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Das Wunder von Iguazú
Der junge Mann mit dem sonnengebräunten Gesicht beugt seinen Kopf über den Matebecher, und das Glänzen der silbernen bombilla – des Trinkrohrs – verschwindet abrupt, als sein Kopf das Licht verdrängt. Er saugt den Tee mit einem lauten Schlürfen auf, wobei sich seine stahlblauen Augen für einen kurzen Augenblick genussvoll schließen. An den übrigen Tischen diskutieren aufgebrachte Studenten den Wahlausgang von vor zwei Wochen – wenn nicht Schlimmeres. Es ist heiß und stickig im Raum. Die Deckenlampen und die Sitzgarnituren aus Kunststoffbezug sind mattgrün. Die Rücken bleiben an den Sitzen kleben und wenn man aufsteht, lösen sie sich mit dem Geräusch von Heftpflaster.
Ich lasse mir von einem der klapprig trudelnden Deckenventilatoren warme Luft um die Nase wehen und kaue auf dem nächsten unwiderstehlichen Bissen, den ich aus dem telefonbuchdicken Steak auf meinem Teller geschnitten habe. Schwarze Spuren des Grillrosts malen sich über saftige Brauntöne, im Innern aber ist das Fleisch noch rosarot. Als ob dieses Steak aus einem grasenden Tier geradewegs auf den Grill geschnitten worden sei. Diese romantische Vorstellung trügt, erst gestern las ich einen Zeitungsartikel über die Umbrüche der Fleischindustrie. Argentinien wendet sich auf Grund der weiter steigenden Nachfrage mehr und mehr von einer Viehwirtschaft im traditionellen Sinne ab. Die Zahl der Massenbetriebe nimmt stetig zu, nur ein minimaler Anteil des verzehrten Rindfleisches stammt heutzutage noch von den ausufernden Weiden der Pampas. Ja, es gibt sie noch immer, diese schier endlosen Weidegründe – entweder im weitläufigen Nordosten oder aber im weit entfernten Patagonien – doch bewirtschaften sie heute zu einem Großteil nur noch die jeweilige Region, und versorgen somit sich selbst. Buenos Aires, Santa Fé, Mendoza, Cordoba und auch Rosario benötigen unvorstellbare Mengen an Fleisch. Daher werden Großbetriebe, die schnell und ohne ökologischen Heiligenschein auf Massenproduktion setzen, seitens der Regierung finanziell unterstützt. Die Menschen schreien nach Rindfleisch: Bis zu sechsundfünfzig Kilo Rind verspeist der Argentinier im Durchschnitt, Jahr für Jahr, Stück für Stück, Tier für Tier.
An meinem Tisch schmecke ich von diesem Traditionsverfall herzlich wenig. Das Steak schmeckt besser als irgendein anderes Fleisch, das ich bisher in meinem Leben probiert habe. Dazu ein großes Bier und ein grüner Salat. Kugelrund klebe ich auf meinem grünen Sitz fest, als ein junges Paar sich zu mir an den Tisch gesellt. Der Laden ist rappelvoll, da ist es hier nichts Ungewöhnliches, alle neuen Gäste auf sämtliche noch freien Plätze zu verteilen. Ich betrachte meine Tischgenossen. Sie erinnert mit ihren blauschwarzen, glattgebürsteten und ellenlangen Haaren und einem schmal geschnittenen, edlen Profil, an die hiesigen indigenen Vorfahren, deren Blut sich über Jahrhunderte mit den Neuankömmlingen vermischte. Daraus ging ein heißblütiger, leidenschaftlicher und sehr attraktiver Menschenschlag hervor. Sein Großvater hingegen scheint mir in Neapel oder Rom den Teig für die Spaghetti noch höchstpersönlich mit starken Händen geknetet zu haben, so sehr erinnern sein Aussehen und extrovertiertes Auftreten an die Bewohner vom weit entfernten italienischen Stiefel. Nachdem sie sich erkundigt haben, woher ich komme und wohin ich gehe, stellen auch sie ihre Matetasse und zwei Becher vor sich ab, um die Wartezeit auf ihre Steaks zu verkürzen.
»Schau mal«, erklärt mir Luciano in Ruhe, »zuerst füllst du den Becher bis zu zwei Dritteln mit dem Tee.« Er schaufelt das krautartige, stark duftende Blattwerk hinein. »Nun gießt man den Becher mit heißem Wasser auf. Aber Vorsicht! Das Wasser muss zwar heiß sein, aber es darf nicht mehr kochen.«
»Warum darf es nicht kochen?«
»Es würde die Aromen zerstören. Es verbrüht sie, kann man sagen.« Derweil füllt er den Becher ruhig und konzentriert mit dem Wasser, dann nimmt er die etwa zwanzig Zentimeter lange bombilla und stampft ein wenig in dem Gebräu herum.
»Der erste Becher ist zu bitter, um ihn zu trinken«, meldet sich die junge Frau zu Wort. Sie heißt Praia. »Wir spucken ihn aus.«
Sie überlässt Luciano diese ehrenvolle Aufgabe und nach dem zweiten Becher, den Luciano schon normal trinkt, schiebt er den Becher an mich – den Gast – hinüber. So fordert es die Tradition. Ich schlürfe den heißen Tee und achte dabei darauf, den Becher auch ganz zu leeren. Auch dies gehört zur Tradition. Es schmeckt bitter und herb, und trotz des kleinen, gitterartigen Filters am Ende der bombilla gelangen einige kleine Blattreste Tee in meinen Mund. Doch mit der Zeit gewöhnt man sich als Fremder daran. Ich meine, seit etwa 1536, als der Spanier Pedro de Mendoza durch den Dschungel irrte, schlürfen sie auf diese Art ihren Tee, und wer wäre ich bitteschön, diese lange Tradition des Schlürfens und Blätterschluckens zu hinterfragen?
Es ist bereits dunkel, als ich das mit Lachen und Matebechern gefüllte Lokal verlasse. Um meinem vollen Bauch etwas Bewegung zu verschaffen, gehe ich auf gut Glück am Ufer des Río Paranà entlang. Es ist November – folglich Frühsommer – und so kann man auch abends noch getrost im Hemd gehen, ohne zu frieren. An einer Flussbiegung im Zentrum befindet sich die größte Attraktion der Stadt, die Scharen von Argentiniern anlockt. Das Monumento Nacional a La Bandera beherbergt die sterblichen Überreste von Manuel Belgrano, Erfinder der blau-weiß-blau gestreiften Nationalflagge. Überdimensional und mit epochaler Wucht liegt das Monument hinter einer Reihe künstlicher Wasserläufe. Die Farbkombination ist in der ganzen Stadt omnipräsent, man kann ihr kaum entkommen. Ebenso wenig wie den beiden Legenden, die hier in Rosario geboren wurden. Der eine lebt und spielt seit Jahren in Barcelona, trägt die Rückennummer 10 und ist für viele Zuschauer, selbst ernannte Experten und auch für mich persönlich der Beste, den es im Fußball jemals gegeben hat: Lionel Messi. Sein Talent, seine Sololäufe, kombiniert mit seinem verhältnismäßig zurückhaltenden Auftreten in der medialen Öffentlichkeit – all das macht ihn zu einer Ikone für Fußballer auf der ganzen Welt.
Der zweite Mann ist eine noch größere Ikone, insbesondere für viele Menschen, die in ihrem eigenen Leben so wenig tun. Die Rede ist von Ernesto Rafael Guevara de la Serna, oder kurz: Che Guevara. Er hat sein Leben für eine Idee, für eine Weltvorstellung gegeben, die vom Lauf der Geschichte verschluckt worden ist. Nichtsdestotrotz hält der mystische, der faszinierende Ruf Guevaras an. Kein Wunder. Lenin, Mao, Honecker waren gruselige, alte Figuren mit verbitterter Mimik und der Ausstrahlung eines alternden Orthopäden in einem ostwestfälischen Bezirkskrankenhaus. Che Guevara aber verband die Ideologie und den rebellischen Kampf mit der Sexyness der Latinos, eine brennende Zigarre im Mund, ein abendlicher Rum mit den Leid- und Kampfgenossen. Das ehemalige Geburtshaus besuche ich am Tag darauf, und es zieht mir vor Schreck die Schuhe aus. Es steht zur Linken eines teuren Hotels, zur Rechten ist im Untergeschoss eine Bank untergebracht. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Guevara ein solches Bild vor Augen hatte, als er einst im bolivianischen Dschungel getötet wurde. Wo immer sein Geist auch umherschweifen mag, … ich hoffe, er nimmt es ironisch.
Nun aber wird es höchste Zeit für die nächste und erste richtig lange Busfahrt meiner Reise. Das hiesige Bussystem deckt nahezu jeden Winkel des riesigen Landes ab und ist einfach zu durchschauen. Für viele Argentinier fungiert der Bus und nicht das vergleichsweise teure Flugzeug als wichtigstes Verkehrsmittel, um die für europäische Verhältnisse aberwitzigen Entfernungen im achtgrößten Land der Erde zu überwinden. So nehme ich am Sonntagabend im unteren Teil eines modernen Doppeldeckerbusses Platz, der mich nach Puerto Iguazú bringen soll. Meine Platzwahl verdanke ich den Überzeugungskräften des charmanten Angestellten der Andesmar, denn laut ihm seien die Sitze im unteren Teil des Busses nicht bloß bequemer und man könne sie nachts komplett in Rückenlage drehen, um einen erholsamen Schlaf zu genießen; nein, es gebe auch Wunschkost und Alkohol. Reiseherz, was willst du mehr?
Kurz nach der Abfahrt geht einer der sogenannten Conductorios durch den Mittelgang.
»Möchten Sie einen Whiskey?«, werde ich gefragt.
Auf diese Art – die Füße hochgelegt wie Omma in ihrem Fernsehsessel, mit einer Armfreiheit wie ein Staatspräsident, einer Decke über dem Körper und einem Whiskey im Glas – erfülle ich nicht gerade meine Vorstellungen eines großen Abenteuers. Doch machen wir uns nichts vor: Nach den Wasserfällen kommen Paraguay und Bolivien. Rau wird es sicherlich noch früh genug. Dank der Bequemlichkeit und des vom Bus hervorgerufenen sanften Schaukelns schlafe ich in dieser Nacht besser als in den meisten Hostelbetten, was mir wenigstens die Gewissheit gibt, nicht übers Ohr gehauen worden zu sein. Das Frühstück wartet am nächsten Morgen in einer Art Kantine, die einzig und allein für Fahrgäste der Busgesellschaft Andesmar die Türen öffnet. Während wir Passagiere essen, wird draußen der Bus betankt und gewaschen. Die Wohlfühlatmosphäre endet zumindest klimatisch abrupt, als wir mittags um zwei nach zwanzig Stunden Fahrt in Puerto Iguazú ankommen und aus dem Bus steigen.
Heiße, klebrige, tropische Luft schleckt mit ihrer schwülen Zunge jedes Entspannungsenzym meines Körpers weg. Zum ersten Mal seit Jahren befinde ich mich in den Tropen und das spüre ich an Ort und Stelle, ohne jede Anlaufphase. Durch mein Busfenster konnte ich den Wandel der Natur gut beobachten, von der Flusslandschaft am Río Paranà über die Pampa mit ihren grünen und gelben Graslandschaften in ein sattes, alles dominierendes, tropisches Grün. Die Männer am Busbahnhof haben dunklere Haut als jene in der fernen Landesmitte. Eine hohe Luftfeuchtigkeit lässt meine Haut dampfen und das Atmen fällt mir schwer, die Sonne brennt und mein Rucksack scheint mit doppeltem Gewicht auf meinen schmalen Schultern zu liegen. Nach meiner Ankunft im günstigsten Hostel vor Ort hetze ich gleich als Erstes minutenlang unter die Dusche. Fünfzehn Minuten Fußmarsch in dieser Hitze, und von der erholsamen Wirkung der Busfahrt ist nichts mehr übrig. Dennoch ist das richtig belebend, dieser krasse Wechsel der Klimazonen – ein wenig wie bei einer Wechseldusche.
Später begebe ich mich in den Aufenthaltsraum, um eine Limonade zu trinken und in Ruhe zu lesen. Am Billardtisch spielen vier Israelis. Südamerika ist voll von ihnen, frisch aus der härtesten Armee der Welt entlassen, feiern sie hier als Backpacker ihre wiedergewonnene Freiheit. Unter ihnen ist auch eine junge Frau und in ihrer Gegenwart werden selbst die vier bärtigen, geradewegs dem Alten Testament entsprungen scheinenden Recken ganz handzahm. Sie ist schlicht beängstigend schön, eine Schönheit, die einen tatsächlich eher einschüchtert als anzieht, da man sich nicht herantrauen mag.
Nun tritt einer der jungen Männer an meinen Tisch und reißt mich aus meinen Gedanken.
»¡Hola Amigo!«.
»¡Hola!«
»Warst du schon bei den Wasserfällen?«
»Noch nicht. Ich bin erst heute Mittag eingetroffen. Morgen früh werde ich sie endlich sehen.«
Vielsagend lächelt er mich an. »Den ersten Anblick von gestern werde ich mein Leben lang nicht vergessen.«
Dann zeigt er auf die Schönheit am Billardtisch.
»Sie war gestern mit einigen von uns dort. An einem Aussichtspunkt war so viel Gischt in der Luft, dass plötzlich jeder durch ihr T-Shirt sehen konnte. Kannst du dir das vorstellen, was da los war?«
Das kann ich mir vorstellen.
»Entschuldige den Unsinn«, lacht er, »ich heiße Linus.«
»Freut mich, dich kennenzulernen«, sage ich und gebe ihm die Hand.
»Sag mal, Linus: Was kann ich von morgen erwarten? Wie muss ich mir die Wasserfälle vorstellen?«
»So etwas kann man nicht erwarten«, seufzt er und blickt nachdenklich ins Nichts. »Auf so einen Anblick kann einen nichts und niemand vorbereiten.«
Meine Vorfreude wird durch eine erfreuliche E-Mail von Edwin noch mehr gesteigert, in der er ankündigt, dass er morgen ebenfalls in Puerto Iguazú ankommen wird. Ich werde mir also morgen die Wasserfälle ein erstes Mal allein ansehen, und am zweiten Tag nochmals, gemeinsam mit Edwin. Beim Schlafengehen verspüre ich in mir ein Gefühl, das ich lange, sehr lange nicht gespürt habe. Mein Inneres erinnert mich gerade an das letzte zu Bett gehen vor dem Heiligen Abend, als ich ein Kind war. Oder an das letzte Einschlafen, bevor wir in den Urlaub fuhren. Mit einer Mischung aus Anspannung und Vorfreude schlafe ich erst nach ewigem Herumwälzen ein. Währenddessen gehen mir so einige Fragen und Erinnerungen durch den Kopf.
Was zum Geier hat es mit mir und Wasserfällen auf sich? Warum ziehen sie mich magisch an, soweit ich mich zurück erinnern kann? Die Antwort muss in meiner Kindheit zu finden sein, die alles andere als mit der Nähe oder Zuneigung zum Wasser begonnen hat. Es geht das Gerücht, dass eine Babysitterin oder Reinemachefrau oder wie auch immer wir das in den 80ern nannten, mich ins Badewasser fallen ließ, weswegen ich jedes Mal wie am Spieß schrie, wenn ein Wasserstrahl auch nur in meine Nähe kam. Doch dann war da dieser Tag mit meinen Freunden, oben im Wald. Ich muss zehn oder elf gewesen sein. Wir wollten einen Vorrat an Silvesterfeuerwerk nutzen, um einen kleinen Damm in die Luft zu sprengen, den es oben am Bach gab. Andere Kinder mussten ihn gebaut haben, Tiere hätten das jedenfalls nicht vollbringen können. Es musste sie Stunden oder gar Tage gekostet haben, die Äste, das Blattwerk, die gröberen Zweige zu sammeln, zu ordnen, übereinanderzustapeln, bis aus dem Gestrüpp ein regelrechter Staudamm erwachsen war. Mit zehn oder elf ist man als Junge oft scheiße. Das liegt in der Natur der Sache. Für Mädchen zu jung, für Spielzeugautos zu alt, und jederzeit auf der Suche danach, die eigenen (zerstörerischen) Kräfte spielen zu lassen, sie auf etwas zu richten, das man kaputtmachen kann. Seltsam: Kaputtmachen bedeutete uns in jenen Tagen mehr als erschaffen. So füllten wir meinen gesamten Rucksack mit Chinaböllern, Knallfröschen und den sogenannten Matten, zusammengebundenen Strängen von Miniknallern. Damals gab es noch eine Abkürzung oberhalb meines Elternhauses, einen Pfad geradewegs durch ein Getreidefeld. Mit den beiden Hunden vom Bauernhof, der am Weg durch den Wald lag, war nie gut Kirschen essen. Aggressiv und monsterhaft thronten sie auf einer Terrasse, und sobald sich ein Fußgänger oder Radfahrer auf dem Waldweg näherte, sprangen sie wie von einer Tarantel gestochen tobend und um sich keifend an den niedrigen Zaun, der dummerweise immer wieder mal neu gerissene Löcher aufwies. Wieso der Bauer den Zaun nie über längere Zeit in Schuss hielt – keine Ahnung. Womöglich genau deswegen, womöglich hatte er etwas gegen die Kinderhorden, die Tag für Tag entlang seines Grundstücks in den Wald zogen, zu geheimen Rückzugsorten und den Weiden und den Bachquellen, die sich inmitten dieses grünen Labyrinths versteckten. Der Wald – und nicht die Welt – war für uns der Beste aller Orte.
Wie dem auch sei, mit unseren Böllern beladen mussten wir abermals vor den bellenden Bestien Reißaus nehmen, der Zaun war schon wieder im Arsch. Abgehetzt und nassgeschwitzt erreichten wir den frisch errichteten Damm, den es zu zerstören galt. Die Hunde hatten ihre Verfolgung nach vielleicht fünfhundert Metern abgebrochen. So war es immer, als ob rund um ihren Hof eine unsichtbare, nur für Hundenasen wahrnehmbare Grenze verlief, eine Grenze, die sie keinesfalls überschreiten durften. Unterhalb des dünnen Bachs – gerade unterhalb der Stelle, an dem sich jetzt dieser Staudamm befand – lag eine Anhöhe, eine Art Felsvorsprung. Sie mag kaum höher als acht, neun Meter über dem Erdboden gelegen haben; für uns Jungs aber, die wir alle kaum einen Meter fünfzig überragten, war dieser Fels so etwas wie ein Matterhorn, eine wuchtige, unüberwindbare Höhe inmitten des Waldes. Heute denke ich, die Welt sieht in vielerlei Hinsicht größer aus, solange man klein ist. Und genau dieser Felsvorsprung war es, über den eine Wasserfontäne ungeahnten Ausmaßes schoss, nachdem wir mit unseren Böllern eine riesige Sauerei veranstaltet und den Damm mehr oder weniger erfolgreich gesprengt hatten. Die Fontäne wurde zum ersten Wasserfall, den ich in meinem Leben zu Gesicht bekam und mit ihm das dazugehörige Gefühl, dieses Donnern und Tosen, die verwehte Gischt im Gesicht. Alles, was an diesem Nachmittag dazu gehörte, prägte sich mir tief ein.
Und womöglich beruht meine riesige Aufregung auch auf diesem Moment, als ich am folgenden Morgen vor dem großen Busbahnhof bereitstehe, wo die Linienbusse warten, die die vielen Besucher zum Eingang des Nationalparks Iguazú befördern. Der Park selbst erstreckt sich direkt an der Grenze zwischen Argentinien und Brasilien. Die Grenze verläuft genau durch den größten der vielen, sich insgesamt über drei Kilometer erstreckenden Wasserfälle, geradewegs durch die Garganta del Diablo. Ein Name wie ein Chorgebet, der viel verspricht und von dem ich gespannt bin, wie viel er einhält. Im Jahre 1542, während einer strapaziösen Reise nach Asuncion in Paraguay, warf der erste Europäer einen Blick auf diese Pracht. Der Spanier Alvar Nunez Cabeza de Vaca, und er nannte sie Santa Maria Fälle. Dieser Name konnte sich jedoch nie etablieren und später setzte sich der einfache Name „Große Wasser“ durch: Iguazú.
Beim Nationalpark angekommen geht es an eines der beigen Kassenhäuschen, um meinen Eintritt zu bezahlen. (Interessant am Rande: Bürger der hiesigen MERCOSUR Staaten zahlen nur ein Viertel dessen, was Ausländer zu berappen haben.) Im Eingangsbereich ist es noch ruhig, die großen Besuchermassen scheinen erst ab dem Mittag einzutreffen. Ein erster Holzsteg führt mich gemächlich durch tropischen Dschungel. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine solche Umgebung außerhalb eines Zoos zu Gesicht bekomme. Von ferne ist ein Rauschen zu vernehmen, aber wirklich nur ganz sanft, beinahe nur zu erahnen. Doch diese Ahnung genügt mir, um mein Schritttempo zu steigern. Je lauter das Geräusch durch die Büsche und dunkelgrünen Pflanzenmassen vernehmbar ist, desto schneller werden meine Schritte, desto mehr wird aus Gehen ein Laufen, weil ich es weniger und weniger erwarten kann. Es dauert noch einige Minuten, dann biege ich um eine von Mangroven gesäumte Ecke des Waldes. Und was sehe ich? Nun, ich sehe im Grunde genau das, was ich erwartet habe, und doch ist es ganz anders. Vor mir schlängelt sich der untere Teil des Iguazú durch die Szenerie, im Hintergrund, weit weg, zeichnet sich der größte der vielen Wasserfälle ab. Rechts von mir erblicke ich nicht weniger als das Paradies. Und wer in diesem Moment nicht die Umgebung, sondern mich ansieht, sieht das Paradies sogar doppelt. In den Gläsern meiner Sonnenbrille spiegeln sich Dschungel, blauer Himmel und die Katarakte (was für ein wundervolles Wort) von Iguazú.
Welch eine Pracht, welch ein unfassbarer Anblick. Über Kilometer hinweg stürzen abwechselnd größere und kleinere Wasserfälle aus dem Regenwald hinab in die Tiefe. Es zeichnen sich unzählige Regenbögen ab, die ihren Farbenschimmer vor diese tropische Kulisse zaubern, Gischt sprüht mir ins Gesicht. Schmetterlinge in allen denkbaren Farben flattern umher und lauthals krakeelende Vögel preschen im Sturzflug durch das versprühte Wasser. Wie angewurzelt verharre ich an Ort und Stelle und kann nur schauen, schauen, schauen. Ein wohliger Schauer rieselt meinen Rücken hinab. Dann laufe ich weiter, immer schneller, ich renne beinah, bis an den Rand von einem der Fälle, an dem der Besuchersteg abrupt endet. Meine Gänsehaut legt noch eine Schippe drauf, die Begeisterung ist grenzenlos. So nah am Wasser wird die verwehte Gischt richtig kompakt, ich werde nass, als ob ich unter einer Dusche stünde. Ich strahle, ich jauchze. Neben mir taucht eine Familie auf, der es ähnlich geht.
»Unglaublich«, strahlt mich ein Mann mit dünnem, pechschwarzem Schnauzbart an. Er muss rufen, damit ich ihn bei dem Krach überhaupt verstehen kann.
»Ja!«, rufe ich zurück und kann nur lauthals lachen.
All das hier passiert wirklich, all das hier sehe ich jetzt gerade, genau jetzt. Diese Eindrücke lasen sich nur schwerlich in (geschriebene) Worte fassen. Egal, wie viel ich vorab erzählt bekam oder wie viele Fotos ich mir ansah, auf dieses Gefühl kann kein Mensch vorbereitet werden. Ich kann es nicht besser erklären: Zum ersten Mal seit Ewigkeiten existiere ich nur in der Gegenwart, es gibt nur noch diesen Moment. Kein Gestern, kein Morgen – nur ein Hier und Jetzt. Besser geht es nicht.
Nach diesem ersten Rausch, der noch lange wie eine Droge in mir nachwirkt, wandere ich bis zum frühen Nachmittag die Wasserfälle entlang, verirre mich in ruhigere Ecken des Waldes, gelange dann immer wieder mal näher an die tosenden Wassermassen heran. Ein frecher Nasenbär – der von tollpatschigen Touristen wie mir zu leben scheint – klaut mir mein Sandwich, das ich törichterweise auf einer Mauer ablegte, um in meinen Rucksack zu greifen und nach dem Sonnenschutz zu suchen. Dumm gelaufen, für mich. Ihm schmeckt es. Die umstehenden Leute lachen sich den Arsch ab, aber sollen sie ruhig. Manchmal kommt es zu tätlichen Übergriffen der kleinen, flauschigen Viecher auf sorglose Besucher, da bin ich noch mal glimpflich davongekommen. Und außerdem, wer sagt denn, dass es nicht so etwas wie Karma ist? Vielleicht ist mein Sandwich der kleine, zusätzliche Preis für all das, was mir heute begegnet.
Irgendwann droht die stechende Nachmittagssonne den Dschungel regelrecht zu verdampfen, gerade als ich den größten Wasserfall, die bereits erwähnte Garganta del Diablo, erreiche. Insgesamt stürzen hier pro Sekunde etwa 1700 m³ Wasser in die mehr als sechzig Meter tiefe Schlucht. Jede einzelne Sekunde. Die Gischt vernebelt den Fluss, das Wasser dröhnt ohrenbetäubend, keinen Zweifel erlaubend, wer hier das Sagen hat. Trotz der Menschenmassen, die inzwischen auf der Metallplattform stehen, komme ich mir allein und klein vor, ähnlich winzig und unbedeutend wie damals, als wir im heimischen Wald den Damm gesprengt hatten. Die schiere Wucht der Fälle einerseits, andererseits die Anmut und Grazie der paradiesischen Umgebung des Regenwaldes – dieser krasse Gegensatz an Ort und Stelle macht den Reiz aus.
*
Beim Abkühlen meines Gemüts hilft mir am Abend dreierlei: Mein Notizbuch, in dem ich von allen Eindrücken schwärmen kann; ein lustiger Plausch mit Linus, dem Israeli; und vor allem mein Wiedersehen mit Edwin. Ohne weitere Absprache laufen wir uns direkt im Eingangsbereich des Hostels in die Arme, und unsere Umarmung ist aufrichtig und herzlich. Dabei waren es doch nur wenige Tage, die uns in Punta del Diablo zusammengeführt haben. Wiedersehen macht Freude, genau wie gutes Essen. So gönnen wir uns am Abend die nächsten wundervollen Steaks und ich nutze die Gelegenheit, Edwin in allen Einzelheiten von den Wasserfällen vorzuschwärmen.
»Vielleicht kann ich jetzt doch wieder glauben«, sage ich halb im Scherz, halb verlegen. »So etwas ist schlicht und ergreifend ein Wunder.«
»Ich werde dich beim Wort nehmen, wenn wir morgen gemeinsam hinfahren«, antwortet er und genießt weiter sein Steak.
Tags darauf geht es also nochmals zu den Wasserfällen, dieses Mal mit Edwin an meiner Seite. Bevor wir sie zu Gesicht bekommen, erkunden wir jedoch zunächst einen Seitenweg im Park, auf dem uns kaum Menschen, dafür aber ein Waran, Riesenameisen und schließlich eine Gruppe von Kapuzineräffchen begegnen. Diese Affen sind die ersten Freilebenden, die ich auf meiner Reise zu Gesicht kriege. Von unseren Schritten aufgeschreckt, flitzen sie einen Baum hoch und verharren auf einem dicken, blattgesäumten Ast. Die Gesichter der Kleinen sind beinah menschlich, die Augen blicken uns verschreckt, allerdings auch trotzig entgegen. Die älteren Affen kümmern sich nach kurzem Zögern nicht weiter um uns, sondern beginnen eifrig damit, sich gegenseitig Insekten aus dem Fell zu pulen. Wie Krabben pulende Matrosen sehen sie aus. Uns Menschen quälen hingegen die hiesigen Mücken, die im Nationalpark ihre perfekte Wohnstube gefunden haben: heiß, schwül und überall Wasser in der Nähe.
Die Wasserfälle überrumpeln Edwin später ebenso stark, wie ich es tags zuvor erlebt habe. In seinem Gesicht beobachte ich die gleiche, geradezu schockartige Begeisterung, das ungläubige Staunen über etwas Reelles, das doch eigentlich nur als Fantasie möglich scheint. Stundenlanges Wandern, stundenlanges Staunen, und mit keiner Minute verliert der Anblick an Anziehungskraft.
»Du hattest recht«, meint Edwin, als wir spät abends bei einem Bier irgendwo im Ortskern von Puerto Iguazú sitzen, »es ist nicht weniger als ein Wunder.«
»Ja, vielleicht.«
»Doch das ändert für dich nichts, nehme ich an?«, fragt er und nimmt einen tiefen Schluck aus seiner von Kondenswasser beschlagenen Flasche Isenbeck.
»In Bezug auf was?«
»In Bezug auf deinen Glauben?«
Nachdenklich kratze ich das Papier vom Hals meiner Bierflasche, wie ich es seit meiner Jugend zu tun pflege.
»Ich weiß nicht. Mir fehlt einfach dieses Vertrauen in etwas Großes, verstehst du. In etwas, das alles umfasst, alles gibt und alles wieder nimmt. Das immer da war und immer sein wird.«
»Denkst du, dass es das ist, worum es beim Glauben geht?«, fragt Edwin nachdenklich.
»Ja, schon. Man nennt es zwar „glauben“, aber es wird immer im Sinne von „wissen“ gebraucht. Jemand, der an Gott glaubt, weiß für sich, dass es ihn gibt.«
»Jetzt verstehe ich, worauf du hinauswillst. Und das kannst du nicht, also so fest daran glauben?«
»Nein.« Ich seufze. »Ich habe das noch niemandem erzählt, Edwin, aber eigentlich sollte diese Reise eine Reise zu zweit werden. Ein guter Freund ist, kurz, bevor er die Chance bekam, seinen Koffer zu packen, gestorben.«
Und wir schweigen.
»Es ist nicht leicht«, seufzt Edwin. »Aber am Ende des Tages braucht es keine Wasserfälle, keine Affen, kein Weltklasse-Steak, um an Wunder zu glauben. Ich kann es nicht anders sagen, aber der simpelste Grund, warum es mir nicht schwerfällt, zu glauben, ist das Leben selbst. Ist die Welt. Sind die Menschen.«
Ich leere meine Bierflasche und seufze.
»Ist es wirklich so leicht?«
Edwin antwortet auf seine Art, und das nicht allzu schlecht.
»Ein einsamer Segler befindet sich auf einem Boot, ganz allein auf dem Pazifik. Er erwacht aus erholsamem Schlaf, streckt sich, schlägt die Augen auf und denkt: Rechter Fuß? Geht. Linker Fuß? Geht. Rechtes Auge? Sieht. Linkes Auge? Sieht.
Das wird ein guter Tag.«