Über dieses Buch
Posträuber, Bahn-erpresser, Abteilmörder, reisende Serienkiller, Frachtzug-Gangs, Sabotageakte!
Wer bisher geglaubt hat, in der guten alten Eisenbahn sicherer unterwegs zu sein als im Auto oder Flugzeug, wird eines Besseren belehrt. Diese Sammlung der größten Verbrechen der Eisenbahngeschichte zeigt, dass die Gefahr von Raub, Sabotage, Mord und Totschlag überall lauern kann – ob auf den Schienen, im Abteil oder am Bahnhof. Christian Lunzer und Peter Hiess versammeln in diesem Buch die spektakulärsten Verbrechen, die je auf Schienen passiert sind.
Schüsse im Abteil
Der Sachse und der Bluthund
„Haltlose Reisende“
Mörderische Inszenierung
Die Leiche in Waterloo Station
Killer aus gutem Hause
Zugfahrt des Schreckens
Tödliche Männerbekanntschaft
Der Eisenbahner war doch der Mörder
Tod im Ferienzug
„Die neuen Kathedralen“
Die Leiche in der Gepäckaufbewahrung
Schweres Gepäck
Scotland Yard und die Superhirne
Von Todesbrücken und verhexten Tunnels
Postraub im Wienerwald
Aktenzeichen XY gegen Mr. X
„Ein teutsches Lied …“
Outlaws & Desperados
Blut auf den Schienen
Der Eisenbahn-Lustmörder
Sabotage in Oftering
„Nicht denken, nur notieren“
Smartphones und Schläfer
Quellenverzeichnis
„Mord im Orientexpress“, „16 Uhr 50 ab Paddington“ – Agatha Christie hat mit diesen Romanen und den danach gedrehten Filmen die Eisenbahn als Schauplatz für Mord und Gewaltverbrechen berühmt gemacht. Sie selbst hatte, wie sie in ihrer Autobiografie eingesteht, immer schon eine besondere Beziehung zu diesem Verkehrsmittel gehabt. Den Orientexpress kannte sie von ihren Reisen nach Damaskus, wo sie ihren Mann, den Archäologen Max Mallowan, besuchte. Einmal wäre sie, wie Mallowan erzählt, beinahe selbst Opfer dieses Zuges geworden. Sie stürzte am vereisten Perron des Bahnhofs von Calais und fiel unter die Räder der abfahrbereiten Garnitur. In letzter Sekunde wurde sie von einem aufmerksamen Träger gerettet.
Was Agatha Christie und den klassischen englischen Kriminalroman so am Schauplatz Eisenbahn faszinierte, ist leicht erklärt: Zum einen bilden das Abteil, der Waggon und der Zug insgesamt nach dem Schließen der Türen und der Abfahrt ein zwar in Bewegung befindliches, aber doch völlig geschlossenes System. Wenn sich darin ein Verbrechen ereignet, sind Opfer, Verdächtige, Zeugen und Täter auf engstem Raum eingeschlossen – ohne Fluchtmöglichkeit und in einer erzwungenen, anfangs völlig rätselhaften Beziehung zueinander. Zum anderen ist es natürlich auch die Faszination des Verkehrsmittels selbst, die auf den Beobachter reizvoll wirkt – die Romantik der großen Dampflokomotiven, der Luxus internationaler Züge, die opulent gestalteten Bahnhöfe.
Ein Mord in der Bahn ist schließlich auch das zentrale Motiv im wohl bedeutendsten Eisenbahnroman der Weltliteratur des 19. Jahrhunderts: Émile Zolas 1890 erschienenes Werk „La Bête Humaine“. Der Autor hatte sich durch ausführliche Recherchen mit den Schauplätzen und dem Personal für seinen Roman vertraut gemacht, eingehend Betriebsabläufe und die Aufgaben der einzelnen Beamten recherchiert und war selbst auch auf der Schnellzugslokomotive von Paris nach Le Havre mitgefahren – jener Strecke, die im Roman beschrieben wird. Zudem hatte er einige Monate in England gelebt und dabei die britische Art des Umgangs mit Eisenbahnverbrechen kennen und schätzen gelernt. Besonders die „wahren“ Verbrechensberichte, die das englische Publikum so sehr mochte, hatten es dem französischen Schriftsteller angetan.
Die kriminelle Handlung im Roman „Die Bestie im Menschen“ – der Mord am Gerichtspräsidenten durch die von ihm als Kind verführte Severine und ihren Ehemann in einem Abteil des Schnellzugs – geht daher sicher auch auf reale Vorbilder zurück. Und auch die „dunklen Seiten“ der Eisenbahn selbst bleiben bei Zola nicht unerwähnt; so schildert er zum Beispiel einen katastrophalen Unfall mit vielen Opfern, bei dem ein Zug gegen einen vorsätzlich auf den Schienen abgestellten Schwertransport kracht.
Um reale Verbrechen in und mit der Eisenbahn geht es auch in diesem Buch. Die Faszination des „geschlossenen Systems“ und das abenteuerlich-romantische Flair der traditionellen Eisenbahn gelten naturgemäß für die Wirklichkeit ebenso wie für die Fiktion. Doch auch in diesem Fall erweist sich die Realität der Erfindung als durchaus ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen, was die Motive für Eisenbahnverbrechen, die Wahl der Schauplätze, den Ablauf der Ereignisse und die Spannung vor der Lösung eines Falls betrifft.
Kriminalgeschichte ist immer auch Sozialgeschichte, wenn auch freilich in greller, dafür aber ausgesprochen detaillierter und präziser Form. Eine Zusammenstellung verschiedener Eisenbahnverbrechen, wie wir sie in diesem Buch präsentieren, spiegelt daher auch die Geschichte des Massentransports am Beispiel der Eisenbahn sowie der in und mit ihr arbeitenden und reisenden Menschen wider. Da jedes aufsehenerregende Verbrechen direkte Konsequenzen für den künftigen Betrieb der Bahn hatte, erhalten wir dadurch auch interessante Einblicke in die Geschichte der Sicherheit des Reisens. Schon die Romangestalt Tante Phasie wies mit ihrer skeptischen Aussage in Zolas Buch auf dieses Problem hin: „Die Eisenbahn ist eine schöne Erfindung. Man kommt schnell und bequem überall hin, man erfährt viel und kann viel lernen. Aber die Menschen da draußen – außerhalb ihres Blockwärterhäuschens – sind wilde Tiere. Und wenn sie mit der Eisenbahn fahren, auch wenn die Erfindung laufend verbessert wird, sie bleiben doch die wilden Tiere.“
Die makabre Anziehungskraft, die Verbrechen im Zug ausüben, hat natürlich immer auch mit solchen Ängsten zu tun. In der Eisenbahn sitzt man (zumindest war das bis zur Erfindung des Großraumwaggons der Fall) alleine in einem Abteil, während das Auto nichts als eine mobile Erweiterung des eigenen Zuhauses ist und wir uns im Flugzeug meist mehr Abstand von unseren Mitmenschen wünschen.
Wenn ein anderer Fahrgast zusteigt, sitzt uns plötzlich jemand gegenüber, der sich in den nächsten Stunden als Freund oder Feind, Störfaktor oder romantische Begegnung erweisen könnte. Die Furcht, von diesem Fremden der mitgeführten Besitztümer oder gar des Lebens beraubt zu werden, macht gerade die „klassischen“ Eisenbahnverbrechen – die „Abteil-Morde“ – zu jenen Geschichten, die den Leser am meisten berühren und ihm wohlige Schauer über den Rücken jagen.
Durch den Eisenbahnbetrieb ergeben sich aber für Täter und Opfer noch zwei zusätzliche, ebenso spezifische Schauplätze, mit allerdings völlig unterschiedlichen Voraussetzungen: Bahnhöfe und Strecken. Erstere sind Orte, an denen für kurze Zeit völlig verschiedene Menschen zusammenkommen, die sich alle in Bewegung zu einem anderen Ort befinden oder gerade von einem solchen kommen. Wer die Bahnhöfe in den meisten Großstädten der Welt kennt, der weiß auch, dass dieses permanente Treiben das Verbrechen in vielerlei Spielarten anlockt – vom Diebstahl über Prostitution und Zuhälterei bis zu Vergewaltigung und Mord. Der bekannte russische Serienmörder Andrej Tschikatilo war nicht der einzige Killer, der sich seine Opfer bevorzugt aus der Population der Bahnhöfe aussuchte. Außerdem gab es immer wieder Täter, die ihre Opfer in große Schrankkoffer steckten und so mithilfe des Bahnpostsystems zu beseitigen versuchten.
Die Strecke selbst eignet sich wiederum vor allem dazu, Züge zu sabotieren – was, wie Sie auf den folgenden Seiten nachlesen werden, aus purem Übermut, aus Geldgier oder auch aus mörderischer Lust an der Katastrophe passieren kann – oder sie zu überfallen und Paketwaggons beziehungsweise die Passagiere zu berauben. Im Anschluss daran widmen wir uns Posträubern und Eisenbahnerpressern in aller Welt, beleuchten Saboteure und einen berühmten „Eisenbahn-Lustmörder“, um dann ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu reisen, wo es bis in die jüngste Vergangenheit Fälle von bahnreisenden Serienmördern gibt.
Fälle von Wirtschaftskriminalität rund um die einst so lukrative (heute aber eher defizitäre) Bahn sowie politisch-terroristisch motivierte Attentate haben wir bewusst weggelassen – die einen erfordern zu viele Vorkenntnisse über ökonomische Hintergründe, während die anderen ohnehin in allen Mainstream-Medien bis zum Überdruss breitgetreten werden. Und wir wollen uns gar nicht erst auf die Diskussion einlassen, wer hier die „Guten“ und die „Bösen“ sind …
Lassen Sie sich von uns lieber in die Welt der klassischen Eisenbahn, der altmodischen geschlossenen Abteile, der prunkvollen Bahnhöfe und der weltumspannenden Streckennetze mitnehmen. Die mag zwar manchmal mörderisch sein, aber spannender als der tägliche Stau auf der Stadtautobahn ist sie immer noch.
Christian Lunzer & Peter Hiess
Wien, im November 2019
Der Raubmord an dem britischen Bankier Thomas Briggs war wahrscheinlich nicht das erste Blutverbrechen in einem Eisenbahnzug, mit Sicherheit aber der erste Eisenbahn-Mord, der weltweit Aufsehen erregte und von der zeitgenössischen Presse ausführlich besprochen und dokumentiert wurde. Die Ausgangssituation, geradezu ein Modellfall eines Eisenbahn-Verbrechens, entsprach genau dem Sicherheitsrisiko für Zugreisen, das von Kritikern immer wieder bemängelt wurde.
Die geschlossenen, nur bei Halt des Zuges von außen zu öffnenden Coupés stellten geradezu ideale Tatorte für Überfälle und Gewaltverbrechen dar. Während der Fahrt hatte der Angegriffene keine Möglichkeit, Hilfe zu holen oder Unterstützung zu bekommen. Zudem übertönte das Fahrtgeräusch des Zuges jeden Hilfeschrei. Der Täter blieb ungesehen, vor allem bei Nachtfahrten, und konnte sich des Opfers auf der Strecke problemlos entledigen, um sich danach selbst in Sicherheit zu bringen.
Der tödliche Überfall auf der Strecke der North London Railway, zwischen den Stationen Fenchurch und Hackney, wurde zwar durch Zufall bald entdeckt, doch die Polizei musste nicht nur den Täter, sondern anfangs auch das Opfer suchen. Eine schnelle Aufklärung lag vor allem im Interesse der betreffenden Eisenbahngesellschaft, die als besonders verlässlich und innovativ galt. Sie führte zum Beispiel nur erste und zweite Klasse, da sie, wie ihre Direktion erklärte, den Passagieren den mangelnden Komfort einer dritten Klasse nicht zumuten wollte. Berühmt war die Gesellschaft auch für ihre Pünktlichkeit und die hervorragenden Sicherheitseinrichtungen – die aber in diesem Fall leider nicht ausgereicht hatten, das Opfer zu schützen.
Dass es trotzdem relativ schnell gelang, den Täter zu finden, wurde von Presse und Publikum als Beweis für den Sieg der Gerechtigkeit und die Fähigkeiten der englischen Polizei interpretiert. Sensationell an dem Fall war vor allem die Verfolgung des Mörders, die in einem Wettrennen zwischen Segelschiff und Dampfer über den Atlantik gipfelte. Der Täter war Ausländer, noch dazu ein Deutscher, was nationale Ressentiments auf beiden Seiten deutlich werden ließ, dem Fall aber naturgemäß auch in Deutschland große Publizität verschaffte. Der Prozess war wegen des Leugnens des Angeklagten ein klassischer Indizienprozess mit medienwirksamen Duellen zwischen Kronanwalt und Verteidigern. Der Täter wurde öffentlich „justifiziert“, es handelte sich um eine der letzten öffentlichen Hinrichtungen in Europa.
Die zwei Angestellten des renommierten Londoner Bankhauses Robarts & Co., die am 9. Juli 1864, einem Samstag, abends am Bahnhof von Hackney auf den 22-Uhr-10-Zug warteten, um nach Highbury zu fahren, hatten sicher nichts Böses im Sinn – eine kleine abendliche Spritztour in der noblen ersten Klasse, ein paar Biere, hübsche Mädchen vielleicht.
Ihr Zug von Fenchurch fuhr mit vier Minuten Verspätung ein, und als die beiden eines der Erste-Klasse-Abteile an der Zugspitze betreten wollten, prallten sie entsetzt zurück. Die Messingklinke der Abteiltür war blutverschmiert, der Boden des Abteils und die beiden Sitzbänke waren blutgetränkt, auch an den Wänden und am Fenster waren überall Blutspritzer zu sehen. Eine Reisetasche und ein Stock lagen auf dem rechten, ein Männerhut befand sich auf dem linken Sitz. Sofort verständigten die schockierten Bankbeamten den Schaffner, einen gewissen Mr. Ames, der – zuerst ungehalten, da der Zug ohnehin schon verspätet war – sein bereits gegebenes Abfahrtssignal widerrief. Nachdem er jedoch selbst einen Blick ins Abteil geworfen hatte, verständigte er sofort die Beamten der Bahnhofsleitung.
Ihnen bot sich ein rätselhaftes Bild: Es war offensichtlich, dass sich in dem Abteil – der Menge des vergossenen Blutes nach zu schließen – ein gewaltsames Verbrechen, wahrscheinlich ein Mord, zugetragen haben musste. Aber wo waren Täter und Opfer?
Die Passagiere in den anderen Abteilen hatten nichts gesehen und gehört. Das war auch glaubhaft, da die Nacht für die Jahreszeit besonders dunkel und wolkenverhangen war und der Lärm des fahrenden Zuges sehr wohl alle anderen Geräusche übertönt haben mochte. Die Ausgangsstation Fenchurch hatte der Zug um 21 Uhr 50 verlassen; der letzte Halt, die Station Victoria Park, lag nur siebeneinhalb Minuten zurück. Der Überfall – oder der Mord –, die Beseitigung des Opfers und die Flucht des Täters mussten daher innerhalb dieser Zeit geschehen sein.
Auch die Gegenstände im Abteil lieferten kaum Hinweise. Die Reisetasche und der Stock waren blutbefleckt, die Tasche enthielt nur wenige, völlig unpersönliche Gegenstände. Auf dem Hut hingegen – einem weichen, dunkelfarbigen Hut aus Biberfilz – fanden sich seltsamerweise keinerlei Blutspuren. Es war also naheliegend, dass er dem Täter gehört haben musste.
Um 22 Uhr 20 brachte ein Lokomotivführer namens Elkin, der von der Bluttat in dem anderen Zug noch nichts wusste, leere Waggons von Hackney nach Victoria zurück, als er vor sich auf den Geleisen einen größeren Gegenstand liegen sah, der bei dem schwachen Licht der Lokomotive wie ein Bündel Kleider aussah. Er bremste und dank der geringen Geschwindigkeit des Verschubzuges gelang es ihm, ganz knapp vor dem Hindernis anzuhalten. Gemeinsam mit seinem Heizer Tim kletterte er von der Maschine und beide sahen zu ihrem Entsetzen, dass das vermeintliche Kleiderbündel ein Mensch war – ein älterer Herr mit Bart, der stark aus einer Kopfwunde blutete und ohne Bewusstsein war.
Gemeinsam trugen sie ihn über die Geleise in ein nahes Wirtshaus, das Milford Castle Inn, wobei sie beinahe von einem Gegenzug überrollt worden wären. Der Wirt rief einen Arzt und die Polizei herbei. Der Arzt versuchte den Bewusstlosen wieder zu sich zu bringen, was ihm aber nicht gelang. Bei den zwei schweren Kopfwunden, die offenbar den Schädel des Unglücklichen völlig zertrümmert hatten, konnte seine Kunst nichts mehr ausrichten. Constable Edward Dugan untersuchte die Taschen des Verletzten, um dessen Identität festzustellen. Er fand vier Sovereigns, zehn Shilling in Silber und eine silberne Tabaksdose, aber erst Briefe in der Innentasche der Weste wiesen den Schwerverletzten als Thomas Briggs aus, Vorstand der Robarts-Bank, in der auch die Herren Verney und Sidney James beschäftigt waren, die das blutige Abteil entdeckt hatten.
Mr. Briggs wohnte in Hackney. Die Polizei verständigte seinen Sohn, der den Vater in häusliche Pflege übernahm. Mr. Briggs erlangte das Bewusstsein nicht wieder, konnte daher über den Hergang des Verbrechens keine Auskunft geben und starb am Abend des nächsten Tages. Briggs jun. identifizierte Tasche und Stock als Eigentum seines Vaters, den Hut hatte er aber noch nie gesehen – sein Vater trug ausschließlich Zylinder der berühmten Hutfirma Dignance. Die goldene Taschenuhr, die Briggs immer bei sich getragen hatte, fehlte samt der Kette. Nur der Karabiner hing noch im Knopfloch der Weste.
Damit war das Motiv für die Bluttat klar: Raub. Nur die Eile hatte den Täter gehindert, dem Opfer auch das Bargeld und den Brillantring, den es am Finger trug, abzunehmen.
Mr. Briggs war, wie man das von einem Bankier erwarten durfte, ein Mensch mit sehr ausgeprägten Gewohnheiten gewesen. Jeden Tag, mit Ausnahme des Sonntags, hatte der 69-jährige, große und rüstige Finanzmann den Zug genommen, der um 21 Uhr 50 Fenchurch verließ, um zu seinem Haus in Hackney zu fahren. Möglicherweise hatte der Täter ihn beobachtet und versucht, sich diese Regelmäßigkeit zunutze zu machen.
Besonders viele Hinweise lagen den Ermittlern nicht vor. Inspektor Tanner von Scotland Yard, der den Fall zugeteilt bekam, hatte eigentlich nur zwei Spuren: den fremden Hut und die fehlende Uhr, von der Briggs jun. eine gute Beschreibung hatte geben können. Er ließ Abbildungen beider Gegenstände in den Zeitungen vom folgenden Montag publizieren und schickte Beamte aus, die den Hersteller des Hutes ausforschen sowie Passagiere und Beamte auf den Bahnhöfen von Fenchurch und Hackney nach möglichen Beobachtungen befragen sollten. Auf Plakaten, die ebenfalls Hut und Uhr zeigten, wurde für zielführende Hinweise eine von der Eisenbahngesellschaft gestiftete Belohnung von 100 Pfund versprochen.
Am Montagmorgen, als die Plakate noch nicht überall affichiert worden waren, betrat knapp nach Geschäftsöffnung ein junger Mann das Geschäft eines Juweliers in Cheapside, der den seltsamen – im konkreten Fall beziehungsreichen – Familiennamen Death trug. Der Kunde ließ eine goldene Kette schätzen und schien einigermaßen enttäuscht, als ihm dafür nur drei Pfund zehn Shilling geboten wurden. Mr. Death fand nichts Auffälliges an dem jungen Mann. Er war höflich, gut gekleidet, hielt sich jedoch immer im Schatten und schien sich absichtlich nicht ins Gesicht schauen zu lassen. Bemerkenswert war nur sein starker deutscher Akzent.
Zur Überraschung des Juweliers, der anderes erwartet hatte, wollte der Kunde kein Bargeld, sondern einen Tausch. Nach längerem Überlegen nahm er eine kleinere Kette im Wert von drei Pfund fünf Shilling und einen kleinen Goldring mit weißem Stein für die übrigen fünf Shilling. Mr. Death verpackte die Schmuckstücke in eine schöne weiße Schachtel, auf die er sein auffälliges Etikett klebte. Der junge Mann, so hieß es später, trug von diesem Augenblick an den Tod mit sich.
Als der Juwelier wenig später die Bekanntmachung auf den gerade aufgeklebten Plakaten las, meldete er sich sofort bei der Polizei. Doch außer dem Hinweis auf den deutschen Akzent konnte er keine charakteristischen Details angeben. Seine Personenbeschreibung wurde von Inspektor Tanner in der Presse veröffentlicht, brachte aber keinen Hinweis. Auch die Suche nach dem Hersteller des Hutes blieb erfolglos.
Es war Mr. Deaths Schachtel, die – allerdings erst elf Tage später – zu einem neuen und diesmal endgültigen Hinweis auf den Täter führte. Ein Droschkenkutscher namens Jonathan Matthews war von einem Kollegen auf die Plakate der Polizei aufmerksam gemacht worden. Er erinnerte sich, dass seine Tochter erst vor Kurzem mit der auffällig etikettierten Schachtel gespielt hatte. Sie war ihr von einem Bekannten von Freunden, einem jungen deutschen Schneider, geschenkt worden.
Matthews kannte auch den Namen des Mannes, Franz Müller, und wusste, dass er bei einem Ehepaar Blyth in der Old Ford Road in Victoria Park wohnte. Sogar ein Foto von Müller besaß der hilfreiche Droschkenkutscher und auch der Hut war ihm alles andere als fremd. Müller habe einmal einen Hut dieser Fasson bei ihm gesehen, erzählte Matthews, und ihn gebeten, ihm auch einen solchen, nur etwas kleiner, zu besorgen. Was er auch getan hätte, und zwar beim Hutmacher Walker in Marylebone.
Inspektor Tanner fuhr sofort zu den Blyths in die Old Ford Road, aber Franz Müller wohnte nicht mehr dort. Er war fünf Tage zuvor nach Amerika abgereist. Ein Schuldbekenntnis, eine Flucht nach Übersee? Nein, sagten die Vermieter, die überhaupt nur Gutes über ihren Untermieter berichten konnten: Er sei stets höflich und bescheiden gewesen, ein freundlicher Mann, der seine Auswanderung nach Amerika schon lange geplant hätte. Er stamme aus Sachsen und habe dort Büchsenmacher gelernt, in diesem Beruf aber weder zu Hause noch hier Arbeit finden können und sich daher als Flickschneider durchschlagen müssen.
In Amerika, da sei er sich sicher gewesen, würde er wieder in seinem alten Metier arbeiten können. Eitel sei er gewesen, das schon, und sehr auf seine Kleidung bedacht, aber sonst wären ihnen keine negativen Eigenschaften an ihm aufgefallen. Am 16. Juli hätten sie noch einen Brief von ihm bekommen, aus Worthing, von Bord des Segelschiffs „Victoria“. „Liebe Freunde“, stand da in nicht ganz korrektem Englisch, „es geht mir gut, könnte nicht besser sein. Wetter schön, Sonne und ein günstiger Wind. Alles wird gut werden. Beste Grüße, F. Müller.“
Das waren sicher nicht die Worte eines Mannes, der nach einem brutalen Raubmord von der Stätte seines Verbrechens flieht, doch Inspector Tanner war sich seiner Sache trotzdem sicher. Müller musste einfach der Mörder sein. Darauf deutete auch die Tatsache hin, dass sämtliche Angaben Matthews’ stimmten. Unter den Dingen, die Müller bei den Blyths zurückgelassen hatte, befand sich eine Hutschachtel der Firma Walker, die in dem Hut aus dem Abteil ihr Erzeugnis wiedererkannte. Und Mr. Death hatte auf dem Foto den Kunden, der ihm die Kette des verstorbenen Mr. Briggs angeboten hatte, zweifelsfrei identifiziert.
Hätte Mr. Matthews nur etwas früher Zeitung gelesen oder die Plakate beachtet! Müller hatte einen Vorsprung von fünf Tagen – und ihn in Amerika verhaften zu lassen, war aus politischen Gründen nicht möglich. Das Land befand sich zu dieser Zeit gerade im Bürgerkrieg, was mit ein Grund war, dass in der ehemaligen Kolonie eine starke antibritische Stimmung herrschte. Doch Tanner wollte sich keinesfalls so schnell geschlagen geben und entwarf einen waghalsigen Plan. Die einzige Möglichkeit, des Mörders habhaft zu werden, bestand darin, mit einem schnelleren Schiff zu reisen und Müller noch vor der eigentlichen Landung in New York zu verhaften. Nicht umsonst hatten seine Kollegen dem Inspektor den Spitznamen „Bloodhound“ verliehen.
Keine zwölf Stunden nach dem Verhör bei den Blyths saßen Tanner, sein Assistent, Detective Sergeant Clark, und die zwei in aller Eile zum Mitfahren genötigten Zeugen Matthews und Death im Dampfschiff „City of Manchester“ Richtung New York. Der Tod war dem Beschuldigten auf den Fersen und hysterische Medienberichte über den flüchtigen Mörder eilten den Ermittlern voraus.
Tatsächlich war der Dampfer um einiges schneller als die von günstigen Winden abhängige „Victoria“. Als diese – mit dem ahnungslosen Franz Müller an Bord – am 25. August auf dem Hudson River auf das Lotsenboot wartete, das sie in den Hafen von New York geleiten sollte, legte ein Polizeiboot an. Tanner und Clark wurden von einem Schiffsoffizier zu Müller geführt, der sich widerstandslos festnehmen ließ. Eine sofortige Durchsuchung seines Gepäcks brachte zwei weitere wesentliche Indizien zutage: die goldene Uhr und einen schwarzen Zylinder mit der Firmenmarke D. D., was für Dignance & Dignance stand.
Diese Beweise reichten aus, um vor den amerikanischen Behörden die Festnahme Müllers zu rechtfertigen, obwohl der Verdächtige die Tat leugnete. Der Verein der Deutschen in Amerika hatte sogar einen Senator, einen gewissen Mr. Schaffer, aufgeboten, der den angeklagten Landsmann verteidigen sollte. Doch als die amerikanische Justiz aufgrund der Sachlage entschied, Franz Müller auszuliefern, war sein Schicksal so gut wie entschieden; ein englisches Gericht würde die Beweise wohl kaum anders bewerten.
Inspector Tanner, seine Begleiter und der Tatverdächtige fuhren mit dem Dampfer „Etna“ nach London zurück. Müller verhielt sich auffallend ruhig und bat nur um Lesestoff für die lange Überfahrt. Von den Büchern, die er bekam, gefiel ihm Charles Dickens’ Roman „David Copperfield“ am besten.
Nach 23 Tagen landete die „Etna“, von einer unübersehbaren Menschenmenge erwartet, in England. Der Fall – besonders aber die aufregende Verfolgung des Täters – hatte auf beiden Seiten des Atlantiks großes Aufsehen erregt und Tanner als Arm des Gesetzes war der Held des Tages.
Am 23. Oktober begann die Verhandlung im berühmten Strafgericht Old Bailey. Der Rechtsschutzverein der Deutschen hatte auch hier für eine ausgezeichnete Verteidigung gesorgt und zwei der bekanntesten Strafverteidiger der Zeit, Sir Serjeant Parry und Sir Thomas Beard, engagiert. Die beiden Anwälte versuchten, Müller ein Alibi zu verschaffen – doch das Mädchen, bei dem er den Abend und die Nacht des 9. Juli verbracht haben wollte, verwickelte sich in Widersprüche und wurde vom Staatsanwalt als käufliche Dame diskreditiert.
Tanner hingegen war es gelungen, die Indizienkette noch lückenloser zu machen. Er hatte die Pfandleihe gefunden, in der Müller die bei Mr. Death eingetauschte Kette versetzt hatte, um seine Überfahrt bezahlen zu können. Außerdem nominierte er einen Zeugen, der das Opfer, Mr. Briggs, in Begleitung eines Mannes in dem fraglichen Zug gesehen hatte. Müllers Verantwortung, er habe Uhr und Kette von einem Unbekannten eingetauscht und den Hut gefunden, war alles andere als glaubwürdig. Die Geschworenen fällten einen einstimmigen Schuldspruch, den der Richter mit der traditionellen Urteilsformel verkündete:
„You be taken from here to the prison whence you came, that from thence you be taken to your place of execution, that there you be hanged by the neck till your body be dead, that your body when dead be taken down, and that it be buried within the precincts of the prison where you were confined. And may God have mercy on your soul.“
Damit war auch die Entscheidung verbunden, die Hinrichtung öffentlich durchführen zu lassen. Wahrscheinlich sollte dadurch, der immer wieder angezweifelten Sicherheit der Eisenbahngäste wegen, ein deutliches Exempel statuiert werden – was aber zu entsprechend heftigen Reaktionen gegen die Barbarei und Unmenschlichkeit einer derartigen Schaujustiz führte. Der Einspruch der Anwälte, die Presse und die öffentliche Meinung hätten Müller vorverurteilt, weil er Deutscher war, wurde verworfen.
Am 14. November wurde Franz Müller vor dem Newgate-Gefängnis und in Anwesenheit eines außerordentlich großen Publikums gehenkt. Allein auf dem Platz vor dem Galgen sollen sich laut Schätzungen der Polizei mehr als 15 000 Schaulustige gedrängt haben. Müller beteuerte seine Unschuld bis zuletzt. Sein Beichtvater, der deutsche Pastor Dr. Cappel, behauptete zwar, der Verurteilte habe in den letzten Sekunden seines Lebens doch noch die Tat gestanden, aber das wurde allgemein angezweifelt.
Einige Eisenbahngesellschaften hatten übrigens Sonderfahrten zur Hinrichtung angeboten …
Die ersten Personenwagen der Eisenbahn sahen nicht nur wie Kutschen aus, sie waren auch nur geringfügig modifizierte Nachbauten des Modells, das sich seit gut tausend Jahren auf der Straße bewährt hatte; bei der Pferdeeisenbahn hatten sie ja noch zusätzlich das Zugtier gemeinsam.
Breite Trittbretter führten durch eine Seitentür in das Coupé, wo die Sitzbänke einander gegenüber angeordnet waren und meist sechs Personen Platz boten – drei in und drei gegen die Fahrtrichtung. Zusätzliche Sitzplätze, ungeschützt und daher billiger, gab es auf dem Kutschbock, auf dem Dach neben dem Gepäck oder auf der Rückseite, wie bei den alten Postwagen. Um zum Eisenbahnwaggon zu werden, wurde der Kutschkörper auf einen eisernen Rahmen mit vier abgestuften Speichenrädern gestellt, die auf den Geleisen rollten.
Erst als die um viele PS stärkere Lokomotive das Zugpferd ersetzt hatte, konnten die Passagierwaggons entsprechend vergrößert werden. Man reihte einfach ein Kutschenabteil an das andere (meist drei), behielt aber das Prinzip der Mitteltür und der gegenüberliegenden Sitzbänke bei. Verantwortlich für die Emanzipation vom Vorbild waren, wie immer und überall, wirtschaftliche Gründe. Die Wagen mussten leichter und billiger werden, um möglichst viele Personen mit möglichst geringem Aufwand befördern zu können und so den Eisenbahngesellschaften auch im Personenverkehr die Profite zu bringen, die ihre Aktionäre erwarteten.
Die Zahl der Achsen und Räder pro Waggon wurde erhöht, um längere Waggons tragen zu können; für besonders kurvenreiche Strecken stellte man die Achsen auf Drehgestelle. Die englische Great Western Railway experimentierte bereits 1840 mit dreiachsigen Waggons, die sechs Sitze an einer Seite hatten und nur mehr sieben Tonnen wogen. Sie konnten in der zweiten Klasse 72 Passagiere befördern.
Die Klasseneinteilung war ebenfalls vom öffentlichen Verkehr auf der Straße übernommen worden. Nur die erste Klasse bot einen Komfort, der in etwa dem in der Kutsche entsprach. Die zweite Klasse, z. B. bei den zitierten Wagen der Great Western, hatte nur Holzbänke und offene Fenster. Immerhin gab es, als Fortschritt zu den Außensitzen der Straßenkutsche, ein Dach über dem Kopf. Der Fahrpreis war geringer als auf der Straße, die Geschwindigkeit – und die dadurch erzielte Zeitersparnis – jedoch um einiges größer.
Schlecht ging es den Passagieren, die es wagten, dritter Klasse zu reisen. Anfangs waren fast alle Waggons dieser Klasse ohne Dach. Vielen fehlten auch die Sitzgelegenheiten, was bedeutete, dass die Menschen nicht nur die Fahrt stehend verbringen mussten, sondern auch permanent dem Fahrtwind und dem Rauch der Lokomotive ausgesetzt waren, ganz zu schweigen von plötzlichen Regenschauern, Gewittern oder Stürmen.
Vorbilder im Waggonbau waren, wie bei den Lokomotiven, England und Amerika. Die Komfortverhältnisse der Klassen waren bei allen Gesellschaften – ohne nationale Unterschiede – im Wesentlichen gleich. Die Eisenbahnbetreiber waren Privatunternehmen und mussten daher auf Profitmaximierung abzielen. Verdient wurde ohnehin in erster Linie am Güterverkehr, nicht an den Reisenden.
Erste Unfälle machten der frühkapitalistischen Ausbeutung wagemutiger Passagiere ein Ende. In England z. B. führte das Unglück von Sinnington 1841, bei dem vor allem die stehenden, haltlosen Reisenden der dritten Klasse verletzt oder getötet worden waren, zu einer Untersuchung durch das Handelsministerium. Im „Gladstone Act“, der die Eisenbahngesellschaften und ihr Treiben einer verstärkten Staatsaufsicht unterstellte, wurden auch Vorgaben für die Behandlung der Passagiere in den billigen Klassen festgeschrieben: Sie sollten künftig wie Menschen, nicht wie Vieh behandelt werden.
Unternehmen, die sie nicht ohnehin schon hatten, führten daraufhin noch eine vierte Klasse ein, die den „Komfort“ der ehemaligen dritten übernahm. Die Sheffield und Manchester Railway beispielsweise ließ ihre 1845 gebauten offenen Viehwaggons schnell mit gefederten Puffern und Handläufen ausstatten, um sie gelegentlich auch im Personenverkehr einsetzen zu können.
Dass es in Österreich auch eine fünfte Klasse gegeben haben soll, bei der die Reisenden nicht nur kein Dach über dem Kopf, sondern auch keinen Boden unter den Füßen hatten und daher mitlaufen mussten, ist allerdings eine bösartige Erfindung des Schriftstellers Fritz von Herzmanovsky-Orlando.
In jedem Fall aber blieb die immer noch dem Vorbild der Kutsche verpflichtete Form des Passagierwagens mit getrennten Abteilen, die nur von außen zugänglich waren, bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich. Innerhalb der Klassen machte nur die Anzahl der Plätze, die durch eine zentrale Waggontür zugänglich waren, einen Unterschied: vier bis sechs in der ersten, ab sechs in der zweiten und bis zu vierzig in der dritten und vierten Klasse. Klagen über die mangelnde Sorgfalt hinsichtlich Sicherheit und rudimentärer Bequemlichkeit gehörten zum Standardrepertoire der Kritik an dem neuen Beförderungsmittel.
Nur wer im Wohlstand fuhr, fuhr angenehm. Reisende erster Klasse waren die Einzigen, die auf gut gepolsterten Sitzen Platz nehmen konnten und genug Raum hatten, auch die Beine auszustrecken. Sie konnten rauchen, wenn es die mitreisenden Damen gestatteten, sie konnten lesen oder durch Glasfenster die Landschaft betrachten, ohne dass ihnen der Ruß der Lokomotive in die Augen kam oder der Fahrtwind den Hut vom Kopf riss.
Essen konnten sie allerdings nur bei Tageslicht, denn die gewöhnliche Coupé-Beleuchtung mittels kleiner Öllämpchen verdiente ihren Namen nicht. Wirklich bequem war es außerdem nur bei entsprechenden Außentemperaturen. Die Heizungsmöglichkeiten beschränkten sich auf Wärmeflaschen, die den Passagieren bei Bedarf zur Verfügung gestellt wurden. Waschräume und Toiletten fehlten, was jahrzehntelang die Eisenbahnwitze mit unerschöpflichem Stoff versorgte.
Im Gegensatz zu den Passagieren der dritten und vierten Klassen, die soziale Kontakte und Tuchfühlung nicht scheuen durften, war der Reisende der ersten und meist auch der zweiten Klasse, wenn er einmal sein Abteil am Bahnhof betreten hatte, allein oder mit den Zusteigenden isoliert. Er konnte während der Fahrt sein Coupé nicht verlassen und hatte keinerlei Kommunikationsmöglichkeit nach außen oder zum Zugspersonal.
Neben dem Lokomotivführer und dem Heizer, die beide für den Betrieb unabdingbar waren, fuhr schon in der Frühzeit der Eisenbahn in jedem Zug ein Zugsführer mit. Er war Beamter des Betriebs und nicht, wie Lokführer und Heizer, des technischen Dienstes. Beide waren ihm unterstellt, seine Aufgabe bestand – zusammen mit dem Stationsvorsteher – in der Abfertigung des Zuges in den Stationen. Außerdem war ihm das Gepäck anvertraut und er kontrollierte die Einhaltung der Geschwindigkeit und der Pünktlichkeit, indem er die Durchfahrtszeiten in den Stationen und Bahnhöfen in ein eigenes Fahrtenbuch eintrug.
Der Zugsführer hatte seinen Arbeitsplatz mit einem Schreibtisch im Packwagen, dem ersten Wagen des Zuges, oder am Zugende. Er hatte während der Fahrt keine Sichtverbindung zum Lokomotivführer, konnte ihm daher nur in den Stationen Anweisungen geben und die Strecke nur durch die nach vorne gerichteten Fenster des Gepäckwagens oder vom Bremserhaus aus überwachen.
Für Notfälle war ein einfaches akustisches Signal, ein Glockenzug zur Lokomotive, vorgesehen. In besonderen Fällen – besonders langen Zügen oder wenn es die Strecke erforderte – wurde der Zugsführer von einem Assistenten unterstützt, der dann am Zugschluss in einem zweiten Packwagen mitfuhr. War der Lokomotivführer plötzlich verhindert, konnte der Heizer, je nach seinen Fähigkeiten, entweder den Zug zum Halten bringen und auf einen der Reserve-Lokomotivführer warten, die im nächsten größeren Bahnhof Dienstbereitschaft hatten, oder er konnte selbst den Zug dorthin führen. Diese Entscheidung musste der Zugsführer treffen.
Zu den Passagieren in den Abteilen gab es während der Fahrt keine Verbindung, es sei denn, der Zugsführer oder sein Assistent hätten es unternommen, auf den Trittbrettern außen von Waggon zu Waggon zu springen – ein halsbrecherisches Unternehmen, völlig unmöglich bei schlechter Witterung oder in der Nacht.
Zugschaffner, die die Fahrkarten kontrollierten, waren überflüssig, da diese ja an den Sperren am Perron vor der Abfahrt und bei der Ankunft kontrolliert wurden. Dies war ein an sich lückenloses System, das in vielen Ländern bis weit ins 20. Jahrhundert in Geltung blieb und daher in klassischen Detektivromanen gern als Nachweis für angeblich lückenlose Alibis verwendet wird.
Eigenartigerweise hielt sich die Tendenz zur abgeschlossenen Exklusivität vor allem in der teuren und damit gefährlicheren Klasse, auch wenn die weniger unsicheren Großraumwagen für die zweite Klasse schon am Beginn der 60er-Jahre von allen europäischen Eisenbahngesellschaften eingeführt wurden.
Anders waren die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten; dort gab es keine Klassenunterschiede und immer schon Großraumwagen. Für bequemere Sitze musste nur ein Aufpreis entrichtet werden. Die „klassischen“ Eisenbahnverbrechen – Mord im geschlossenen Abteil eines fahrenden Zuges – sind daher als europäische Besonderheit anzusehen. Die erste Nachricht darüber liegt aus Frankreich aus dem Jahr 1860 vor – Opfer war ein russischer Diplomat. Im September 1862 wurde dann der Kammerpräsident Poinsot im Nachtexpress von Troyes nach Paris von Unbekannten ermordet.
Der Merstham-Tunnel an der Bahnlinie nach Brighton, in dem 1905 die unglückliche Mary Money ungesühnt ermordet wurde (siehe Kapitel „Tödliche Männerbekanntschaft“), war bereits 24 Jahre vorher Schauplatz einer spektakulären Bluttat.
Am Nachmittag des 27. Juni 1881 stürzte in der Station Preston Park, knapp drei Kilometer vor der Endstation der London, Brighton & South Coast Railway, ein über und über mit Blut besudelter junger Mann aus einem Abteil erster Klasse auf den erschrockenen Kartenkontrollor Gibson zu, kaum dass der Zug zum Halten gekommen war. Jacke und Hemd des Unglücklichen waren blutgetränkt, Haare und Stirn blutverkrustet. Der Mann brachte zunächst kaum ein paar zusammenhängende Worte heraus und schien unter schwerem Schock zu stehen.
Auf die Frage nach seinem Namen zog er eine Visitenkarte aus der Tasche: Arthur Lefroy, 4, Carthcart Road, Wallington, Carshalton, Autor und Journalist. Gibson warf nur einen kurzen Blick ins Abteil – auch dieses war blutgetränkt – und rief dann seinen Vorgesetzten, den Stationsvorsteher Hall. Beide hatten als Bahnbeamte nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, Tatbestandsaufnahmen und erste Verhöre durchzuführen, wie es ansonsten nur der Kriminalpolizei zustand.