Ein Physiker und eine Philosophin spielen mit der Zeit
Mit einem Vorwort von Karlheinz A. Geißler
Patmos Verlag
Ursula Forstner
studiert nach verschiedenen beruflichen Stationen im In- und Ausland Philosophie an der Hochschule für Philosophie in München. Dort lernt sie den Naturphilosophen Alfred N. Whitehead (1861–1947) kennen und bringt seine höchst „modern“ anmutenden Überlegungen zur Zeit ins Gespräch mit Harald Lesch und Karlheinz Geißler ein.
Dr. Karlheinz A. Geißler
war Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität der Bundeswehr in München. Er ist Mitgründer und Leiter des Projekts „Ökologie der Zeit“ der Evangelischen Akademie Tutzing und Mitgründer der „Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik“. Er leitet das „Institut für Zeitberatung timesandmore“ und ist als Autor, Referent und Zeitberater tätig.
Dr. Harald Lesch
ist Professor für Astrophysik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Zudem unterrichtet er Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie München. Als Wissenschaftsjournalist, Fernsehmoderator und Sachbuchautor vermittelt er komplexe wissenschaftliche und philosophische Sachverhalte anschaulich und kurzweilig.
Sie umgibt uns und ist doch schwer zu erklären. Sie strukturiert Privatleben und Beruf durch Termine, Produktionsvorgaben und halbjährliche Zeitumstellung. Sie taktet uns – und doch zeigt unsere Erfahrung, z.B. mit lähmender Langeweile oder vorfreudiger Erwartung, dass „Zeit“ situativ und subjektiv höchst unterschiedlich erlebt wird.
Der Astrophysiker Harald Lesch, der Zeitforscher Karlheinz A. Geißler und die Philosophin Ursula Forstner besprechen anschaulich das schillernde Phänomen „Zeit“. Sie erörtern Fragen der Quantenmechanik, Relativitätstheorie und Kosmologie ebenso wie kulturelle Entwicklungen, die uns prägen. Es geht um Sonnenuhren und Computer an unseren Handgelenken, um Dauer und Augenblick, um das Zueinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und – mit dem Philosophen Alfred N. Whitehead – um die Aspekte unserer Realität, die sich nicht messen lassen.
Nehmen Sie Teil an diesen spielerisch-vergnüglichen und dabei höchst alltagsrelevanten Überlegungen. Sie werden anschließend befreit mit Ihrer Zeit umgehen!
Auch als Printausgabe erhältlich.
www.patmos.de/ISBN978-3-8436-1125-1
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in der Schwabenverlag AG, Ostfildern
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ISBN 978-3-8436-1125-1 (Print)
ISBN 978-3-8436-1141-1 (eBook)
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Eine Frage der Zeit
Vorwort von
Karlheinz A. Geißler
Gespräche über Zeit
Aus der Zeit gefallen
Zeit gibt es nicht
Zeit gibt es doch – aber anders
Wo ist die Zeit?
Die Zeit muss landen!
Zeit im »Hochstapelregal« der Physik
Noch im Mittelalter?
Wir leben in Zeiträumen,
nicht in Zeitpunkten!
Im Märzen der Bauer …
Ist die Zeit teilbar?
Zeit ist aufeinanderfolgendes Werden
Zeit ist atomar!?
Kommt die Zeit in Paketen?
Was wir messen können –
oder auch nicht
Jetzt aber mal exakt!
Die Zeit ist grau geworden
Die Zeit ist bunt!
Unsterbliche Vergangenheit:
Einheitsbrei oder Abenteuer?
Vom kreativen Sturz in die Zukunft
Es wird schon irgendwas kommen …
Der Blick in die Zukunft
Zukunft 4.0 – die Abstraktion wird
immer abstrakter
Fußnoten zu Platon
Alles fließt: Teil I
Stehende Gewässer der Zeit
Alles fließt: Teil II
Irgendetwas passiert immer!
Die Gottesfrage? Vertagt!
Takt und Rhythmus
Es dauert, solange es dauert!
Whitehead, warum er?
Schlusswort von
Harald Lesch
Literatur
Glossar
Anmerkungen
Über die Autorin und die Autoren
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
1 Whitehead (1929): Die Ordnung der Natur, S. 206, in: Prozess und Realität.
2 Vgl. Whitehead (1929): Speculative Philosophy, S. 4 und 11f., in: Process and Reality.
3 Vgl. Whitehead (1925): Science and the Modern World, S. 59.
4 Vgl. Whitehead (1929): The Order of Nature, S. 97, in: Process and Reality.
5 Vgl. Whitehead (1929): The Extensive Continuum, S. 67, in: Process and Reality.
6 Vgl. Whitehead (1929): Speculative Philosophy, S. 5, in: Process and Reality.
7 Vgl. Lucien Price (1954): Dialogues of Alfred North Whitehead, S. 59.
8 Adventures of Ideas (1933) ist der Titel von Whiteheads drittem metaphysischen Werk nach Science and the Modern World (1925) und Process and Reality (1929).
9 Vgl. Whitehead (1925): The Century of Genius, S. 50f., in: Science and the Modern World.
10 Vgl. Michael Hampe (1998): Abschaffung der Materie, S. 61, in: Alfred North Whitehead.
11 »We must not expect simple answers to far-reaching questions.« [Whitehead (1929): Final Interpretations, S. 342, in: Process and Reality]
12 Vgl. Whitehead (1920): The Concept of Nature, S. 38.
13 Vgl. Whitehead (1925): Science and the Modern World, S. 49 und 58.
14 Vgl. Whitehead (1925): The Century of Genius, S. 44 und 51, in: Science and the Modern World.
15 »… we live in durations not in instants …« [Whitehead (1917): The Organisation of Thoughts, Educational and Scientific, S. 144f.]
16 Vgl. Whitehead (1920): Time, S. 30ff., in: The Concept of Nature.Whitehead (1925): Science and the Modern Word, S. 65.
17 Vgl. Whitehead (1925): Relativity, S. 122f., in: Science and the Modern World.
18 Vgl. Whitehead (1929): Organisms and Environment, S. 124f. und 128, in: Process and Reality.
19 Vgl. Whitehead (1925): Relativity, S. 126, in: Science and the Modern World.
Whitehead (1929): The Extensive Continuum, S. 69, in: Process and Reality.
20 Vgl. Whitehead (1920): The Concept of Nature, S. 31.
21 Vgl. Whitehead (1920): Time, S. 36, in: The Concept of Nature.
22 Vgl. Whitehead (1933): Objects and Subjects, S. 181, in: Adventures of Ideas.
23 Vgl. Whitehead (1933): Past, Present, Future, S. 192, in: Adventures of Ideas.
24 Vgl. Whitehead (1933): Objects and Subjects, S. 178–181, in: Adventures of Ideas.
25 »Cut away the future, and the present collapses, emptied of its proper content.« [Whitehead (1933): Past, Present, Future, S. 191, in: Adventures of Ideas]
26 Vgl. Whitehead (1933): Past, Present, Future, S. 192f., in: Adventures of Ideas.
27 Vgl. Whitehead (1933): Past, Present, Future, S. 194f., in: Adventures of Ideas.
28 »But there can be no preparation for the unknown.« [Whitehead (1933): Foresight, S. 93, in: Adventures of Ideas]
29 Vgl. Whitehead (1933): Foresight, S. 90, in: Adventures of Ideas.
30 »By myself I am only one more professor, but with Evelyn I am first-rate.« [Lucien Price (1954): Evenings at the Whiteheads’, S. 9, in: Dialogues of Alfred North Whitehead]
31 »The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato.« [Whitehead (1929): Fact and Form, S. 39, in: Process and Reality]
32 Vgl. Whitehead (1929): Process, S. 210f., in: Process and Reality.
33 Vgl. Whitehead (1929): Process, S. 214, in: Process and Reality.
34 Vgl. Whitehead (1929): Ideal Opposites, S. 340f., in: Process and Reality.
35 Vgl. Whitehead (1929): God and the World, S. 347, in: Process and Reality.
36 Vgl. Lucien Price (1954): The Spirit of Irony, S. 260ff., in: Dialogues of Alfred North Whitehead.
* Whiteheads Sohn Eric war Flieger im Ersten Weltkrieg. Seine Maschine wurde abgeschossen.
** So heißt der große Teilchenbeschleuniger der Europäischen Organisation für Kernforschung CERN in der Schweiz.
*** So heißt das Museum für antike Skulpturen am Königsplatz in München.
Whitehead hatte häufig große Probleme damit, seine Ideen in Worte zu fassen. Manche Wörter gab es schlichtweg nicht, und er musste neue erfinden (actual entity), oder er musste geläufigen Wörtern (Gott) eine neue Bedeutung geben. Einige Beispiele dazu finden sich auch in unseren Dialogen:
Actual Entity
ist ein Schlüsselbegriff in Whiteheads Metaphysik. In ihm steckt die Antwort auf die zeitlose philosophisch-religiös-wissenschaftlich-menschliche Frage nach den letzten realen Dingen, aus denen die Welt besteht. Deutsche Übersetzer machen daraus zumeist ›wirkliche Einzelwesen‹, was den Begriff leider verzerrt, anstatt ihn zu erklären. Whitehead selbst verwendet synonym den Begriff Actual Occasion, der viel zugänglicher mit ›wirkliches bzw. reales Ereignis‹ übersetzt werden kann. Die letzten Fakten, die diese Welt ausmachen, sind also für Whitehead weder Materie noch Ideen, aber auch nicht Gott, sondern ausnahmslos komplexe, ineinander verwobene Ereignisse. Drops of Experience (Erfahrungströpfchen) nennt er sie auch und zeigt damit ganz nebenbei, dass er durchaus auch anschaulich schreiben kann. (Vgl. Whitehead 1929, S. 18)
Concrescence und Transition
sind Whiteheads Begriffe, wenn es um die komplexen Prozesse rund um das Werden und Vergehen seiner letzten Dinge, seiner actual entities bzw. actual occasions geht.
Concrescence bedeutet ›Konkretisierung‹ und meint das individuelle Werden eines neuen konkreten Ereignisses (actual entity / actual occasion). Die gesamte Vergangenheit, alles, was sich bisher ereignet hat, beeinflusst dieses neue Werden. Aber das neue Ereignis ist nicht einfach die unentrinnbare Folge des Vergangenen, sondern jedes neue Ereignis verfolgt sein eigenes subjektives Ziel (subjective aim). Das erst ermöglicht ihm, Vergangenes zu bewerten, also individuell zwischen Prägendem und Belanglosem zu unterscheiden und so zu einem neuen unverwechselbaren Ereignis zu werden (satisfaction).
Transition bedeutet ›Übergang‹ und zwar von einem konkreten Ereignis (actual entity / actual occasion) zum nächsten, wodurch eben noch Gegenwärtiges zu Vergangenem und eben noch Zukünftiges zu Gegenwärtigem wird. Es ist auch ein Übergang von subjektivem Vergehen zu objektiver Unsterblichkeit; denn das eine Ereignis, verstanden als Subjekt, vergeht, während das neue Ereignis wird. Für dieses neue Werden ist das vergangene Ereignis ein unveränderbares Objekt, das berücksichtigt werden muss. Und egal, ob das Vergangene letztlich prägend oder belanglos ist für das, was kommt: Das Vergangene bleibt, es ist objektiv unsterblich. (Vgl. Whitehead 1929, S. 210ff.)
Extensive Continuum,
so nennt Whitehead das, was wir gewöhnlich ›Raum‹ nennen, nur dass Whiteheads Raum natürlich nicht ›gewöhnlich‹ ist, er umfasst vielmehr die ausgedehnte Welt als Ganzes, mit all ihren Relationen und Vernetzungen. Die einzelnen Ereignisse (actual entities / actual occasions) unterteilen dieses abstrakte ›Kontinuum‹ und machen es so erst konkret. Ohne die konkreten Ereignisse ist Whiteheads ›extensives Kontinuum‹ nicht wirklich, sondern gibt nur die Möglichkeiten vor, wie ein Ereignis existieren kann, nämlich ›ausgedehnt‹, also in vielfältiger Relation zu allen anderen Ereignissen. Mit anderen Worten: Whiteheads Raum ist niemals leer. (Vgl. Whitehead 1929, S. 61ff.)
Fallacy of Misplaced Concreteness
wird im Deutschen zu ›Trugschluss der deplatzierten Konkretheit‹ und bleibt damit ein äußerst sperriger, ja unverständlicher Begriff. Dabei geht es Whitehead eigentlich um etwas ganz Alltägliches, denn wir alle verwechseln zuweilen das Abstrakte mit dem Konkreten. Das tun wir, wenn wir den abstrakten Begriff der Zeit mit der Uhrzeit gleichsetzen, sie dann für die konkrete Wirklichkeit halten und sie nicht weiter hinterfragen.
Genau an dieser Stelle beginnt für Whitehead die ureigene Aufgabe der Philosophie: Sie soll weiter fragen! Sie soll fragen, ob wir unsere abstrakten Begriffe mit den ›richtigen‹ konkreten Inhalten füllen, ob diese Inhalte dazu taugen, unsere Erfahrungen abzubilden. Spätestens hier finden wir auch einen Grund dafür, dass Whitehead neue Begriffe brauchte: Die vorhanden (abstrakten) Begriffe (Zeit, Raum, Ding, Gott) waren und sind mit Inhalten gefüllt, die unserem Erleben zu wenig gerecht werden, weil erhebliche Teile der erlebten Wirklichkeit ausgeklammert wurden und werden – denn das ist ja auch einfacher, als sich mit der schier unendlichen Komplexität dieser unserer Welt auseinanderzusetzen. (Vgl. Whitehead 1925, S. 58f.)
God,
Gott ist ein Begriff, den Whitehead beibehalten hat, obwohl er damit keinem der gängigen Gottesbegriffe folgt. Aber eben weil es ohnehin schon so viele unterschiedliche Vorstellungen von dem gibt, was Gott sein könnte, sah Whitehead sich auch nicht gezwungen, ein neues unverbrauchtes Wort zu erfinden, sondern hielt es offenbar für ungleich spannender, einen Gott whitehead’scher Prägung anzubieten.
Zuallererst ist Whiteheads Gott nichts jenseits der Welt, sondern lediglich ein herausragendes Beispiel von Existenz (actual entity). Gott gewährleistet, dass der Fortgang der Welt ein kreativer Prozess ist und bleibt, in dem immer wieder Neues entsteht. Diese neuen Möglichkeiten kommen nicht aus dem Nichts, sondern sie kommen von Gott. Aber Whiteheads Gott ist nicht einfach ein statischer Raum der Möglichkeiten, nein, Gott selbst folgt dem ewigen Werden, indem er an den Ereignissen (actual entities) der Welt teilhat, sie sozusagen ›miterlebt‹. In Whiteheads Sprache, die durchaus auch poetisch sei kann, liest sich das dann so: God is the great companion – the fellow-sufferer who understands. ›Gott ist der großartige Kamerad – der Leidensgefährte, der alles versteht.‹ (Vgl. Whitehead 1929, S. 351)