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ÜBER DEN AUTOR
Ben Moore, 1966 in Großbritannien geboren, ist Professor für Astrophysik an der Universität Zürich. Er forscht vor allem zum Ursprung von Galaxien, Planeten und ihren Monden und hat dazu über 200 wissenschaftliche Abhandlungen verfasst. Seit 2013 hält er eine Vorlesung zur Astrobiologie, welche sich mit der möglichen Entstehung und Existenz von außerirdischem Leben beschäftigt. Unter seinem Künstlernamen »Professor Moore« verbindet er Klänge aus dem Universum mit denen seiner Gitarre zu elektronischer Musik. Moore ist Autor von Elefanten im All (2012), Da draußen (2014) und, zusammen mit Katharina Blansjaar, vom Kinderbuch Gibt es auf der dunklen Seite vom Mond Aliens? (2017), alle ebenfalls bei Kein & Aber erschienen. Ben Moore lebt seit 2002 in der Schweiz.
ÜBER DAS BUCH
Der Mond ist ein rätselhafter kosmischer Nachbar, der uns seit jeher fasziniert: Wie ist er entstanden? Warum zeigt er uns nur eine Seite, und wie bewegt er die Ozeane? Treibt sein helles Licht uns in den Wahnsinn? Und was bedeutet die erste Mondlandung vor 50 Jahren für den Menschen und die Forschung? Ben Moore verbindet die Kulturgeschichte des Mondes mit den wichtigsten Fakten und neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen und legt dar, wie zentral dieser Himmelskörper für die Menschheit schon immer war und wie stark seine Auswirkungen auf unser alltägliches Leben sind.
»Ben Moore ist ein sehr guter Erzähler, und es macht Spaß, ihm durch die Geschichte von Materie, Raum und Zeit zu folgen.« Deutschlandfunk
INHALT
VORWORT
1. TRÄUME VOM MOND
Von der Steinzeit bis zum Weltraumzeitalter – eine Einführung
2. HERRLICHE VERWÜSTUNG
Der Wettlauf zum Mond und die abenteuerliche Reise von Apollo 11
3. DAS APOLLO-ERBE
Was wir durch die Mondlandungen über den Erdtrabanten erfahren haben
4. EIN MYSTERIÖSER NACHBAR
Spekulationen über die Entstehung des Mondes
5. DIE ERSTE ASTRONOMIN
Wie frühe Zivilisationen den Nachthimmel beobachteten
6. OMEN AM HIMMEL
Lunare Wahrsagerei bei den Sumerern und Babyloniern
7. ILLUSIONEN AUS LICHT UND SCHATTEN
Die rätselhaften Eklipsen von Mond und Sonne – und welche Farbe hat eigentlich der Mond?
8. MONDFORSCHER AM MITTELMEER
Mit den alten Griechen beginnt die wissenschaftliche Astronomie
9. VON ASTROLOGEN UND ASTRONOMEN
Die Astrologie floriert – aber die Wissenschaft bahnt sich trotzdem ihren Weg
10. BEOBACHTUNGEN EINER NEUEN WELT
Die Erfindung des Teleskops revolutioniert die Mondforschung
11. HERR DER GEZEITEN
Wie der Mond die Ozeane bewegt
12. FREUND UND FEIND ZUGLEICH
Erde und Mond sind voneinander abhängig – im Guten wie im Schlechten
13. LEBEN IM MONDLICHT
Der Einfluss des Mondes auf irdisches Leben
14. DIE ZUKUNFT
Weshalb wir im 21. Jahrhundert neue Mondlandungen brauchen
VORWORT
Vor 50 Jahren, 1969, machten Menschen die ersten Schritte auf dem Mond. Es war eine der größten Errungenschaften der Menschheit. Inzwischen hat ein neuer Wettlauf zum Mond, ein neues »Space Race«, begonnen. Alle wichtigen Weltraumagenturen unseres Planeten und auch einige private Unternehmen haben angekündigt, bis 2030 eine Mondbasis errichten zu wollen. Die Zukunft für die Mondforschung scheint rosig.
Unser kosmischer Begleiter trägt noch immer viele Geheimnisse in sich, von seinen Wirkungen und Einflüssen auf das Leben auf der Erde bis hin zu seiner Entstehung. In den vergangenen 15 Jahren hat sich meine Forschungsarbeit allmählich von der Kosmologie hin zur Entstehung von Planeten verlagert. Es frustrierte mich, dass es noch immer keine überzeugende Theorie zur Entstehung des Mondes gab. Nun versuchen wir, mithilfe eines der leistungsfähigsten Supercomputer der Welt zu verstehen, wie der Mond entstanden ist.
Als junger theoretischer Astrophysiker begann ich, mithilfe von großen Computern unser Universum zu simulieren, und versuchte, die Entstehung von Galaxien und die Beschaffenheit Dunkler Materie zu verstehen. Ich war aber ein wenig neidisch auf meine beobachtenden Kollegen, die immer mal wieder verschwanden und ihre Tage und Nächte an exotischen Orten verbrachten, in spektakulären Observatorien auf Berggipfeln. Also stellte ich zusammen mit einem Kollegen einen Antrag, um weit entfernte Galaxien durch ein leistungsstarkes Teleskop beobachten zu können – mit dem hehren Ziel, deren Entfernung und Bewegungen zu messen. Wir waren überrascht, als wir tatsächlich zwei Wochen Zugang zu einem bescheidenen Zwei-Meter-Teleskop zugesprochen bekamen, und bereiteten uns aufgeregt auf unsere Beobachtungen vor. Aber was wir bei unserer Ankunft vorfanden, war nicht das, was wir erwartet hatten.
Ein modernes Observatorium ist ein Hightech-Labor. Der Bediener sitzt in einem Kontrollraum neben dem eigentlichen Instrument, damit die Temperaturunterschiede in der Teleskopkuppel möglichst gering bleiben. Heutige Astronomen schauen nie selbst durch die Linse eines Teleskops. Koordinaten werden in einen Computer eingegeben, das Teleskop bewegt sich automatisch in die korrekte Position und beginnt, sein Objekt in seiner Bewegung über den Nachthimmel zu verfolgen. Das Teleskop sammelt so viele Photonen wie möglich und fokussiert sie auf einen Detektor – ähnlich wie in einer digitalen Kamera, nur viel größer und empfindlicher. Der Detektor befindet sich in einem Bad aus flüssigem Stickstoff, um das Wärmerauschen zu unterdrücken, und zählt die Photonen buchstäblich Stück für Stück, während er ihre Positionen und Energien aufzeichnet. Auf dem Bildschirm im Kontrollraum tauchen langsam Bilder von weit entfernten Galaxien auf, die mit bloßem Auge nicht sichtbar sind.
Es fiel uns schwer, die ganze Nacht wach zu bleiben, vor allem, weil wir wegen des ununterbrochenen Regens, der mit unserer Ankunft eingesetzt hatte, nicht einmal das Kuppeldach öffnen konnten. Nach einer anstrengenden Woche voller schlafloser Nächte lösten sich die Wolken endlich auf. Die Bedingungen waren jedoch immer noch zu schlecht, um verwertbare Daten zu sammeln. Wir nutzten die Zeit, um einen Streit zu klären, der zwischen uns über den im Dunkel liegenden Teil der Mondscheibe entbrannt war. Ich war der Ansicht, dass neben der beleuchteten Mondsichel ein Lichthauch zu erkennen sei, aber mein Kollege hielt das für eine Illusion. Wir entschieden uns, mithilfe des Teleskops zu klären, wer recht hatte.
Als wir das Teleskop auf den im Dunkeln liegenden Teil des Mondes richteten, war da tatsächlich ein Lichtschimmer zu sehen, und wir konnten bis ins kleinste Detail die senkrechten Gesteinswände erkennen, die sich am Rande eines fünf Kilometer tiefen Einschlagkraters erhoben. Doch plötzlich schob sich die beleuchtete Mondsichel in unser Beobachtungsfeld. Die vielen Photonen, die auf den Detektor einprasselten, brachten augenblicklich den flüssigen Stickstoff zum Kochen. Der Computerbildschirm zeigte nur noch blindes Rauschen an, während sich das System überhitzte und den Geist aufgab. Schwaden von Stickstoffdampf füllten das Observatorium.
Der Mond ist tatsächlich sehr hell. Sehr viel heller als die weit entfernten Dinge, für deren Beobachtung so ein Teleskop gebaut wurde – 1000 Billionen mal heller, genau genommen. So endeten also unsere Observationen, und ich entschied mich, es von nun an bei der theoretischen Astrophysik zu belassen.
Diese Episode ereignete sich zu einer Zeit, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte und all die Informationen, die heute nur einen Mausklick entfernt sind, noch nicht so leicht zugänglich waren. Wir hatten daher keine Ahnung, dass Leonardo da Vinci bereits vor über 500 Jahren eine Skizze vom verdunkelten Teil der Mondscheibe gemacht und den Lichtschimmer als Erdschein identifiziert hatte.
Die Geschichte des Mondes – von seiner Entstehung bis hin zu seinen Auswirkungen auf unseren Planeten und auf das Leben – ist eine Geschichte, die ich schon lange erzählen wollte. In dieser Biografie des Mondes nehme ich Sie mit auf eine Reise in die Vergangenheit des Erdtrabanten, auf der wir uns der faszinierenden Folklore rund um den Mond genauso widmen werden wie den neuesten Forschungsergebnissen.
Die Astronomie begann mit der Beobachtung unseres Mondes, und noch immer macht sie bemerkenswerte Entdeckungen über unseren himmlischen Nachbarn. Seit wir uns Gedanken über den Kosmos machen, träumen wir davon, zum Mond zu reisen. Von Folklore und Mythen bis zur ersten Science-Fiction, immer inspirierten Geschichten über unseren Mond die Wissenschaftler, diese Träume zu verwirklichen. Beginnen wir unsere Entdeckungsreise des Mondes mit einigen dieser Geschichten.
1. TRÄUME VOM MOND
Eine meiner lebendigsten Kindheitserinnerungen ist eine Nacht, in der mein Vater mich mit nach draußen nahm, um mir den Mond zu zeigen. Er erzählte mir, dass dort oben Menschen seien, genau jetzt, die auf seiner Oberfläche herumliefen. Wir bildeten uns ein, mit bloßen Augen das Mondmodul sehen zu können, das um den Mond herumkreiste und auf die Astronauten wartete, um sie zurück zur Erde zu bringen. Natürlich war das unmöglich, aber nicht in den Augen und der Vorstellung eines Kindes. Es war im Winter 1972, und es war der letzte bemannte Flug zum Mond, Apollo 17. In jener Nacht hinterließ Eugene Cernan den letzten Fußabdruck auf dem Mond, als er wieder ins Landemodul stieg. Später erzählte er, es hätte sich angefühlt wie in einer Science-Fiction-Welt. Ich war gerade einmal sechs Jahre alt und konnte die enorme Leistung dieser Astronauten noch nicht begreifen, aber diese Nacht mit meinem Vater hinterließ einen tiefen Eindruck.
Die Astronomie nahm ihren Anfang, als man versuchte, die Zeit zu messen und die Omen vorherzusagen, die mit den Eklipsen und der Ausrichtung der Planeten in Verbindung gebracht wurden. Ohne das Wissen, das wir heute haben, würde man die Bewegungen und die Erscheinung des Mondes wohl fast selbstverständlich mit großen Mächten in Verbindung bringen – den Göttern. Man stelle sich einmal die Gedanken unserer Vorfahren vor, wenn sich am Himmel Unerwartetes ereignete. Diese historischen Schritte auf dem Weg zur Erforschung unseres Mondes nachzuzeichnen, ist unheimlich spannend. Auch wenn einige dieser Schritte eher Rückschritte waren, sind sie doch Teil unserer Geschichte.
Unser himmlischer Nachbar war von Beginn an eine Inspirationsquelle für uns Erdenbewohner. Es gehört zum Wesen des Menschen, zu träumen und sich seiner Vorstellungskraft zu bedienen. Träume vom Mond wurden über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg in unzähligen Erzählungen, Gedichten, Mythen und Legenden verwoben. Wie hätten frühe Gesellschaften sich sonst einen Reim machen können auf den Nachthimmel mit seinem alles überstrahlenden Mond? Viele der Ideen und Ansichten aus der Zeit vor der schriftlichen Aufzeichnung sind schwer zu rekonstruieren, aber einiges davon blieb über viele Generationen durch Folklore und Mythen erhalten. Geschichten über den Mond sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst.
Irgendwann begannen unsere Vorfahren damit, den Lauf der Jahreszeiten zu messen, indem sie die Zyklen und Phasen des Mondes zählten. Vielleicht aus ganz praktischen Gründen, um zu wissen, wann es an der Zeit war, zu säen und zu ernten, oder aus zeremoniellen Gründen, um den Zeitpunkt für ein großes Fest zu bestimmen. Fast alle frühen Gesellschaften bedienten sich der regelmäßigen Mondzyklen, um die Zeit zu messen. Aber ich kann mir auch vorstellen, dass wir mit der Astronomie begannen, einfach weil wir es konnten, und weil es schön ist, den Nachthimmel zu beobachten.
Die Geschichte der Entdeckung unseres Mondes beginnt mit 30000 Jahre alter lunarer Kunst in der Altsteinzeit und zieht sich bis in die Neusteinzeit, als Bauwerke errichtet wurden, die nach den jährlichen und monatlichen Bewegungen der Sonne und des Mondes ausgerichtet waren.
Die älteste Darstellung der Mondphasen stammt aus dem europäischen Aurignacien. Wenig ist bekannt über diese Kultur – sie kam aus dem Osten nach Europa und verdrängte vor rund 40000 Jahren die Neandertaler. Aus ihr stammen die ältesten bekannten künstlerischen Repräsentationen von Tieren und Menschen, und das älteste bekannte Musikinstrument, eine Knochenflöte, die 2008 in Hohler Fels gefunden wurde, einer Steinzeithöhle in Süddeutschland. Vor rund 30000 Jahren ritzte ein Angehöriger des Aurignacien in der Dordogne den Mondzyklus in ein Stück Knochen. Ein ähnlich bearbeitetes Stück Mammutelfenbein aus der Geißenklösterle-Höhle in Deutschland stammt aus der gleichen Zeit. Auf der einen Seite ist eine menschenähnliche Figur in anbetender Position abgebildet. An den Seiten und auf der Rückseite findet sich eine Reihe von Kerben, die auf die Mondphasen abgestimmt zu sein scheinen. An der Nilquelle, in der heutigen Demokratischen Republik Kongo, wurde der sogenannte Ishango-Knochen gefunden, der zwischen 16000 und 25000 Jahre alt ist. Einige Wissenschaftler sind der Meinung, dass die Einkerbungen auf dem Pavianknochen einen Kalender über die Spanne zweier Mondmonate darstellen.1 Die berühmten Höhlenmalereien im französischen Lascaux wurden vor 20000 Jahren bei Feuerschein auf den Fels gezeichnet – auch hier vermuten Forscher, dass auf ihnen die Mondphasen zu erkennen sind, außerdem die Gestirne der Plejaden und Hyaden.2
2004 wurden in Schottland zwölf eigenartig geformte Gruben entdeckt, die über einen Bogen von 50 Metern verteilt sind. Die mittlere Grube ist rund, misst 2 Meter und stellt wohl den Vollmond dar; die äußeren Gruben gleichen in ihrer Form dem zunehmenden und abnehmenden Mond. Die Stätte, ihrem Standort nach als »Warren Field« bezeichnet, ist rund 10000 Jahre alt und gilt als ältester bekannter Mondkalender. Die Gruben waren wahrscheinlich mit Holzstäben versehen, die sich zum Horizont hin nach einer prominenten Stelle ausrichteten. Sie waren ein Werkzeug, um die Zeit und die Jahreszeiten zu messen, eine Verbindung zwischen dem Sonnenjahr und den Mondphasen. Das Monument wurde über mehrere Tausend Jahre unterhalten und periodisch umgearbeitet – als Reaktion auf die sich ändernden Sonnen- und Mondzyklen –, bis der Kalender vor rund 4000 Jahren außer Gebrauch geriet.
HIMMLISCHE MÄCHTE
Mit dem Aufkommen der ersten Zivilisationen wurden ehrgeizigere Monumente aus riesigen Steinen errichtet, die nach wichtigen astronomischen Ereignissen ausgerichtet waren. Zu diesen Zeitpunkten geht zum Beispiel die Sonne an markierten Stellen des Bauwerks auf oder unter. In Europa und Asien gab es während der Neusteinzeit Tausende solcher Stätten. Bekannte Beispiele sind die Kreisgrabenanlagen im ägyptischen Nabta Playa und dem deutschen Goseck. Beide sind rund 5000 Jahre alt. Der Megalith-Tempel von Mnajdra in Malta, die ägyptischen Pyramiden und Stonehenge in England stammen alle etwa aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. Viele dieser neusteinzeitlichen Bauwerke orientierten sich an den Tagundnachtgleichen und den Sonnwenden.
Die ersten uns bekannten schriftlichen astronomischen Aufzeichnungen wurden im 3. Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien und China gemacht, während in Indien das Wissen mündlich überliefert wurde. Aufkeimende Kulturen rund um den Globus versuchten in dieser Zeit, den Einfluss des Mondes auf ihr Leben zu verstehen, und fanden mythische Erklärungen für astronomische Ereignisse.
Die Mondphasen
Einer der wichtigsten Götter der Sumerer und Babylonier war der Mondgott Sin – auch Nanna genannt –, symbolisiert durch eine Sichel oder einen Bullen. Den sich ständig wiederholenden Mondzyklus deuteten die Sumerer als die dem Mondgott innewohnende Kraft, sich jeden Monat neu zu erschaffen. Sie glaubten, dass er diese Kraft auf alle lebenden Kreaturen übertragen könne – der Mondgott war also ein Fruchtbarkeitsgott. Viele der sumerischen Legenden wurden später in der Bibel und im Koran aufgegriffen.
Der Zweikampf zwischen Horus und Seth ist ein Mythos aus dem alten Ägypten, der gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. auf Papyrus geschrieben wurde. Es gibt viele Versionen dieser Legende vom Kampf zwischen den Göttern um die Weltherrschaft. Seth war der Gott der Wüste und der Gewalt. Horus war ein Himmelsgott, sein rechtes Auge symbolisierte die Sonne, sein linkes den Mond. Während eines besonders grausamen Kampfes riss Horus Seth einen seiner Hoden ab, und Seth riss Horus das linke Auge aus. Seths Verstümmelung symbolisiert einen Verlust seiner Potenz und Kraft, was in Verbindung gebracht werden kann mit der Dürre der Wüste. Der Diebstahl oder die Zerstörung des Auges von Horus wird gleichgestellt mit der Verdunkelung des Mondes im Laufe seines Zyklus – oder mit den rätselhaften Eklipsen.3
Viele der antiken Kulturen brachten die Mondzyklen und Eklipsen mit Leben und Tod in Verbindung. In der Mahabharata, dem indischen Epos aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., werden Eklipsen als Folge einer Schlacht zwischen Göttern und Dämonen beschrieben, die bis in alle Ewigkeit andauert. Die Geschichte geht in etwa so: Die Götter wollten Amrita brauen, den Nektar der Unsterblichkeit, der durch »samudra manthan« entsteht – das Aufwühlen des Milchozeans. Es war eine schwierige Aufgabe, also baten sie die Asura-Dämonen um Hilfe. Im Gegenzug versprachen sie, den Nektar mit den Dämonen zu teilen. Als die Tat vollbracht war, nahm der Gott Vishnu die Form einer schönen Frau an, lenkte die Dämonen ab und griff sich den Nektar, um ihn unter den Göttern zu verteilen. Der Dämon Rahu schaffte es jedoch, sich unter die Götter zu mischen, und nahm einen Schluck vom Nektar. Der Sonnengott Surya und der Mondgott Chandra erkannten ihn und warnten Vishnu. Daraufhin schlug dieser Rahu den Kopf ab. Doch weil der Dämon vom Amrita getrunken hatte, waren sein Kopf und sein Körper unsterblich. Rahu war wütend auf Surya und Chandra, weil sie Vishnu gewarnt hatten, und so jagen sein kopfloser Körper (Ketu) und sein körperloser Kopf (Rahu) sie auf alle Ewigkeit durch den Himmel. Von Zeit zu Zeit erwischt Rahu einen der beiden Verräter und verschluckt ihn, was zu einer Eklipse führt. Da er aber nur ein abgeschlagener Kopf ist, schlüpfen Sonne und Mond einfach aus seinem Hals heraus und werden wieder sichtbar.
In der griechischen Mythologie gab es Selene, die schöne Göttin des Mondes, Tochter der Titanen Hyperion und Theia und Schwester des Sonnengottes Helios und der Göttin der Morgenröte, Eos. Selene bewegt sich mit ihrer silbernen Mondkutsche über den Himmel, gezogen von geflügelten Pferden. In der Hymne an Selene von Homer aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. ist zu lesen:
»[…] und es glänzt der verfinsterte Aether
Hell von dem Golddiadem, und weithin schimmern die Strahlen,
Wann von Ozeanos Strome, die herrlichen Glieder gebadet,
Und in die Kleider gehüllet, die leuchtenden, Göttin Selene,
Ihr starrhalsiges Gespann an den Wagen geschirret,
Vorwärts treibt im Schwunge den Zug schönhaariger Roße,
Abends im Vollmondlicht, wann rund der gewaltige Kreis strahlt;
Und es verbreiten sich da von der wachsenden, hoch von dem Himmel,
Strahlen von leuchtendem Glanz; und sie wird Wahrzeichen den Menschen.«4
In manchen dieser Mythen sind Sonne und Mond Götter oder mystische Gestalten, in anderen sind sie Mann und Frau oder Bruder und Schwester. Máni ist die Personifikation des Mondes in der nordischen Mythologie. In der altnordischen Sage Edda findet sich im Völuspá-Lied diese Stelle:
»Die Sonne von Süden,/des Mondes Gesellin, Hielt mit der rechten Hand/die Himmelrosse. Sonne wuste nicht/wo sie Sitz hätte, Mond wuste nicht/was er Macht hätte, Die Sterne wusten nicht/wo sie Stätte hätten.«5
Das unterschiedliche Geschlecht des Mondes in verschiedenen Sprachen könnte von diesen frühen Mythen und Legenden herrühren. Im Lateinischen, Französischen und Italienischen ist der Mond weiblich. Die griechische Göttin des Mondes, Selene, wurde auch »Mene« genannt. Das Wort »men« (feminin »mene«) bezeichnete den Mond und den Mondmonat im Altgriechischen. Es war auch die Bezeichnung für den phrygischen Mondgott »Men«. Selenes römisches Gegenstück war die Mondgöttin Luna.
Im Gegensatz dazu betrachteten die teutonischen Stämme die Sonne als weiblich, der Mond war eine männliche Gottheit. Der Historiker Francis Palgrave schreibt in seiner 1831 erschienenen History of the Anglo-Saxons: »Im Gegensatz zur Mythologie der Griechen und Römer wurde die Sonne von allen Teutonen als weiblich gesehen, und der Mond als männliche Gottheit. Sie waren der merkwürdigen Ansicht, dass, würden sie diese Macht als Göttin anbeten, ihre Frauen zu ihren Gebietern würden.«6 Die Legende des Mannes im Mond wird in vielen nordischen Volksbräuchen ähnlich erzählt, oft als Geschichte eines räuberischen Mannes, der die Wahl hat, auf die heiße Sonne oder den kalten Mond verbannt zu werden – und den Mond wählt.
Etymologisch gesehen hat das Wort »Mond« mit dem Gebrauch des Mondes zu tun – man maß mit seiner Hilfe die Länge eines Monats. Das moderne deutsche Wort Mond stammt vom althochdeutschen māno ab, welches sich wiederum aus dem protogermanischen mēnô ableitet. Von mēnô lassen sich zum Beispiel Moon im Englischen, måne im Schwedischen oder máni im Isländischen ableiten. Das protogermanische mēnô geht auf das proto-indoeuropäische mḗh₁n̥s (bedeutet sowohl Mond als auch Monat) zurück, aus der Wurzel *meh₁-, messen, weil der Monat die Zeiteinheit war, die mithilfe des Mondes gemessen wurde.
Der Monat wurde von den Sumerern und Babyloniern in Sieben-Tage-Wochen eingeteilt, und die Tage trugen die Namen der sieben bekannten Himmelskörper – der Sonne, des Mondes und der Planeten. Eine Tafel aus dem 17. Jahrhundert v. Chr. erzählt ihre Schöpfungsgeschichte: »Dann gab Marduk dem Mondgott die Kontrolle über die Nacht und sagte: ›Jeden Monat soll dein Diadem aus Licht auf dem Haupt des Abends leuchten. Denn du sollst die Zyklen messen; sechs Tage lang sollst du Hörner aus Licht zeigen; am siebten soll deine Krone vollendet sein.‹«7 Sieben Tage stimmen mit der Zeit überein, in welcher der Mond von einer Phase in die nächste übertritt: voll, abnehmend, leer und zunehmend. Weil der Zyklus des Mondes aber 29,5 Tage dauert, fügten die Babylonier der letzten Woche eines Monats jeweils einen oder zwei Tage hinzu. Die jüdische Tradition folgt der gleichen Sieben-Tage-Woche. Das Buch Genesis, das die Schöpfungsgeschichte in sieben Tagen beschreibt, wurde wahrscheinlich um 500 v. Chr. im babylonischen Exil geschrieben.
Für viele Stämme und Gesellschaften spielen lunare Mythen bis heute eine wichtige kulturelle Rolle. So folgt zum Beispiel der Stamm der Ngas in Nigeria einem Kalender, der auf regelmäßigen Beobachtungen des Mondes basiert. Ihr Ackerbau und ihr soziales Leben richten sich nach dem Mondkalender. Jeden Monat warten sie darauf, dass die erste Mondsichel am östlichen Horizont erscheint, und ihr größtes Fest wird dann gefeiert, wenn die erste Mondsichel ihres neuen Jahres sich zeigt. Während der Festlichkeiten, die eine Woche dauern, werden die Häuser und Dörfer rituell gereinigt, Geschenke gemacht, und »Mondbier« getrunken. Junge Buben bekommen den Vollmond aufs Gesicht gemalt – sie sind die »Söhne des Mondes« – und schießen Pfeile in den Himmel, um den alten Mond zu erlegen und den neuen Mond ins Leben zu rufen. Das Erlegen des alten Mondes muss zeitlich genau abgestimmt werden; die erste Mondsichel muss am nächsten Abend zu sehen sein. Erscheint sie nicht, werden alle Dorfbewohner krank. Die Ngas beobachten auch den Winkel der ersten Mondsichel in jedem Monat, weil sie glauben, dass ihnen dieser Auskunft über die Intensität der Regenfälle gibt. In der Nähe des Äquators erscheint der Neumond eher wie eine Schale, die Spitzen der Sichel nach oben gerichtet. Zusätzlich scheint der Mond über den Lauf eines Monats ein wenig zu kippen – weil sich durch unsere rotierende Erde unsere Perspektive ändert.
Dass der Mond das Leben und die Bedingungen auf unserer Erde beeinflusst, findet sich in vielen alten Mythen. Aber ist das tatsächlich so? Nun, die Realität ist noch bemerkenswerter als alle Legenden. Der Lebenszyklus und die Aktivität vieler Lebensformen auf unserem Planeten stehen in enger Verbindung zu den Mondphasen (Kapitel 13). Neue Forschungsergebnisse zeigen zudem einen Zusammenhang zwischen dem Mond und dem Wetter auf der Erde. Über einen längeren Zeitraum hinweg könnte der Mond auch für die Eiszeiten verantwortlich sein. Aber der Mond stabilisiert auch unseren sich drehenden Planeten und schützt uns vor chaotischen Klimaveränderungen. Ohne unseren Mond wäre das Leben auf der Erde sicherlich ganz anders, und komplexe Lebensformen hätten sich vielleicht gar nicht entwickeln können.
Die ersten Mythen versuchten, natürliche Ereignisse wie die Phasen und Eklipsen des Mondes zu beschreiben. Irgendwann wurden aus diesen Legenden und Geschichten Religionen. Der Unterschied? Mythen erzählen zu diesen kosmischen Erscheinungen eine Geschichte, während Religionen diesen Geschichten und Phänomenen eine tiefere Bedeutung geben, einen Grund, einen Zweck und eine Wirkung. Viele antike Kulturen sahen die Ereignisse des Kosmos als bedeutsame Omen der Götter an. Das, was für die Menschen auf Anhieb nicht verständlich war, musste das Werk von etwas Höherem sein. Und genauso wie sich Mythen in Religionen verwandelten, verwandelten sich himmlische Omen schließlich in Astrologie.
Die griechischen Philosophen waren um das 6. Jahrhundert v. Chr. die Ersten, die sich von der Idee lossagten, dass Götter über den Kosmos und das Geschehen auf der Erde bestimmten. Sie verstanden die tatsächlichen Gründe für die Eklipsen und die Mondphasen und maßen sogar den Abstand zum Mond und seine Größe (Kapitel 8). Aber dieses rationale Denken endete abrupt mit dem Römischen Reich. Behauptungen wie jene von Ptolemäus und Plinius dem Älteren versetzten die Wissenschaft um ein Jahrtausend zurück. Man glaubte, der Mond beeinflusse das Verhalten der Menschen, die Astrologie florierte, und aus den Träumen vom Mond wurden im Mittelalter regelrechte Albträume (Kapitel 9). Das Licht des Vollmonds, so ein Aberglaube, mache Menschen wahnsinnig. Weil der Mond in der Lage ist, Ozeane zu bewegen, verbreitete sich die Überzeugung, er müsse einen Einfluss auf alles Leben auf der Erde haben.
Von der Antike bis ins 17. Jahrhundert wurde der Mond für einen der Planeten gehalten, die sich in gläsernen Hüllen über den Nachthimmel bewegten – ebenso wie die Sonne. Der Mond war gar der wichtigste unter den Planeten, und selbstverständlich war er von einem allmächtigen Schöpfer erschaffen worden. Wissenschaftliche Theorien zu seiner Entstehung kamen erst nach der Erfindung des Teleskops auf, als die Religion ihre Fesseln gegenüber dem freien Denken etwas gelöst hatte (Kapitel 10). Descartes’ Werk Le Monde stammt aus dem Jahr 1630 und beschreibt, wie seiner Ansicht nach die Erde und der Mond aus Wirbeln entstanden sind. In den vergangenen 400 Jahren gab es viele verschiedene Erklärungsversuche zur Entstehung unseres prächtigen Mondes. Doch keiner von ihnen hat die Zeit überdauert, und nicht einmal heute ist sich die Wissenschaft einig über die Details seiner Entstehungsgeschichte (Kapitel 4).
Weil man so wenig darüber wusste, was und wie der Mond tatsächlich war, konnte man nur spekulieren. Einige Philosophen bei den alten Griechen glaubten, der Mond sei ein Tor zu einem Ring aus Feuer. Andere wiederum schrieben, dass er das Licht der Sonne reflektiere und der Erde sehr ähnlich sein müsse. Diese Ideen gaben Schriftstellern, Poeten und Dramatikern viele Freiheiten, und sie schufen wunderbare Erzählungen davon, wie es wäre, zum Mond zu reisen und die Wesen zu treffen, die dort wohnten. Ihre Werke waren nicht so eingeschränkt wie die heutige Science-Fiction – weil man noch so wenig über den Mond wusste. Heute würde man eine solch ausufernde Vorstellungskraft schlicht als Fantasy abtun.
Vor fast 2000 Jahren schrieb der römische Autor Lukian von Samosata seine Wahren Geschichten, eine satirische Erzählung, in der Lukian und seine Gefährten von einem Wirbelwind in die Luft gehoben werden, der sie bis auf die Oberfläche des Mondes trägt. Dort angekommen, werden die Abenteurer in einen Krieg zwischen den Königen der Sonne und des Mondes hineingezogen – es geht darum, wer das Recht habe, die Venus zu besiedeln.
Die japanische Geschichte vom Bambussammler und dem Mädchen Kaguya ist eine wunderbare kurze Erzählung über ein Wesen vom Mond, das aus dem Mondpalast verbannt und auf die Erde geschickt wird. Nachdem sie eine wunderschöne menschliche Form angenommen und 20 Jahre auf der Erde verbracht hat, sich verliebt und die Herzen vieler Erdlinge erobert hat, wird die Heldin gegen ihren Willen zurück zum Mond gebracht, während die Menschheit ihr Flehen hilflos mit ansieht.
EINE FREMDE WELT
Die Erfindung des Teleskops zu Beginn des 17. Jahrhunderts sorgte für viel Aufregung. Es war, als hätte man eine neue Welt entdeckt, und die Menschen waren fasziniert von der Vorstellung, die Mondoberfläche sehen zu können. In den nächsten 300 Jahren wurde die überwältigende Lichtscheibe am Nachthimmel durch immer größere Teleskope betrachtet. Astronomen spekulierten über die Existenz von Flüssen und Ozeanen, Bäumen und Tieren. Es gab einige kühne Behauptungen, auf der Mondoberfläche Leben beobachtet zu haben, aber durch die damaligen Teleskope konnte man nichts erkennen, das kleiner war als ein paar Kilometer im Durchmesser. Bis in den Sechzigerjahren die ersten Raumschiffe auf dem Mond landeten, war uns seine Oberfläche voller Krater ein Rätsel.
Viele waren der Ansicht, dass der Mond Leben beherbergen müsse, und sie träumten davon, ihn zu besuchen. Aber wie würde dieses Leben aussehen? Und wie käme man zum Mond? Johannes Kepler war einer der Ersten, die den Mond durch ein Teleskop sahen. Wenig später, im Jahr 1608, schrieb er Somnium, das allerdings erst 1634 veröffentlicht wurde. Der Erzähler wird im Traum von einem Dämon (einer wohlwollenden Intelligenz) hoch über die Erde gehoben. Er bewegt sich im Schatten einer Eklipse, bis er auf die Mondoberfläche fällt. Kepler beschreibt, wie es sein könnte, auf der zu- und der abgewandten Seite des Mondes zu stehen, und den ewigen Blick auf die Sonne von seinen Polen zu erfahren. Es scheint, als wollte Kepler das neue kopernikanische Weltbild in einer Science-Fiction-Geschichte erklären, um so der Rache der Kirche zu entkommen.
Francis Godwin schrieb zu Beginn des 17. Jahrhunderts – wahrscheinlich noch vor Keplers Somnium – The Man in the Moone (Der Mann im Mond), jedoch wurde auch dieses Werk erst 1638 veröffentlicht. Der Held der Erzählung ist ein gewisser Domingo Gonsales, der in einem von Schwänen gezogenen Flugapparat zum Mond befördert wird. Gonsales trifft dort auf eine besiedelte Welt mit Ozeanen – und ein Volk von hochgewachsenen Christenmenschen, die in einer Art Utopie leben. Godwin beschreibt auch die Bewegungen des Mondes und der Erde, lässt sich aber nicht völlig auf das neue kopernikanische Weltbild ein – wahrscheinlich, weil er ein Bischof der Kirche war.
1657 veröffentlichte der französische Romanautor und Dramatiker Cyrano de Bergerac L’Autre monde ou les états et empires de la lune (Die Reise zum Mond). Es ist ein satirischer Roman, in dem der Erzähler, Cyrano, erfolglos versucht, mit einem wasserbetriebenen Fahrzeug den Mond zu erreichen. Ziel der Reise war es, den Mond zu besuchen und zu beweisen, dass es dort eine Zivilisation gibt, welche die Erde für ihren Mond hält! Cyrano schafft es schließlich in den Weltraum, allerdings mit einem Gefährt, das von Feuerwerk angetrieben wird. Der Autor hatte wohl keine Ahnung, dass das, was er sich als Komik ausgedacht hatte, ein paar Jahrhunderte später tatsächlich die Grundlage für die Raumfahrt sein würde. Auf seiner Reise trifft Cyrano den Geist des Sokrates und Domingo Gonsales, die Figur aus Francis Godwins Buch. Er unterhält sich mit Gonsales über die unsinnige Idee eines Gottes.
Die Abenteuer des Barons Münchhausen8 aus dem Jahr 1786 erzählen davon, wie Mondbesucher durch einen Sturm von der Erde auf die Oberfläche des Mondes geblasen werden. George Tuckers Roman A Voyage to the Moon (1827) nutzt ein Anti-Gravitations-Material, um die Reisenden auf den Mond zu befördern. In anderen Werken aus dieser Zeit wurden Sprungfedern, Ballone und viele andere Arten von Vorrichtungen verwendet, um Menschen zum Mond zu bringen. Er wurde meist als utopisches Paradies voller Leben dargestellt – ein klares Zeichen für die herrschende Aufregung in einer Zeit, als diese neue Welt mithilfe der weltgrößten Teleskope immer detaillierter dargestellt werden konnte.
In Jules Vernes De la terre à la lune (1865) wird eine Kanone verwendet, um eine Kapsel auf den Mond zu befördern – ein Konzept, das sich später im ersten Science-Fiction-Film über den Mond, dem spektakulären Le voyage dans la lune (1902) von Georges Méliès, wiederfindet. Jules Verne schrieb »harte« Science-Fiction; so realistisch wie möglich. Er war vielleicht der Erste, der sich eine realistische Raumkapsel ausdachte, und der die Schwerelosigkeit im Weltraum zutreffend beschrieb, bevor jemand diese überhaupt am eigenen Leib erfahren hatte. Da er sich keinen wissenschaftlichen Reim darauf machen konnte, wie die Reisenden von der Mondoberfläche zurück zur Erde kommen könnten, flogen seine Figuren um den Mond herum und kehrten zur Erde zurück.
Als man gegen Ende des 19. Jahrhunderts kosmische Reisen ernsthaft in Betracht zu ziehen begann, waren Astronomen bereits ziemlich skeptisch in Hinsicht auf höher entwickeltes Leben auf dem Mond. Es gab keinen Nachweis für eine Atmosphäre, Wasser oder Wetter auf dem Mond. Und Astronomen hatten erst kürzlich erstmals die extremen Temperaturen auf seiner Oberfläche gemessen. Dies spiegelt sich auch in der Science-Fiction dieser Zeit – mehrere Autoren beschreiben den Mond als trostlose Welt ohne Leben, während in anderen Geschichten die Reisenden auf die Ruinen längst untergegangener Zivilisationen stoßen. In The First Men in the Moon (1901) von H.G. Wells wird, ähnlich wie bei George Tucker, ein Anti-Gravitations-Material dazu verwendet, ein Raumfahrzeug zum Mond zu steuern. Die beiden Reisenden finden eine öde Landschaft vor, entdecken aber im Inneren des Mondes eine fortschrittliche Insekten-Zivilisation.
Szene aus dem Science-Fiction-Film »Die Reise zum Mond« (»Le voyage dans la lune«, 1902) von Georges Méliès
Ebenso wie die Arbeit der Astronomen als Inspiration für Romane, Filme und Science-Fiction diente, inspirierte die Fiktion eine neue Generation von Wissenschaftlern, den Traum von einer Reise zum Mond zu verwirklichen. Konstantin Ziolkowski, geboren 1857 in einem kleinen Dorf in der Mitte Russlands, war einer der Ersten, die sich detaillierte Gedanken zur Entdeckung des Weltraums und zur Raketentechnik machten. Er war ein schüchternes Kind, das wegen einer Krankheit zu Hause unterrichtet wurde und viel Zeit mit dem Lesen von Science-Fiction und wissenschaftlichen Arbeiten verbrachte.
Ziolkowski träumte davon, den Weltraum zu besiedeln, und war der erste echte Raketenwissenschaftler – 1897 stellte er die Raketengrundgleichung auf, die heute seinen Namen trägt. 1903 veröffentlichte er seine bekannteste Arbeit, Erforschung des Weltraums mittels Reaktionsapparaten, in welcher er die nötige Energie für eine Reise in den Weltraum berechnete und eine mehrstufige, von Sauerstoff und Wasserstoff angetriebene Rakete vorschlug. Ziolkowskis Gleichung und sein mehrstufiger Entwurf wurden zur Grundlage für die Raumfahrt. 1911 schrieb er in einem Brief an einen Freund: »Die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber wir können nicht auf immer in einer Wiege leben.« Obwohl er an eine Vielfalt von Leben im Weltall glaubte und ein Verfechter der menschlichen Raumfahrt war, baute er nie eine Rakete, um seine Ideen zu überprüfen. Erst Jahrzehnte später begannen die Wissenschaftler der Sowjetunion damit, seine Träume in die Tat umzusetzen.
1893 veröffentlichte Ziolkowski seinen Science-Fiction-Roman Auf dem Monde, in welchem er realistisch schildert, wie es wäre, auf dem Mond zu stehen – unter dem Einfluss der schwächeren Gravitation. In einer anderen Arbeit widerlegte er Jules Vernes Idee, für die Raumfahrt eine Kanone einzusetzen. Er berechnete, dass eine solche Kanone unmöglich lang sein müsste und die Reisenden einer g-Kraft von über 20000 aussetzen würde, was jeden Astronauten sofort in ein Mus aus Biomasse verwandeln würde. Dennoch inspirierte ihn Vernes Geschichte dazu, seine Arbeit voranzutreiben. Seine von ihm selbst verfasste Grabschrift lautet: »Der Mensch wird nicht immer auf Erden bleiben; sein Streben nach Licht und Raum wird dazu führen, dass er zaghaft die Grenzen der Atmosphäre durchbricht und schließlich das gesamte Weltall erobert.«
Ziolkowski war nicht der Einzige, den die Science-Fiction zur Raketenwissenschaft führte. 1913 veröffentlichte der französische Flugzeugdesigner Esnault Pelterie ebenfalls eine von ihm selbst abgeleitete Raketengrundgleichung – die Arbeit von Ziolkowski war ihm nicht bekannt. In seiner Rede an die französische physikalische Gesellschaft erklärte er 1912: »Zahlreiche Autoren haben den Menschen, der von Stern zu Stern reist, als Fiktion dargestellt. Niemand hat je daran gedacht, die physikalischen Erfordernisse und die Größenordnung der relevanten Phänomene zu untersuchen, die für die Verwirklichung dieser Idee erforderlich sind. Dies ist das einzige Ziel der vorliegenden Arbeit.«
Ein weiterer Pionier der Raketenwissenschaft war der deutsche Physiker Hermann Oberth (1894–1989). Im Alter von elf Jahren las er wieder und wieder Jules Vernes Von der Erde zum Mond und Reise um den Mond, bis er die Texte fast auswendig konnte. Er war fasziniert von der Idee, mit einer Rakete ins All zu reisen, und baute mit 14 Jahren seine erste Modellrakete. Aufgrund dieser Erfahrung hatte auch er die Idee einer mehrstufigen Rakete. 1922 schrieb er seine Dissertation und das später legendäre Buch Die Rakete zu den Planetenräumen. Oberth wurde später von Wernher von Braun rekrutiert, um während des Zweiten Weltkriegs die V-2-Rakete zu bauen. Wie viele andere Raketenwissenschaftler war Oberth von der Vorstellung getrieben, das Weltall zu erkunden. 1957 schrieb er: »Denn das ist das Ziel: Dem Leben jeden Platz zu erobern, auf dem es bestehen und weiter wachsen kann, jede unbelebte Welt zu beleben und jede lebende sinnvoll zu machen.«
Oberth war wissenschaftlicher Berater des ersten realistischen Science-Fiction-Films Frau im Mond (1929). Fritz Lang führte Regie bei diesem wundervollen Stummfilm, der auf dem gleichnamigen Roman von Langs damaliger Frau, Thea von Harbou, basierte – sie schrieb übrigens auch das Drehbuch zum Filmklassiker Metropolis. Frau im Mond stellt viele der Entdeckungen und Spekulationen dar, die Wissenschaftler in den Jahrzehnten zuvor gemacht hatten. Wenn Sie in diesem Buch beim Kapitel über die ersten teleskopischen Beobachtungen angelangt sind, werden Sie den Film mit ganz anderen Augen sehen!
Der amerikanische Raketenwissenschaftler Robert Goddard fühlte sich vor allem durch H.G. Wells’ Krieg der Welten inspiriert. Er sagte einmal: »Es ist schwer zu sagen, was unmöglich ist, denn die Träume von gestern sind die Hoffnungen von heute und die Tatsachen von morgen.« Goddard startete 1926 die erste Rakete mit Flüssigtreibstoff, die bei einer Startgeschwindigkeit von über 800 Stundenkilometern eine Höhe von mehr als zwei Kilometern erreichte. Er wusste nichts von Ziolkowski und ließ 1914 eine mehrstufige Rakete mit Flüssigtreibstoff patentieren. Außerdem machte er viele neue Erfindungen, zum Beispiel die Drei-Achsen-Gyroskop-Steuerelemente, die Raketen zur Flugstabilisierung dienen.
VON ASTRONAUTEN UND TOURISTEN
Diese Pioniere der Raketenwissenschaft läuteten eine neue Ära des Realismus ein, in der viele dachten, der Mensch würde bald auf dem Mond landen. Populärwissenschaftliche Artikel wie jener des Physikers und Science-Fiction-Autors Arthur C. Clarke mit dem Titel We Can Rocket to the Moon – Now (1939 im Magazin Tales of Wonder veröffentlicht) unterstützten diese Annahmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Furcht einflößende V-2-Rakete den Himmel gekreuzt hatte, erschienen einige Science-Fiction-Geschichten, die von einer baldigen Landung auf dem Mond handelten. Dazu gehören auch ein paar exzellente Romane von Robert Heinlein, zum Beispiel Der Mann, der den Mond verkaufte (The Man Who Sold the Moon, 1950).
In seinem bekannten Buch A Guide to the Moon schrieb der britische Astronom Sir Patrick Moore 1953: »Unsere Erde ist geplündert. Der moderne Mensch seufzt nach neuen Welten, die er erobern kann, und das Sonnensystem wartet darauf, von ihm inspiziert zu werden. Er hat die Fähigkeiten dazu, und er ist dabei, das nötige Wissen zu erlangen; und wenn er bei Sinnen bleibt, befindet er sich an der Schwelle zum Weltraumzeitalter.«9
1957 hatte es die Sowjetunion vollbracht, mit Sputnik den ersten künstlichen Satelliten ins All zu schicken. Und 1958 wurde die amerikanische Weltraumagentur NASA gegründet; zu einem Zeitpunkt, als man schon darüber diskutierte, welche wissenschaftlichen Fortschritte durch die Erkundung des Sonnensystems erzielt werden könnten. Ihr erstes Ziel: der Mond.
Arthur C. Clarkes Science-Fiction-Roman A Fall of Moondust (Im Mondstaub versunken) aus dem Jahr 1961 zeugt vom Wissen über unseren Trabanten kurz vor der ersten Mondlandung. Er spielt im 21. Jahrhundert, nach der Besiedlung des Mondes. Dieser ist zum Reiseziel wohlhabender Touristen geworden. Eine der Attraktionen ist eine Fahrt über die lunaren Maria – die dunklen Ebenen, die von der Erde aus zu erkennen sind – mit dem Jetski. Die unglückseligen Touristen versinken im tiefen Mondstaub, und ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, um sie zu retten.
Arthur C. Clarke schrieb Science-Fiction, die auf wissenschaftlicher Plausibilität beruhte. Tatsächlich war vor der ersten Mondlandung nicht bekannt, was von der Mondoberfläche zu erwarten war, und viele Wissenschaftler – ebenso wie die Apollo-Astronauten – machten sich Sorgen, dass das Landemodul im Mondstaub versinken könnte. Clarkes Geschichte von den Weltraum-Touristen war hellsichtig, denn heute sind diese der wichtigste Antrieb der privaten Raumfahrtindustrie. In seiner Rede vor dem amerikanischen Kongress sagte Arthur C. Clarke 1975: »Ich bin sicher, es hätte keine Menschen auf dem Mond gegeben, wenn Wells und Verne und die Leute, die darüber geschrieben und die Leute zum Nachdenken gebracht haben, nicht gewesen wären. Ich bin ziemlich stolz darauf, dass ich mehrere Astronauten kenne, die durch das Lesen meiner Bücher zu Astronauten wurden.«
Bevor ich zu den zukünftigen Träumen vom Mond komme (Kapitel 14), erscheint es mir sinnvoll, einen genaueren Blick darauf zu werfen, wie die Träume dieser ersten Raketenwissenschaftler und Science-Fiction-Autoren in die Tat umgesetzt wurden. Träume, die letztlich dazu führten, dass Menschen auf dem Mond herumliefen und Beweismaterial zurück auf die Erde brachten, das uns erlaubte, die Geschichte und Entstehung unseres Trabanten tiefer zu ergründen. Träume, die nie vergessen gingen und heute einen neuen Wettlauf ins All befeuern. In den vergangenen Jahren haben verschiedene Weltraumagenturen angekündigt, nicht nur zum Mond zurückkehren, sondern bis 2030 bemannte Mondbasen einrichten zu wollen. Doch nicht nur Nationen und Wissenschaftler träumen davon, den Mond wieder zu besuchen. Eine neue Generation von Milliardären will mithilfe der privaten Raumfahrtindustrie ihre ganz eigenen Träume in die Tat umsetzen.
1 A. Marshack: The Roots of Civilisation. Moyer Bell 1991
2 M. Rappenglück: Eine Himmelskarte aus der Eiszeit? Peter Lang 1999
3 G. Pinch: Egyptian Mythology – A Guide to the Gods, Goddesses, and Traditions of Ancient Egypt. Oxford University Press 2004: 82–83
4 Die Homerischen Hymnen. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Konrad Schwenk. Brönner 1825: 209
5 Die Edda. Übersetzt von Karl Simrock. Verlag der J.G. Cotta’schen Buchhandlung 1864: 3
6 F. Palgrave: History of the Anglo-Saxons. John Murray, London 1831: 52
7 L.S. Copeland: »Sources of the Seven-Day-Week«. Popular Astronomy XLVII (464), 1939
8 G.A. Bürger: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande – Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen. Göttingen 1786
9 Falls nichts anderes vermerkt, wurde selbst aus dem Englischen übersetzt