GÜNTER KOLLERT
DAS ICH ALS
MEISTER DER SEELE
ERFAHRUNGSSEELENKUNDE
FÜR JEDERMANN
URACHHAUS
Einleitung
WER BIN ICH? – Vorschule der Selbsterkenntnis
1 Ich schaue in mich
2 Ich bestimme das Maß
3 Ich denke die Frage
ERSTE WOCHE
SINN DES LEBENS – Von der Zeitlichkeit der Seele
4 Ewigkeit
5 Augenblick
6 Einst und Jetzt
7 Proligio
WER BIN ICH? – Vom Unbewussten
8 Der Schrei der Alraune
9 Auf den Wassern zu singen
10 Rumpelstilzchen
ZWEITE WOCHE
WER BIN ICH? – Erfahrungsseelenkunde und Ich-Erkenntnis
11 Haarspalterei
12 Der jüngste Mythos
13 Der Ring am Himmel
14 Person und Persönlichkeit
NICHT-ICH IM ICH – Vom Erfahren zum Erkennen
15 Der fliegende Teppich
16 Der Schlüssel Davids
17 Was ist Wahrheit?
DRITTE WOCHE
WER BIN ICH? – Freiheit und Einzigkeit
18 Das Haar auf dem Amboss
19 Der Einzige
20 Werdesal
21 Die Heilige Lanze
ICH IM NICHT-ICH – Das Reich des Fühlens
22 Das Wesen der Seele
23 Der tiefste Brunnen
24 Die fernste Sphäre
VIERTE WOCHE
DAS HÖHERE ICH – Ungeborensein und Unsterblichkeit
25 Paedogeron
26 Totaliter aliter
27 Theorie der Metempsychose
28 Uranias Auge
ICH UND ICH – Miteinander und Füreinander
29 Begegnung
30 Macht
31 Liebe
AUS DEM LIEDERBUCH DER SEELE
ANMERKUNGEN
IMPRESSUM
Während ich dieses Buch schrieb, zeigte sich immer deutlicher, dass es eine Richtung nahm, die in eine Entwicklung der gegenwärtigen Kultur eingebettet ist. Einmal auf ihn aufmerksam geworden, konnte ich diesen Sachverhalt aus Überzeugung bejahen und den Ort erkennen, an dem ich meinen Baustein in das Ganze, das sich bildet, einfügen will.
Nachdem das hinter uns liegende ›Jahrhundert der Psychologie‹ mit einem Jahrzehnt der populären Lebenshilfen endete, wird das neue Jahrhundert offensichtlich mit einem Jahrzehnt der philosophisch orientierten Lebenspraxis und Seelenpflege beginnen. Alte Entwürfe und Prinzipien wie Lebenskunst und Selbsterkenntnis erscheinen in neuem Licht und eröffnen überraschende Ausblicke auf aktuelle Aufgaben und Nöte. Die Philosophie macht so ihre Rechte auf einem Felde geltend, das gestern der Psychotherapie und der ›Esoterik‹ gehörte und morgen schon von Pharmakologie, Gentechnik und Neurologie beherrscht werden könnte.
Angesagt ist die Rückkehr zur verlorenen Zukunft unserer Seelen. Insbesondere gilt es, das eigentliche Trauma des 19. und 20. Jahrhunderts zu überwinden: Den Verlust jenes idealistischen Horizontes, der sich in den Tagen Fichtes und Goethes für eine im besten Wortsinne populäre Seelenkunde aufgetan hatte. Gegenstand der Art von Selbsterkenntnis, um die es damals ging und heute wiederum geht, ist – im Unterschied zum Unbewussten – das Unbemerkte, das Ungedachte, das Ungetane, mit einem Wort: das Unerübte.
Die Doppelgeste von Wiederbesinnung und Aufbruch eignet auch dem vorliegenden Vademekum, oder ›Handbuch zum Umgang der Seele mit sich selbst‹. Es setzt keinerlei Vorbildung voraus; ich rechne allein mit der Bereitschaft des Lesers, sich an der Begegnung mit vergessenen Denkern und verschollenen Einsichten zu begeistern, und über neue, unerwartete Horizonte des Seelenlebens zu staunen. Ausgehend von der »Erfahrungsseelenkunde«, wie Karl Philipp Moritz sie 1782 begründete, versuche ich, dem Leser die Pforte zu einem urbaren Stück Wirklichkeit zu zeigen und ein Werkzeug zum Bestellen des Gartens anzubieten.
Ein alter Spruch, den ich über einem fränkischen Dorfbrunnen in Stein gehauen fand, mag hier als Dank an alle stehen, die mich auf dem Weg der Erfahrungsseelenkunde gefördert haben:
Der Wandrer kam zur Mittagsstund
Zum Wasserquell, der gastlich rauschte.
Er setzte sich und sann und lauschte.
Und wie er sich zum Trinken neigte,
Sah er das eigene Bild zerrinnen –
Vom Grund des Brunnens funkelt rein
Ein niegeseh’ner, wunderklarer Stein.
Unter den Menschen, denen ich so danken will, soll einer besonders erwähnt werden: Im Oktober 2002 verstarb Prof. Wolfgang Blankenburg, Nestor einer um philosophische Aspekte erweiterten Psychiatrie und medizinischen Psychotherapie. Er ließ mich vor Jahrzehnten für die Fragen der Erfahrungsseelenkunde erwachen und half zuletzt durch behutsame, mit Lebensweisheit gesättigte Hinweise, meinem Buch eine Gestalt zu geben, die hoffen lässt, dass es da oder dort heilende Kräfte entfalten kann.
Günter Kollert, Kassel im Februar 2003
VORSCHULE DER SELBSTERKENNTNIS
Eine Mauer, seit lang her vergessen,
Die Türe, und Steine, und Moos,
Und nebenan der ungebetene Gast,
Der Habenichts, an der Hüfte die Schlüssel.
Nikolai Gumiljow
Die halbhohe Mauer trennt den Garten vom blauen Himmelsraum; das frühsommerlich üppige Grün, welches in Gras, Kräutern und Bäumen sprießt, zeigt die Handschrift eines kundigen Gärtners. Zwischen den Pflanzen steht ein steinerner Tisch und nahebei ein Brunnenkasten, aus dem, von einer Rinne gefasst, klares Wasser fließt. Daneben menschliche Gestalten: drei Männer und drei Frauen, ein Kind und eine mütterlich-königliche Frau; bei den Männern ein kleiner Drache, der tot auf dem Rücken liegt und ein ebenfalls kleiner Teufel. Nicht zu vergessen die vielen Singvögel auf der Mauer und im Garten selbst – sie kommen wohl aus der blauen Weite jenseits der Mauer her. Die Frische des Grüns und ein Geruch von Erde, der die Blütendüfte durchzieht, lassen fruchtbares Erdreich im Untergrund ahnen. Wir schauen in das ›Frankfurter Paradiesgärtlein‹, wie es ein unbekannter Meister des fünfzehnten Jahrhunderts malte.
Der Garten ist ein Bild der Seele. Ich widerstehe fürs Erste der Verlockung, die Einzelheiten des Gemäldes ihren teils tief verborgenen, teils freundlich nahe liegenden symbolischen Sinn aussprechen zu lassen, und sage mir statt dessen: Dies alles ist in mir – das klare Wasser, die Gestalten, die da wandeln und sprechen, das lebendige Sprießen, die drei Bäume, der Drache, das Buch, das Saitenspiel und das Kind. Ich selbst bin der Raum, in den das Licht aus der Weite einfällt, den die Frische und das vielfältige Leben des Gartens erfüllt! An den Mauern des Seelengartens beginnt das Geheimnis. Über ihnen steht das Wort des Heraklit von Ephesus: »Der Seele Grenzen kannst du im Gehen nicht ausfindig machen, und ob du auch jegliche Straße abschrittest; so tiefen Sinn hat sie.«1 Und auch das Geheimnis ist ein Teil meines Selbst.
Je öfter ich in den Garten schaue, desto deutlicher wird: Ich schaue nicht allein, das Licht, das ihn erhellt und der Raum, der ihn füllt, kommen zugleich von anderen, die ebenfalls hineinblicken. Dass das Licht von vielen Seiten kommen muss, zeigt schon der Umstand, dass es im Garten keinerlei Schatten gibt. Seit Menschengedenken wird der Garten angeschaut, oft wohl schweigend, weil es der schauenden Seele an Worten oder Gedanken mangelt. Aber wer einmal für das Wunder des Gartens erwacht ist, der findet im Werk der Denker und Dichter aller Zeiten die Zeugnisse dafür, dass auch sie hier zu Hause waren, und oftmals Dinge bemerkten, die dem eigenen Blick entgingen. Wenn auch die Seele des Menschen Eigenstes ist, sie bliebe ihm ewig ein Rätsel, müsste er sie allein ergründen. Über Zeiten und Räume hin finden sich daher im Gespräch alle zusammen, die Aufschluss über das Geheimnis der Seele suchen. Gemeinsam dürfen sie hoffen, die Unendlichkeit zu fassen, in welche der kleine Garten reicht. So mündet das Sprechen über die Seele in ein ›Konzil‹ über das Wesen des Menschen.
Mein Entschluss, von jenem Garten und von dem Konzil der freien Geister zu berichten, reifte gemeinsam mit der Liebe zum Ideal des inneren Lebens, die ihrerseits der gedanklichen Klärung dieses Ideals folgte. Wer zu ihm findet, der versteht, dass mein Buch keine Anweisungen oder Ratschläge enthält. Da die Form des Berichtes allein von mir stammt, muss ich allerdings erklären, welche Methode des Lesens sie voraussetzt.
Ein Musiklehrer bemerkte einmal: Jeder Mensch kann eigentlich Klavier spielen – es fragt sich nur, in welchem Tempo. Ob das, was dieser augenzwinkernd vorgetragenen Wahrheit zugrunde liegt, immer zu befriedigendem Kunstgenuss führt, sei dahingestellt. Sicher aber ist, dass Bücher, die vom Garten der Seele handeln, von jedermann zu verstehen sind – wenn sie nur geduldig genug studiert werden. Das Geheimnis eines solchen Studiums ist: Getreulicher Willenseinsatz wird zu gedanklicher Klarheit – was nicht notwendigerweise auch gleich die Überzeugung von dessen Wahrheit bedeuten muss. Dieser Einsatz wird durch das Einhalten eines zeitlichen Gerüstes geleistet.
Um das erste Kennenlernen zu erleichtern, sind die Kapitel zu vier ›Lesewochen‹ zusammengestellt; diese gestatten den Ausgleich zwischen den kürzeren Abschnitten und jenen, die man auf mehrere Tage verteilen möchte. Eine der weiteren Vertiefung dienliche Möglichkeit wäre die, während einer Woche – oder eines Monats – jeweils eines der neun Kapitel durchzunehmen. Die Kürze der einunddreißig Abschnitte soll das mehrmalige Lesen erleichtern; neun von ihnen sind durch ein * weiter unterteilt, sodass sich insgesamt vierzig Sinneinheiten ergeben, die einem noch geruhsameren Studium zugrunde liegen könnten. Der Leser wird sich seinen eigenen Zeitplan zusammenstellen, der je nach Bedarf ein, zwei Monate, vielleicht auch neun Monate oder ein Jahr umspannen kann.
Nichts von den Rätseln und Mühen, die dem Wanderer im Garten der Seele begegnen, kann ihm wirklich fremd sein. Um dieses vielleicht vergessene oder unbeachtete Vertrautsein zu beleben, habe ich im ›Liederbuch der Seele‹ Gedichte gesammelt, die das, was die ›Sprecher des Konzils‹ als Gedanken äußern, in Klang und Bild verwandeln. Es ist hilfreich, solche Verse zum Herzen sprechen zu lassen und dann zu beobachten, wie sie mit dem Gedachten zusammenklingen und Stimmungen wecken, die der prosaischen Form nicht so leicht erreichbar sind und deren Erwachen die philosophischen Beiträge zur Seelenkunde zunächst sogar erschweren mögen. Denn wer käme heute darauf, sich zum Zweck der Selbsterkenntnis ausgerechnet an Philosophen zu wenden, noch dazu an solche, die vielen als Ausbund der Unverständlichkeit gelten? Ich tue dies, weil ich mich davon überzeugt habe, dass diese Scheu unberechtigt ist, vor allem aber, weil es Aufgaben gibt, die auf keinem anderen Wege gelöst werden.
Die Wortlaute der Konzilsbeiträge sind durchweg im sachlichen Zusammenhang angeführt. Sollte dabei einmal etwas sichtbar werden, was der jeweilige Sprecher im ursprünglichen Textzusammenhang nicht meinte, so spricht das für die Fruchtbarkeit seiner Gedanken. Die Angaben am Ende des Buches gestatten das Aufsuchen des jeweiligen Textzusammenhanges und verweisen auf die Werke, welche der Ergänzung oder Vertiefung dienen können.
Aber: Ist es überhaupt ratsam, mich mit dem eigenen Selbst zu beschäftigen? Mit guten Gründen werden von jeher sowohl verneinende als auch bejahende Antworten auf diese Frage gegeben. – Vor den Gefahren der Selbstbetrachtung warnt offensichtlich die wohlbekannte griechische Sage, die erzählt, wie Narzissus sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte und an dieser Leidenschaft zugrunde ging.2 Neben dieser auch heute noch beachtenswerten Warnung steht im alten Griechenland die Aufforderung, welche an den Schüler der Weihestätte von Delphi ergeht: »Erkenne dich selbst!« Sie gibt der Wendung zum eigenen Selbst die Weihe hoher geistiger Zielsetzungen. Allerdings ist das delphische »Erkenne dich selbst« mit einer zweiten Aufforderung verknüpft: »Nichts im Übermaß!« Carl Gustav Carus hat auf diese beiden Grundsätze (zusammen mit dem dritten: »Du bist!«) seinen Entwurf der Lebenskunst nach den Inschriften des Tempels zu Delphi3 gebaut. Er vertritt darin ein Ideal der Selbsterkenntnis, welches zugleich dem des Maßhaltens Genüge tut. Dabei beruft er sich auf einen Sinnspruch Goethes:
»Nehmen wir sodann das bedeutende Wort vor: Erkenne dich selbst, so müssen wir es nicht im aszetischen Sinne auslegen. Es ist keineswegs die Heautognosie unserer modernen Hypochondristen, Humoristen und Heautontimorumenen damit gemeint; sondern es heißt ganz einfach: Gib einigermaßen Acht auf dich selbst, nimm Notiz von dir selbst, damit du gewahr werdest, wie du zu deinesgleichen und der Welt zu stehen kommst. Hierzu bedarf es keiner psychologischen Quälereien; jeder tüchtige Mensch weiß und erfährt, was es heißen soll; es ist ein guter Rat, der einem jeden praktisch zum größten Vorteil gedeiht.«4
Maßhalten in der Selbstbetrachtung bedeutet demnach: Mich freiwillig auf jenen Teil meiner selbst beschränken, den ich kennen muss, um mich in heilsamer Weise zur Welt und zu meinesgleichen zu stellen. Es wäre verfehlt, Goethe hier Gleichgültigkeit oder Verachtung gegenüber dem, was außerhalb des durch dieses Maß begrenzten Feldes liegt, zu unterstellen, hat er doch neben die »drei Ehrfurchten«, welche die Zöglinge seiner »pädagogischen Provinz«5 jeweils dem entgegenbringen, was über ihnen, unter ihnen oder ihnen gleich ist, als vierte die Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst gestellt. Ehrfurcht schließt Zurückhaltung im Fragen und Forschen, im Genießen und Richten ein; sie lehrt das zur seelischen Geste, ja: zur Stimmung erhobene Wahren des inneren Maßes.
Den durch Verzicht auf Selbsterfahrung frei gelassenen Raum erfüllt der »goldene Überfluss der Welt«6, welcher dem Selbst oft noch verwandter ist als die Inhalte des Seelenlebens. Dass Goethe im Einklang mit seinem Ideal der Selbsterkenntnis das Augenmerk auf die im Licht erscheinende Welt richtet, hindert ihn nicht, anzuerkennen: »Im Innern ist ein Universum auch.«7 Wenn nun innen wirklich eine Welt auftaucht, will die Erfüllung des »Erkenne dich selbst« als Entdeckungsfahrt zu den Gestaden eben dieser Welt gewagt sein. Die allgegenwärtige Versuchung des Narziss muss dabei als drohende Klippe auftauchen, kann aber dank des über den Spiegel der Persönlichkeit hinausweisenden hohen Zieles umschifft werden.
Wie Goethe sich für die taghelle Welt des Lichtes entschied, so wandte sich der Romantiker Novalis der nachtverhangenen Schwelle im Inneren zu:
»Die Phantasie setzt die künftige Welt entweder in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in der Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbei und der Schattenkörper hinweggerückt ist. Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.«8
Goethes ›Ehrfurcht vor mir selbst‹ und der ›Weg nach innen‹, den Novalis meint, bilden ein Gegensatzpaar: Hier Sammlung der Kräfte durch Begrenzung, dort Wachsen ins Unermessliche durch Entgrenzung. Zwischen diesen Polen waltet eine Spannung, aus der mancherlei Herausforderungen und Nöte des Lebens stammen; sie ist darüber hinaus aber auch das Unterpfand jener in sich ruhenden Kraft, die durch das willentliche Aufrechterhalten des Gleichgewichtes entsteht.
Wie Alexander Solshenizyn einmal sagte: »Man kann nur in einer Pfütze ertrinken, nie aber im Ozean«, so bewahrt mich die Ehrfurcht vor der eigenen Seele davor, an ihren Untiefen scheiternd zu ertrinken, und so führt der Weg in die ›Tiefen des Geistes‹ in Weiten hinaus, in denen ich mich nie verlieren kann, weil sie mir nicht weniger verwandt sind als die vom ewig jungen Sonnenlicht vergoldete Welt der Sinne.
Alles ernsthafte Nachdenken führt zuletzt an die Schwelle der Selbsterkenntnis; in dem Augenblick nämlich, in dem ich mir sage: Wenn ich mich von der Gültigkeit meiner Erkenntnisse überzeugen will, muss ich auch das Erkennen selbst verstehen. Mit dieser Frage habe ich schon das Gebiet der Seelenkunde betreten. Dass es philosophische Lehrgebäude und Schulen gibt, die an dieser Schwelle stehen bleiben und alles Erkennen, ja die ganze Welt, als ›subjektiv‹, das heißt: als seelisch bedingt ansehen, kann vorläufig außer Betracht bleiben. Von unschätzbarem Wert aber ist die Klarheit des philosophischen Blicks auf die Seelenerscheinungen. Wenn man in dem folgenden Abschnitt aus der Erkenntnislehre Wladimir Solowjews das Wort ›Philosophie‹ durch ›Seelenkunde‹ ersetzt, dann kann er ohne Weiteres als sicherer Ausgangspunkt der Selbsterkenntnis dienen:
»Es existiert für den Beginn der Philosophie eine dreieinige Gewissheit.
Erstens: gewiss sind die subjektiven Zustände des Bewusstseins als solche – der psychische Stoff jeglicher Philosophie.
Zweitens: gewiss ist die allgemeine logische Form des Denkens als solche (unabhängig vom Inhalt).
Und drittens: gewiss ist das philosophische Vorhaben oder die Entschlossenheit, die Wahrheit selbst zu erkennen – als lebendiger Beginn der philosophischen Arbeit, als wirkliche, bestimmte Form, die den Keim oder Samen ihres unbedingten Inhaltes in sich enthält. (…)
Man muss auf diese Weise im Erkennenden unterscheiden: erstens das empirische Subjekt, zweitens das logische Subjekt und drittens das eigentlich philosophische Subjekt. Man kann schließlich dieses dreifache Subjekt mit drei verschiedenen Namen bezeichnen, indem man das erste Seele, das zweite Intellekt und das dritte Geist nennt. Man darf sich bloß von dieser Unterscheidung der Worte nicht hinreißen lassen und nicht vor der Zeit bei ihr stehen bleiben. (…)
Die neuere Philosophie (…) behauptet als ihr Prinzip die alte delphische Forderung γνωϑι σαυτον = erkenne dich selbst. (…)
Bedeutet dies ›Erkenne dich selbst‹, dass wir uns selbst als empirisches Subjekt in unserem Temperament, Charakter und jeglichen psychischen Eigenschaften – den allgemeinen, einzelnen und besonderen – erkennen sollen? Das ist sehr nützlich, aber das ist doch nicht Philosophie.
Oder sollen wir uns als logisches Subjekt in denjenigen Formen des Denkens erkennen, in denen dieses Subjekt als denkendes auftritt, unabhängig vom Gedachten, was dieses auch sei? Auch diese Übung kann nützlich und unterhaltend sein; aber das, was wir Philosophie nennen, lässt sich ebenso wenig auf die formale Logik zurückführen, wie es auf die empirische Psychologie zurückzuführen ist.
Der delphische Spruch konnte, wenn er von einer guten Kraft kam, und nicht von Python, keine Erkenntnis seiner selbst als eines empirischen Chaos oder als einer logischen Abstraktion verlangen: er musste auf das Subjekt in der dritten Bedeutung als das wahrhaft philosophische Subjekt hinweisen; dieses wird doch nicht nach seiner materiellen Buntheit und nicht nach seiner formalen Leere, sondern nach seinem unbedingten Inhalt bestimmt, als werdende Vernunft der Wahrheit selbst. ›Erkenne dich selbst‹ bedeutet also: erkenne die Wahrheit: γνωϑι σαυτον – γνωϑι την αληϑειαν.«9
Die Gewissheit, welche Solowjew aus den drei von ihm herausgearbeiteten Bereichen seelischer Tatsachen gewinnt, gründet sich darauf, dass jeder von ihnen die beiden anderen stützt; sie bilden den Dreifuß, auf dem alle Selbsterkenntnis ruht:
»Die Einheit dieser dreifachen Gewissheit besteht darin, dass die erste Art der Gewissheit auch den beiden anderen eignet, da sowohl die formale Vernünftigkeit, das Denken überhaupt, als auch das Vorhaben des unbedingten Denkens oder des Erkennens der Wahrheit vor allem Tatsachen des Bewusstseins mit der unmittelbaren Gewissheit in jenem ersten Sinne sind. Aber zu dieser seiner subjektiven Gewissheit bringt das logische Denken als solches die allgemeine und objektive Bedeutung (eben die formale Vernünftigkeit) einer jeden seiner Äußerungen hinzu und das philosophische Vorhaben fügt zu seiner subjektiven Gewissheit und zur logischen Bedeutung seines Gegenstandes (des Begriffs der Wahrheit selbst oder des Unbedingten) diejenige Entschlossenheit oder denjenigen Akt des sich seinem Gegenstand hingebenden Willens hinzu, der als wirklicher Beginn einer Bewegung erscheint und das Denken in die werdende Vernunft der Wahrheit verwandelt.«
Am Anfang ernsthafter Selbsterkenntnis muss stehen, was Solowjew als Letztes nennt: »die Entschlossenheit, die Wahrheit selbst zu erkennen«; und die in diesem Entschluss wirksame »wirkliche, bestimmte Form, die den Keim oder Samen ihres unbedingten Inhaltes in sich enthält«, besteht in einer wohl durchdachten Fragestellung, die sich in klaren Begriffen ausdrückt und die sich auf das ganze Feld der seelischen Erfahrungen richtet:
Wer bin ich?
Drei Worte, eine Frage. So scheint es. In Wirklichkeit ist mit diesem Satz eine Schar von Fragen ausgesprochen, die sich mittels der in der gesprochenen Rede möglichen Betonungen unterscheiden lassen.
1. Wer bin ich?
2. Was bin ich nicht?
3. Wer bin ich?
4. Was bin nicht ich?
5. Was ist das, was nicht ich bin?
6. Wer bin ich?
7. Was bin ich noch nicht?
Jede Frage hat ihre besonderen, unausgesprochenen Voraussetzungen und ihr jeweils eigenes Ziel:
1. Wer bin ich? – Hier wird das ›Ich‹ und das ›bin‹ vorausgesetzt und nach dem Bild, nach den Eigenschaften gefragt, die zu mir gehören.
2. Was bin ich nicht? – Diese Frage hilft auf dem Felde, das durch die erste eröffnet wird, Schein und Sein zu unterscheiden, indem sie das, was ich bin von dem trennt, was mir nur anhaftet.
3. Wer bin ich? – Genau gesehen ergibt diese Betonung zwei Fragen: Einmal steht das »Ich bin« im Gegensatz zu »Ich war«, oder »Ich werde sein«; so verstanden fragt es nach dem, was ich gegenwärtig bin, im Unterschied zu meiner Vergangenheit und Zukunft. Vor allem aber deutet das ›bin‹ auf die allgemeinen Bestimmungen des Wesens, welches durch die vorübergehenden Zustände hindurchgeht.
4. Was bin nicht ich? – Diese Betonung unterscheidet im Unterschied zur zweiten Frage die notwendigen Eigenschaften meines Selbst von dessen vorübergehenden Zuständen und Beziehungen, sie trennt das Selbst von allem, was es nicht ist; mit anderen Worten: Sie begründet die Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich.
5. Was ist das, was nicht ich bin? – Diese Frage muss gestellt werden, weil sie dem Selbst das Tor zur Welt öffnet und es so vor dem Laster des Narziss bewahren hilft. Außerdem wird sich zeigen, dass das Selbst zuweilen auch das ist, was es nicht ist. Dies führt auf das Gebiet der Beziehungen zwischen Ich und Nicht-Ich. Es betrifft die Pflege meines Verhaltens zur Welt und zu meinesgleichen, das also, was man die ›Lebenskunst‹ im höheren Sinne nennt.
6. Wer bin ich? – Diese Betonung fragt nach dem, wodurch ich nichts bin als – ich selbst, und wodurch ich mich von allen anderen ›Ichen‹ unterscheide.
7. Was bin ich noch nicht? – Die letzte Frage versucht der Tatsache gerecht zu werden, dass es für mein Selbst eine Brücke zwischen Sein und Nicht-Sein gibt: das im Wesen veranlagte Werden.
VON DER ZEITLICHKEIT DER SEELE
Schlaf nicht, schlaf nicht, Künstler,
Ergib dich nicht dem Schlaf,
Du bist die Geisel der Ewigkeit,
Gefangen im Kerker der Zeit.
Boris Pasternak
Eng verknüpft mit der Selbsterkenntnis ist die Frage nach dem ›Sinn des Lebens‹. Sie gilt nicht einfach dem Leben als solchem, sondern meint mein eigenes, besonderes Leben. Das letztere aber ist nichts anderes als die Daseinsform meines Selbst, meiner Seele, meiner Individualität oder wie immer man sagen mag; und der ›Sinn‹ ist dabei nicht bloß ein dem Naturzusammenhang dienender Zweck meines Daseins, auch nicht seine etwaige gottgewollte Bestimmung, vielmehr dasjenige, was ich selbst ihm als Ziel oder Wert zuspreche.
Auch auf dem Felde der durch Selbsterkenntnis gefundenen Werte und Ziele rufen Mannigfaltigkeit, Gegensatz und Spannung nach Gleichgewicht. Einen umfassenden Gegensatz veranschaulichen zwei Erzählungen. Die erste handelt von einer wirklichen Begebenheit, die sich nach dem Bericht des Ilmenauer Berginspektors Johann Christian Mahr am 27. August 1831 zutrug:
»Ganz bequem waren wir bis auf den höchsten Punkt des Kickelhahns gelangt, als er ausstieg, sich erst an der kostbaren Aussicht auf dem Rondell ergötzte, dann über die herrliche Waldung freute und dabei ausrief: Ach hätte doch dies Schöne mein guter Großherzog Karl August noch einmal sehen können! – Hierauf sagte er: ›Das kleine Waldhaus muss hier in der Nähe sein: Ich kann zu Fuß dahin gehen, und die chaise soll hier so lange warten, bis wir zurückkommen.‹ Wirklich schritt er rüstig durch die auf der Kuppe des Berges ziemlich hochstehenden Heidelbeersträucher hindurch bis zu dem wohlbekannten, zweistöckigen Jagdhause, welches aus Zimmerholz und Bretterbeschlag besteht. Eine steile Treppe führt in den oberen Teil desselben; ich erbot mich, ihn zu führen, er aber lehnte es mit jugendlicher Munterkeit ab, ob er gleich tags drauf seinen zweiundachtzigsten Geburtstag feierte, mit den Worten: ›Glauben sie ja nicht, dass ich die Treppe nicht steigen könnte; das geht mir noch recht sehr gut.‹ Beim Eintritt in das obere Zimmer sagte er: ›Ich habe in früherer Zeit in dieser Stube mit einem Bedienten im Sommer acht Tage gewohnt und damals einen kleinen Vers hier an die Wand geschrieben. Wohl möchte ich diesen Vers nochmals sehen, und wenn der Tag darunter bemerkt ist, an welchem es geschehen, so haben Sie die Güte, mir solchen aufzuzeichnen.‹ Sogleich führte ich ihn an das südliche Fenster der Stube, an welchem links mit Bleistift geschrieben steht:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
D. 7. September 1780 Goethe
Goethe überlas diese wenigen Verse, und Tränen flossen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkelbraunen Tuchrock, trocknete sich die Tränen und sprach in sanftem, wehmütigem Ton: ›Ja warte nur, balde ruhest du auch‹, schwieg eine halbe Minute, sah nochmals durch das Fenster in den düsteren Fichtenwald und wendete sich darauf zu mir mit den Worten: ›Nun wollen wir wieder gehen!‹«
Der alte Dichter erfuhr in dieser Stunde den Sinn des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg (Matth. 20, 1 – 16): Jeder von ihnen erhält, wie kurz oder lang er auch gewirkt haben mag, am Ende des Tages einen Denar. Es muss der selbe Lohn für alle sein, weil die letzte Stunde nichts größeres geben kann als: Das Menschenleben in dem Spiegel zu sehen, der entsteht, wenn der Strom der Zeit in jenem Kreis zur Ruhe kommt, der Anfang und Ende verbindet. Denn das ist es, was hinter dem späten Wiederfinden der in der Jugend geschriebenen Verse auftaucht: Geburt und Tod. Sie bilden den Rahmen, in dem das darin beschlossene Bild Wirklichkeit wird. Glanz und Elend, Taumel und Trauer des Lebens täuschen immer wieder über dieses eine hinweg: Das größte Geschenk ist, ein Mensch gewesen zu sein, und wäre dieser eine Denar mir nicht gegeben, könnte auch alles andere, einzelne nicht sein, was nötig war, damit das Werk getan wird. Warum nicht darauf vertrauen, dass dieser Großkreis des Menschseins in jedem Zuendegehen gefunden wird? Warum nicht durch mein Sinnen über dieses Geheimnis ein heilsames Staunen entstehen lassen, in dem der Hauch der Ewigkeit ahnungsvolle Gedanken weckt?
Anders als das Ende spricht der gegenwärtige Augenblick. Könnte es sein, dass nicht nur die durch Geburt und Tod geschenkte Einheit des Lebens Gewicht hat, ja, dass es vielmehr Teile gibt, die ebenso viel wiegen wie dieses Ganze? Eine Frage, welche die Seele mit Ernst, wo nicht mit Beklemmung füllt. Die zweite Geschichte führt an ihren Kern: