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ISBN – 9783754392560
Band 1 trägt die ISBN 9783831111756
Band 2 trägt die ISBN 9783837020697
In einem Brief vom 18.02.1858 an seinen Freund Wilhelm von Merckel schreibt Theodor Fontane, dass nach seiner Auffassung die Darstellung von etwas Geschehenem das Geschehene selbst und die kleinste Erinnerung daran oft so vollständig überlebe, dass niemand mehr widersprechen könne und die erzählte Tatsache (so oft falsch erzählt) die wirkliche Tatsache ersetze. Dieses Buch macht es sich zur Aufgabe, die so oft falsch erzählten Geschehnisse um Dietrich von Bern geradezurücken.
Dabei werden, so muss ich befürchten, einige Seiten unter Umständen bis zu sieben mal zu Asche, aber einmal, so hoffe ich, gemäß dem Lied „Sieben Brücken“ von Peter Maffay auch zu einem „hellen Schein“.
Wenn den Leser manche Formulierung, weil sie neu ist, stört, so lass ich ihn durch Goethe fragen: „Willst du nur hören, was du schon gehört“?
Inhalt des vierten Bandes [unverbindlich]
(erscheint voraussichtlich 2022)
Auch dieser 3. Band erscheint mit erheblicher Verspätung gegenüber der ursprünglichen Planung, die sein Erscheinen für 2008 angekündigt hatte. An dieser Verzögerung haben mehrere Faktoren mitgewirkt, unter denen meine gelegentlich geringe Arbeitslust gewiss nicht unwichtig war. Viel Zeit haben die Rückversicherungen beansprucht, die oft, allzu oft erforderlich wurden, wenn ich mir meiner Schlussfolgerungen nicht mehr sicher war. Aber auch andere Interessen, die meine Aufmerksamkeit ebenfalls beanspruchten, und die nahezu gegen Null tendierende Resonanz für meine bereits veröffentlichten Bände 1 und 2 auch in der nicht-akademischen Fachpresse taten ein Übriges, meine Arbeitsmotivation zu verringern.
Und auch während der Arbeit an diesem Band habe ich mich von fachlichen Beeinflussungen durch Freunde, Bekannte und Mitstreiter zurückgezogen, was seinen Inhalt zwar verbessert, seine Fertigstellung aber nicht beschleunigt hat.
Deshalb hoffe ich sehr und bin auch ganz zuversichtlich, dass dieses Buch den Freunden der Dietrichsaga einen neuen Blick auf dieses Werk frühmittelalterlicher Dichtung ermöglichen wird, da es Irrtümer bisheriger Interpretation verdeutlicht und deren Stellenwert erkennbar macht; vor allem aber, indem es wichtige Aussagen der Saga in die Nähe des „Heldenliederbuchs Karls des Großen“ rückt und sie damit in den historischen Raum führt, der ihr schon sehr früh zugedacht war und ihr auch heute noch – entgegen manchen „fachwissenschaftlichen Bedenken“ – gebührt.
Dazu war die Verfeinerung einer neuen Methode, wie sie bereits in den Bänden 1 und 2 angegangen war, erforderlich. Der methodologische Grundtenor der germanistischen Forschung, Textanalyse und Textvergleich, wurde beibehalten, jedoch wurde der Vergleich auf die Texte von Sage und Geschichtsdarstellung bezogen. Die in beiden Bereichen, Sage und Geschichte, aufgesuchten und analysierten Interaktionsstrukturen erlauben einen Textvergleich, der Sage und Geschichte zusammenzuführen erlaubt und verblüffende Schlussfolgerungen nahelegt.
Bei all dem gehe ich davon aus, dass das im Untertitel dieses Bandes „Heldensage und Geschichte“ benannte „und “ nicht additional gemeint ist (wie etwa bei Äpfel und Birnen), sondern funktional (wie bei Honigernte und Bienenflug). Die funktionale Betrachtung von Heldensage und Geschichte verändert den Blick des Forschers sowohl auf die Geschichte als auch auf die Sage, denn er muss beides simultan im Blick haben. Nur so kann eine retrospektive Historisierung der Sage, wie sie hier versucht wird, gelingen.
Krumbach, September 2021
W.R.
Im Personen-Register der Dietrichsage (künftig: DS oder Ths) sind ca. 180 Handelnde der Saga namentlich genannt. Etwa 90 davon, also 50 %, sind bislang historisch mindestens einmal identifiziert. D.h.: Wir können für 90 Sagen-Gestalten der DS historische Personen aus der Zeit von circa 470 bis zur Zeit Karls des Großen namhaft machen, die in den Sagen-Figuren dargestellt worden sind (Stand: 18.4.18). Diese Zahlen gelten ohne Doppel-Identifikationen aufgrund historischer Akkumulationen.
Bei dem Urteil, ob dies viel oder wenig ist, kommt es natürlich auf den Vergleichsmaßstab an: in Bezug auf 180 mögliche und erwünschte Historisierungen sind 90 geleistete Benennungen eigentlich wenig. Verglichen jedoch mit den wenigen Identifizierungen, die die akademische Sagenforschung für DS-Gestalten bislang genannt hat (z.B. Theoderich d. Gr., Airmanaraiks, Attila, Widigoya) sind 90 nach unserem Konzept sicher entschlüsselte Figuren allerdings doch beachtenswert.
„Nach unserem Konzept sicher entschlüsselt“ meint nicht, wir hätten nach ein paar übereinstimmenden Buchstaben in den Namen von Sagen-Figuren einerseits und historischer Personen andererseits eine Übereinstimmung verkündet. Eine solche „Übereinstimmung nach Buchstaben“ kann ja schon aus dem Grunde für die DS kein relevantes Kriterium sein, weil weite Teile der DS aus oraler Zeit stammen, als Buchstaben den Sängern der Sage noch so gut wie unbekannt waren. Sie können im Frühmittelalter also noch gar keine Zusammenhänge über Buchstaben und Buchstaben-Reihen (= Wörter) erkundet oder verkündet haben.
Der Versuch, die Handlungen der DS auf historische Vorgänge zurückzuführen („Historisierung“), ist aber nicht erst in der deutschen Sagenforschung in den letzten 200 Jahren virulent geworden, sondern bereits weit vorher wirksam gewesen. Die dadurch verursachten Veränderungen der Sage lassen sich noch heute dem Sagen-Text entnehmen. Wir werden diese Verunstaltungen der DS an Einzelheiten herausarbeiten und sehr despektierliche Bezeichnungen dafür verwenden („Vergotung“, „Verhunnung“, „Verrussung“ u. dgl.) Im Gegensatz zu Wilh. Grimm und Werner Hoffmann meinen wir mit „Historisierung“ nicht die nachträgliche Berührung der ursprünglich reinen Sage mit dem Historischen (W. Grimm) oder die „Verritterung“ ursprünglich vorritterlicher Dichtung durch Hinzunahme von Attributen aus der Ritterzeit (W. Hoffmann), sondern die Herausarbeitung der Zusammengehörigkeit von Sagen-Sequenzen und historisch übereinstimmendem Geschichtsgeschehen
Dass Vergleiche von Buchstaben in einigen Namen keine taugliche Methode sein können, die Historisierung durchzuführen, hätte man eigentlich schon sehr früh wissen können; so hätte man Zeit gehabt, eine Methode zu entwickeln, mit der dies zuverlässiger – oder überhaupt erst: – möglich ist. Wir unterscheiden uns also nicht im Ziel der Historisierung: nämlich nach Möglichkeit herauszufinden, welche Person an welchem Ort zu welcher historischen Zeit sowohl in der Sage als auch in der Geschichte in welche Handlung involviert war. Diese vier Begriffe (Ort, Zeit, Handlung und Person) geben normalerweise Auskunft darüber, ob zwei Darstellungsweisen miteinander und mit der historischen Realität hinreichend übereinstimmen [„konsistent sind“ (Konsistenzprinzip)].
Wir unterscheiden uns aber sowohl von der universitären als auch von der Historisierungs-Forschung der Amateure in der Forschungs-Methode: während die beiden genannten Richtungen im Wesentlichen von Namen und von Buchstaben ausgehen („Nominalismus“), ist unser Kriterium, an dem wir die größere innere Nähe oder innere Entfernung eines Sagen-Textes von dem Text einer historischen Darstellung messen, die handlungsbezogene Darstellung („Interaktion“) in beiden Texten.
Da ich zu Beginn meiner DS-Forschung gegen Ende der 90er Jahre noch sehr stark von den Arbeiten Heinz Ritters beeinflusst war, haben sich in meinen eigenen früheren Arbeiten auch Ritters Methoden niedergeschlagen. Erst im Laufe der Zeit wurde mir deutlich, dass auch Ritters Aufsätze überwiegend nominalistisch waren, und so wurde es mir möglich, mich nach und nach von ihm (und seiner Schule) abzusetzen und mich gleichzeitig auch vom Nominalismus der akademischen DS-Forschung zu lösen.
Meine Hinwendung zu den Interaktionen (statt zu den Buchstaben des Nominalismus) hat kaum jemand inspiriert; so blieb ich lange Zeit mit meiner Ansicht allein. Dies hatte – je länger, umso mehr – den Effekt, dass die Mitglieder der Ritter-Schule meine Ausführungen nur noch selten nachvollzogen und der Diskurs über Sagen-Historisierung innerhalb des Forums dadurch sehr verarmte. Die Historisierung der DS auf der Basis der Interaktionen erfordert einen völlig anderen Weg als der Nominalismus, führt aber im Gegensatz zum Nominalismus zu guten Ergebnissen.
Erkennbar ist das größte Problem dieser Art von Historisierung, zu einem gewählten Sagen-Text einen „passenden“ historischen Text zu finden, denn es gibt zu jedem Sagen-Text eine nahezu unendlich große Zahl von historischen Texten, aus denen der „passende“ Text herausgefunden werden muss („Sagen-Archäologie“). Diese Suche nach einem „passenden“ Text der Historiographie zu einem bestimmten Sagen-Text ähnelt oft der Suche von Archäologen, wenn sie zu einem Schädel der Vorzeit einen bestimmten Zahn in einem Erdhaufen suchen. Besonders mühsam ist diese Suche zu Beginn der Forschung, wenn man noch keine Ahnung hat, wo man mit ihr beginnen soll. Sobald der Forscher aber einmal fündig geworden ist (z.B. mit dem Paläo-Schädel in Malawi), dann weiß er auch, dass er den gesuchten Zahn nicht in der Mongolei finden kann, sondern nur ebenfalls in Malawi. Ein Anfangs-Erfolg bei der Sagen-Archäologie ist also der Vereinfachung der Suche sehr dienlich.
Doch ist die „archäologische“ Suche nach dem „Zahn“, also hier: nach dem historischen, geografischen, kulturhistorischen Kontext des gewählten Sagen-Bausteins, lediglich ein Teil der Arbeit; sobald ein historischer Text als mögliches Pendant zu unserem Sagen-Baustein gefunden ist, muss er selbstverständlich eine Reihe von Prüfungen absolvieren, um uns zu vergewissern, dass wir für den Schädel Karls d. Gr. („Dietrichs von Bern“) nicht der DS-Forschung einen Zahn vom Schädel Theoderich d. Gr. andienen. Diese Prüfungen haben viele, allzu viele Theoderich-Philologen in der Vergangenheit unterlassen. Zusammen mit dem gleich zu Beginn der DS-Forschung bekannt gegebenen Ergebnis, dass es sich bei dem Schädel Dietrichs von Bern um den Paläo-Schädel Theoderichs d. Gr. handele, führte diese Prüfungs-Unterlassung zu der heute im wahrsten Sinne des Wortes herrschenden Lehre, dass in Dietrich von Bern „bekanntlich“ Theoderich d. Gr. fortlebe.
Da die gefundenen Entsprechungen zwischen Sagen- und Geschichts-Texten von eben diesen Texten mit beeinflusst werden und deshalb also von jedem Einzelfall abhängen, können wir hier die vorgenommenen Prüfungen nicht generalisieren; auch die Prüfungen hängen letztlich von jedem Einzelfall ab. Wichtig ist, dass der Leser lernt, sein Hauptaugenmerk von den Buchstaben abzuziehen und auf die Interaktionen zu richten. Erfahrungsgemäß haben viele Leser hier die größten Schwierigkeiten: Interaktionen als strukturell identisch zu erkennen, auch wenn sie in zwei völlig unterschiedlichen Texten, nämlich Sage und Geschichte, und von zwei verschiedenen Autoren, nämlich dem Sänger und z.B. von Gregor von Tours, und auch noch aus zwei verschiedenen politischen Blickwinkeln, geschildert werden, und dies möglicherweise in zwei verschiedenen Sprachen: also z.B. Alt-Norwegisch für die DS und Latein für die Historiografie. Nicht für alle diese Quellen gibt es brauchbare orale Übersetzungen.
Im Idealfall haben wir bei der Behandlung von Sage und Geschichte einen historischen Vorgang, der zwei Darstellungen gefunden hat: eine in der Historiografie und eine in der Sage. Und im Idealfall stimmen diese beiden Darstellungen in guten Übersetzungen in den wichtigsten Punkten strukturell überein. Beide Darstellungen können jedoch auch, und mitunter ganz erheblich, voneinander abweichen. Die möglichen Gründe dafür sind sehr mannigfaltig; sie können beim einen oder beim anderen oder bei beiden Autoren liegen; sie können in nachträglicher Anpassung des Sagen-Textes an neue Vorgänge im eigenen Land („historische Akkumulation“) begründet oder durch andere historische, geografische oder kulturhistorische Bedingungen („Aneignung“ der Sage durch ein anderes Land gem. Hch. Beck; dazu haben wir bereits in Bd. 2, S. 42 wichtige Aussagen Becks zitiert und interpretiert) ausgelöst sein; sie können auf vorgenommene „Korrekturen“ der Sage durch Sagen-Überlieferung zurückgehen („ahistorische Akkumulation“) oder auf tausend anderen Impulsen beruhen (z.B. zur Weiterentwicklung der Sage durch Hinzu-Dichtungen). Unter Umständen können sich Abweichungen im Verständnis von Sage und Geschichte sogar ohne jede Text-Veränderung dadurch ergeben, dass sich die Menschen verändern („Paradigmen-Wechsel“) und altbekannte Dinge neu und anders zu sehen beginnen. (Beim „Magdtum“ Brünhilds und bei Sigfrieds „Gestaltentausch“ scheint es sich um solche Verständnis-Veränderungen zu handeln; siehe S. 29 in Bd. 2 und Kap. 4.5). Aus einer gewissen Paradigmen-Starre andererseits kann es auch geschehen, dass eine Darstellung der Sage oder ihre Verbindung zu einem historischen Vorgang auf Ablehnung stößt, weil einem nicht bewussten Paradigma (also einer Denk-Schablone) gehorcht wird (vgl. dazu das Faust-Zitat auf S. 5).
Eine weit verbreitete Denk-Muster-Starre begegnet uns in dem „Ein-Personen-Paradigma“, also in der Vorstellung vieler Menschen, bei den Sagen-Figuren würde es sich nur je um eine einzige Person handeln, Dietrich von Bern und Hagen und Sigfrid also jeder nur ein einziges Mal in der Historie auffindbar sein. „Das Attilabild in Geschichte, Legende und heroischer Dichtung“, ein Aufsatz von H. de Boor (1932), zeugt von der Breite der Boor´schen Bildung, aber auch von seiner Meinung, dieses eine Attilabild hätte lediglich in der Geschichte, in der Legende und in der heroischen Dichtung verschiedene Darstellungen gefunden. Nirgendwo tut sich die Auffassung kund, in dieses eine Attilabild seien mehrere historische Personen eingeflossen, und jede dieser verschiedenen Personen hätte in diesem einen Attilabild unter verschiedenen Aspekten ihre eigene Darstellung erhalten. Freilich: das NL, das ja nur einen Attila kennt, verführt geradezu zu einem solchen „Ein-Personen-Denk-Muster“. Wer mit diesem „Ein-Personen-Paradigma“ an die DS herantritt, kann ihren historischen „eingelagerten“ Sinn nur verfehlen.
Hinzu kommt, dass die Behandlung der DS (als Dichtung, als Literatur) durch die Philologie kaum noch Raum lässt, sie als Sage zur Kenntnis zu nehmen und demzufolge literaturwissenschaftliche Betrachtungsweisen in der Sagenforschung vorherrschen. Nirgendwo lässt sich die philologische Prädominanz in der Sagenforschung besser beobachten als in den Nachrichten, die der „Verein für Heldensage und Geschichte“ herausgibt: fast in jedem Heft wird versichert, dass er sich nicht nur mit Heldensage befasst, sondern auch mit Geschichte (siehe dazu unser Vorwort).
Eine einzelne Übereinstimmung von Interaktionen in Sage und Geschichte besagt allerdings noch gar nichts. Da haben viele Kritiker recht, wenn sie spontan darauf verweisen, dass so eine einzelne Übereinstimmung auch Zufall sein kann. Je mehr solcher Übereinstimmungen der Forscher aber vorweisen kann und je besser er sie miteinander vernetzen kann, desto unwichtiger wird der Zufalls-Einwand und desto kraftvoller wird der Ensemble-Beweis. Einen ersten solchen Beweis haben wir im Bd. 2 auf S. 45 ff. (Kap. 3.3) geführt über die Personen-Reihe Melias – Osantrix - Attila – Erka. Diese Erka war die Base des Dydrik, der gleichzeitig als Ergebnis der Reihe Melias – Waldemar – Dydrik Waldemars Sohn (als Vetter der Erka) erschien (Darstellung II/4 auf S. 46 in Bd. 2.). Gleichzeitig haben wir die erste Reihe durch die Interaktionen zwischen den einzelnen Mitgliedern der Reihe als die historische Reihe Theoderich – Sigismund – Theuderich I. – Suavegotha (als Base des Amalarich) und die zweite Reihe als die historischen Theoderich – Alarich II.– Amalarich (als Vetter der Suavegotha) erwiesen (Darstellung II/5 auf S. 61). Wenn ich von den 180 Handelnden der DS einen beachtlichen Teil auf eine ähnliche Weise miteinander vernetzen kann, hat auch ein notorischer Nörgler wie Mephisto kaum mehr eine Chance, den Wert unserer Beweise und die Historizität des Ensembles noch zu bezweifeln. [Mephisto, oder genauer: der Geist, den ich in meinen inneren Monologen so nenne, wird zwar weiter stets verneinen, aber das wird uns künftig nicht mehr hinderlich berühren.]
Um historisch stimmige Aussagen für Vorgänge in der DS aus dem 6. Jhdt. zu formulieren, ist Wissen über Lautverschiebungen, Vokale und Konsonanten, Leitnamen, Onomastiken, Logogramme und so weiter nicht schädlich, aber auch nicht hinreichend nützlich. Als hinreichend können wir Wissen einstufen, über welches die gebildeten Sagen-Hörer des 6. Jhdts. verfügten. Das gilt insbesondere auch für Hinweise in der Forschungsliteratur auf Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, Entsprechungen von Motiven aus der DS mit Motiven etwa aus der finnischen, der russischen, der indogermanischen Mythologie u. dgl. Ohne den Nachweis, dass solche entlegenen Vergleiche den germanischen Sängern und Hörern bekannt gewesen sind oder bekannt gewesen sein müssen, sind sie im Forschungszusammenhang der DS nicht viel wert und zeigen vor allem eines: die Hilflosigkeit der heutigen Forschung angesichts des frühmittelalterlichen Stoffes.
Seit Jahrtausenden erzählen die Menschen einander Geschichten von „heute“ und von „früher“. Das Interesse der Hörer für die „früheren“ Geschichten ging immer primär dahin zu erfahren, wie es früher war und wer unter welchen Umständen was getan hatte. Ich wage die Behauptung, dass sich diese Grundkonstante des Menschen bis heute nicht wesentlich verändert hat. Geändert hat sich aber das Angebot an Erzählstoffen in Menge und Differenziertheit. So werden wir heute von den Ersatzstoffen überfrachtet und auch unser uraltes Interesse für die „früheren“ Geschichten wird von den modernen Erzählstoffen nur sehr unvollkommen zufriedengestellt. Trotz dicker und zum Teil interessanter Bücher (z.B. über die DS) bleibt die Frage: Wer war‘s? unbeantwortet. Und ich wage eine zweite Behauptung. Auch heute sind noch viele Menschen mehr daran interessiert zu erfahren, wer z.B. Herburt und Hilde waren und welche Probleme die beiden in ihrem Leben hatten als daran, welche literaturgeschichtlichen Probleme die Einordnung der Herburt-Hilde-Fabel bei ihrer Gattungszuordnung als Vorzeitsaga bzw. Rittersaga aufwirft.
Wir gehen deshalb im Folgenden nur von solchen „Fakten“ aus, die wir entweder nachweisen können oder von denen wir überzeugt sein dürfen, dass die Sänger und die Hörer der Sage im Frühmittelalter sie aufgrund ihrer Lebensumstände gekannt haben werden. Inhalte finnischer, russischer, mongolischer, chinesischer, aztekischer, indoeuropäischer Sagen zählen nicht dazu. Wer den Sagen-Hörern und den Sagen-Sängern des europäischen Frühmittelalters mehr Wissen andichten will, als sie objektiv gehabt haben können, steht unter Beweispflicht; die gelegentlich argumentativ benutzten Motiv-Verwandtschaften sind bei diesen kulturüberschreitenden Beziehungen prinzipiell und bis zum Beweis des Gegenteils unerheblich. Es müsste bewiesen oder zumindest glaubhaft gemacht werden, dass die damaligen Sänger und Hörer mit diesen abseitigen Motiv-Verwandtschaften vertraut waren und deshalb dann auch das Auftauchen solcher Motive in ihren altbekannten Sagen sinnstiftend hätten verarbeiten können. Ebenso wie philologisches Wissen unserer Zeit könnte man den Sagen-Hörern des Frühmittelalters andichten, sie hätten über das Aussehen des Mondes auf seiner Rückseite Bescheid gewusst.
Zur Erklärung mancher Motiv-Verwandtschaften ohne eine Herkunftsbehauptung braucht man nur bis zu C.G. Jung zurück zu gehen, der dieses Phänomen mit seinem Begriff des Archetypus aufhellen konnte; es sollte aber berücksichtigt werden, dass der Begriff des psychischen Archetypus (Urprägung der menschlich-psychischen Struktur seit Urzeiten) und der literarhistorische Begriff des Archetypus (früheste Dichtung eines literarischen Motivs) sehr verschieden sind. Mit unserem Kriterium, dass zur historischen Erklärung der DS nur Wissen tauglich ist, das auch den an-alphabetischen Hörern des Frühmittelalters zur Verfügung stand, können wir die abseitigen Motiv-Verwandtschaften ziemlich sicher ausschließen.
Den Zusammenhang von Heldensage und Geschichte kann man am ehesten dort erkunden, wo sie beide zusammenkommen, wo also ein politischer Vorgang zu irgendeinem historischen Zeitpunkt einen Sänger aktuell beeindruckt und er daraufhin ein Lied, eine Heldensage dichtet. Zwischen diesem Sänger und seinem Helden gibt es keine linguistischen Barrieren, keine Lautverschiebungen, keine Logogramme, keine Umlokalisierungen, keine intertextuellen Beziehungen oder Verstrickungen; da gibt es nur die Tat des Helden und das Wort des Sängers. Wer diesen (literar-) historischen Augenblick durch Untersuchungen von Buchstaben, von Vokalen und Konsonanten, von Silben-Strukturen, von Onomastiken und Leitnamen-Entwicklungen einfangen will, dem können wir wenig Hoffnung machen, dass er bezüglich der Historisierung der Saga auf dem rechten Weg ist.
Wenn heutige historisierende Sagenforschung nicht dazu führt, dass wir die Sage besser verstehen, dass wir sie besser so verstehen, wie die Sagen-Hörer des Frühmittelalters, für die sie gemacht war, verstanden, dann läuft bei der Sagenforschung offenbar etwas falsch. Entweder hat solche Sagenforschung Erkenntnisziele, die nicht mit den Erkenntniszielen frühmittelalterlicher Sagen-Hörer identisch sind, oder sie glaubt gar, deren Erkenntnisziele besser zu kennen als die damaligen Hörer selbst und fühlt sich deshalb berechtigt, ihr „besseres“ Ziel-Wissen den frühmittelalterlichen Hörern nachträglich abzufordern, die ja – so die dahinterstehende Auffassung – keineswegs bereits so gebildet wie die heutigen Sagenforscher gewesen sein können. Intertextuelle Beziehungen zwischen verschiedenen Sagen-Ausprägungen können bei der Aufklärung der Entstehung und Entwicklung der DS ganz zweifellos behilflich sein, und so wollen wir, denen der Zusammenhang zwischen Heldensage und Geschichte am Herzen liegt, die Ergebnisse der philologischen Forschung dankbar als Hilfe annehmen; aber nicht als Non-plus-ultra.
Bedauerlicherweise nimmt die Mediävistik, der die Rolle der „Fachwissenschaft“ in unserem Bezug zur DS eigentlich zukäme, ihre fachliche Berufung kaum wahr; sie hätte alle Möglichkeiten, sich jeder vorhandenen Hilfswissenschaft zu bedienen, um ihrem Ziel näher zu kommen: die Entstehung der DS (also die Entstehung der einzelner Lieder) zu untersuchen und die Bedingungen dieser Entstehung und Entfaltung zu benennen. Die Entscheidung, ob die Entstehung und Entfaltung im fränkischen Frühmittelalter unter geografischen oder historischen Aspekten geschah, darf man nicht der nordischen Philologie überlassen, die ja erst am Ende einer 1000jährigen DS-Entwicklung in die Welt tritt und aus eigener „Forschungshoheit“ lediglich etwas über die DS „im Kontext der altnorwegischen Literatur“ zu sagen vermöchte, aber nicht über die Lieder der DS im Licht der frühmittelalterlichen Historiografie.
Mit dieser Feststellung wird nicht behauptet, dass die Ergebnisse der philologischen Forschung der letzten 200 Jahre allesamt falsch wären, sondern lediglich, dass sie zur Erklärung dessen, was Sagenhörer vor 1200 Jahren beim Vortrag eines Sängers verstanden, keinen Beitrag leisten können. (Ob sie deshalb in anderen Sagen-Zusammenhängen schon richtig sind, ist eine andere Frage.)
Nachdem dieses Buch nunmehr von Sagenforschung anderer Art gebührend abgegrenzt wurde, kann ich auf einige Punkte einführend hinweisen, die für den Leser dieses Werkes ebenfalls wichtig sein könnten. Es handelt sich im Wesentlichen um Gedanken zu den Namen in der Sage, zu ihren strukturellen Bedeutungen und zu gewissen Tendenzen in der Namensvergabe durch die Sänger.
Die allermeisten „Personen“-Namen in der DS sind generell Gattungsnamen. Wie bereits im 2. Band dieser Untersuchung, so werden wir auch hier im 3. Band zeigen, dass „Dietrich“ der Sammelname für alle Frankenkönige ist; dass „Sigfrid“ immer ein Held ist, der früh durch Verwandte stirbt, auch wenn in „unsere“ Sigfrid-Gestalt der DS mindestens vier verschiedene historische Gestalten eingegangen sind; dass „Osantrix“ immer der Machthaber in Burgund ist, ganz gleich, wo man sich dieses „Burgund“ zu denken hat (ob in den Alpen, bei Worms am Rhein oder in den „nideren Landen“); dass Erka immer die Gemahlin Attilas ist, der aber ähnlich „variabel“ wie Dietrich und manchmal auch mit ihm historisch identisch ist. Es gibt einige wenige Fälle, wo der Gattungsname eines Helden zufälligerweise mit dem historischen Namen eines Helden übereinstimmt (z.B. bei „Hildebrand“, siehe Kap. 4.16), aber das ist eher Zufall (denn wir kennen fast ein Dutzend Hildebrand-Gestalten der Saga, die in der Geschichte nicht Hildebrand hießen). Wie die Sage diesen Tatbestand bewältigt, werden wir in den folgenden Kapiteln zeigen (zu Hildebrand vor allem in Kap. 4.16). Bei einer ganzen Reihe von Sagenhelden können wir dabei erkennen, dass sie eine längere Zeit, unter Umständen sogar mehr als zwei oder drei Jahrhunderte lang, eine Rolle in der Sage gespielt haben, nicht nur im 12. Jhdt. (z.B. Dietrich, Osantrix, Attila).
Außerdem werden wir zeigen, dass die Namen „Dietrich“ und „Dietrich von Bern“ nicht identisch sind, sondern verschiedene Könige bezeichnen. Die Sturheit der bisherigen DS-Forschung, mit der sie die etwa 20 verschiedenen „Dietrich“-Könige der fränkischen Geschichte mit „Dietrich von Bern“ identifizierte (von denen wir bislang nur wenige kennen), ist nur mit der Überzeugung erklärbar, mit der die philologische Dietrich-Forschung sich in die Welt der DS begibt: Dieser Standpunkt lässt sich kurz mit folgenden Worten beschreiben: „Dietrich ist Dietrich von Bern und damit „bekanntlich“ Theoderich d. Gr., basta.“ Dieser Standpunkt bedarf einer gründlichen Überprüfung.
Die merkwürdige Art, wie manche Gestalten der DS mit ihren Namen umgeben und wie die Sage mit den Namen historischer Personen umgeht, erregt für uns schriftkundigen Mitteleuropäer des 20./21. Jhdts. Erstaunen. Mehrfach kommt es in den Schilderungen der Saga zu Begegnungen, in denen einer oder beide der Beteiligten die Nennung ihres Namens verweigern. Nicht selten wird der Name erst genannt, nachdem die „Helden“ recht kräftig aufeinander eingedroschen haben.
Dies alles wäre als „Dichtung aus oraler Zeit“ für uns noch zu verkraften, wenn es Hinweise dafür gäbe, dass bei frühen mittelalterlichen Analphabeten ein entsprechender pseudonymischer Namengebrauch in Übung war. Doch bislang scheint es für den Gebrauch von fiktiven Namen vorerst nur einen Alphabet-gestützten Nachweis zu geben: den Gebrauch der Psychonyme in der karolingischen Akademie im Umkreis Karls d. Gr. Doch von den dort benutzten etwa 40 Pseudonymen erscheint nur ein einziger fiktiver Name in der DS („Salomon“). Offensichtlich handelt es sich in der Akademie und in der DS um völlig unterschiedliche Namenbestände. Die Idee, ein Personenverband von drei bis vier Dutzend Individuen (eben die karolingische „Akademie“) könne ebenso gut, wie er alle Beteiligten mit Pseudonymen versorgen kann, zum Zwecke der Rätselformulierung und eines geistvollen Plauderns auch aus Erzählweisen bekannte historische Personen mit fiktiven Namen versehen, ist an sich sehr verlockend. Doch haben von der Leyen und andere, die sich mit dem „Heldenliederbuch Karls d. Gr.“ befasst haben, dieser Verlockung widerstanden.
Die fiktiven Namen der Akademie-Mitglieder sehen ja noch mehr wie eine intellektuelle Spielerei aus: Sie wurden offenbar nicht als strenges Geheimnis behandelt, sondern mehr oder weniger frei benutzt. Bei den Pseudonymen in der DS kann man sich schon eher fragen, ob sie nicht mehr deshalb benutzt worden sind, um ihre Träger vor Herrscher-Willkür zu schützen. Wala, der Vetter Karls d. Gr. und Abt von Corvei und Bobbio, ließ seine Biografie unter Verwendung von Decknamen schreiben, ganz offensichtlich, weil er sonst schwere Nachteile zu befürchten hatte (die er später unter Ludwig dem Frommen auch erlitt!).
Die Benutzung von Decknamen war demnach in karolingischer Zeit geübte Praxis. Und da in der DS von manchem Mord und Todschlag berichtet wird (was mancher Täter sicher gern verschleiert hätte), ließen die Sänger ihre „Helden“ oft unter Decknahmen agieren. Namenwechsel bei Aneignungen taten ein Übriges, die Erkennbarkeit von „Tätern“ zu verhindern.
Da die meisten Urteile der Sagen-Philologie, die wir in diesem Werk als Fehlurteile erkennen werden, auf das Erbübel der Literalität, die Buchstaben-Gläubigkeit, zurückgehen, war es methodisch erforderlich, einen Zugang zu finden, der es erlaubt, Heldensage und Geschichte unabhängig von Buchstaben, Namen u.dgl. zu vergleichen. Diesen Zugang fanden wir mit Hilfe Hch. Becks in der Struktur der Handlungen, in den Interaktions-Strukturen (IAS, vgl. dazu: Bd. 2, Kap. 3.25, S. 42). Die Analyse der IAS in Sage und Geschichte erwies sich als die Methode, mit der wir dem Verständnis der oralen Sänger und Hörer sehr nahe kommen und den Zusammenhang zwischen Heldensage und Geschichte konkret und am Einzelfall darstellen konnten.
Nicht nur bei den Personen-Namen, sondern auch bei den geografischen Namen in der DS ist dies ähnlich gelaufen. Auch hier gibt es zwei oder drei Städte-Namen in der Saga, die vermutlich halbwegs die Städte meinen, die sie benennen; alle anderen Städte-Namen dürften wohl Fantasie-Gebilde sein. Diese Fantasie-Aussage bezieht sich auf die Städte-Namen in der DS, nicht in jedem Falle auf die Städte selbst! Inwieweit die geschilderten Städte historische Städte meinen, müsste also noch untersucht werden; die Namen stimmen jedenfalls genauso wenig wie die Personen-Namen. Lediglich im Falle „Rom“ scheint tatsächlich der Sitz des Papstes gemeint zu sein, bis auf eine Ausnahme, wo mit „Rom“ in der DS nach unserem Eindruck das oströmische „Rom“, also Konstantinopel, bezeichnet ist. Trier taucht in der DS nach unseren Feststellungen überhaupt nicht auf, auch nicht unter dem Namen „Rom“ oder „Romaburg“. (Diese Aussage macht das Konzept der IAS vor allem bei den Ritter-Schülern verständlicherweise verdächtig).
Aber damit hört es auch schon auf: Dass „Susa“ oder „Susat“ in der Saga nicht Soest in Westfalen meint, ist den Stadtvätern von Soest längst klar, aber den Ritter-Schülern und mehreren DS-Anhängern noch nicht geläufig (ganz abgesehen von der Kunde, dass mit Susa, Susat oder Soest ein Flecken im Saarland mit Namen „Sost“ gemeint sein solle). Ähnlich unzuverlässig sind die Orts-Angaben der Saga für „Babilonia“ und ebenso strittig die Angaben für z.B. „Bertangenland“, für „Russland“ oder „Reussenland“, „Wilkinenland“ usw. Es wird sich zeigen, dass diese Bezeichnungen, wörtlich oder auch nur annähernd wörtlich genommen, keinen Sinn machen, in ihrer Verankerung in der Interaktionsstruktur aber – abweichend von ihrer philologischen Deutung – stimmig entschlüsselt werden können. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass Unstimmigkeiten sowohl bei Personennamen wie auch geographischen Bezeichnungen gelegentlich übersetzungsbedingt sind.
Erst in literaler Zeit (also etwa ab dem 12. Jhdt.) kann ein Städte-Namen – mit der gebührenden Vorsicht – als Bezeichnung für eine geographisch existente Stadt genommen werden. (Bei unseren Ausführungen über die Ambiguität von historischen und a-historischen Akkumulationen erfahren Sie, verehrter Leser, Näheres darüber.)
Ein durchaus ähnliches Phänomen wie die Vergabe von fiktiven Namen in der karolingischen Akademie lässt sich bei der Namensvergabe in der DS beobachten: Wie in der Historie der Akademie, so gibt es auch in der Sage die Mehrfachbenutzung einzelner Namen (beispielsweise den Namen „Walter“ im Bayerischen Dukat). Und ebenso gibt es auch die Doppelt- oder Mehrfach-Verleihung von fiktiven Namen in beiden Anwendungsbereichen. Dass die Namensbestände so unterschiedlich sind (bis auf Salomo keinerlei Übereinstimmung), kann darauf zurückgehen, dass der Hauptnamensgeber in der Akademie offensichtlich Alkuin in der Zeit zwischen 780 und 796 war, in der DS aber vermutlich eine Reihe von Sängern zwischen 490 und etwa 830 anzunehmen ist und zusätzlich dazu noch mehrere Textbearbeiter, die bei nordischen „Aneignungen“ (Hch. Beck) einzelner Textteile Namen aus ihrer eigenen Historie mit einbrachten (z.B. „Waldemar“). Das gilt im Übrigen auch für geografische Bezeichnungen (z.B. Düna, Novgorod).
Es zeigt sich allerdings, dass die DS gern „zweideutig“ ist in ihren Benennungen. Sie spielt geradezu mit „ambigen“ geografischen Bezeichnungen, die ihre Hörer (oder auch Leser!) in die Irre locken: Hesbaye oder Hispanialand für Spanien, Fenedi für Venedig, Wenden für Benevent, Malevent oder Fenedi, Susa oder auch Soissons für Soest seien als Beispiele genannt. Vielleicht zählt auch Bergara statt Bergamo dazu. Wesentlich zahlreicher sind die Beispiele personeller Ambiguität, die sich durch die gesamte Saga ziehen. Im Zusammenhang mit den „doppelt verzweigten Rollenidentitäten“ , die sich zwangsläufig bei intratextuellen Begegnungen von historischen Akkumulationen mit historischen Doubletten ergeben, verursachen sie dem Sagen-Analytiker manche Denk-Aufgabe: Ermenrich, Sibich und Walter sind Adressen solcher Aufgaben vor allem in den Kapiteln 4.3, 4.4, und 4.6. Zu unterscheiden von solchen Fällen, in denen die Ambiguität personeller Benennungen Kummer bereitet, sind Fälle, in denen von der Benutzung von Homonymen auch in der Historie Gebrauch gemacht wird, z.B. bei historischen Gestalten mit Namen Pippin, die in der DS unter anderem mit dem Pseudonym „Hertnit“ benannt werden.
Der Gebrauch von Pseudonymen in der DS bedarf hier einer doppelten Erwähnung: Zunächst war es erforderlich, auf ihren Gebrauch im Umkreis Karls d. Gr. hinzuweisen, denn da wir Karl in der DS als Dietrich von Bern erkannt haben, erhebt sich die Frage, ob Karl außer als Dietrich von Bern noch mit anderen fingierten Namen bezeichnet wurde und ob der Pseudonymen-Gebrauch im engeren Hofkreis um Karl d. Gr. Schlussfolgerungen auf andere personelle Bezeichnungen z.B. in der DS erlaubt.
Dieser engere Hofkreis um Karl d. Gr. wurde seit dem vorigen Jhdt. von einigen Wissenschaftlern auf seine Mitglieder und deren Pseudonyme untersucht. In einem Artikel mit dem Titel „Karl der Große und sein Hof“ erwähnt Josef Fleckenstein (in: Wolfgang Braunfels: Karl der Große, Düsseldorf 1965, Bd. 1, S. 24 ff.), ca. 40 Mitglieder des Kreises um Karl d. Gr. (üblicherweise die „Akademie“ benannt), darunter Karl selbst (mit den Pseudonymen Salomon, Moses, Constantin, David) oder etwa Einhard (als Beseleel und Nardus). „Der Kämmerer Meginfried wurde Thyrsis, der Mundschenk Eberhard Nemias, der Truchsess Audulf Menarcas genannt. Der Dichter Moduin hieß Naso, Arn von Salzburg Aquila, der Kappelan Adalbert, später Abt von Ferriéres, Magus. Unter einer Reihe weiterer Pseudonyme wie Corydon, Maro, Drances u.a. verbergen sich noch mehrere Schüler Alkuins“.
Einige fingierte Namen wurden in der Akademie gleich mehrfach vergeben, wie wir dies auch bei der Vergabe von Pseudonymen in der DS kennen: an identische Funktionsträger: So ist von den drei obersten Kappelänen, die wir unter Karl d. Gr. kennengelernt haben, nur Hildibald von Köln, der letzte, nicht aber Fulrad und nicht Angilram als Aaron bezeugt. (S. →). Es zeigt sich also nicht nur eine gewisse Gleichförmigkeit darin, dass sowohl die DS als auch die Akademie Pseudonyme benutzte, sondern auch in der Handhabung der fingierten Namen bei ihrer Mehrfachbenutzung. In der DS begegnet uns dieses Phänomen unter der Bezeichnung „historische Akkumulation“. Und auch den Fall, dass ausnahmsweise einmal kein Pseudonym vergeben wurde, finden wir sowohl in der Akademie (Petrus von Pisa, Paulus Diakonus, Theodulf von Orleans) als auch in der DS (z.B. bei einigen Hildebrand-Gestalten).
Gleichwohl forderte die Verschleierung der Namen die geistigen Kräfte enorm. Vor allem, wenn die Aufgabe der Gesprächsteilnehmer darin bestand, ein als Rätsel verklausuliertes Ereignis des politischen Lebens zu erraten, werden die Wortlaute der Rätsel immer auch Aussagen enthalten haben, die die Ratenden hinters Licht bzw. in die Irre zu führen geeignet wären. Andererseits mussten die Rätsel genügend stimmige Einzelheiten enthalten, sodass es den Ratenden zumindest theoretisch möglich war, bei richtiger Auswahl der stimmigen Einzelheiten das Rätsel aufgebengemäß zu lösen.
Es bleibt der Aspekt der Tendenz, auf den ich meine Leser vorab hinweisen möchte. Damit ist gemeint, dass ein von der Saga vergebener Personen-Name eine gewisse Vorbedeutung, eine Tendenz, hat. Wenn ein Sänger einen neuen Helden seiner politischen Gegenwart im merowingischen oder karolingischen Frühmittelalter mit dem Namen „Sigfrid“ in die Sage, also in ein Lied einführt, dann prognostiziert er diesem Helden zugleich eine gewisse Zukunft, nämlich einen frühen Tod durch nahe Verwandte; denn dies war das Schicksal jedes „Sigfrid“, der in der Sage seit dem frühen 6. Jhdt. (exakt: nach 511) dargestellt wurde. Andererseits: wenn ein Sänger einen neuen Helden seiner politischen Gegenwart mit dem Namen „Dietrich“ in die Sage einführte, dann war allen Sagen-Hörern klar, dass hier von dem König (der Franken) die Rede war. Ähnlich verhielt es sich mit den historischen Gestalten, die in der Sage die Namen „Günther“, „Gernholt“ oder „Gislher“ erhielten: ihnen war von vornherein prognostiziert, dass sie ein ähnliches Schicksal erleiden würden wie ihre frühen burgundischen Namensträger. (Die Vorstellung, dass die burgundischen Helden selbst gemeint wären bei der Nennung ihres Namens in der DS, ist wohl für manche Fehl-Interpretation verantwortlich.) Hätte ein Sänger einen Helden seiner politischen Gegenwart nicht mit dieser „Sigfrid“-Prognose, sondern mit einem anderen Profil in der Zukunft ausstatten wollen, wäre es ihm ja freigestanden, diesen Helden anders zu benennen. Aber wenn er ihn „Sigfrid“ oder „Gunther“ nannte, „war er in der Erfindung nicht mehr frei“, wie Fr. Neumann diesen Zwang der überkommenen Sagen nannte und den wir als Senioritätsprinzip1) in diese Untersuchung einführten. (s. Bd. 2, S.148 f.)
Es ist interessant zu beobachten, wie die Sagen-Sänger mit ihrer Prognose umgingen, wenn die sich als falsch herausstellen sollte, ein „Sigfrid“ also nicht früh durch Verwandte starb, sondern entgegen der frühen Prognose durchaus sehr alt wurde. Eine solche „Fehlentwicklung“ war für die aktuelle Sagenentwicklung natürlich ein Desaster, und es bedurfte einiger Anstrengungen durch die Sänger, einen solchen Unfall für die Sagen-Hörer zu regulieren. Im Kap. „Sigfrids Gestaltentausch“ (4.5) erfahren Sie, wie die Sänger ihren guten Ruf als Prognostiker verteidigten, auch wenn ihr Werk später von unprofessionellen Kollegen durch unschickliche und grobe Hinzudichtungen verunstaltet wurde.
Außerdem wird sich erweisen, dass die Sänger auch für „Neustrien“ und „Austrien“ und selbst für „Neustroburgund“ und „Austroburgund“ ihre speziellen Darstellungsweisen hatten, die von den an-alphabetischen Hörern offenbar (und in Gegensatz zu den heutigen gebildeten Lesern) mühelos verstanden wurden.
Auf einen anderen Umstand, ohne selbst viel zu seiner Klärung beitragen zu können, muss ich hier hinweisen. Die Sage, oder genauer gesagt: die einzelnen Lieder, die irgendwann und möglicherweise in mehreren Zwischenstufen zu einer Saga zusammengefasst wurden, hat nach ihrer Entstehung im Frühmittelalter einen sehr wechselvollen Weg zurückgelegt, bis sie die Form erlangt hatte, in der sie uns vorliegt. Da dieser Transport der Lieder nach Skandinavien bis zu ihrer Rückübersetzung aus verschiedenen skandinavischen Sprachen ins Deutsche fast ein Jahrtausend dauerte, muss man mit Textveränderungen während dieser Odyssee rechnen. Manchmal sind solche skandinavischen Beeinflussungen für den Kontinental-Europäer leicht erkennbar; sie zu beweisen ist allerdings in vielen Fällen schwierig. Bei Samson, bei der Duna, bei Novgorod und bei den bereits genannten Verunstaltungen („Vergotung“ usw.) werden Sie Näheres erfahren.
Wir gehen in allen hier behandelten Einzelheiten davon aus, dass die Lieder normalerweise unmittelbar nach den geschilderten historischen Interaktionen gedichtet wurden, also nicht erst im „13. Jhdt.“ entstanden, sondern in der Mehrzahl aller Fälle bereits im 6./7. Jhdt. nur im Ausnahmefall auch mal etwas früher oder später. Ein Großteil der verarbeiteten Lieder mag ja in ihrem „Kern“, in ihrem Altüberlieferten um einiges älter sein als die „Personalien“ oder die historischen Interaktionen, die wir analytisch registrieren; nie aber wurden diese historischen Akkumulationen stumm im Gedächtnis verwahrt, um sie ggfs. nach mehreren Jahrzehnten erst der Sage einzuverleiben, denn sie waren ja die „Zeitung“, also die aktuelle politische Orientierung der Zeitgenossen, die die historischen Interaktionen erlebt hatten. Eine Sagen-Aktualisierung, die erst nach Wochen oder gar Monaten ihre Hörer erreichte, war oft so obsolet wie unsere Zeitung vom vorletzten Monat.
Da unsere Methode der „Analyse der Interaktionsstrukturen“ (IAS-A) es einerseits erlaubt, die historischen Fakten, die der Saga zugrunde liegen, aus den historischen Quellen deutlich präziser und deutlich vor dem „13. Jhdt.“ zu verzeitigen, andererseits und gleichzeitig auch die historischen Begleitumstände und historische Namen im 6. – 9. Jhdt. zu benennen, kommt die „Völkerwanderungszeit“ nur ausnahmsweise einmal in unseren Untersuchungen vor. Sehr vielfältig sind dagegen die Aneignungen des nordischen Raumes etwa ab dem 9. Jhdt. vor allem seit der 1. Jahrtausend-Wende.
Dafür jedoch spielt das Frühmittelalter als Handlungszeit der in der DS geschilderten Ereignisse eine herausragende Rolle: das Frühmittelalter ist die „Hohe Zeit“ der DS, und zwar sowohl in merowingischer Zeit (= Band 2) als auch in karolingischer Zeit (= Bände 3 und 4). Unsere Auseinandersetzungen mit der Fachliteratur, die überwiegend das „13. Jhdt.“ und die „Völkerwanderungszeit“ referiert, aber kaum je die Zeit dazwischen, beschränken sich deshalb auf wenige Fälle. Die Frage „wann haben sich die historischen Vorgänge, die in der DS geschildert werden, tatsächlich abgespielt?“ bedarf sicher einer intensiven Auseinandersetzung.
Natürlich muss diese Auseinandersetzung unter diesen neuen Zeitvorstellungen für die DS demnächst geführt werden, aber ich sehe meine Aufgabe nicht darin, sie hier zu führen, sondern lediglich, sie hier als erforderlich zu erweisen und anzuregen.
Noch eine Empfehlung: wenn Sie den Text der Saga lesen, sollten sie ihn nicht einfach drauflos lesen, um dieses Vorhaben möglichst bald beenden zu können, sondern sorgsam, langsam und aufmerksam. Obwohl Generationen von Besserwissern ihn verunstaltet haben, um ihn möglichst bald „abhaken“ zu können, enthält er immer noch viele Feinheiten, die Sie nur bei bedächtigem Lesen bemerken und verarbeiten können. Das meiste, was Sie, geehrter Leser, bislang über die DS bei den Besserwissern gelesen oder sich auch selbst dazugedacht haben, ist ohnehin würdig, überprüft zu werden. Nehmen Sie sich dazu die Zeit, die Sie brauchen. Wenn Sie meinen, dazu Eile nötig zu haben, entgeht Ihnen manches.
Und als letzten Aspekt dieser Einführung eine Warnung: Wenn Sie, liebe Leserin, sehr geehrter Leser, sich zu schade sein sollten, die angegebenen Literatur-Stellen nachzulesen oder Ihr Geschichtswissen vor allem über Karl d. Gr. durch andere Lektüre möglichst weit anzureichern, können Sie dieses Buch auch sofort verschenken. Denn Sie werden es nur dann mit Genuss und Gewinn lesen können, wenn Sie annähernd so viel Wissen über die Zeit Karls d. Gr. gespeichert haben, wie ein Sagen-Hörer der damaligen Zeit.
Da Sie diese Warnung ohnehin nicht glauben werden, gebe ich, um Sie zu überzeugen, im Kapitel „Verona und seine Dietrich-Helden“ einige Beispiele vorweg.
1 Ein besonders gestrenger Studienrat unter meinen Kritikern bemängelte einmal, dass er bei Google diesen Begriff nicht finden könne. – Na denn!
Das „Bern“ der Sage wird allgemein als das norditalienische Verona verstanden und demzufolge sieht die konventionelle Sagen-Forschung in „Dietrich von Bern“ Theoderich den Gr. repräsentiert. Diese Schlussfolgerung war geradezu zwangsläufig, solange man von der Vorstellung ausging, dass „Dietrich“ der Personenname einer zunächst noch unidentifizierten historischen Gestalt war, man diese Person wegen der Namensgleichheit in Theoderich gefunden zu haben vermeinte und eine Bestätigung für die Dietrich-Theoderich-Identität in der Wichtigkeit sah, die Verona für Theoderich bzw. Bern für Dietrich hatte. Es handelt sich also um zwei nominelle Gleichsetzungen (1: Dietrich = Theoderich, 2: Bern = Verona), von denen aber keine bewiesen wurde. Deshalb „bewies“ man die eine mit der anderen und vice versa.
Diese Meinung der Identität der Personen und der Städte hat sich in der mittelalterlichen Dietrichepik nach und nach und in der akademischen Sagen-Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts nahezu komplett durchgesetzt, obwohl in der DS, deren konstitutive Lieder eine ältere Version des Dietrich-Stoffes zu erkennen geben, weder der Bezug bei „Dietrich“ auf Theoderich d. Gr. noch bei „Bern“ auf Verona eindeutig und zweifelsfrei sind. Immerhin aber gilt: seit der mittelalterlichen Dietrichepik sind in vielen Sagen-Dichtungen (und übrigens auch in der DS) Motive, die auf Theoderich hinweisen, nicht zu leugnen, und seit dem Beginn der modernen Sagen-Forschung zu Beginn des 19. Jhdts. entwickelte sich in der Forschung eine Meinung der Theoderich-Dietrich-Identifizierung2 selbst um den Preis gröbster „Umdeutungen“. Selbst in DS-fremden Wissenschaftsgebieten (etwa Anglistik oder Geschichtswissenschaft) ist diese Meinung inzwischen vertreten. Seither ist diese Frage – von Querdenkern wie z.B. W. Grimm und H. Ritter abgesehen - weitgehend zur Ruhe gekommen. Von daher gesehen besteht also wenig Grund, das Thema „Verona und Dietrich“ hier erneut aufzugreifen.