»Ich wünsche mir, dass wir ein Land der Leser werden«, sagt Kirsten Boie in ihrer Dankesrede zur Auszeichnung »Der Förderin des Buches« in Berlin.
Voraussetzung für diesen Wunsch ist natürlich das Vermögen überhaupt lesen zu können. Wer wie Kirsten Boie schon in frühester Kindheit zu einer begeisterten Leserin wurde, kann nachvollziehen, was Nichtlesern entgeht, die nicht in die spannenden Abenteuer, fantastischen Welten und berührenden Erlebnisse eines Buches, geschrieben in einer wunderbaren Sprache, abtauchen können.
Als Autorin scheint sie sich beim Schreiben immer daran zu erinnern, denn sie besitzt eine besonders ausgeprägte Fähigkeit, sich in andere Menschen und deren Gefühlswelt hineinzuversetzen. Ihre Geschichten spielen im Alltag der Kinder und handeln von den großen und kleinen Problemen, die ihnen begegnen. Dieser besondere Blick auf die Realität zieht sich durch all ihre Bücher: Scheidung, Patchwork-Familien, Fremdenfeindlichkeit, Flucht und Asyl, Aidswaisen in Afrika, Menschen mit Handicap, Gewalt in der Schule oder der Umgang mit digitalen Medien. So zeigt sie immer wieder, dass auch die vermeintlich schweren Themen für Kinder erzählt werden können, macht Fremdes vertraut und Vertrautes zum großen Abenteuer.
Kirsten Boie ist eine der beliebtesten Kinderbuchautorinnen im deutschsprachigen Raum, die zu Recht in die Nähe ihres großen Vorbilds Astrid Lindgren gerückt wird. Denn wie Astrid Lindgren schafft auch sie es, mit ihrer genauen Beobachtungsgabe, einer gesunden Portion Humor und verblüffendem Sprachwitz die Herzen der Kinder zu bewegen, ihre Sorgen und Nöte ernst zu nehmen und ihnen Mut zu machen. Doch sie ist nicht nur als Autorin ein Glücksfall, sondern auch als schreibender Mensch, der sich politisch einmischt und sich seit vielen Jahren engagiert, ob für Aidswaisen in Swasiland oder für die Leseförderung vor unserer Haustür. So hat sie im Sommer 2018 zusammen mit vielen prominenten Erstunterzeichnern die »Hamburger Erklärung« ins Leben gerufen, um auf die fehlende Lesekompetenz viel zu vieler Kinder aufmerksam zu machen.
Unermüdlich weist Kirsten Boie darauf hin, dass Lesen eben nicht nur bedeutet, den Zugang zu einer fantastischen Welt aus Geschichten zu bekommen. Lesen, genauer: Lesen können – ist für sie ein wichtiger Teil der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen und die Grundlage für eine selbstbestimmte Zukunft.
Kirsten Boie ist ein Glücksfall für alldiejenigen, die ihre Bücher mit Begeisterung lesen, sie ist aber auch ein ganz besonderer Glücksfall für unser Haus. Es ist eine wahre Freude, mit einer so vielseitigen Persönlichkeit über Jahrzehnte hinweg zusammenzuarbeiten und sie auf ihrem Weg begleiten zu dürfen.
Silke Weitendorf
Es war einmal ein kleines Mädchen, und das war gar nicht so lange nach dem Krieg, den damals alle immer nur »der Krieg« nannten, als hätte es nicht auch tausend andere Kriege gegeben auf der Welt. Diesen Krieg aber hatte ihr eigenes Land angefangen, und am Schluss hatte der Krieg auch in ihrem eigenen Land getobt und es in Trümmern zurückgelassen, und darum wussten alle Menschen, wovon die Rede war, sie wurden ja überall jeden Tag daran erinnert.
Im Winter hatte das kleine Mädchen genau wie seine Freundinnen Frostbeulen an den Füßen, weil es zu kalt war und die Schuhe zu dünn; am Ende jeden Monats gab es mittags Milch, die auf der Fensterbank in der Sonne sauer geworden war, mit Schwarzbrotbrocken darin; und weil Zucker darübergestreut werden durfte, liebte das Mädchen dieses Essen. Süßigkeiten gab es sonst nämlich nicht.
Ein neues Kleid bekam es nur zu Pfingsten, sonst trug es auf, was die vielen älteren Cousinen abgelegt hatten, und auch das fand es ganz selbstverständlich.
War das kleine Mädchen also arm? Wenn man es damals gefragt hätte, hätte es bestimmt erstaunt den Kopf geschüttelt; aber niemand hat es gefragt, und von alleine darüber nachgedacht hat es natürlich nicht. Es fand (wie bis heute alle Kinder auf der Welt), dass sein Leben haargenau so war, wie ein Kinderleben offenbar sein musste. Es kannte ja nichts anderes, und da, wo es lebte, ging es den anderen Kindern schließlich genau wie ihm.
Auch dass es nicht viele Spielsachen besaß, fand es nicht weiter verwunderlich. Spielsachen gab es zu Weihnachten und zum Geburtstag, vielleicht eine Puppe und ein Brettspiel, und einmal sogar Rollschuhe mit Metallrädern, die konnte man sich mit einem Riemen unter seine Schuhe schnallen; und weil sie so furchtbar schlecht rollten, hatte das kleine Mädchen meistens aufgeschlagene Knie. Und auch das war normal und bei den anderen Kindern in seiner Straße genauso und also kein Grund zu jammern.
Denn eigentlich ging es ihm ja richtig gut, und das lag an den vielen Geschichten in seinem Leben. Sie waren es, die den Alltag des kleinen Mädchens zum Leuchten brachten. Die Geschichten, die seine Mutter ihm erzählte, wenn sie in der weißen Emailleschüssel der ausziehbaren Küchentischlade das Geschirr spülte und das kleine Mädchen danebenstand und abtrocknen musste: Da durfte es sich jeden Tag aussuchen, wovon die Geschichte handeln sollte, und dann legte die Mutter los. Einmal wollte das kleine Mädchen eine Geschichte, die sollte »Der weiße Elefant« heißen, weil das so wunderschön und geheimnisvoll klang, und diesen Titel hat das Mädchen auch als erwachsene Frau nicht vergessen. Woher um Himmels willen wusste das Kind denn von Elefanten, wenn es doch keinen Fernseher gab und keine Bilderbücher und ein Zoobesuch zu teuer war? Und warum musste der Elefant weiß sein, und wie konnte damals ein kleines Mädchen überhaupt auf so eine Idee kommen?