln. Die Temperaturen sanken bis auf –12 °C. Eine dicke Decke aus Schnee lag auf unserem Deck, und die Kälte machte uns bei den Arbeiten am Schiff zu schaffen.

Das Boot hatten wir in Hamburg entdeckt. Eine Dehler 38, in die wir uns auf Anhieb verliebten. Sie ist schnell, hochseetauglich und bietet genug Platz für uns beide. Von Dezember bis März haben wir sie auf Hennings Werft für das Langfahrtsegeln ausgerüstet. Henning ist ein alter Schulfreund, und das Team auf seiner Werft hat uns tatkräftig bei den Arbeiten unterstützt.

Unsere Aufregung muss ein wenig ansteckend gewesen sein. Sein Sohn Henri stand regelmäßig am großen Panoramafenster im Wohnzimmer und hat sich die Nase am Glas plattgedrückt, um uns bei der Arbeit am Schiff zuzuschauen. Hin und wieder konnte er gar nicht genug davon bekommen, was bei uns da draußen in der Kälte passierte und kam nach dem abendlichen Bad noch nackt ans Fenster gerannt. Wir haben uns sehr über unseren kleinen Zuschauer gefreut.

Im März waren wir mit den Arbeiten schon fertig, und um Hennings Frage zu beantworten: Nein, wir wollen nicht warten. Die Kälte schreckt uns nicht ab. Für unsere erste Etappe haben wir bis Anfang Mai Zeit, dann müssen wir wieder zu Hause in Berlin sein, für einen wichtigen Termin. Wie wichtig dieser Termin für uns sein wird, ahnen wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht.

Als ob die Sonne unseren Starrsinn gutheißen wollte, vertreibt sie mit ihren Strahlen das eisige Grau des Winters. Im Laufe des Morgens färbt sich der Himmel blau, und die Schlei reflektiert die helle Frühlingssonne in alle Richtungen. Wir sind herrlich geblendet, als wir mit Patrik zusammen aufs Schiff steigen, um zu starten. Die Temperaturen klettern steil nach oben in Richtung Frühling und mit ihnen unsere Stimmung. Wir werfen die Leinen los und gleiten bei Flaute und ruhiger See die Ostsee hinunter.

»Was ist denn das für ein Piepen?«, fragt Lutz irritiert vom Vorschiff herüber, wo er gerade die warmen Sonnenstrahlen genießt.

Ich stehe am Steuer und zeige in Richtung Zündschlüssel: »Da blinkt was.«

Alle drei kriechen wir misstrauisch auf Knien vor dem Zündschlüssel herum, bis Lutz und Patrik gegen die hellen Sonnenstrahlen das Warnblinken erkennen, das die drohende Überhitzung des Motors anzeigt. Wir schalten ihn sofort aus und klappen den Tisch im Salon hoch. Hier, mitten in unserem »Wohnzimmer«, von allen Seiten zugänglich, sitzt unser 30 Jahre alter Volvo-Motor. Wir begutachten alle Leitungen und Rohre, finden aber nichts Auffälliges. Den Motor haben wir professionell durchchecken lassen und schmerzhaft viel Geld in seine Instandhaltung gesteckt. Dass nun ausgerechnet unser Volvo als Erstes Probleme macht, ist uns unverständlich.

Das Einzige, was uns schließlich als mögliche Ursache einfällt, ist unser neuer Warmwasserboiler. Axel, ein begnadeter Mechaniker, hat uns geholfen, ihn an den Motor anzuschließen, damit wir bei längeren Motorfahrten auch gleich warmes Wasser zum Duschen und Abwaschen speichern können. Das Kühlwasser des Motors läuft nun also noch durch unseren Boiler, bevor es durch die Bordwand zurück ins Meer fließt. Wir klemmen die langen Schläuche wieder ab und bauen das System zurück, zurück auf Kaltwasser. Ich drehe den Zündschlüssel, starte den Motor – und das Piepen ist verschwunden.

»Warmwasser wird eh überbewertet«, heitert Lutz mich auf. »Bald sind wir in Gegenden unterwegs, wo wir gar kein warmes Wasser mehr brauchen.« Nun ja, denke ich, immerhin hatten wir einige Stunden Arbeit in unser neues Warmwassersystem gesteckt.

Lutz und Patrik wenden ihre Gesichter wieder der warmen Sonne zu, und auch ich habe diesen ersten von vielen kleinen Zwischenfällen nach wenigen Minuten vergessen. Wir kommen voran, und mit unseren Gedanken sind wir bereits in fernen Ländern.

Als Nächstes passieren wir den Nord-Ostsee-Kanal und fahren die Elbe hinauf bis nach Cuxhaven. Auch hier sind wir das einzige Boot, der Hafen ist winterlich verlassen. Wir verkabeln noch den neuen Autopiloten, duschen heiß und ausgiebig und machen uns auf den Weg in Richtung England.

Wir wollen nonstop nach Brighton segeln und sind daher auf mehrere Tage auf See eingestellt. Dazu wählen wir einen Weg, der etwas weiter weg von der Küste zwischen zwei Verkehrstrennungsgebieten liegt, in denen die Großschifffahrt unterwegs ist. Hier erhoffen wir uns sehr viel weniger Fischerboote als nahe der Küste und freie Bahn nach Westen.

Da es nachts noch empfindlich kalt wird, wechseln wir uns alle zwei Stunden mit dem Wachehalten ab. Wachehalten heißt für uns hier auf der viel befahrenen Nordsee: alle fünf Minuten einmal rundherum schauen, ob Fischer-, Container- oder Segelschiffe unseren Weg kreuzen. Viele Monate später heißt es dann nur noch alle zwei Stunden einmal rundum zu schauen. Mitten auf dem Pazifik werden wir wochenlang kaum einem Schiff begegnen.

In der darauffolgenden Nacht wecken mich ein heftiger Ruck und ein sehr lauter Knall. Ich rutsche mit dem Kopf gegen die Wand. Es ist stockdunkel in meiner Kabine. Nur schemenhaft erkenne ich meinen Laptop. Er fliegt senkrecht nach oben, knallt gegen die niedrige Decke, prallt an der weißen Seitenwand ab und landet dann auf dem kleinen Stück Fußboden vor meiner Koje. Der Boden im Schiff ist aus Teakholz – äußerst angenehm, um darauf später barfuß zu laufen. Im Moment trage ich aber zwei Paar warme Socken gegen die nächtliche Kälte.

Ich reibe mir den Kopf an der Stelle, wo ich gegen die Wand gerutscht bin, und versuche zu verstehen, was gerade passiert ist. Sind wir mit einem Containerschiff kollidiert? Hat uns ein Fischer gerammt? Gehen wir etwa unter? Ich lasse meinen Laptop liegen, schliddere auf Socken in den Salon zum Niedergang und recke meinen Kopf ängstlich in die Nacht hinaus. Gegen den Nachthimmel erkenne ich, dass Lutz das Steuer übernommen hat. Patrik kniet neben ihm, den Kopf in der hinteren Cockpitkiste. Dort wohnt unser Autopilot.

»Patenthalse! Der Autopilot ist abgebrochen!«, ruft Lutz mir zu, um die Wellen und den Wind zu übertönen. »Die Halterung, das dicke Stück Stahl, ist vom Ruderschaft abgebrochen!«

Keine Kollision, kein Loch im Rumpf, wir gehen nicht unter, puh! Und auch sonst ist nicht viel passiert. Ein Glück, dass wir angefangen haben, nur noch mit Bullenstander zu fahren. Ein merkwürdiges Wort, wohl eine Abwandlung des Wortes »Bulien«, eine Leinenart auf alten Rahseglern. Die englische Bezeichnung gefällt uns besser: Preventer. Ganz einfach. Die Leine soll ja verhindern, dass der Baum von einer Seite auf die andere schlagen kann. Das kann auf hoher See schnell passieren, aufgrund von Wellen oder auch eines Steuerfehlers, wenn das Boot plötzlich falsch vor dem Wind steht. Der herumschlagende Baum ist gefährlich, da er sich auf Kopfhöhe befindet. Wenn er mit Schwung von einer Seite auf die andere rauscht, kann er leicht eine tödliche Kraft entwickeln.

Unser Preventer hat gute Arbeit geleistet. Es ist nichts weiter passiert, und Lutz hat uns schnell wieder auf Kurs gebracht, aber warum der Stahl gebrochen ist, können wir uns nicht erklären. Und wir können ihn auch nicht reparieren, denn wir haben kein Schweißgerät an Bord. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als den nächstbesten Hafen anzulaufen. Wir entscheiden uns für Borkum und steuern den Rest der Nacht per Hand.

Die Anfahrt nach Borkum ist schwierig. Die Strömung ist stark und schiebt gegen uns. Der Wind nimmt rasant zu, und nun drücken Strömung und Wind in verschiedene Richtungen. Das Oberflächenwasser ist kabbelig und nervös. Wir erreichen den alten Marinehafen und müssen an der Kaimauer festmachen – bei diesen Bedingungen haarsträubend. Wir überlegen kurz, ob wir Patrik das Steuer überlassen sollen, aber eigentlich ist das für Lutz und mich eine ausgezeichnete Übung. Obwohl wir vor Angst, unser geliebtes Boot gegen eine Mauer zu setzen, schweißnass sind, bleiben wir dran. Patrik lässt uns entspannt machen und gibt uns wertvolle Tipps. Kurz darauf liegen wir sicher vertäut neben der Seenotrettung.

Zu unserer Erleichterung finden wir bei der Seenotrettung so fort jemanden, der uns die gebrochene Halterung schweißt und auch noch doppelt verstärkt. Schon am nächsten Vormittag ist alles wieder repariert. Die Halterung sieht jetzt überdimensioniert aus, aber noch einmal soll uns dieses Teil nicht brechen. Der Schreck sitzt mir noch in den Knochen. Mein Laptop hat glücklicherweise nur leichte Schäden davongetragen. Sein Akku hat sich verabschiedet, aber ansonsten funktioniert er noch. Ab jetzt werden wir alle elektronischen Geräte fest einkeilen oder anschnallen. Unsere Lernkurve ist in diesen ersten Wochen auf See sehr steil. Wir werden sicherer im Umgang mit unserem Boot und gewinnen mehr und mehr Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten.

Der Wind hat in der Zwischenzeit über der gesamten Nordsee Sturmstärke erreicht, und so sitzen wir für fünf Tage auf Borkum fest.

Wieder auf See, begegnen wir vor Rotterdam unseren ersten Delfinen der Reise! Es sind zwei kleine flinke Tiere, die so schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Trotzdem freuen wir uns ungemein über den Besuch. Es bedeutet, dass wir in wärmere Gefilde kommen. Wir wundern uns nur, warum sie ausgerechnet vor dem größten Industriehafens Europas anzutreffen sind. Hier herrscht mit Abstand das höchste Verkehrsaufkommen, das uns auf unserer Reise bis jetzt begegnet ist. Der Bildschirm des Kartenplotters reicht kaum aus, um alle Schiffe um uns herum darzustellen. Patrik, der auf seinen Segelreisen schon viel gesehen hat, macht zum Beweis ein Foto vom Bildschirm des Plotters. Das will er später seinen Freunden in Finnland zeigen.

Auf der Höhe von Amsterdam tauchen im Morgengrauen plötzlich etwa 15 alte Zwei- und Dreimaster aus dem Nebel auf. Ich habe gerade Nachtwache und überlege, ob ich mir das vor lauter Müdigkeit nur einbilde – von Halluzinationen bei Seglern habe ich gelesen. Bei Übermüdung sehen die einen Geister, die anderen Bohrplattformen, die es nicht gibt. Ich bin mir nicht sicher. Es ist Samstag, 6 Uhr früh – die Sichtweite beträgt schätzungsweise 400 Meter. Was in aller Welt sollten diese Segelboote hier um diese Uhrzeit tun?

Ich klettere den Niedergang hinunter und linksherum in unsere Kabine. Die Dunkelheit wird nur durch den schmalen Schein meiner Kopflampe erhellt. Vorsichtig schüttele ich Lutz an der Schulter. »Lutz, wach auf! Da draußen sind ganz viele, äh, Piratenschiffe oder so. Die kommen aus dem Nebel. Und genau auf uns zu!«

»Hm, nee lass mal. Und mach das Licht aus.«

»Los komm, das sieht irre aus!« Ich wende Lutz das Gesicht zu und leuchte ihm so aus Versehen mit der Lampe auf meiner Stirn direkt in die Augen. Diese schließen sich reflexartig – und öffnen sich auch nicht wieder. Als Antwort bekomme ich nur ein leises Schnarchen.

Hm, dann vielleicht Patrik. Ich versuche also vorsichtig, unseren Segelmentor von der Szene da draußen zu begeistern. Sofort steht er auf – vielleicht aus einem Gefühl der Verantwortung für Leib und Leben heraus –, reibt sich die Augen und starrt sekundenlang durch seine Luke im Vorschiff in den inzwischen grünstichigen Nebel hinein. Die Sonne wird bald aufgehen, und der Nebel lichtet sich. Langsam und taumelnd kommen uns die grauen Museumsobjekte entgegen. Patrik kratzt sich ungläubig am Kopf und schaut mich fragend an. Wir halten unseren Kurs, während alle 15 Schiffe lautlos und wie auf Schienen im Bogen um uns herumsegeln. Wir machen Fotos für Lutz. Dann stehen wir noch lange auf Deck und starren hinter den Zwei- und Dreimastern her, mit einem Becher dampfendem Kaffee in der Hand: großes Kino!

An Bord stellt sich nun eine Art Routine ein. Wir wechseln uns mit den Wachen ab, was bedeutet, dass eigentlich immer einer von uns schläft, einer für das Boot verantwortlich ist und der Dritte frei hat. Nach und nach lernen wir die Geräusche an Bord zu deuten. Neben der verräterisch lauten Pumpe für Frischwasser, den leicht knarzenden Geräuschen der Selbststeueranlage und den Wellen, die gegen den Rumpf schlagen, gibt es noch viele andere Geräusche, die zum Segeln dazugehören.

Am dritten Tag bei Sonnenuntergang erreichen wir die englische Hafenstadt Dover.

Unsere Reise mit Patrik erweist sich als perfektes Lehrstück: Wir haben einen Kanal, eine Schleuse – in Holland zum Tanken und mehrere Verkehrstrennungsgebiete durchquert, starke Strömungen, viel Wind und Welle sowie eine Patenthalse durchlebt. Wir haben viel gelernt und Probleme gemeinsam gemeistert. Lutz und ich sind zufrieden. Mehr als das: Wir spüren, dass wir unser Boot so langsam im Griff haben.

Bei unserer Ankunft in Dover glüht der Abendhimmel, und die weißen Leuchttürme am Eingang zum Hafen leuchten orange. Am Horizont regnet es, gleich zwei Regenbögen erstrecken sich über dem Meer. Der Hafenmeister empfängt uns herzlich und empfiehlt uns als Erstes einen Besuch in der nächstgelegenen Kneipe. Einklarieren könnten wir auch später, sagt er. Wir wollen aber weiter, tanken nur kurz, vertreten uns für ein paar Minuten die Beine und legen gleich wieder ab. Das Einklarieren verschieben wir auf Brighton, wo uns später gesagt wird, dass wir es auch bleiben lassen könnten, es würde für beide Seiten nur unnötigen Aufwand bedeuten. Also lassen wir es sein und halten uns folglich tagelang illegal in Großbritannien auf.

Die starken Strömungen, die von den Gezeiten an der englischen Küste verursacht werden, schieben uns rasend schnell in Richtung Brighton. Lange diskutieren wir, wann wohl der richtige Zeitpunkt für diese Strecke wäre, denn ganz einfach lassen sich die vielen Informationen aus den Handbüchern nicht zusammensetzen. Schließlich berechnen wir, dass wir die günstigste Strömung mit uns hätten, wenn wir sofort weiterfahren würden. Und es funktioniert: Mit über 8 Knoten rutschen wir an der englischen Küste entlang. Für unser Boot ist das wahnsinnig schnell. Dieser Wert relativiert sich allerdings, wenn man bedenkt, dass man zu Fuß schon 2,7 Knoten schnell ist. Oder anders ausgedrückt: Mit 8 Knoten sind wir in etwa so schnell, als würden wir langsam Fahrrad fahren. Trotzdem legen wir schon um 3 Uhr nachts in der Marina von Brighton an.

So schnell die Rutschpartie auch ist, die Nacht ist anstrengend. Die Sicherung des Autopiloten brennt durch, und so müssen wir wieder per Hand steuern. Die Probleme mit dem Autopiloten machen uns jetzt Sorgen. Wir passieren auch einige Fischerboote. Zwei von ihnen sind im Verbund unterwegs und haben Netze zwischen sich gespannt, die bei Dunkelheit kaum zu sehen sind. Von früheren Segeltörns kenne ich dieses Phänomen und halte generell ordentlich Abstand zu Fischerbooten. Als wir 300 Meter von ihnen entfernt sind, schalten die Fischer auf beiden Seiten gigantische Strahler an und beleuchten die Netze zwischen ihnen. Es ist plötzlich so hell, dass wir geblendet sind. Sehr effektiv: Wir sind alle wieder hellwach.

Die Einfahrt nach Brighton erfordert unsere volle Konzentration. Im Handbuch steht, dass die Fahrrinne seitlich versandet sein könne. Die Wellen und die Strömung schieben uns seitwärts, und ich muss aufpassen, in der Mitte des Fahrwassers zu bleiben. Patrik und Lutz helfen mir in der Dunkelheit, indem einer links, der andere rechts auf Deck steht und sie mich mittig zwischen den roten und grünen Tonnen durchlotsen. Alles passt, wir machen an einem freien Steg fest und fallen todmüde in die Kojen.

Am nächsten Morgen trinken wir unseren Kaffee im Cockpit. Es ist schon ziemlich spät, und wir machen gerade im Geiste eine Liste mit den Dingen, die wir hier erledigen wollen. Unser Cockpit ist für die Länge des Schiffes angenehm groß. Hier sitzen wir am liebsten und genießen die Pausen. Es ist zwar noch immer nicht sehr warm, aber die Sonne scheint, und wir sind ausgeschlafen und entspannt.

Lutz bewundert das Können zweier Segler direkt vor unserem Steg. Trotz starker Strömung und seitlichen Windes gelingt es ihnen, auf der Stelle zu stehen und sich kein bisschen zu bewegen. »Das will ich auch können!«, sagt Lutz und schlürft den heißen Instantkaffee. Er verzieht das Gesicht, denn noch haben wir uns nicht richtig an den einfachen Nescafé an Bord gewöhnt. Dann kommt ein Motorboot der Marina vorbei, und der Mann am Steuer winkt den beiden Seglern zu – und wirft ein Abschleppseil zur Yacht hinüber. Lutz setzt sich auf, um besser sehen zu können. Als er seinen Irrtum endlich bemerkt – die Yacht steckt nämlich ordentlich im Schlick fest –, prustet er so heftig los, dass der heiße Kaffee durchs Cockpit bis auf meine Füße spritzt.

Die Brighton Marina ist die größte Großbritanniens. Wir kaufen noch fehlende Ausrüstungsgegenstände und lassen den Autopiloten überprüfen. Der Bootsbauer kann aber keine Probleme feststellen, der Autopilot sei korrekt eingebaut. Mehr als die Sicherung zu wechseln, könnten wir nicht tun.

In einem der Ausrüstungsläden besorgen wir uns einen Radarreflektor. Bei den Unmengen an Containerschiffen halten wir das für eine gute Idee. Der Reflektor soll sicherstellen, dass unser kleines Schiff vom Radar der Großschifffahrt erfasst wird. Das Gerät hat allerdings einen Haken. Man muss die Metallstücke zu einer Art Kubus zusammenstecken, der dann oben an den Wanten angebracht wird. Das gelingt jedoch keinem von uns dreien, und so bringen wir die Teile fragend zurück in den Laden. Die Verkäufer versuchen uns zu helfen, einige Kunden ebenfalls, zum Schluss ein alter englischer Skipper. Er ist sich sicher, dass das ziemlich einfach ist und fummelt an den einzelnen Metallscheiben herum, bis ihm schließlich der Kragen platzt: »This must be a French product!« Seine Verachtung für die Franzosen ist nicht zu überhören. Die einzelnen Metallscheiben klirren auf den Tresen, und empört stampft er davon. Nun haben wir ein komplett anderes Modell an Bord, eine Art Röhre, die man nicht zusammenbauen muss. Das französische Produkt wurde aus dem Sortiment genommen.

Lutz und ich haben beide einige Jahre in England gelebt und beschließen, ein paar Tage hierzubleiben. Wir treffen alte Freunde und genießen einige Dinge, die typisch für England sind: Marmite, Ale und Salt and Vinegar Crisps. Marmite, ein Brotaufstrich aus Hefeextrakt, sieht aus wie Nutella, schmeckt aber extrem salzig. Das mögen wirklich nur Briten und einige wenige andere. »You either love it or hate it!«, beschreibt die englische Werbung das Produkt denn auch ganz treffend. Bei Lutz und Patrik ist es Letzteres. Ich habe also das ganze Glas für mich allein. Dafür genießt Lutz das englische Ale und Patrik die Salz- und Essigchips.

Nach wenigen Tagen segeln wir weiter – aus dem Ärmelkanal hinaus auf den offenen Atlantik mit Kurs auf die Biskaya. Wir spüren, dass der Meeresgrund steil abfällt. Die Wellen weichen einer langen Dünung, und das Boot gleitet ruhiger übers Meer. Wir sind guter Dinge, das Wetter ist schön, und wir kommen gut voran, als Patrik uns plötzlich eröffnet: »Without a furling genoa I am not going across the Bay of Biscay!« Seine Arme sind vor der Brust verschränkt, ein wenig defensiv und unsicher. Lutz und ich sind baff. Patrik weigert sich, ohne Rollreffanlage über die Biskaya zu segeln. Unser Segellehrer hat Angst! Und wir sind verwundert, denn die ungemütlichen Arbeiten auf dem Vorschiff, um die Segel zu wechseln, zu setzen und zu bergen, erledigen ja Lutz und ich. Patrik bleibt bei diesen Manövern im sicheren Cockpit. Er hat also gar nicht viel zu befürchten. Oder ist es gerade das? Dass Patrik vom Cockpit aus die Strapazen mit ansehen muss und sich verantwortlich fühlt? Es muss ja auch haarsträubend aussehen, wenn wir dort vorn von den Wellen überspült und in die Luft gehoben werden, auf allen Seiten umgeben von weißer Gischt. Wer weiß, auf jeden Fall sind Lutz und ich aber inzwischen so weit, dass wir auch allein weiterfahren würden.

Wir entscheiden uns für einen Stopp in der Nähe von Brest in Frankreich: in einem bretonischen Fischerdorf mit dem klangvollen Namen Camaret-sur-Mer, das noch nördlich der Biskaya liegt. Kurz vor der Einfahrt begegnet uns ein anderes Segelboot, das erste seit Tagen. Es ist eine Sweden 44. Während wir die elegante Yacht beobachten, wie sie im Sonnenuntergang zügig an uns vorbeizieht, krächzt unser Funkgerät: »Sailing yacht ROUND360°! Sailing yacht ROUND360°!« Patrik ist der Einzige, der aus dem Geknister unseren Bootsnamen heraushört. Lutz sprintet in den Salon, holt unsere Handfunke und antwortet: »This is sailing yacht ROUND360°. Hello?«

Am anderen Ende vernehmen wir eine bekannte Stimme, die von der Sweden-Yacht neben uns kommt. Es ist John! Ein alter Freund und Skipper aus Schottland, mit dem ich auf früheren Überführungstörns zusammen gesegelt bin. Wir haben ihn im Mittelmeer vermutet. Sein Zeitplan hat sich aufgrund des Sturms über der Nordsee aber ebenfalls stark verzögert, und so kommt es, dass wir ausgerechnet hier aufeinandertreffen.

John hat Lutz und mir vor einigen Monaten geholfen, unser neu erstandenes Segelboot von Hamburg nach Kappeln zu bringen. Wir haben unser Boot am 11.11.2011 gekauft und es gleich am nächsten Morgen zusammen mit John über den Nord-Ostsee- Kanal nach Kappeln überführt. Obwohl erst November, war es schon ungemütlich kalt, und in der Nacht, die wir in Rendsburg verbrachten, sanken die Temperaturen auf –4 °C. Die Heizung, die laut Verkäufer einwandfrei funktionieren sollte, brachte kein bisschen Wärme, doch John hielt ohne Murren durch, wofür ich ihm bis heute dankbar bin.

Am nächsten Morgen war sogar Eis an Deck, und über dem Kanal lag Nebel. Als waschechter Schotte hat John sich aber nicht davon abhalten lassen weiterzufahren, woraufhin wir über Funk einen aufgebrachten Kanalkontrolleur am Ohr hatten: »It is absolutely forbidden to sail on the canal when there is fog!« So mussten wir eine Weile in einer Nothaltebucht ausharren, bis sich der Nebel etwas gelichtet hatte und das Okay für die Weiterfahrt über Funk kam.

Als John den Brückenwärter in Kappeln anfunkte, um im winterlichen Betrieb um Durchfahrt zu bitten, kam erst ein »Wat?« als Antwort, da John ihn auf Englisch angefunkt hatte, und dann, einen Augenblich später: »Seid ihr das dahinten? Dann gebt mal Gas!«

Mit John fing unsere Reise an, und nun ist er mit seiner britischen Crew ebenfalls auf dem Weg nach Camaret-sur-Mer! Es wird ein fröhliches Wiedersehen mit traditionellen »moules et frites « – Miesmuscheln mit Pommes.

Die Zeit wird nun langsam knapp, und Lutz und ich beschließen schweren Herzens, unsere erste Segeletappe nicht in Marokko, sondern in Frankreich zu beenden. Wir haben zwei wichtige Termine zu Hause in Berlin, die wir nicht verschieben können.

Wir räumen das Schiff ordentlich auf und lassen es sicher vertäut in der Marina von Camaret-sur-Mer liegen. Von Brest aus fliegen wir nach Berlin zurück, Patrik fliegt nach Helsinki. Er ist unglaublich rührend und bietet uns seine weitere Mithilfe für die nächste Etappe an: Er würde wieder herfliegen. Dafür könnten wir ihn knutschen!

Als wir dann aber auf dem Weg zum Flughafen die Preise für Rollreffanlagen auf dem Smartphone googeln, schauen Lutz und ich uns nur an – und müssen gleichzeitig lachen. Wir wissen beide, dass wir ab jetzt allein weitersegeln werden. Inzwischen trauen wir uns zu, die weitere Reise ohne Patrik anzutreten. Und ohne Rollreffgenua.

SEGELMENTOREN

Da Lutz gerade einmal den Sportbootführerschein See und einen Segelkurs auf dem Wannsee absolviert hatte und ich zwar sehr viel mehr Seemeilen im Kielwasser vorweisen konnte, aber noch nicht über das nötige Know-how verfügte, ein Dickschiff ganz allein zu segeln, haben wir uns dafür entschieden, jemanden mitzunehmen, der uns alles Nötige beibringen konnte – eine Art Segelmentor. Neben Patrik gab es noch zwei weitere »Mentoren«, die mich auf dem Weg zum Langfahrtsegler ein Stück begleitet haben.

Als Kind bin ich Optimist gesegelt und mit den Eltern von Freunden ein-, zweimal nach Dänemark. Aber richtig gepackt hat mich das Segeln erst, als ich als Austauschschülerin in Südafrika mit meiner Gastfamilie auf dem Indischen Ozean unterwegs war. Von Richards Bay in Südafrika ging es mit dem selbst gebauten 20-Meter-Segelschiff nach Mosambik die Küste hoch. Tagelang auf dem offenen Meer, Wale, Windhosen, Nachtwachen bei sternenklarem Himmel, ein Hai, der unseren Fang von der Angel biss, und die Gastfreundschaft, die wir überall antrafen, haben mich mit meinen 17 Jahren nachhaltig beeindruckt. Trotzdem habe ich das Segeln in den nächsten Jahren nicht weiter verfolgt.

Als Vorbereitung für unsere große Reise und auch als Test, ob mir das Langfahrtsegeln auch heute noch so gut gefallen würde wie mit 17, habe ich bei einem Weltumsegler angeheuert, der gerade Station in der Türkei machte. Über eine Seglerbörse im Internet fand ich einen US-Amerikaner aus San Francisco, der immer zwei weitere Crewmitglieder mit an Bord hatte, um ihm beim Segeln seines 44 Fuß großen Katamarans zu helfen. Gegen Mithilfe beim Segeln und allen anderen Aufgaben, die auf einem Boot anfallen, und einer Beteiligung an der Bordkasse für Wasser, Diesel und Essen, fährt man gratis mit. Das Prinzip nennt sich Hand gegen Koje.

Wir segelten gemeinsam von Marmaris aus durch die sommerlich schillernde griechische Inselwelt, durch die Straße von Korinth bis in die westlichsten Regionen von Griechenland. Hier lernte ich das perfekte Ankern, das Navigieren mit äußerst ungenauen Seekarten (teilweise wich die Karte um 200 Meter von der Realität ab, und laut GPS segelten wir mitunter über Land!) und vor allem den Alltag des Fahrtensegelns: die regelmäßige Suche nach Waschsalons, den extrem sparsamen Umgang mit Süßwasser, das Abwaschen mit Meerwasser, das Duschen bzw. Waschen im Meer. Das ist teilweise mühselig und sicherlich nicht für jeden Menschen geeignet. Ich aber fand es großartig.

Somit war der Eigner der Catana 44 schon mein erster Segelmentor. Um auch die extremere Seite des Fahrtensegelns kennenzulernen, heuerte ich danach noch bei einer Crew an, die eine Überführung von Frankreich auf die Kanaren machen wollte. Hier lernte ich auch John kennen. John war mein zweiter Mentor: Er überließ mir die Navigation, das Verproviantieren für den Törn, das Segeln und erklärte mir das System der Wacheinteilungen, Sicherheitsvorkehrungen an Bord und die Technik. Die längste Passage dauerte fünf Tage und Nächte. Von Cascais bei Lissabon nach Gran Canaria. Ich habe mich sofort wieder in das lange Segeln auf dem offenen Meer verliebt. Von daher wusste ich, worauf ich mich einließ – im Gegensatz zu Lutz.

Da meine Erfahrungen mit der Seglerbörse ausgesprochen positiv waren, haben Lutz und ich beschlossen, hier auch nach einem geeigneten Mentor zu suchen, der uns auf unserer ersten Etappe begleiten sollte. Innerhalb von wenigen Tagen wurden wir fündig – oder besser gesagt, wir wurden gefunden. Von Patrik, der ein Boot zum Mitsegeln suchte und auch gern sein Langfahrtseglerwissen weitergeben wollte. Patrik hatte schon die ganze Welt besegelt, und das, obwohl er zu dem Zeitpunkt gerade einmal Anfang 30 war.

Ein gewisses Risiko, ob man sich auf so engem Raum mit einer wildfremden Person verstehen wird, bleibt immer. Wir hatten Glück und waren uns auf Anhieb sympathisch. Patrik strahlte eine Ruhe und Besonnenheit aus, die wir in unserer Aufregung gut vertragen konnten. Die Kosten für seinen Flug, Kost und Logis übernahmen wir.

Patrik erwies sich als der perfekte Lehrer. Er war ruhig, freundlich, humorvoll und, was am wichtigsten für uns war, er hatte Freude daran, uns sein Wissen zu vermitteln. Außerdem war er verrückt genug, mit uns am Ende des Winters loszusegeln.

Ob es um einen Tropfen Öl für die quietschende Pumpe der Bordtoilette ging oder sein Hinweis, dass wir das selbst eingebaute Schaltpanel auf jeden Fall noch verstärken müssten, da es auf der Ostsee sicherlich lange halten würde, aber schon auf dem Atlantik den Kräften der Wellen nicht standhalten würde: Seine Tipps waren uns eine große Hilfe, und er packte bei allem mit an.

Patrik hat unser Abenteuer gut gefallen. Nicht lange nachdem sich unsere Wege trennten, schrieb er, dass er nun als Nächstes ein junges Paar aus England mit ganz ähnlichen Plänen und wenig Erfahrung für eine Weile begleiten würde.

ETAPPENPAUSE

Hat jemand einen Platz zum Schlafen?

»Seid ihr nächste Woche etwa im Urlaub?«, rufe ich begeistert in den Telefonhörer. »Dann ist eure Wohnung also frei und niemand da, der die Blumen gießt?« Anstatt nachzufragen, wohin die Reise denn gehen soll, interessiere ich mich momentan nur für die Tatsache, dass die Wohnung unseres Freundes Peter in Berlin eine Woche lang leer steht.

»Ja, die Wohnung ist frei. Worauf willst du denn hinaus?«, lacht Peter, der Lunte gerochen hat. Wir verabreden die Schlüsselübergabe, und ich lege erfreut auf. Für die erste Woche zu Hause haben wir eine Unterkunft gefunden.

Unsere eigene Wohnung ist noch untervermietet, da wir etwas früher zurückkehren als geplant. Das Teilzeitsegeln ist hin und wieder eine organisatorische Herausforderung. So gut wir unsere Segeletappen auch planen, es entstehen hin und wieder Überschneidungen. Manchmal beenden wir eine Etappe etwas früher, manchmal fangen Projekte früher an als geplant. Die Untermieter möchten wir deswegen nicht vor die Tür setzen. So ist manchmal ein hohes Maß an Flexibilität gefragt.

Uns bleibt uns also nichts anderes übrig, als spontan bei Freunden und Familie anzuklopfen und nach einem Platz zum Schlafen zu fragen. Im Laufe der Zeit übernachten wir dann mal auf dem Fußboden im Zimmer meines Neffen, mal ein paar Tage im Hotel, und natürlich ziehen wir auch immer wieder bei unseren Eltern in Hannover und Kiel ein. Je nachdem, wie lange unser Zuhause noch vergeben ist.

Unsere Wohnung haben wir ein wenig entrümpelt und zur Untermiete frei gegeben. In den Zeiträumen, in denen wir unterwegs sind, wohnt dort zuerst eine Familie aus England, dann ein Arzt aus Holland, dann eine Familie, die aus Kolumbien wieder nach Berlin zurückgekehrt ist und noch einige mehr.

Insgesamt gesehen ist das Teilzeitsegeln zwar teurer – die Flüge in die Heimat und die monatelange Unterbringung des Schiffes an fernen Orten in der Welt schlagen aufs Budget –, aber auf der anderen Seite verdienen wir auch immer wieder Geld. Geld, das in die Bordkasse fließt und uns unterwegs mehr Flexibilität bietet. Unterm Strich haben wir auf diese Weise viel mehr Geld beim Segeln zur Verfügung.