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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74095-110-8
»Da kommt er«, sagte Ulrike Brunner zu ihrem Mann.
Sie stand in gebeugter Haltung vor dem niedrigen Stubenfenster des alten Schwarzwaldhauses. Lump, der Jagdhund des Arztehepaars, drängte seinen großen Kopf neben ihren blonden Lockenschopf, um auch einen Blick nach draußen zu erhaschen. Als ein schwarzer Sportwagen auf den Patientenparkplatz fuhr, begann er, freudig zu bellen. Das tiefe Brummen des Motors kannte er doch …
»Hat er Frau Konzack mitgebracht?«, fragte der Landarzt, der am Tisch sitzen blieb.
»Das kann ich noch nicht erkennen«, murmelte Ulrike. »Jetzt steigt er aus. Wie gut er wieder aussieht, unser Sohnemann«, fügte sie voller Stolz hinzu.
Der junge Mann mit den langen Locken ging um den Wagen herum zur Beifahrertür. In der lässigen Jeans, zu der er ein einfaches weißes Shirt und Bikerstiefel trug, sah man Thorsten Brunner nicht an, dass er mit seinen dreißig Jahren schon ein international anerkannter Konzertdirigent war.
»Ja, Nicole Konzack ist mitgekommen«, informierte die Landarztfrau nun ihren Mann.
Die junge Frau, die aus dem Auto stieg, war groß und schlank. Viel zu schlank. Mit dem hellblonden Haar und der hellen Haut machte sie einen geradezu zerbrechlichen Eindruck, zu dem das weiße Sommerkleid, das ihre biegsame Figur wie ein Schleier umwehte, noch beitragen mochte.
»Man sieht schon von Weitem, dass sie völlig erschöpft ist«, sagte der Landdoktor mit betroffener Miene, der sich jetzt neben Frau und Hund gesellt hatte.
Ulrike lächelte ihn voller Zuversicht an. »Das bekommst du schon wieder hin.«
*
»Da sind wir!« Thorsten Brunner legte mit freundschaftlicher Geste den Arm um die junge Frau an seiner Seite. »Darf ich vorstellen? Meine Eltern – Nicole Konzack.«
Ulrikes schöne blaue Augen strahlten an diesem Sommertag mit dem Himmel um die Wette.
»Herzlich willkommen in Ruhweiler«, begrüßte die Landarztfrau zuerst Nicole. Dann lagen sich Mutter und Sohn in den Armen.
»Hallo, Vater.« Auch die beiden Männer verharrten in inniger Umarmung ein paar Herzschläge lang. Danach wandte sich der Landdoktor an ihren Gast.
»Frau Konzack, herzlich willkommen in unserem Haus und in Ruhweiler.«
»Danke, aber nennen Sie mich doch Nicole«, bat die junge Frau mit weicher, melodisch klingender Stimme.
»So, jetzt kommt erst einmal herein. Nach der Fahrt habt ihr bestimmt Hunger. Es gibt natürlich Schwarzwälderkirschtorte«, sagte Ulrike zu Nicole mit vielversprechendem Blick.
*
Während Thorsten zwei Stück Torte verschlang, naschte Nicole nur von ihrem Kuchen. Das Arztehepaar wusste, warum.
»Ich habe ein schönes Häuschen für Sie gefunden«, sagte Ulrike in aufmunterndem Ton. »Es liegt in einem Wiesengrund, gar nicht weit von uns entfernt, und Sie können bleiben, so lange Sie wollen.«
Nicoles Lächeln wirkte müde. »Leider habe ich nur drei Wochen Zeit.«
Matthias lachte. »Es hat schon Gäste gegeben, die sind für immer geblieben.«
»Hier ist es auch wunderschön«, erwiderte die junge Frau mit verklärtem Blick über die blühenden Wiesen, die unterhalb der Terrasse zur Steinache sanft abfielen. In der Ferne stellten sich die Schwarzwaldhöhen hintereinander auf. Am Horizont verschwammen ihre Konturen mit dem lichten Blau des Himmels.
»Wo kommen Sie her?«, erkundigte sich Matthias.
»Aus Zürich.«
»Eigentlich stammt Nicole aus Leipzig«, fügte Thorsten hinzu. Er sah seinen Vater bedeutsam an. »Ich habe euch ja erzählt, dass Nicole Primaballerina beim Schweizer Ballett ist.«
Ja, das wusste der Landarzt. Er wusste auch, dass die Primaballerina vor ein paar Tagen einen Zusammenbruch auf der Bühne gehabt hatte. Burnout, hatte der Notarzt diagnostiziert und ihr geraten, ein paar Wochen zu pausieren.
»Da fällt mir gerade ein«, wandte sich Thorsten wieder an Nicole. »Seit einem halben Jahr gibt es im Ort ein gut sortiertes Sportgeschäft, wo du alles bekommst. Fachmännische Beratung inklusive. Falls du überhaupt Sport machen möchtest …«
Mit gequälter Miene lachte die Tänzerin auf. »Ich werde Sport machen müssen, um beweglich zu bleiben.« Dann beugte sie sich zu Ulrike hinüber und vertraute ihr mit versonnenem Lächeln an: »Ich habe aber auch ein paar Bücher im Gepäck. Um endlich einmal zu lesen.«
»Ich bin auch so eine Leseratte«, ging die Arztfrau sofort auf das Thema ein und schon erzählte sie Nicole von den Neuerscheinungen, die sie ihr ausleihen wollte.
*
Das kleine Schwarzwaldhaus mit seinem tief gezogenen Schindeldach lag wie ein Schmuckstein in einer grünen Wiese unterhalb eines Tannenwaldes. Ein in allen Farben blühender Garten gab dem Häuschen einen ganz besonderen Charme.
Von der ersten Minute an fühlte sich Nicole dort zu Hause. Ganz anders als in ihrem Apartment in der Vorstadt von Zürich. An diesem ersten Abend konnte sie von der beschaulichen Stille um sich herum und der guten Luft nicht genug bekommen. Während sie beobachtete, wie die Dämmerung aus dem Tal hinauf über die Tannenhöhen schlich, tauchte die untergehende Sonne die Bergzüge im Osten in ein dunkles Purpur. Hinter den Hügeln, am weiten Horizont, segelten einzelne lang gezogene Wolkenstreifen mit lichtem Gold gesäumt. Keine Hochhäuser, keine Telegrafenmasten, kein Flugzeuglärm, der die Ruhe der Natur gestört hätte.
Fasziniert sah die junge Frau zu, wie die Farben um sie herum verblassten. Der Mond wanderte höher. Das vielstimmige Geläut der Kuhschellen verklang, und die Steinache, die in ein paar Meter Entfernung durch die Wiesen plätscherte, schien leiser zu fließen als noch am Nachmittag.
Nicole lächelte versonnen vor sich hin.
Wie gut tat diese Ruhe, diese Idylle, ihrem ausgebrannten Körper! Für ein paar Augenblicke spürte sie keinerlei Schmerzen mehr, vergaß alle Zukunftssorgen und versank ganz im Hier und Jetzt. Sie schloss die Augen, atmete den Duft von Harz und fruchtbarer Erde tief ein, spürte den lauen Abendwind auf ihrer Haut und glaubte sogar zu spüren, dass er etwas mit sich brachte, was ihr Leben fortan für immer verändern würde.
*
Nicole begann den nächsten Tag mit zwei Tassen starkem Kaffee und einem Vitamindrink. Wie fast ihr gesamtes Leben lang. Heiko Wieland, ihr Agent, versorgte sie mit den flüssigen Nährstoffen, wie auch seine anderen ›Schäfchen‹. So nannte er all die Tänzerinnen, denen er Auftritte vermittelte. Nach dem Frühstück beschloss sie, eine Wanderung zu machen, trotz der Schmerzen im Fuß.
In einer Jeans, die ihr inzwischen auch schon zu weit war, Turnschuhen und mit einem leichten Rucksack auf dem Rücken ging sie los. Da sie sich im Ruhweiler Tal nicht auskannte, schlug sie einfach eine beliebige Richtung ein.
Mal sehen, wohin mich dieser Weg führen wird, sagte sie sich.
Seit mehr als zwanzig Jahren waren ihre Tage bestimmt vom Balletttraining, von der Planung anderer Menschen; sie hatten stets den gleichen Rhythmus. Dass sie jetzt auf sich allein gestellt war, rief ein Gefühl der Unsicherheit in ihr hervor.
Sie atmete energisch durch.
Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras und den Blumen, die am Wegesrand standen. Brunellen, Seidelbast und Frauenschuh –, Nicole erinnerte sich wieder daran, dass ihre Großmutter ihr diese Pflanzen einst gezeigt hatte. Sie lächelte bei der Erinnerung an ihre Kindheit still vor sich hin, an die Zeit, bevor sie Ballettunterricht genommen hatte. Doch gleich darauf schüttelte sie diese Gedanken schnell ab.
Von hier oben hatte man einen traumhaften Blick auf die Häuser von Ruhweiler, auf die kleine weiße Kirche, deren goldener Wetterhahn in der Sonne blinkte.
Sie ging weiter in den Hochwald hinein. Über ihr lispelten die Blätter im Sommerwind. Im Geäst der Tannen, Fichten und Buchen sangen die Vögel um die Wette. Dazwischen erklang immer wieder das Gekrächze eines Eichelhähers, des Wächters des Waldes, der dessen Bewohner auf die einsame Wanderin aufmerksam machen wollte.
Nach einer Biegung entdeckte die junge Frau einen Holztransporter, der quer zum Wanderweg stand. Männer waren damit beschäftigt, Bäume zu fällen und Stämme aufzuladen. Als sie näher kam, löste sich einer aus der Gruppe und kam auf sie zu. Ein Mann mit dunkelbraunen Locken, von denen ihm einige verwegen in die braun gebrannte Stirn fielen. Breitbeinig blieb er vor ihr stehen, mit einem jungenhaften Lächeln in dem gut geschnittenen Gesicht. Er kam ihr vor wie ein Teil dieser wilden rauen Waldwelt.
»Grüß dich«, sagte er ganz selbstverständlich zu ihr.
»Grüß dich«, wiederholte sie seine Worte in erstauntem Ton.
»Hier kannst du nicht weitergehen«, erklärte er mit einem Lächeln, das sie sofort in seinen Bann zog. »Das wird noch ein paar Stunden dauern. Wir holzen gerade.«
Sie hob die Schultern. »Dann kehre ich halt wieder um.«
»Wohin willst du denn?«
»Ganz gleich wohin.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Ich kenne die Gegend noch nicht.«
»Du solltest zur Hexenhütte wandern. Dort gibt es einen wunderschönen Ausblick und die besten Käsespätzle.«
Wie unter einem Blitz zuckte sie innerlich zusammen.
Kritisierte er mit diesem Vorschlag etwa ihre Figur?
»Dafür musst du ein Stück zurück und dann dem Schild nach«, erklärte er ihr und fügte mit strahlendem Lächeln hinzu: »Der Weg lohnt sich wirklich.«
»Danke für den Tipp.« Sie hörte selbst, wie viel kühler sie nun klang. Sie wollte schon umkehren, aber der Blick aus den sanftbraunen Männeraugen hielt ihren fest. Es war ein ernster Blick, ein forschender. Er schien bis in ihre Seele vordringen zu wollen.
»Machst Urlaub hier bei uns im Tal?«, fragte der junge Mann in dem grünen Overall, über dem er trotz der Wärme eine orangefarbene Warnweste trug.
»Ja«, antwortete sie.
Sie fühlte sich befangen, ja, sogar ein wenig verunsichert, was sie gar nicht von sich kannte. Hatte sie den Umgang mit Männern etwa völlig verlernt?
»Und? Gefällt’s dir bei uns?«
»Sehr.« Diese Antwort kam ihr aus dem Herzen und klang auch so.
Er nickte, lächelte, nicht mehr ganz so strahlend und verabschiedete sich dann mit den Worten: »Also dann … Ade. Ich wünsch dir was.«
»Ich dir auch.« Sie hob die Rechte, drehte sich um.
Ihr Herz schlug plötzlich schneller. In ihr breitete sich das Gefühl von Bedauern aus, das sie völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Gern hätte sie sich noch etwas länger mit dem Waldarbeiter unterhalten. Er stammte aus einer anderen Welt als der, in der sie heute lebte. Aus der Welt, in die sie einst hineingeboren worden war. Ihr Großvater war Förster gewesen.
Während Nicole so in Gedanken weiterging, betrachtete sie ein paar Vögel, die über ihr ihre Bahn zogen, elegant und schwerelos.
Sich einmal so richtig frei fühlen … Ja, das wünschte sie sich.
*
Daniel Geißle schaute der Urlauberin nach.
Eine Elfe, voller Anmut, aber viel zu dünn. Wunderschöne graue Augen hatte sie, denen der Kranz langer, schwarzer Wimpern noch mehr Tiefe gab. Erholungsbedürftig schaute sie aus. Blass. Er hatte auf ihren Zügen die Anzeichen von Erschöpfung gelesen, die er schon so oft auf Gesichtern gesehen hatte. Auch auf seinem eigenen.
Daniel strich sich die Locken aus der Stirn und schüttelte den Kopf, aus Unverständnis darüber, was diese Fremde in ihm angerichtet hatte. Immer noch stand er mitten auf dem Weg, hörte das Kreischen der Kettensägen in seinem Rücken und die Rufe der Männer ein paar hämmernde Herzschläge lang wie Geräusche von einem anderen Planeten, die ihn nichts angingen. So etwas war ihm noch nie passiert. Noch nie zuvor hatte eine Frau einen solch intensiven Eindruck bei ihm hinterlassen. Sie hatte eine Aura gehabt, die ihn, ohne dass er sich hätte wehren können, in ihren Bann gezogen hatte. Und nicht nur das. Er spürte dem Gefühl nach, das ihn ein paar Atemzüge lang beherrschte, das Gefühl, mit dieser Frau seelenverwandt zu sein. Ja, er glaubte, sie zu kennen, zu wissen, dass sie litt. In dem Leiden, das er bei ihr vermutete, kannte er sich aus. Er war diesem Zustand vor einem halben Jahr erst entkommen.
Noch einmal schüttelte er den Kopf, dieses Mal energischer.
Blödsinn. Vielleicht bildete er sich das alles auch nur ein, weil ihn nachts oft noch die Träume an die vergangenen Jahre plagten.
Die Fremde war längst verschwunden, als Daniel zu den Holzfällern zurückging.
*
Nach der Wanderung, die kürzer ausgefallen war als Nicole sich vorgenommen hatte, fuhr die junge Frau nach Ruhweiler hinunter, um Obst und Tee einzukaufen. Ihre Füße brannten wieder, als würde ein Feuer in ihnen wüten. Der rechte Fuß und seine Zehen noch mehr als der linke. Schmerzen am Bewegungsapparat gehörten zwar zu ihrem Beruf. Sie kannte sie und konnte damit umgehen. Doch an diesem Nachmittag erschienen sie ihr schier unerträglich. Sie konnte kaum mehr gehen.
Vor einer der für diese Gegend so typischen Schwarzwälderstuben blieb sie aufatmend stehen. Sie betrachtete das verlockende Angebot im Schaufenster. Wagenradgroße knusprig gebackene Brote, geräucherte Schinken, handgeschöpfter Käse, Obstbrände, Weine …
Sollte sie? Nein, lieber nicht, sagte sie sich. Sie durfte nicht. Sie sollte sich hier erholen, Kraft tanken, aber nicht an Gewicht zunehmen.
»Vergiss nicht, ein paar Pfund mehr in den drei Wochen und du bist draußen«, hörte sie Heiko Wieland vor ihrer Abfahrt mahnend sagen.
Sie musste weitertanzen. Sie hatte doch nichts anderes gelernt. Seit das Ballett eine Vertretung für sie gefunden hatte, fürchtete sie sich davor, dass die vier Jahre jüngere und sehr ehrgeizige Tänzerin ihr auf Dauer die Position der Primaballerina streitig machen könnte.
In diese schweren Gedanken hinein klingelte ihr Handy.
O nein! Ihre Mutter.
Sie steckte das Funktelefon so schnell zurück in den Rucksack, als hätte sie sich an ihm verbrannt. Mit steifen Schritten ging sie weiter.