Douglas Coupland wurde 1961 auf einem NATO-Stützpunkt in Deutschland geboren, lebt heute in Vancouver, Kanada. In den späten Achtzigern begann er für lokale Magazine zu schreiben, woraus 1991 sein Roman »Generation X« hervorging, der ihn schlagartig berühmt machte und zum Sprachrohr einer Generation werden ließ. Seitdem hat er 14 Romane veröffentlicht und zahlreiche Essaybände veröffentlicht und gilt als Vordenker des Digitalzeitalters.
Harald Riemann machte sich 1990 als literarischer Übersetzer selbständig, zuvor war er Journalist in Buenos Aires und Paris sowie Literatur-Scout in San Francisco und New York.
Willst du ein Haus oder ein Leben?
Das neue Jahrtausend verspricht nichts Gutes. Sicherheit, Eigentum und ähnliche Sehnsüchte der Eltern bedeuten nichts mehr. Andy, Dag und Claire haben sich ins Rentneridyll Palm Springs zurückgezogen, um frei zu sein und zu genießen. Sie trinken Gin Tonic, erzählen sich Geschichten und warten auf den Sonnenaufgang.
Als Generation X 1991 erschien, waren Hipster wie Andy, Dag und Claire eine Prophezeiung. Inzwischen bestimmen ihre lässige Unverbindlichkeit, ihr Vintagefaible, ihre Liebes- und Arbeitsgewohnheiten das Leben in den Städten. Keiner hat diese Generation so genau verstanden und erzählt wie Douglas Coupland.
»Douglas Coupland ist einer der verlässlichsten Deuter dieser Welt.« Die Zeit
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Generation X
Roman
Aus dem Englischen von
Harald Riemann
Mit einem Nachwort von
Dietmar Dath
Inhaltsübersicht
Über Douglas Coupland
Informationen zum Buch
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Teil eins
Die Sonne ist dein Feind
Unsere Eltern hatten mehr
Gib es auf, die Vergangenheit zu recyceln
Ich bin keine Marketing-Zielgruppe
Gib deinen Job auf
Mit 30 gestorben, mit 70 begraben
Es kann nicht immer so weitergehen
Shopping ist keine Schöpfung
Wiederaufbau
Eintritt in den Hyperraum
31. Dezember 1999
Teil zwei
Auch Neuseeland wird verstrahlt
Monster existieren
Friss dich nicht selbst
Friss deine Eltern
Erkaufte Erfahrungen zählen nicht
Erinnere dich klar an die Erde
Wechsle die Farbe
Warum bin ich arm?
Berühmtheiten sterben
Ich bin nicht neidisch
Tritt aus deinem Körper
Lass Blumen wachsen
Teil drei
Was ist normal?
Musikfernsehen, keine Feuerwaffen
Gestalte
Willkommen zurück aus Vietnam, mein Sohn
Abenteuer ohne Risiko ist Disneyland
Plastik zersetzt sich nie
In Erwartung des Blitzes
1. Januar 2000
Zahlen
Nachwort von Dietmar Dath
Impressum
»Ihre Frisur war total 50er-Jahre-Parfumverkäuferin bei Woolworth in Indiana. Du weißt schon, lieb, aber blöd. Eines Tages, und zwar ziemlich bald, wird sie heiraten, um aus ihrer Wohnwagensiedlung herauszukommen. Sie trug ein Kleid Marke Aeroflot-Stewardess aus den Sechzigern, du weißt schon, dieses grässlich trübe Blau, das die Russen immer anhatten, bevor sie alle Sony-Geräte wollten und Guy Laroche als Designer für ihre Politbüro-Mützen. Und erst ihr Make-up! Vollständig Siebziger-Mary-Quant, mit diesen kleinen Blumenohrringen aus PVC, die wie rutschfeste Badewannenstöpsel aus einem schwulen Badeclub in Hollywood um 1956 aussahen. Sie hatte die Tristesse wirklich auf den Punkt gebracht, war die Allerschickste. Total.«
TRACEY, 27
»Sie sind meine Kinder. Ob nun erwachsen oder nicht, ich kann sie nicht einfach vor die Tür setzen. Das wäre grausam. Und außerdem können sie großartig kochen.«
HELEN, 52
Damals in den späten Siebzigern, als ich fünfzehn war, gab ich den letzten Penny dafür aus, in einer 747 quer über den Kontinent nach Brandon, Manitoba, tief in die kanadische Prärie zu fliegen, um Zeuge einer totalen Sonnenfinsternis zu werden.
Ich muss ziemlich merkwürdig ausgesehen haben, jung, wie ich war, spindeldürr und käseweiß, als ich verstohlen ins TraveLodge Motel einzog, wo ich die Nacht – allein und glücklich – damit verbrachte, mir die Werbung auf den flimmernden Fernsehkanälen anzusehen und Wasser aus Bechern zu trinken, die so oft ausgewaschen und wieder in Papierhüllen gewickelt worden waren, dass man meinen konnte, sie seien mit Sandpapier bearbeitet worden.
Bald war die Nacht zu Ende, und als der Morgen anbrach, an dem die Sonnenfinsternis stattfinden sollte, verzichtete ich auf die Rundfahrtbusse und fuhr mit öffentlichen Verkehrsmitteln an den Stadtrand. Dort angekommen, lief ich einen lehmigen Feldweg hinunter, geradewegs hinein in das Kornfeld eines Farmers. Es war irgend so ein hüfthohes maisgrünes Getreide, das mir, als ich es durchquerte, raschelnd mit seinen scharfen Blättern kleine, brennende Wunden in die Haut schnitt. In dem Feld legte ich mich zur angegebenen Stunde, Minute und Sekunde der Finsternis auf den Boden, umgeben von den hohen, robusten Kornähren und dem leisen Summen der Insekten, hielt den Atem an. Mir bemächtigte sich ein Gefühl, das ich seitdem niemals ganz abschütteln konnte; ein Gefühl von Dunkelheit, Unvermeidlichkeit, Faszination, ein Gefühl, von dem sicherlich seit ewigen Zeiten die meisten jungen Leute beherrscht werden, sobald sie den Kopf in den Nacken legen, in den Himmel starren und ihren Blick darin verlieren.
Eineinhalb Jahrzehnte später sind meine Gefühle noch genauso zwiespältig, und ich sitze auf der vorderen Veranda meines Mietbungalows im kalifornischen Palm Springs, bürste meine beiden Hunde ab, inhaliere den schweren, nächtlichen Zimtgeruch der Löwenmäulchen, vermischt mit scharfen Chlorschwaden vom Swimmingpool, die aus dem Garten herüberwehen, und warte auf die Morgendämmerung.
Ich schaue nach Osten hinüber, zum San-Andreas-Graben, dessen Falten wie ein Stück zerkochtes Fleisch in der Mitte des Tals liegen. Gleich wird die Sonne über dem Graben explodieren und über meinen Tag hereinbrechen wie eine Gruppe Las-Vegas-Showgirls über die Bühne. Meine Hunde schauen auch in die Richtung. Sie wissen, dass ein bedeutendes Ereignis bevorsteht. Diese Hunde sind so schlau, dass ich manchmal richtig Angst bekomme. Zum Beispiel wische ich ihnen den blassgelben Schnodder von den Schnauzen, der aussieht wie der zerlaufene Käse auf einer Pizza aus der Mikrowelle, und mich befällt ein schreckliches Gefühl, denn ich habe diese Hunde im Verdacht (auch wenn mich ihre gewinnenden, schönen schwarzen Augen etwas anderes glauben machen wollen), dass sie wieder bei den Mülltonnen hinter dem Center für kosmetische Chirurgie herumgestreunt sind und ihre Schnauzen mit, soll ich es wirklich sagen, abgesaugtem Yuppiefett beschmiert haben. Wie sie es schaffen, diese von den Behörden Kaliforniens vorgeschriebenen kojotensicheren roten Plastikmülltüten für Fleischabfälle aufzureißen, ist mir schleierhaft. Ich schätze, die Ärzte sind entweder schlampig oder faul. Oder beides.
Was für eine Welt.
Ich kann dir sagen …
Aus dem Innern meines kleinen Bungalows höre ich, wie eine Schranktür zugeschlagen wird. Wahrscheinlich holt mein Freund Dag unserer Freundin Claire einen Aufmunterungssnack oder etwas Süßes. Oder, was wahrscheinlicher ist, wie ich sie kenne, einen winzigen Gin Tonic. Sie haben so ihre Gewohnheiten.
Dag ist aus Toronto, Kanada (besitzt doppelte Staatsangehörigkeit). Claire kommt aus Los Angeles in Kalifornien. Was mich selbst angeht, ich komme aus Portland, Oregon, aber die Herkunft ist heutzutage ziemlich bedeutungslos. (»Da alle die gleichen Geschäfte in ihren mickerigen Einkaufspassagen haben«, wie mein jüngerer Bruder Tyler behauptet.) Wir drei sind Mitglieder des Jetsets für Arme, einer riesigen, internationalen Gruppe, der ich mich anschloss, als ich, wie bereits erwähnt, im Alter von fünfzehn Jahren nach Manitoba flog.
Jedenfalls, weder Dag noch Claire waren an dem Abend sonderlich gut drauf. Also nahmen sie meine Hütte in Beschlag auf der Suche nach Cocktails und kühler Luft. Sie brauchten es, und beide hatten gute Gründe.
MCJOB:
Ein niedrig dotierter Job mit wenig Prestige, wenig Würde, wenig Nutzen und ohne Zukunft im Dienstleistungsbereich. Oftmals als befriedigende Karriere bezeichnet von Leuten, die niemals eine gemacht haben.
Dag, zum Beispiel, beendete genau um zwei Uhr morgens seine Schicht in Larry’s Bar, wo wir beide als Barkeeper arbeiten. Während wir zusammen nach Hause gingen, ließ er mich mitten im Gespräch stehen, rannte über die Straße, wo er sich einen scharfen Stein schnappte und die Motorhaube und Windschutzscheibe eines Cutlass Supreme zerkratzte. Es war nicht das erste Mal, dass er aus einem Impuls heraus vandalisierte. Der Wagen war butterfarben und trug einen Aufkleber, auf dem stand: WIR VERPRASSEN DIE ERBSCHAFT UNSERER KINDER; eine Message, die Dag verärgerte, wie ich annehme, denn wenn er acht Stunden lang seinen McJob (wenig Bezahlung, Prestige, Würde und Aufstiegschancen) heruntergerissen hatte, war er immer gelangweilt und gereizt.
Ich wünschte, ich könnte Dags zerstörerische Neigung verstehen; ansonsten ist er so ein rücksichtsvoller Kerl, einmal führte es so weit, dass er eine Woche lang kein Bad genommen hat, weil eine Spinne ihr Netz in seiner Badewanne aufgespannt hatte.
»Ich weiß nicht recht, Andy«, sagte er und schlug meine Fliegengittertür zu, nachdem auch die Hunde hereingetrottet waren. In seinem weißen Hemd, mit der schiefen Krawatte, den Schweißflecken unter den Achseln, dem 48-Stunden-Bart und den grauen Schlabberdingern (»keine Hosen, sondern Schlabberdinger«) sah er aus wie die vom rechten Wege abgekommene Hälfte eines Prospekte verteilenden Mormonen-Duos.
Er stürzte sich fast umgehend, den Kopf voran wie ein brünstiger Elch, auf das Gemüsefach meines Kühlschranks, aus dem er verwelkte Römersalatblätter von der taubenetzten Oberfläche einer Flasche billigen Wodkas absammelte. »Ich weiß nicht, ob ich die alte Schrottkarre dafür bestrafen wollte, dass er mir meine Welt kaputtmacht, oder bin ich einfach sauer, in einer Welt zu leben, die so groß geworden ist, dass wir nicht mehr in der Lage sind, Geschichten über sie zu erzählen. Alles, was uns zur Verfügung steht, sind Leuchtreklame, Protzkarren und Stoßstangenaufkleber.« Er nahm einen gurgelnden Schluck aus der Flasche. »In jedem Fall fühle ich mich angesprochen.«
Es muss ungefähr drei Uhr morgens gewesen sein. Dag hatte sich in seinen Vandalismus hineingesteigert, und wir saßen beide auf den Couches in meinem Wohnzimmer und schauten dem Feuer zu, das im Kamin brannte, als kurz darauf Claire mit flatterndem nerzschwarzen Pagenschnitt (ohne anzuklopfen) hereinstürmte. Obwohl sie eher klein ist, wirkte sie eindrucksvoll, ein Effekt von Chic, der sich von ihrer Arbeit am Chanelstand des örtlichen I. Magnin Bekleidungshauses auf sie übertragen hatte.
»Eine furchtbares Treffen«, verkündete sie, woraufhin Dag und ich bedeutungsvolle Blicke austauschten. Sie schnappte sich in der Küche ein Glas mit irgendeinem geheimnisvollen Getränk und ließ sich auf das kleine Sofa plumpsen, die absehbare Verunstaltung ihres schwarzen Wollkleids durch die überall verteilten Hundehaare schien sie nicht zu kümmern.
»Pass auf, Claire, wenn es für dich zu hart ist, von deiner Verabredung zu erzählen, kannst du sie uns vielleicht mit ein paar Marionetten nachspielen.«
»Sehr lustig, Dag, wirklich sehr lustig. Gott noch mal. Noch so ein Warmduscher, noch so ein Körner-Dinner mit Evian-Mineralwasser. Und natürlich war er ebenfalls ein Survivalist, sprach die ganze Nacht über davon, nach Montana zu ziehen, und von den Chemikalien, die er in seinen Benzintank füllen würde, um alles vor der Zersetzung zu schützen. Ich kann so nicht weitermachen. Ich bin bald dreißig. Ich komme mir vor wie eine Comicfigur.«
Sie inspizierte mein sehr pragmatisch möbliertes (und keinesfalls umwerfendes) Zimmer, das nur von billigen Navajo-Indianerdecken etwas aufgelockert wird. Ihr Gesicht entspannte sich.
»Außerdem gab es bei diesem Treffen einen Tiefpunkt. Draußen auf dem Highway einhundertelf in Cathedral City gibt es einen Laden, der ausgestopfte Hühner verkauft. Wir hielten, und ich wurde schwach und wollte eins haben, weil die so niedlich waren. Aber Dan (so hieß er) sagte: ›Nein, Claire, du brauchst kein Huhn‹; woraufhin ich sagte: ›Darum geht es gar nicht, Dan. Der Punkt ist der, dass ich ein Huhn will.‹ Daraufhin hielt er mir eine grauenhaft langweilige Predigt: dass ich nur deshalb ein ausgestopftes Huhn wolle, weil sie im Schaufenster so schön aussähen, und dass ich von dem Augenblick, in dem ich es bekäme, nur darauf aus wäre, es zu entsorgen. Stimmt völlig. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ausgestopfte Hühner darstellen, worum es im Leben und bei neuen Beziehungen im Grunde geht, doch an irgendeinem Punkt brach meine Ausführung zusammen; und in der Luft hing dieser schreckliche Menschheitspessimismus, den man immer von diesen Pedanten vorgekaut bekommt, die denken, sie sprechen zu Halbtrotteln. Ich hätte ihn am liebsten abgemurkst.«
POVERTY JET SET:
Eine Gruppe von Leuten, die dem chronischen Reisen auf Kosten von Langzeitjob-Stabilität oder eines festen Wohnsitzes ergeben sind. Neigung zu verhängnisvollen und äußerst kostspieligen Telefonbeziehungen mit Leuten namens Serge oder llyana. Neigung zum Diskutieren von Vielflieger-Sparprogrammen auf Partys.
»Hühner?«, fragte Dag.
»Ja, Hühner.«
»Na ja.«
»Ja.«
»Gackgack.«
Das Gespräch wurde ziemlich blöde und trübsinnig, und nach ein paar Stunden zog ich mich auf die Veranda zurück, wo ich jetzt sitze, eventuelles Yuppiefett von den Schnauzen meiner Hunde zupfe und zusehe, wie das erste Rosa der aufgehenden Sonne das Coachella Valley färbt, das Tal, in dem Palm Springs liegt. Auf dem Gipfel eines entfernten Hügels kann ich das sattelförmige Haus von Bob Hope, dem Entertainer, ausmachen, das wie eine Uhr von Dali in die Felsen hineinschmilzt.
»Keratosenwetter«, verkündet Dag, als er herauskommt, den Salbeistaub von der wackeligen Holzveranda fegt und sich neben mich setzt.
»Völlig verkorkst, Dag«, sagt Claire, die sich an die andere Seite setzt und mir eine Decke um die Schultern legt (ich habe bloß Unterwäsche an).
»Überhaupt nicht verkorkst. Du solltest dir wirklich mal gegen Mittag die Feldwege um das Patio-Restaurant Rancho Mirage herum ansehen. Da lassen die Leute ihre Pusteln wie Kopfschuppen fallen, und wenn du drübergehst, hast du das Gefühl, auf einer Unterlage aus Knusperreis zu spazieren.«
Ich sage: »Seht …«, und wir schauen alle fünf (die Hunde eingerechnet) nach Osten. Mich fröstelt, und ich wickele mich fester in meine Decke. Heutzutage scheint alles der Hölle zu entspringen: Verabredungen, Jobs, Partys, das Wetter … Könnte es sein, dass wir nicht länger an einen besonderen Ort glauben, uns allen wurde der Himmel zu Lebzeiten versprochen, was schließlich dabei herausgekommen ist, ist im Vergleich dazu einfach erbärmlich.
Irgendjemand wurde die ganze Zeit lange beschissen, denke ich.
Dag und Claire lächeln oft, wie so viele Leute, die ich kenne. Und ich habe mich immer gefragt, ob ihr Lächeln etwas Mechanisches oder Boshaftes hat, denn in der Art, wie sie die Oberlippe hochschieben, liegt nichts Falsches, aber etwas Schützendes. Wie ich so mit den beiden dasitze, kommt mir eine unbedeutende Eingebung. Und zwar, dass das Lächeln, das sie im täglichen Leben aufsetzen, dem gleicht, das Leute aufsetzen, die in aller Öffentlichkeit auf einem New Yorker Bürgersteig von Kreditkartenhaien geschröpft worden sind; gutmütige Leute, aber nichtsdestoweniger geschröpfte, die lächeln, weil sie aufgrund gesellschaftlicher Konventionen nicht imstande sind, ihren Zorn rauszulassen, und weil sie sich nicht als schlechte Verlierer zeigen wollen. Ein flüchtiger Gedanke.
Der erste Sonnenstrahl fällt über den Lavendelberg von Joshua, aber wir drei sind ein wenig zu cool, stehen uns selbst im Weg; wir können uns dem Moment nicht so leicht hingeben. Dag fühlt sich gemüßigt, das aufblendende Licht mit einer Frage zu begrüßen:
»Woran denkt ihr, wenn ihr die Sonne seht? Schnell. Bevor ihr zu lange darüber nachdenkt und eure Antwort verderbt. Seid ehrlich und unheimlich. Claire, du zuerst.«
HISTORICAL UNDERDOSING:
In einer Zeit zu leben, in der nichts zu passieren scheint. Hauptsächliches Symptom: süchtig nach Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehnachrichten.
HISTORICAL OVERDOSING:
In einer Zeit zu leben, in der allzu viel zu passieren scheint. Hauptsächliches Symptom: süchtig nach Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehnachrichten.
Claire versteht sofort: »Also, Dag, ich sehe einen Farmer in Russland, der mit einem Traktor durch ein Weizenfeld fährt. Aber das Sonnenlicht zeigt keine Wirkung, wie bei einem verblichenen Schwarzweißfoto aus einem alten Life-Magazin. Hinzu kommt noch ein weiteres seltsames Phänomen: Die Sonne strahlt nicht, sondern verströmt den Geruch von alten Life-Magazinen, und dieser Geruch zerstört das Getreide. Während wir hier miteinander sprechen, lichtet sich der Weizen. Der Bauer ist über das Lenkrad seines Traktors gesunken und weint. Sein Weizen stirbt durch Geschichtsvergiftung.«
»Gut, Claire. Schön unheimlich. Und was ist mit dir, Andy?«
»Lass mich einen Moment überlegen.«
»Okay, dann mache ich weiter. Wenn ich an die Sonne denke, fällt mir ein australisches Surfer-Häschen ein, vielleicht achtzehn Jahre alt, irgendwo am Bondi Beach, das auf seinem Schienbein gerade das erste Karzinom entdeckt. Innerlich schreit sie auf und überlegt, wie sie ihrer Mutter Valium klauen kann. Aber jetzt musst du mir sagen, was dir einfällt, wenn du die Sonne siehst, Andy.«
Ich weigere mich, an diesen Entsetzlichkeiten teilzunehmen, lehne es ab, Leute in meine Vision einzubeziehen. »Ich denke an diesen Ort in der Antarktis, der Lake Vanda heißt und wo seit über zwei Millionen Jahren kein Regen mehr gefallen ist.«
»Das ist doch schön. Ist das alles?«
»Ja, das ist alles.«
Es entsteht eine Pause. Und was ich nicht sage, ist, dass es dieselbe Sonne ist, die mich an Königsmandarinen denken lässt, an taumelnde Schmetterlinge und an träge Karpfen. Außerdem an die ekstatischen Tropfen des Granatapfelsafts, die aus den Hautritzen der Früchte hervorsickern, die an den Ästen des Baumes nebenan verfaulen; Tropfen, die wie Rubine an ihrem alten braunen, ledernen Ursprungsort hängen und auf die intensive, eierstockartige Fruchtbarkeit im Innern hinweisen.
Die Verschanzung hinter der Coolness ist auch für Claire zu viel. Sie bricht das Schweigen und sagt, es sei nicht gesund, das Leben als eine Abfolge einzelner, netter kleiner Momente zu leben. »Entweder unser Leben wird zu einer Geschichte oder es gibt einfach keinen Weg da durch.«
Ich stimme zu. Dag auch. Wir wissen, dass wir genau aus diesem Grund unser altes Leben hinter uns gelassen haben und in die Wüste gekommen sind: um Geschichten zu erzählen und damit unsere Lebensgeschichten es am Ende wert sind.
»Sich ausziehen.«
»Zu sich selbst sprechen.«
»Aus dem Fenster schauen.«
»Masturbieren.«
Ein Tag ist vergangen (eigentlich noch nicht einmal zwölf Stunden), und wir rattern alle fünf die Indian Avenue entlang, hinauf in die Berge zu unserem Nachmittags-Picknick. Wir sitzen in Dags syphilitischem Saab, einem reizenden roten alten Blechkasten, einem Modell von der Art, wie sie in Disney-Comics an den Fassaden der Hochhäuser entlangfahren, zusammengehalten von Eisstielen, Kaugummi und Klebeband. Im Auto spielen wir ein Schnelligkeitsspiel, bei dem wir auf Claires Signal »alle Tätigkeiten aufzählen, die man allein in der Wüste macht«.
»Mit der Polaroidkamera Nacktaufnahmen machen.«
»Kleinkram und Schrott horten.«
»Mit einer Schrotflinte diesen Kram in viele kleine Stücke schießen.«
»Hey«, ruft Dag, »das ist fast ’n bisschen wie im normalen Leben, findet ihr nicht?« Der Wagen rollt dahin.
»Manchmal«, sagt Claire, als wir am I. Magnin Kaufhaus, wo sie arbeitet, vorbeifahren, »befällt mich bei der Arbeit dieses komische Gefühl, wenn ich die endlose Woge aus grauem Haar betrachte, die sich über Schmuck und Parfum hermacht. Es kommt mir vor, als sähe ich einen riesigen Esstisch, umringt von Hundertschaften gefräßiger Kinder, die dermaßen verwöhnt und ungeduldig sind, dass sie nicht einmal warten können, bis das Essen zubereitet ist. Wie unter Zwang strecken sie die Hände nach den lebenden Tieren auf dem Tisch aus und saugen die Nahrung direkt aus ihnen heraus.«
Okay, ich weiß. Dies ist ein grausames, einseitiges Urteil über das, was Palm Springs wirklich ist: eine Kleinstadt, in der alte Leute versuchen, ihre Jugend zurückzukaufen und ein paar Sprossen der sozialen Leiter dazu. Getreu dem Motto: Wir verwenden unsere Jugend, um Wohlstand zu erlangen, und dann unseren Wohlstand, um jung zu bleiben. Palm Springs ist wirklich kein schlechter Ort, sogar zweifellos bezaubernd: Immerhin lebe ich hier.
HISTORICAL SLUMMING:
Das Aufsuchen von Lokalen wie beispielsweise Schnellrestaurants, rußgeschwärzten Arbeiterkneipen und ländlichen Dorfschenken, in denen die Zeit über viele Jahre hinweg stehengeblieben zu sein scheint; und die anschließende Erleichterung, »in die Gegenwart« zurückkehren zu können.
BRAZILIFIKATION:
Die sich verbreiternde Kluft zwischen Reichen und Armen und das damit einhergehende Verschwinden des Mittelstandes.
VACCINATED TIME TRAVEL:
Phantasieren über Reisen zurück durch die Zeit, aber nur mit angemessenen Impfungen.
Aber der Ort bereitet mir auch Kopfschmerzen.
In Palm Springs gibt es kein Wetter – genau wie im Fernsehen. Es gibt auch keine Mittelklasse, und so gesehen ist der Ort mittelalterlich. Dag sagt, dass jedes Mal, wenn irgendwo auf der Welt jemand eine Büroklammer benutzt oder Weichspüler oder sich im Fernsehen eine Wiederholung von »Hee Haw« ansieht, einer der Anwohner hier im Coachella Valley einen Penny einnimmt. Er hat wahrscheinlich recht.
Claire fällt auf, dass die reichen Leute hier die Armen dafür bezahlen, die Dornen von den Kakteen zu schneiden.
»Ich habe auch bemerkt, dass sie eher dazu neigen, ihre Zimmerpflanzen wegzuwerfen, als sie zu pflegen. O Gott, stell dir vor, wie ihre Kinder erst sein müssen.«
Nichtsdestoweniger haben wir uns entschieden, hier zu leben, denn die Stadt ist zweifellos ein ruhiger Zufluchtsort vor dem Leben in der Masse des Mittelstandes. Und gewiss wohnen wir nicht in einer der schönsten Gegenden, die die Stadt zu bieten hat.
Keineswegs. Es gibt hier Gegenden, in denen du, wenn du auf einem kurzgeschnittenen Bermuda-Rasenstück etwas aufblitzen siehst, davon ausgehen kannst, dass dort ein Silberdollar liegt. Dort, wo wir wohnen, in unseren kleinen Bungalows, zwischen denen ein kleiner Garten mit einem nierenförmigen Swimmingpool liegt, bedeutet ein Aufblinken im Gras eine zerbrochene Scotchflasche oder eine Kolotomietüte, die von den behandschuhten Klauen des Müllmanns gemieden wurden.
Der Wagen fährt eine lange Strecke in Richtung Highway, und Claire drückt einen der Hunde an sich. Er hat seinen Kopf zwischen den beiden Vordersitzen hervorgeschoben. Wohlerzogen, aber hartnäckig buhlt der Kopf um Aufmerksamkeit. Sie predigt in die schwarzen Hundeaugen: »Du süßes kleines Geschöpf. Du musst dir keine Gedanken über Snowmobile oder Kokain oder ein drittes Haus in Orlando, Florida, machen. Das ist gut so. Nein, du brauchst das nicht. Du willst nur ein bisschen den Kopf getätschelt haben.«
Der Hund setzt diesen heiteren, hilfsbereiten Blick eines Hotelpagen in einem fremden Land auf, der kein Wort von dem versteht, was du sagst, dabei aber noch auf Trinkgeld wartet.
»Das ist gut so. Du würdest dir nicht so viele Gedanken um Dinge machen wollen. Und weißt du auch, warum?« (Der Hund stellt seine Ohren bei der Betonung auf und erzeugt so die Illusion, dass er versteht. Dag besteht darauf, dass insgeheim alle Hunde Englisch sprechen und den Glauben der Unitarierkirche unterstützen. Claire wendet ein, es sei eine Tatsache, dass, als sie in Frankreich war, die Hunde Französisch gesprochen hätten.) »Weil die Dinge am Ende die Oberhand gewinnen und dir eins reinwürgen. Sie erinnern dich nur daran, dass alles, was du mit deinem Leben anfängst, darauf hinausläuft, Dinge zu sammeln. Nichts anderes.«
Wir leben unser kleines Leben an der Peripherie; wir sind an den Rand gedrängt, und es geht etwas Wichtiges vor, an dem wir lieber nicht teilnehmen wollen. Wir haben Stille gesucht, und jetzt haben wir diese Stille. Wir kamen hierher, übersät mit Wunden und Geschwüren, mit derart verknoteten Eingeweiden, dass wir niemals geglaubt hätten, wir würden sie je wieder bewegen können. Unser Organismus hatte ausgesetzt, alles war verstopft durch die Ausdünstungen von Fotokopierern, Tipp-Ex und Klebestreifen, durch den endlosen Stress sinnloser Jobs, die wir unwillig und unter wenig Anerkennung ausführten. Wir litten unter Zwängen, die uns konfus, aber kreativ Shoppen gehen, Beruhigungspillen schlucken und in dem Glauben ließen, dass das Ausleihen von Videokassetten am Samstagabend schon genug sei. Aber jetzt, da wir hier in der Wüste leben, läuft alles viel, viel besser.
Beim Treffen der Anonymen Alkoholiker werden dir die ehemaligen Saufkumpane böse, wenn du dich nicht vor der Zuhörerschaft auskotzt. Damit meine ich: Rede dir alles von der Leber, spuck diese verrotteten Körbe voller Verwesung aus und töte die Mechanismen, die auf dem Grund unseres persönlichen Gewässers wurzeln. AA-Mitglieder wollen Horrorgeschichten darüber hören, wie tief du im Leben gesunken bist, und nichts ist ihnen tief genug. Geschichten über Misshandlung in der Ehe, über Unterschlagung und Ausschweifungen in der Öffentlichkeit werden gern gehört und regelrecht verlangt. Ich weiß das, weil ich an diesen Treffen teilgenommen (düstere Einzelheiten über mein eigenes Leben werden zu einem späteren Zeitpunkt folgen), den Prozess der Selbsterniedrigung in voller Aktion gesehen und mich darüber geärgert habe, dass ich keine schmutzigen Geschichten über meine eigenen Ausschweifungen mitzuteilen hatte.
»Scheu dich nicht, ein bisschen aus der kaputten Lunge zu husten«, sagte ein Mann, der bei einem der Treffen neben mir saß, ein Mann mit einer Haut, die wie eine nicht ganz durchgebackene Pastetenkruste aussah, und der fünf erwachsene Kinder hatte, die keinen seiner Anrufe mehr erwiderten: »Wie sollen sich die Leute jemals selbst helfen, wenn sie sich nicht auf ein Bruchstück deiner Verdorbenheit stürzen können? Die Leute wollen so ein kleines Stück, sie brauchen es. So ein kleines bisschen Auswurf lässt ihnen ihre eigenen Trümmer weniger schrecklich erscheinen.«
Ich bin immer noch auf der Suche nach einer ähnlich lebendigen Form, Geschichten zu erzählen. Diese Treffen stachelten mich an, meine »Gutenachtgeschichten« mit Dag und Claire auch mit solcher Kunstfertigkeit rüberzubringen.
Es ist ganz einfach: Wir lassen uns Geschichten einfallen und erzählen sie einander. Die einzige Regel ist, dass wir einander, wie bei den AA, nicht unterbrechen und am Ende nicht kritisieren dürfen. Die unkritische Atmosphäre macht es uns leichter, denn wir sind bei der Offenbarung unserer Gefühle doch ziemlich verspannt. Nur eine solche Klausel lässt uns miteinander sicher fühlen. Claire und Dag stiegen in das Spiel ebenso selbstverständlich ein wie Entenküken in den Fluss.
»Ich bin fest davon überzeugt«, sagte Dag einmal ganz zu Anfang, vor Monaten, »dass alle auf der Welt ein tiefes, dunkles Geheimnis haben, das sie, solange sie leben, nie einer Menschenseele anvertrauen werden; weder ihren Ehefrauen oder Männern noch ihren Liebhabern oder Priestern. Niemals.
Ich habe mein Geheimnis. Du hast deines. Jawohl, das hast du – lach ruhig. Gerade jetzt denkst du an dein Geheimnis. Na los, komm, spuck’s aus. Was ist es? An deiner Schwester rumgefummelt? In der Gruppe abgespritzt? Den Geschmack deiner Kacke probiert? Mit einem Fremden einen losgemacht, weil das viel aufregender ist? Einen Freund verraten? Du brauchst es mir nur zu sagen. Vielleicht hilfst du mir damit, ohne es zu wissen.«
Jedenfalls sind wir heute losgezogen, um uns beim Picknick Gutenachtgeschichten zu erzählen, und biegen von der Indian Avenue auf den Interstate 10 Freeway in Richtung Westen ab. Wir sitzen in dem alten roten, abgewrackten Saab, am Steuer Dag, der uns klarmacht, dass die Passagiere in seinem kleinen roten Wagen eigentlich nicht »gefahren«, sondern vielmehr »motorisiert« werden: »Wir werden zu unserem Picknick in der Hölle hinmotorisiert.«
Die Hölle ist die Stadt West Palm Springs Village, ein ausgeblichenes und entlaubtes Farbcomic der Feuersteins, eine misslungene Ansammlung von Häusern aus den Fünfzigern. Die Stadt, in der es immer stickig und heiß ist, liegt auf einem Hügel, ein paar Meilen oberhalb des Tals. Durch das Tal windet sich das blechern schimmernde Band des Interstate 10, das sich von San Bernardino im Westen bis hinüber nach Blythe und Phoenix im Osten erstreckt.
In einer Gegend, in der jedes Grundstück heiß begehrt und vollständig erschlossen ist, stellt West Palm Springs Village eine echte Seltenheit dar: eine moderne, fast völlig verlassene Geisterstadt, abgesehen von einigen wenigen beherzten Seelen in Airstream-Wohnwagen und Wohnmobilen, die uns bei unserer Ankunft vom Begrüßungsposten der Stadt aus – einer verlassenen Texaco-Tankstelle, umgeben von einem Drahtzaun und einer Reihe abgestorbener, schwärzlicher Washingtonpalmen, die aussehen, als habe man sie mit Entlaubungsgas bombardiert – vorsichtig im Auge behalten.
»Hier sieht es aus«, sagt Dag, als wir mit der Geschwindigkeit eines Leichenwagens an der Tankstelle vorbeifahren, »als hätten sich damals, sagen wir achtundfünfzig, Buddy Hackett, Joey Bishop und ein Haufen von Entertainern aus Las Vegas zu einer Bande zusammengerottet, um hier eine schöne Stange Geld herauszuschlagen. Dann hat wahrscheinlich der entscheidende Geldgeber das Projekt platzen lassen, und die ganze Stadt starb einfach aus.«
Aber ich wiederhole, das Dorf ist noch nicht völlig tot. Ein paar Leute leben hier, und diese paar Kavalleristen haben einen herrlichen Blick auf die Windmühlen-Ranch, die unter ihnen am Highway liegt; Zehntausende von Turbo-Propellern auf Masten, ausgerichtet nach dem Mount San Gorgonio, einem der windigsten Orte Amerikas. Ursprünglich sind sie als Trick zur Steuerersparnis nach der Ölkrise ersonnen worden, und die einzelnen Flügel sind so gewaltig, dass sie einen Mann ohne Weiteres in zwei Teile spalten könnten. Kurioserweise stellte sich heraus, dass sie nicht nur für Steuerabschreibungen taugten. Die geräuschlos erzeugten Volts lieferten auch Energie für die Klimaanlagen in der Entziehungsanstalt und für die Cellulite-Absaugemaschinen in der langsam aufblühenden industriellen Schönheitschirurgie.
DEKADENMIXTUR:
Bei Kleidung: das wahllose Kombinieren von zwei oder mehr Artikeln aus verschiedenen Jahrzehnten, um einen eigenen Stil zu kreieren. Sheila = Mary-Quant-Ohrringe (60er) + Schuhe mit keilförmigen Plateausohlen aus Kork (70er) + schwarze Lederjacke (50er und 80er)
Claire trägt heute Kaugummi-Caprihosen, eine ärmellose Bluse, Schal und Sonnenbrille à la übergangenes Starlet. Sie liebt den Retro-Look und hat uns einmal verraten, wenn sie Kinder haben sollte: »gebe ich ihnen völlig altmodische Namen wie Madge oder Verna oder Ralph. Namen, wie sie die Leute in Schnellrestaurants haben.«
Dag seinerseits trägt eine fadenscheinige Leinenhose, ein weiches Smokinghemd aus Baumwolle und dazu Mokassins ohne Socken – eine reduzierte Variante seines üblichen schlampigen Mormonenlooks. Er starrt ohne Sonnenbrille in die Sonne wie ein Wiedergänger von Huxley oder von Monty Clift, der sich auf eine Rolle vorbereitet und versucht, von den Drogen herunterzukommen.
»Warum haben tote Berühmtheiten nur so einen schrecklich hohen Unterhaltungswert?«, fragen meine beiden Freunde.
Und ich? Ich bin einfach ich selbst. Ich bin anscheinend nicht fähig, »Zeit durch die Farbgebung« in meine Kleidung einzubringen, wie Claire es tut, ebenso unfähig zur »Ausschlachtung einer Zeit«, wie Dag den Vorgang nennt. Ich habe genug damit zu tun, einfach jetzt zu sein. Ich kleide mich, um nicht aufzufallen, um mich zu verbergen, um der Gattung zu entsprechen. Zur Tarnung.
Nach einigen Streifzügen durch häuserlose Straßen wählt Claire die Ecke Cottonwood und Sapphire Avenue für unser Picknick, nicht etwa weil es dort etwas Besonderes gäbe (was wirklich nicht der Fall ist, es ist lediglich eine bröckelige Asphaltstraße, die von ein paar Salbei- und Kreosotbüschen zurückerobert wird), sondern eher deshalb: »Wenn du dich wirklich anstrengst, kannst du beinahe fühlen, wie optimistisch die Pioniere gewesen sein müssen, als sie diesem Ort seinen Namen gaben.«
Die Kofferraumklappe schlägt zu. Hier, an dieser Stelle, wollen wir Hühnerbrust essen, Eistee trinken und mit übertriebener Dankbarkeit die Stöckchen und die Fetzen Schlangenhaut, die uns die Hunde anschleppen, entgegennehmen. Und wir werden einander unter der heißen, flimmernden Sonne unsere Gutenachtgeschichten erzählen, in der Nachbarschaft dieser verwaisten Straßenzüge, die in ihrem verzweigten Universum möglicherweise einst anmutige Wüstenhäuser einiger Filmstars wie William Holden oder Grace Kelly in sich bargen. In solchen Häusern wären meine beiden Freunde, Dagmar Bellinghausen und Claire Baxter, außerordentlich gern gesehen gewesen, zum Schwimmen, zum Tratschen und zum Schlürfen eisgekühlter Rumcocktails von der Farbe eines Hollywood-Sonnenuntergangs.
Aber das war ein ganz anderes Universum als dieses hier. Hier essen wir drei lediglich einen abgepackten Lunch, auf dem dürren Boden eines so leeren Landes, dass alles, was sich auf der atmenden, heißen Kruste niederlässt, zum Gegenstand von Ironie wird. Und hier, unter der großen weißen Sonne, kann ich Dag und Claire dabei beobachten, wie sie so tun, als bewohnten sie jene andere, freundlicher gesinnte Welt.
Dag sagt, er sei eine Lesbierin, gefangen im Körper eines Mannes. Man stelle sich das vor. Wenn man ihn so betrachtet, wie er hier draußen in der Wüste seine Filterzigarette raucht, der Schweiß auf seinem Gesicht ebenso schnell verdunstet, wie er ausbricht – im Hintergrund sitzt Claire auf der Kofferhaube des Saab und führt die Hunde mit Hühnerfleischstücken an der Nase herum –, denkt man unweigerlich an die ausgeblichenen Kodakschnappschüsse vergangener Dekaden, die man überall in Schuhkartons auf dem Dachboden findet. Jeder kennt diese Bilder, im Hintergrund ein großes, blasses Auto, und die Klamotten der Leute wirken immer erstaunlich zeitgemäß. Beim Betrachten wird einem schlagartig bewusst, wie lieb und traurig und unschuldig alle Momente des Lebens durch das Klicken der Kamerablende werden, denn in dem Augenblick ist uns die Zukunft noch unbekannt, sie muss uns erst noch verletzen. Außerdem werden für diesen kurzen Augenblick unsere Posen als echt akzeptiert. Während ich Dag und Claire betrachte, wie sie so in der Wüste herumhängen, wird mir auch klar, dass das, was ich über mich und meine beiden Freunde bislang gesagt habe, nicht sonderlich aussagekräftig ist. Also ist es an der Zeit, ein paar Worte mehr über uns zu verlieren. Es ist Zeit für Fallstudien. Ich werde mit Dag beginnen.
Dags Wagen hielt vor einem Jahr direkt neben meinem Bungalow. Seine Ontario-Nummernschilder waren bedeckt mit einer Senfkruste aus Oklahomastaub und Insekten aus Nebraska. Als er die Tür aufmachte, fiel ein Haufen Krimskrams aus dem Wagen, darunter eine Flasche Parfum, Chanel Crystalle. Sie zerbrach auf dem Pflaster. (»Lesbierinnen lieben Crystalle, weißt du, es ist so dynamisch, so sportlich.«) Ich habe nie herausgefunden, wofür das Parfum gedacht war, aber seit damals ist das Leben hier in der Gegend bedeutend interessanter.
Kurz nachdem Dag hier angekommen war, half ich ihm, sowohl eine Unterkunft – einen leeren Bungalow zwischen meinem und Claires – als auch einen Job zu finden, in Larry’s Bar, wo er nach kurzer Zeit die ganze Szene unter Kontrolle hatte. Einmal zum Beispiel wettete er mit mir um fünfzig Dollar, er könnte die Einheimischen – einen deprimierenden Haufen aus Zsa-Zsa-Typen neben mittelmäßigen Motorradfreaks, die oben in den Bergen kesselweise LSD brauen, mitsamt ihren Tussis, die blassgraue Bandentätowierungen auf den Knöcheln tragen und den erschreckenden Teint ausrangierter, im Regen vergessener Schaufensterpuppen haben –, er wettete also, er könnte sie alle dazu bringen, mit ihm zusammen »It’s a Heartache« zu singen, eine grässliche, zeitlose schottische Schnulze, die nie aus der Jukebox genommen wird, solange die Nacht nicht vorüber ist. Der Gedanke war viel zu dämlich, als dass man ihn hätte ernst nehmen können, also schlug ich ein. Ein paar Minuten später stand ich draußen im Flur und führte ein Ferngespräch, direkt unter den an die Wand gepinnten indianischen Pfeilspitzen. Plötzlich, ich traute meinen Ohren nicht, dröhnte aus der Bar das unmelodische Gejaule und Geblöke der Meute, in Begleitung schwingender Bienenkorb-Frisuren und wächserner, spiddeliger Motorradfahrerarme, die arrhythmisch zur Musik herumfuchtelten. Daraufhin gab ich Dag, nicht ohne Bewunderung, seinen Fünfziger, während ihn ein schreckenerregender Motorradfahrer umarmte (»Ich liebe diesen Kerl!«) –, und sah ihm zu, wie er den Schein in seinen Mund schob, ein wenig kaute und hinunterschluckte.
»Hey, Andy, du bist, was du isst.«
Die Leute sind vorsichtig, wenn sie Dag das erste Mal treffen, in der gleichen Art, in der Prärievolk vorsichtig Seeluft schnuppert, wenn sie ihm an der Küste des Ozeans zum ersten Mal in die Nase steigt. »Er hat Augenbrauen«, sagt Claire, als sie ihn am Telefon einer ihrer zahlreichen Schwestern beschreibt.
Dag hatte in der Werbung (genauer gesagt: im Marketing) gearbeitet, bevor er nach Kalifornien kam. Er stammt aus Toronto in Kanada, einer Stadt, die mir bei einem Besuch den Eindruck von Leistungsfähigkeit und Ordnung vermittelte, als wären die Gelben Seiten dreidimensional zum Leben erweckt worden, gespickt mit Bäumen und durchzogen von kalten Wasseradern.
»Ich glaube nicht, dass ich ein liebenswerter Kerl war. Ich war einer dieser Angeber, die man jeden Morgen in ihren Sportwagen ins Bankenviertel fahren sieht; so ein Typ mit offenem Dach, eine Baseballmütze auf dem Kopf, überheblich und selbstzufrieden mit seinem unternehmungslustigen und knackigen Aussehen. Ich war erregt und fühlte mich ziemlich geschmeichelt bei dem Gedanken, dass die meisten Hersteller von Lifestyle-Accessoires der westlichen Welt mich als die heißeste Zielgruppe auf dem Markt ansahen. Aber schon bei der geringsten Provokation hätte ich mich sofort für meine Arbeit entschuldigt – dafür, dass ich von acht bis fünf vor einem spermaauflösenden VDT-Computer saß und abstrakte Aufgaben löste, die indirekt die Dritte Welt versklaven. Aber hinterher, Mensch!
Sobald es fünf war, war ich nicht mehr zu halten! Ich strich mein Haar glatt, trank Bier, das in Kenia gebraut wurde, band mir eine Fliege um, hörte alternativen Rock und zog durch die Bars im schicken Teil der Stadt.«