1. Auflage
Copyright: 2019 Nicole Stoye
Lektorat: Media-Agentur Gaby Hoffmann
Coverelemente: © Wondervendy, mashot, Stephanie Zieber,
ColorValley - stock.adobe.com
Covergestaltung: © Nicole Stoye
autorin@nicolestoye.de
www.nicolestoye.de
Nicole Stoye
c/o Papyrus Autoren-Club
R.O.M. Logicware GmbH
Pettenkoferstr. 16 - 18
10247 Berlin
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Anmerkung
Nachwort
Leseprobe „Bittersüßer Morgentau“ (Fantasy Romance)
Es heißt immer, alles im Leben habe seine Zeit. Tage werden im Juni kürzer und Nächte länger. Die Erde nähert sich der Sonne wieder im Dezember. Lachse beginnen ihre Wanderung zumeist im Juli, und der Schnee weicht den Frühblühern im März.
Meine ganz besondere Zeit scheint Jahr um Jahr in den September zu fallen. Es gibt kein wichtiges Ereignis in meinem Leben, das je in einem anderen Monat stattgefunden hat.
Im September habe ich damals mein Elternhaus verlassen, um an der Uni Jura zu studieren, nur um ein Jahr später zu erkennen, dass es nichts für mich ist und wieder damit aufzuhören. Es war September, als ich meine erste Wohnung bezog und mein erstes Auto kaufte. Und im selben Monat lernte ich dich auf einer Party kennen, verliebte mich Hals über Kopf in dich und wusste, dass du derjenige warst, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte.
Unser beider Geburtstage sind im September. Wir wurden ein Paar und zogen im September zusammen. Wir sprachen über die Zukunft, entdeckten Gemeinsamkeiten und Gegensätze, die uns perfekt ergänzten. Wir fingen an, uns selbst zu verwirklichen, Träume wahr werden zu lassen und andere auf ganz wunderbare Weise daran teilhaben zu lassen. Schon beinahe erschreckend makellos passte alles zueinander. Wir lebten ein Leben und eine Liebe, die sich kaum in Worte fassen ließ ... Bis plötzlich drei Jahre später, am vierten September, zwei Polizisten vor unserer Wohnungstür aufkreuzten und mir die Nachricht überbrachten, du seist bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. Ich kann mich zwar nicht mehr an ihre Namen oder ihr Aussehen erinnern, doch ich werde nie vergessen, dass es an jenem Tag in Strömen geregnet hat. Noch immer habe ich den Duft deines Lieblingsessens in der Nase, das ich an diesem Abend im Ofen hatte, und in meinem Kopf hallt stetig der Klang des Liedes wider, das zu diesem Zeitpunkt aus den Lautsprechern meines Notebooks ertönte.
Es scheint, als wäre mein Schicksal auf ewig und untrennbar mit diesem neunten Monat des Jahres verbunden. Im September begann unser beider Leben, und mit der Nachricht deines Todes starb auch ich, denn ich wusste, dass ich nie wieder glücklich sein würde.
Seit meinem Zusammenbruch vor einem Jahr ist mein Leben wie in Zeitlupe verlaufen. Trotzdem kommt es mir noch gar nicht so lange vor, denn jeder Tag war dem darauf folgenden so erschreckend ähnlich, dass ich es verlernt habe, mich, in welcher Hinsicht auch immer, überraschen zu lassen. Es war egal, ob morgens, mittags oder abends Ärzte, Therapeuten oder Schwestern nach mir sahen und mich davon zu überzeugen versuchten, wie lebenswert mein Leben doch noch immer wäre. Irgendwann habe ich aufgehört, zu zählen, wie oft der Satz gefallen war, dass ich ach so großes Glück gehabt hatte, dem Tod noch einmal davongekommen zu sein.
Bis heute zweifle ich daran, ob man tatsächlich von Glück reden kann, wenn ein von ganzem Herzen herbeigesehnter Suizid misslingt. Ebenso wenig weiß ich, ob es richtig ist, nach einem Jahr in der Klinik wieder nach Hause zu fahren und so zu tun, als könne man einfach so mit allem weitermachen. Dennoch bleibt mir keine andere Wahl. Die Miete sowie andere anfallende Kosten konnte ich bisher mit dem Geld aus deiner Lebensversicherung decken, die du, mit mir als Begünstigtem im Falle deines Ablebens, abgeschlossen hast. Langsam versiegt diese Quelle jedoch und mit den Einnahmen aus meinen Buchverkäufen kann ich mich höchstens noch ein paar Monate über Wasser halten. Ich bin also gezwungen, mein Leben wie gewohnt fortzuführen – ob es mir nun gefällt oder nicht.
Obwohl sich alles verändert hat, scheint es zeitweise, als hätte es das nicht getan. Sowohl die Klingel als auch der Briefkasten sind noch immer mit unser beider Namen versehen. Auch bewahre ich den Wohnungsschlüssel noch immer im zweiten Innenfach meiner Handtasche auf, er gleitet genauso problemlos in das Schloss wie eh und je. Als hätte nicht nur für mich die Zeit stillgestanden, sondern auch für alles andere, das uns beide miteinander verbunden hat.
Allein mein Verstand sagt mir, dass nichts mehr so ist wie vorher. Ich werde nicht deine Musik hören, sobald ich die Tür öffne. Und du wirst auch nicht da sein, um mich, das Lied mitsingend, zu begrüßen. Alles hat sich gewandelt seit diesem einen unsäglichen Tag vor einem Jahr, auch wenn mein Spiegelbild, der nach wie vor anwachsende Stapel ungeöffneter Post auf der Kommode neben der Eingangstür sowie die Unordnung in unserer Wohnung das Gegenteil behaupten und mein Herz es noch immer nicht wahrhaben will. Trotzdem versuche ich, mich zusammenzureißen, denn ich weiß, dass es mich in den Wahnsinn treiben wird, wenn ich mir weiterhin die Frage nach dem ,Warum?‘ stelle. Es ist einfacher, nichts zu denken. Solange ich nicht denke, muss ich auch nichts fühlen. Deshalb halte ich es für das Beste, mich einfach bloß auf das Sofa zu setzen und dort regungslos darauf zu warten, dass die Dunkelheit über mich hereinbricht. Offenbar muss es so sein, wenn man eigentlich tot ist, obgleich man noch immer atmet.
*
Dein Grab aufzusuchen, fällt mir auch jetzt noch schwer. Vielleicht, weil es das erste Mal seit deiner Beisetzung ist. Jessica, unsere Nachbarin, hat mir wiederholt angeboten, mich zu begleiten. Aber etwas tief in meinem Inneren verlangt danach, diesen Weg allein zu gehen. Sie hat ohnehin schon genug für mich getan; allein die Vernunft rät mir, ihr dankbar zu sein. Ohne sie wäre ich jetzt an deiner Seite. Sie war die Einzige, der ich nicht vormachen konnte, damit fertig zu werden. Und obgleich sie mir während des letzten Jahres eine wahre Freundin gewesen ist, muss ich mir auf die Zunge beißen, um ihr keine Vorwürfe zu machen. Aber das ist nichts, was ich ihr je sagen würde, sondern lediglich mit mir selbst abmache. Dennoch scheint sie um meine Einstellung zu wissen. Manchmal kommt es mir vor, sie besitzt die Fähigkeit, hinter die Fassade blicken zu können. Darüber hinaus glaubt sie selbst dann noch an das Gute im Menschen, wenn nur noch eine Ahnung dessen zu finden ist, was man als solches bezeichnen würde. Aber vielleicht tue ich ihr auch einen größeren Gefallen, als sie mir. Schließlich bringt das ihr Beruf als Sozialarbeiterin mit sich. Darüber hinaus hat auch sie niemanden mehr, der ihr auch privat nahesteht und es hilft ihr, sich um jemanden kümmern zu dürfen.
Nur wenige Schritte vor dem Friedhof befindet sich eine Gärtnerei. Keine Ahnung, ob du dich über Blumen freuen würdest. Zu deinen Lebzeiten habe ich dir nie welche mitgebracht. Es jetzt zu tun, erscheint mir hingegen richtig. Es beruhigt mein Gewissen, auch wenn es vollkommen unsinnig ist. Denn wer hat schon etwas von den Blumen, die auf einem Grab stehen? Ich erfreue mich nur kurz an ihrer Farbenpracht und lasse sie dann bei dir zurück, bis sie irgendwann welken und vom Friedhofsgärtner entsorgt werden. Anderen, die daran vorbeikommen, werden sie vermutlich gar nicht auffallen. Aber gemäß dem Fall, dass sie es doch tun, wird ihnen dennoch niemand die Bewunderung schenken, die ihnen eigentlich gebührt. Schließlich bestaunt kein Mensch Blumen, die auf einem Friedhof stehen. Vielmehr stimmen sie die Leute traurig, wissen sie doch darum, dass sie einzig und allein der Trauer wegen das Grab zieren. Und du? Du bist nicht mehr da, um dich darüber zu freuen. Trotzdem kaufe ich sie für dich, nur, um sie anschließend bei Wind und Regen in einer Vase vor deinem Grabstein zurückzulassen. Es gibt mir das Gefühl, etwas für dich getan zu haben. Etwas, das ich zu deinen Lebzeiten stets versäumt habe. Und auch, wenn das im Grunde nur eine Ausrede ist, so beruhige ich mich mit dem Wissen, dass wenigstens die Floristin, die in aller Sorgsamkeit und mit viel Kreativität den Strauß für dich zusammenbindet, jetzt eine Kundin mehr hat, die ihr dabei hilft, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Keine einzige Sekunde habe ich daran gezweifelt, mich zusammenreißen zu können, wenn ich das Friedhofstor passiere, um ganz allein im Regen den Weg entlang zu schreiten, den ich zuletzt vor einem Jahr gegangen bin. Seither habe ich so viele Tränen vergossen, dass ich auf Lebenszeit keine mehr übrig haben werde. Und mit ihnen sind auch all meine Gefühle meine Wangen hinuntergelaufen. Mit einem Taschentuch habe ich sie getrocknet und anschließend im Müll entsorgt. Zumindest habe ich das stets angenommen. Bis jetzt.
Es ist wohl die einzige Überraschung, die das Leben noch für mich parat hat. Nach nicht einmal drei Schritten breche ich in Tränen aus. Und es sind viele, so unkontrollierbar viele, dass die Farben der unzähligen Grabblumen ineinander verschwimmen und die Umrisse jedes Baumes sowie jeder Bank sich verflüchtigen. Und dennoch finde ich den Weg zu dir und stehe nun vor dem, was selbst dann noch an dich erinnern soll, wenn von allen, die einst deinen Namen gekannt haben, nichts weiter übrig ist, als eine Steintafel, auf der der ihre eingemeißelt wurde.
Ich habe noch nie an so etwas wie den Himmel geglaubt oder an ein Wesen, das über uns alle wacht und uns straft, wenn wir uns nicht an gewisse Regeln halten. Ebenso wenig glaube ich an ein Leben nach dem Tod und daran, dass ich dich irgendwann wiedersehen werde. Der strömende Regen hingegen, der in diesem Moment auf mich einprasselt, lässt mich an meiner Einstellung zweifeln. Er gibt mir das Gefühl, dass du ihn geschickt hast, weil du dich im letzten Jahr von mir im Stich gelassen gefühlt hast. Und obgleich du derjenige bist, der ohne jede Vorwarnung von einer Sekunde auf die nächste unwiederbringlich gegangen ist, empfinde ich Reue. Es tut mir leid, dass ich trotz deiner Dickköpfigkeit nicht darauf bestanden habe, dass du das Motorrad stehen lässt und stattdessen das Auto nimmst. Ich bedauere, dass ich dich an diesem Tag nicht zu deinem Termin bei der Bank begleitet habe und dass ich dich darum gebeten habe, noch beim Supermarkt vorbeizufahren, um für mich Shampoo zu besorgen. Aber vor allem wünschte ich, dass ich an deiner Stelle hier liegen darf, während du dir all die Vorwürfe machst, die mich seit der Nachricht deines Todes Tag und Nacht quälen.
Ist es nicht seltsam, wie zwiegespalten man nach solch einem Ereignis ist? Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt. Und ich tue es noch immer. Gleichzeitig bin ich wütend auf dich. Und in den Momenten, in denen ich mir für alles die Schuld gebe, bürde ich sie dir gleichermaßen auf. Du hattest kein Recht, einfach so aus meinem Leben zu verschwinden, mir all das Gute zu rauben, das ich mit dir hatte. Anstatt rücksichtslos einfach auf deine Gewohnheiten zu bestehen, hättest du einmal an mich denken müssen, an uns! Aber dafür hast du das Motorradfahren viel zu sehr geliebt. Und du hast es mit derselben Leidenschaft getan, mit der du alles im Leben angegangen bist. Genau deshalb habe ich dich geliebt. Deshalb und aus allen anderen Gründen, die dich zu der Person gemacht haben, die du gewesen bist.
Und jetzt? Jetzt bleibt mir nichts anderes, als diesen wunderschönen Strauß von zwölf gelben Rosen, deren Blüten von einem roten Rand gesäumt werden und von denen jede für einen Monat steht, den du bereits fort bist, auf deinem Grab zurückzulassen und wieder Heim zu gehen. Egal, wie viele Vorwürfe ich dir, mir selbst oder uns beiden auch mache, es wird dich nicht zurückbringen.
*
„Ich wollte mal schauen, wie es dir geht“, sagt Jessica mitfühlend, als ich ihr die Tür öffne.
„Wie soll es mir schon gehen?“, erwidere ich antriebslos und bitte sie mit einer Geste herein. „Die Tage sind noch immer zu lang, die Nächte auch, und wenn in meinem Kopf gerade mal nicht vollkommene Stille herrscht, denke ich so unendlich viel nach, dass es mir Kopfschmerzen bereitet.“
Müde lasse ich mich auf das große weiße Kuschelsofa mit der ausladenden Sitzfläche und den flauschig weichen Kissen fallen, während Jessica auf dem Sessel Platz nimmt. Ich staune immer wieder, wenn sie bei uns zu Besuch ist. Mit ihrer kakaofarbenen Haut und ihrem wallenden schwarzen Haar ist sie ein wahrer Farbklecks in unserer sonst so weiß gehaltenen Wohnung.
Früher mochte ich unsere Einrichtung. Das viele Weiß hat den Raum erhellt und mich oft an das tröstende und besinnliche Gefühl des ersten Schneefalls erinnert. Heute hingegen empfinde ich es als trist und einfallslos. Und während mir klar wird, mit welch unsinnigen Gedanken ich mich wieder einmal auseinandersetze, kommt mir in den Sinn, dass es deine Abwesenheit und nicht die Dekoration ist, die mir unser Zuhause ungemütlich erscheinen lässt.
Gequält streiche ich mir über die Stirn. Um nicht wieder in Tränen auszubrechen, greife ich nach meiner Teetasse und trinke so lange, bis ich mich wieder unter Kontrolle habe.
„So etwas wie Ausgewogenheit scheint es für mich nicht mehr zu geben“, flüstere ich. „Ständig falle ich von einem Extrem ins nächste. In einem Moment denke und fühle ich gar nichts, während im nächsten Augenblick der Himmel über mir zusammenbricht. Dann versinke ich in Vorwürfen. Und obwohl ich noch nie an Gott oder dergleichen geglaubt habe, mehren sich die Momente, in denen ich es doch tue. Weder weiß ich, was ich fühlen, noch was ich tun soll. Es ist ein verdammter Teufelskreis.“
Jessica schweigt. Sie scheint nach den richtigen Worten zu suchen. Ständig probiert sie, mich aufzuheitern und mir die positiven Dinge im Leben aufzuzeigen. Doch jetzt habe ich den Eindruck, als wäre sie dessen müde geworden. Manchmal kann man einen grauen Himmel einfach nicht blau reden, so sehr man sich auch darum bemüht.
„Ich habe dich in der letzten Nacht wieder weinen gehört“, bemerkt sie ganz unvermittelt.
Erschrocken schaue ich sie an, denn nun bin ich es, die nach den richtigen Worten forscht.
„Entschuldigung“, entgegne ich und verliere schließlich doch die Kontrolle über meine Tränen. Wieder setze ich die Teetasse an, um mich zu beruhigen, aber dieses Mal ist sie leer; vor allem diese Tatsache ist der Tropfen, der das Fass ganz plötzlich zum Überlaufen bringt. Ich schluchze und weine; die Gedanken überschlagen sich ein weiteres Mal. Wie konnte es nur so weit kommen? Warum habe ich dich nicht davon abgehalten, das Motorrad zu nehmen? Hätte ich etwas daran ändern können? Und wie zum Teufel konntest du mir das nur antun?!
Jessica, die mich inzwischen besser zu kennen scheint, als ich es selbst tue, springt sofort auf, nimmt mir die Tasse aus der Hand und eilt zur Küche, um mir neuen Tee zu kochen. In der Zwischenzeit versuche ich, mich zu beruhigen. Für gewöhnlich liebe ich unsere Wohnküche. Man hat das Gefühl, nie allein zu sein, nie abgetrennt vom Geschehen. Dieses Mal jedoch wünschte ich, dass sie Wände hätte, die den Blick auf das kümmerliche Häufchen Elend, das ich gerade bin, vor Jessicas Augen verbergen.
„Du redest nie über ihn“, sagt sie besorgt, während sie sich neben mich setzt und die Tasse mit dem dampfenden Getränk auf dem Tisch abstellt. „Die Therapeutin sagt, dass es dir helfen könnte, besser darüber hinwegzukommen.“
„Und was, wenn ich gar nicht darüber hinwegkommen will?“, frage ich vorwurfsvoll. „Wenn ich beginne, damit abzuschließen, ist es, als ließe ich ihn endgültig sterben. Dann wird er irgendwann in Vergessenheit geraten. Bald denke ich nur noch zwei-, dreimal am Tag an ihn. Später ist es nur noch einmal die Woche, und bevor ich mich versehe, ist er vollkommen aus meinem Leben verschwunden.“
„Und deshalb verschließt du dich und machst alles, was Darren betrifft, mir dir selbst aus?“
„Es ist das Einzige, das mir noch geblieben ist. Wenn ich es hergebe, habe ich nichts mehr.“
„Aber ständig in dieser Wohnung zu sitzen und pausenlos dieses Lied zu hören, wird dich früher oder später noch in den Wahnsinn treiben“, redet sie sanft und zugleich bestimmt auf mich ein.
Ich weiß, dass es stimmt. Dennoch antworte ich nicht, sondern starre stattdessen teilnahmslos aus dem Fenster. Keine Ahnung, ob sie mich nicht verstehen will oder es einfach nicht kann. So oder so besitze ich aber auch nicht die Kraft, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
„Wie dem auch sei ...“, sie legt ruhig ihre Hand auf meine Schulter, „wenn es soweit ist, dann klopfe an meine Tür! Ganz gleich zu welcher Zeit. Ich bin für dich da.“
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie noch einen Blick zurückwirft, bevor sie unsere Wohnung verlässt, und obwohl ich es gerne möchte, kann ich ihn nicht erwidern.
Nachdem sie gegangen ist, stelle ich mir für einen Moment die Frage, was ich mit dem angebrochenen Tag anfangen kann. Der Stapel der an dich gerichteten Briefe wächst langsam, aber sicher ins Unermessliche. Und es sind wirklich wichtige Schreiben darunter, die dringend beantwortet werden müssten. Trotzdem wage ich nicht, sie anzurühren. Eine solche Postsammlung hat es auch schon zu deinen Lebzeiten gegeben. Sie so zu belassen, vermittelt mir das Gefühl, du würdest doch irgendwann zurückkommen, sie durchsehen und dann weiterhin ignorieren. Ein Wunschdenken, das mir, nehme ich an, Trost spendet und dich in gewisser Weise am Leben erhält. Dabei sind deine Nachlässigkeit und Unordnung sonst immer ein Streitthema zwischen uns gewesen, ebenso wie mein Wunsch, irgendwann zu heiraten ... – dich zu heiraten. Doch auch, wenn mich deine Abneigung in Bezug auf die Ehe nie davon abgebracht hat, dich als den Mann, die eine große Liebe zu sehen, neben und nach der es nie eine andere geben wird, war es nicht leicht, sich damit abzufinden. Schwer zu sagen, ob ich es überhaupt getan habe. Mit Sicherheit kann ich nur behaupten, dass dieser Traum, der alle weiteren sonst immer überwogen hat, mittlerweile hinter einem anderen ansteht. Lieber hätte ich eine Zeitmaschine, die mir erlaubt, diesen vierten September zu verändern und mit dir zusammen alt zu werden – vollkommen gleich, ob mit oder ohne Trauschein.
Das Dröhnen einer Bohrmaschine aus der Nachbarwohnung holt mich plötzlich an Ort und Stelle zurück. Den Blick noch immer auf den Poststapel geheftet, werde ich von dem Gedanken heimgesucht, dass ich der Unordnung, jetzt, wo du nicht mehr da bist, ein für alle Mal ein Ende machen könnte. Eine schmerzhafte Vorstellung, die mich augenblicklich zusammenzucken lässt. Und anstatt mich, wie anfangs angestrebt, zu erheben und zu versuchen, meinem Kummer zu entfliehen, bleibe ich auf dem Sofa sitzen, trinke irgendwann den kalten Tee und warte, während ich abwesend mit dem Anhänger meiner Kette spiele, auf den Einbruch der Dunkelheit.
Ein paar Tage sind vergangen, seit ich dein Grab aufgesucht habe. Inzwischen fällt mir in unserer Wohnung die Decke auf den Kopf; ich sehne mich nach frischer Luft. Wieder einmal regnet es, doch wie du weißt, macht mir das nichts aus. Ich liebe diese Art von Wetter; im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten zieht es mich vor allem dann nach draußen.
Erneut führt mich mein Weg zu dir. Als ich am Blumengeschäft vorbeikomme, muss ich nicht lange darüber nachdenken, dir einen neuen Strauß mitzubringen. Der andere wird längst verwittert sein, und wenn ich an das vergangene Jahr zurückdenke, habe ich einiges nachzuholen.
Wieder einmal sind es Rosen, deren gelbe Blütenblätter ein roter Rand ziert, auch Tucan-Rosen genannt, wie mir die Floristin erklärt. Bisher hatte ich nie eine besondere Vorliebe für eine ganz bestimmte Rosenart. Obwohl das Geschäft voller schöner Blumen ist, ziehen mich gerade diese magisch an. Zwölf sollen es wieder sein. Eine Rose für jeden Monat, den ich dich schon schmerzlich vermissen muss. Nicht mehr lange und es werden dreizehn sein. Seltsam, wie schnell die Zeit manchmal vergeht. Hin und wieder scheint sie aber auch stillzustehen, ganz besonders dann, wenn es ungelegen ist.
Als ich den Friedhof betrete, bin ich auf alles vorbereitet. Eigentlich deutet gerade nichts darauf hin, dass ich in Tränen ausbrechen werde. Seit ich heute Morgen aufgewacht bin geht es mir den Umständen entsprechend gut. Aber das muss nichts heißen. Den Erfahrungen meines letzten Besuches ist es geschuldet, dass ich mir in Zukunft nicht mehr vornehme, mich so oder anders zu fühlen. Früher hatte ich jede Menge Prinzipien. Seit meinem letzten Besuch bei dir habe ich nur noch das Prinzip, vorläufig keine weiteren mehr zu haben. Sie sind unsinnig und schränken einen nur ein. Außerdem ärgert man sich ständig über sie, ganz besonders dann, wenn man sich nicht daran halten kann.
Schon aus der Ferne erkenne ich, dass der Strauß noch immer auf deinem Grab steht. Und je näher ich ihm komme, desto mehr wundere ich mich darüber, wie frisch er noch zu sein scheint. Offenbar haben ihm weder das Wetter noch die vergangenen Tage etwas anhaben können. Ich frage mich, was es wohl ist, das die Gewächse heutzutage derart lange haltbar macht. Der letzte Strauß, den ich selbst bekommen habe, war von Jessica während meines Klinikaufenthaltes. Den Blumen hat man ihr Alter bereits am dritten Tag angesehen. Sicher mag es in der Qualität auch Unterschiede geben, aber das hier stellt alles in den Schatten.
Am Grab werfe ich einen verwunderten Blick auf den Strauß. Es sind dreizehn Tucan-Rosen. Dreizehn! Beim letzten Mal waren es nur zwölf, dessen bin ich mir absolut sicher. Seit dem Verlassen der Gärtnerei bis zum Friedhofstor habe ich sie fünf Mal gezählt, und es sind immer zwölf gewesen. Nicht elf, nicht dreizehn, sondern zwölf!
Schon beinahe verärgert, lasse ich meinen Blick zu deinem Grabstein gleiten. Kann es sein, dass es in deinem Leben etwas gegeben hat, von dem ich nichts wusste? Oder vielmehr jemanden? Wer ist so dreist, einen Strauß Rosen auf deinem Grab zurückzulassen? Blumen, die man eigentlich nur jemandem in tiefster Innigkeit und Verbundenheit schenkt. Deine Eltern sind vor meiner Zeit verstorben, und Geschwister hattest du nicht. Hat es neben mir etwa eine andere Frau gegeben, Darren Graham?
Plötzlich schrecke ich zurück, denn auf der Tafel, die genauso aussieht wie deine und von dergleichen Schrift sowie dem gleichen Blumenornament geziert wird, steht ein anderer Name: Paula Graham. Geboren am dreizehnten April neunzehnhundertsechzig, verstorben am vierten September zweitausendzwölf. Seltsam, diese Frau hatte nicht nur den gleichen Nachnamen wie du, sondern auch noch den gleichen Sterbetag. Noch dazu wurde sie direkt neben dir zur letzten Ruhe gebettet. Und die Tatsache, dass mir die Tränen beim letzten Mal wie kleine Wasserfälle über die Wangen gelaufen sind, hat mich in dem Glauben gelassen, es wäre dein Grab.
Die vielen Gemeinsamkeiten sind überaus verblüffend. Ob ihr wohl noch weitere hattet? Vielleicht wart ihr entfernte Verwandte oder habt euch gekannt? Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, dich je von einer Paula reden gehört zu haben. Wer sie wohl war? Ich weiß es nicht. Wenn ich mir allerdings diesen Strauß Rosen so ansehe, kann ich mir einer Sache jedoch vollkommen sicher sein – so wie der deine hat auch ihr Tod jemandem das Herz gebrochen, letztes Jahr im September.
*
Anstatt pausenlos über dich nachzugrübeln, gibt es plötzlich eine andere Person, der meine Gedanken gelten. Oft frage ich mich, wie Paula wohl gewesen ist, ob sie Kinder und welche Hobbys sie hatte. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie zweiundfünfzig. Das macht neunzehn Jahre mehr als bei dir. Dennoch war sie zu jung zum Sterben, und ihr Alter lässt darauf schließen, dass sie nicht eines Abends friedlich in ihrem Bett eingeschlafen ist, in dem Wissen, dass ihr Leben lang und es für sie an der Zeit war. Mit zweiundfünfzig stirbt man einen anderen Tod, als den, den sich die meisten wünschen.
Ob sie wohl gelitten hat? Vielleicht war es ein Unfall, wie bei dir. Oder eine schlimme Krankheit.
Was immer es auch gewesen sein mag, ich bin ihr dankbar. Denn obwohl ich es bis vor Kurzem eigentlich gar nicht gewollt habe, scheint sie frischen Wind in mein Leben zu bringen; es fühlt sich gut an. Und das, obwohl ich sie noch nicht einmal gekannt habe. Dabei könnte sie sonst wer gewesen sein. Vielleicht hat sie mal eine Bank ausgeraubt oder sie hatte eine schrullige Eigenart. Möglicherweise hat sie sich zu ihren Lebzeiten nur mit Katzen umgeben, deren Fotos sie auf ihre Tassen und Kleidung drucken lassen hat. Aber in dem Fall wäre sicher auch eine Katze anstelle der Blumen in ihren Grabstein gemeißelt. So oder so werde ich es vermutlich nie erfahren und bleibe deshalb einfach bei meinem positiven Bild von ihr. Keine Katzen und kein Bankraub. Schaden kann ihr meine Vorstellung von ihr als Person jedenfalls nicht, ebenso wenig wie mir.
*
Aus unerklärlichen Gründen überkommt mich plötzlich der Drang, eine Veränderung herbeizuführen. Ich möchte etwas in meinem Leben anders machen, etwas, das ich selbst in der Hand habe und nicht durch den tödlichen Motorradunfall einer geliebten Person oder einen Zusammenbruch meinerseits hervorgerufen wird.
Voller Tatendrang verlasse ich an diesem Morgen meine Wohnung und stelle mit Erschrecken fest, dass wir bereits Oktober haben. Ausnahmsweise regnet es mal nicht, dennoch genieße ich das Wetter. Gemessen an den Septembertagen ist es heute vergleichsweise warm. Die Sonne lässt das goldene Herbstlaub noch heller leuchten. Ein guter Tag, um endlich etwas Neues mit meinen Haaren anzustellen. Immerhin laufe ich seit nunmehr vierzehn Jahren mit dergleichen Frisur herum; bei anderen finde ich es immer ganz schrecklich, wenn sie irgendwann einen Style für sich entdecken und ihn auf Lebenszeit nicht mehr ändern. Sie wollen mit sechzig noch genauso aussehen wie mit zwanzig und denken, sie könnten die Zeit anhalten, wenn sie dem treu bleiben. In der Regel funktioniert so etwas jedoch leider nicht.
Die Euphorie, mit der ich unsere Wohnung verlassen habe, weicht schnell der Ernüchterung, als ich aus dem Friseursalon komme. Einmal waschen und Spitzen schneiden bitte! Ansonsten hat sich nichts getan. Noch immer trage ich mittellanges dunkelbraunes Haar, das sowohl vorne als auch hinten die gleiche Länge hat. Ich war noch nie der Typ fürs Färben. Anfangs sehen die Farben immer wunderschön aus, bis sie langsam rauswachsen und erneuert werden müssen. Und an trendige Schnitte habe ich mich ebenfalls nie herangewagt. Was heute modern ist, gefällt morgen schon nicht mehr, dann muss ich wieder von vorn anfangen. Ich bevorzuge etwas Zeitloses.
Vollkommen desillusioniert, finde ich mich mit dem Gedanken ab, auch mit sechzig noch so auszusehen, wie mit zwanzig, nur etwas grauer und faltiger vermutlich. Innerlich schüttle ich den Kopf über mich selbst und setze anschließend meinen bahnbrechenden, mein Leben revolutionierenden Gang durch die kleine Einkaufsstraße von Claytown fort. Früher sind wir oft hier langgeschlendert. Darum bemüht, verhalten zu wirken, habe ich mir jedes Mal das Schaufester des kleinen Juweliergeschäfts angesehen. Sogar nachdem mir irgendwann bewusst wurde, dass keiner der vielen umwerfend schönen Brillantringe je meine Finger zieren würden, bin ich nie müde geworden, sie zu bestaunen, symbolisieren sie doch die Zugehörigkeit zu einem ganz besonderen Menschen. Heute hingegen vermögen nicht mehr, mich zu reizen.
Nachdem ich durch einige Bekleidungs-, Haushaltswaren- und Dekogeschäfte geschlendert bin und dabei eine neue Suppenkelle ergattert habe, beschließe ich, dich auf dem Rückweg zu besuchen.
Erneut schaue ich in dem Blumengeschäft vorbei. Die Floristin kennt mich bereits und erkundigt sich freundlich, obwohl sie die Antwort bereits zu wissen glaubt, was es heute sein darf. Als ich ihr sage, dass ich dieses Mal nicht zwölf, sondern gern dreizehn Tucan-Rosen hätte, fragt sie noch einmal nach. Doch sie hat sich nicht verhört, denn nun, da ein weiterer Monat vergangen ist, soll natürlich auch eine weitere Rose hinzukommen. Für eine Sekunde mustert sie mich erstaunt und macht sich anschließend, ohne mir Fragen zu stellen, an die Arbeit.
Sie scheint mir eine wirklich nette Person zu sein; sie strahlt immer diese Ruhe und Zuversicht aus. Noch dazu verrichtet sie ihre Arbeit mit Leidenschaft. Traurigerweise geht nicht jeder Mensch seinem Beruf mit solch einer Begeisterung nach. Ich finde es schön, ihr dabei zuzusehen, wie sie die Blumen für dich bindet. Ihre Hingabe weckt meine Lebensgeister und erinnert mich an die Dinge, die ich früher gern getan habe. Angefangen, als mein bester Freund Benjamin mir das Klavierspielen beigebracht hat, über meine Versuche als Songschreiberin für seine Band und meine Arbeit in seiner Bar, bis hin zu meiner schriftstellerischen Tätigkeit als Liebesromanautorin. Ausnahmslos allen Protagonisten habe ich eine Hochzeit zugedacht, wenngleich auch so manche Ehe ein schnelles Ende fand. Jedoch habe ich für keinen von ihnen ein so schmerzvolles Schicksal gewählt, wie es mir widerfahren ist.
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Paulas Grab ist dieses Mal blumenlos. Schade eigentlich. Aber vielleicht hatte der Trauernde bisher keine Gelegenheit, sie noch einmal zu besuchen. Auf jeden Fall gehört er nicht zu den Leuten, die nur einmal im Jahr auf den Friedhof gehen, denn bei meinem letzten Besuch wurde ihr Grab wieder von dreizehn Tucan-Rosen geziert. Noch bevor ich dich richtig begrüßt habe, was ich natürlich bloß in meinen Gedanken und nicht laut tue, trenne ich den Strauß, den ich für dich besorgt habe in zwei Hälften und bestücke eure beiden Gräber damit. Schade um die Mühe, die sich die Floristin damit gemacht hat, denn nun sieht das Gesamtbild nicht annähernd so schön aus wie zuvor. Trotzdem glaube ich, dass Paula sich darüber freuen würde, und ich denke, dass du es ebenso tun würdest. Du hattest viel für andere übrig; es hat dir stets mehr Freude bereitet, zu teilen, als zu behalten. Wer weiß, vielleicht habt ihr ja sogar Freundschaft geschlossen, und sie weiß schon viel mehr über mich, als ich über sie.
Gedanklich erzähle ich dir von meinem Tag. Danach wickle ich die Suppenkelle aus und zeige sie dir. Mein erster Schritt in Richtung ,Weitermachen‘.
Schnell hülle ich sie wieder in das Papier und lasse sie zurück in die Tüte wandern. Der Zweck, nie laut mit dir zu sprechen, ist, dass die Leute mich nicht für verrückt halten. Was aber soll man von einer Frau denken, die einem Grabstein mit einem gezwungenen und doch halb stolzen Lächeln eine Suppenkelle präsentiert? Ich kichere. Du hättest das sicher witzig gefunden, wie so viele meiner unbedarften Alltäglichkeiten. Und als mir klar wird, wie sehr ich dein Lachen vermisse, werde ich auf einmal wieder traurig. Du fehlst mir; ich würde alles dafür geben, dich noch ein letztes Mal zum Schmunzeln bringen zu dürfen. Geknickt verabschiede ich mich von dir und Paula.
*
Als Jessica mich am nächsten Tag an der Wohnungstür antrifft, runzelt sie verwundert die Stirn.
„Dein Blick hat sich verändert“, sagt sie, ohne mich vorher zu begrüßen.
Ich überlege kurz, zucke aber schließlich mit den Schultern. „Momentan schlafe ich wieder besser. Vielleicht sind meine Augenränder nicht mehr so dunkel.“
„Nein“, entgegnet sie entschieden, „nein, das ist es nicht. Irgendwas hat sich bei dir getan.“ Sie schaut prüfend in meine vom Regen durchnässten Einkaufstüten und fügt mit erhellter Miene hinzu: „Suppengemüse? Du kaufst richtiges Essen? Nicht einfach nur Unmengen an Cornflakes, Toastbrot und Schokolade?“
„Ich habe eine neue Kelle und will sie einweihen, bevor sie irgendwann in Vergessenheit gerät und Staub ansetzt“, erwidere ich ganz selbstverständlich.
Jessica mustert mich, als wäre ich ein Huhn, das Cello spielen kann. Dann stemmt sie die Hände in ihre Hüften: „Na wenn ich gewusst hätte, dass es so einfach ist, dich auf andere Gedanken zu bringen, hätte ich dir sofort meine komplette Küchenausstattung überlassen. Bei mir ist das ganze Zeug ohnehin hoffnungslos unterfordert.“
„Möchtest du mitessen?“, frage ich, nachdem ich ebenfalls einen flüchtigen Blick in die Supermarkttüten, die mit Zutaten für eine fünfköpfige Familie gespickt sind, geworfen habe.
Sie sieht mich kurz an, nimmt mir anschließend eine Tüte ab und stiefelt, ohne zu antworten, in unsere Wohnung.
*
„Hältst du mich für verrückt?“, frage ich Jessica, nachdem ich ihr von Paula erzählt habe und wir unseren zweiten Teller geleert haben.
„Warum?“, entgegnet sie schon beinahe vorwurfsvoll. „Weil du Kraft aus der Vorstellung über eine Frau schöpfst, von der du kaum mehr als den Namen kennst? Wenn das verrückt ist, dann hätte wohl die Hälfte der Menschheit längst weggesperrt gehört. Schau dir doch nur mal den Film ,Cast Away‘ an. Hätte Tom Hanks nicht angefangen, mit dem Ball zu sprechen und ihm einen Namen zu geben, wäre er langsam, aber sicher dahingesiecht. Ich kenne niemanden, der ihn in dieser Situation als verrückt bezeichnet hat. Es war seine Strategie, um zu überleben.“
„Aber das ist doch nur ein Film“, bemerke ich augenrollend.
„Denkst du, dass es im richtigen Leben anders ist?“, erwidert sie schon fast verärgert. „Glaubst du etwa, dass das, was er dort durchmachen musste, nichts weiter als reine Fiktion gewesen ist? Tagtäglich leben Menschen in Angst, sind auf der Flucht oder allein. Viele haben niemanden mehr, dem sie sich anvertrauen können, und trotzdem machen sie weiter. Ich habe jemanden gekannt, der seinen ganzen Lebensmut von einem Stück Stoff abhängig gemacht hat, mit dem er einst die Tränen seiner verstorbenen Tochter getrocknet hat. Als er glaubte, es verloren zu haben, ist er beinahe wahnsinnig geworden. Ein anderer ist mit der Hasenpfote seines Lieblingskaninchens aus seiner Kindheit in den Händen gestorben, das mehr als siebzig Jahre vor ihm gegangen war. Eine alte Frau hat geglaubt, in ihrem Wellensittich die Reinkarnation ihres verstorbenen Ehemannes zu erkennen.“ Nachdenklich senkt sie ihren Blick und schüttelt den Kopf. „Ich glaube, es ist verrückt, das Leben wegzuwerfen, ganz gleich, wie viele Wolken auch am Horizont auftauchen. Die Sonne ist sehr viel beständiger. Ihre Strahlen suchen sich ihren Weg und sei es nur für den Bruchteil einer Sekunde. Sie ist selbst dann noch da, wenn wir sie nicht sehen können. Wolken hingegen, so dicht und dunkel sie auch erscheinen, brechen immer irgendwann auf. Hin und wieder sind sie sogar ganz verschwunden.“
„Und in der Nacht?“, bohre ich besserwisserisch.
„Da leuchten uns Mond und Sterne“, antwortet sie beinahe schon triumphierend. „Und das tun sie auch nur, weil sie von der Sonne angestrahlt werden.“
Verträumt starrt sie auf ihren Teller. Ich gewinne mehr und mehr den Eindruck, als hätte sie eine eigene Geschichte zu erzählen. Was sie sagt, klingt nicht so, als würde sie von den Erfahrungen anderer sprechen. Irgendwann muss auch sie etwas verloren haben, dessen Verlust noch immer an ihr zerrt. Trotzdem lässt sie sich nicht unterkriegen. Und als wäre das allein nicht schon bewundernswert genug, findet sie darüber hinaus auch noch die Kraft, andere zum Weitermachen zu ermutigen.
Sobald sie sich aus ihrer Nachdenklichkeit löst, schaut sie mich an, legt ihre Hand auf meine und erklärt voller Zuversicht: „Bewahre dir deine Paula! Wenn der Gedanke an sie dich tatsächlich so stark macht, halte daran fest, und bring ihr weiterhin Blumen mit. Sie würde sich sicher darüber freuen.“
Während ich meinen Teller zur Seite stelle, kommen mir wieder die dreizehn Tucan-Rosen in den Sinn, die für gewöhnlich jemand anders auf Paulas Grab stellt.
„Es ist weniger der Gedanke an sie, als vielmehr die Vorstellung, dass es irgendwo auf dieser Welt jemanden gibt, der eine andere Person ebenso sehr geliebt hat, wie ich es bei Darren getan habe“, erwidere ich lächelnd, vage bemerkend, dass ich wieder einmal mit dem Anhänger meiner Kette spiele. Und ganz unverhofft löst sich draußen die dicke Wolkendecke und weicht den funkelnden Sonnenstrahlen, die in diesem Moment ihren Weg durch die Fenster unserer Wohnung finden.