Das Tao-Te-King (auch Daodejing) des chinesischen »Meisters« Lao-tse aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. ist das klassische Weisheitsbuch des Taoismus. In 81 vieldeutigen Sinnsprüchen wird die kosmische, gesellschaftliche und seelische Ordnung des Tao entfaltet, werden Lebensweisheit und politische Doktrin nebeneinander gestellt und ineinander verwoben. Der Weise lebt im Einklang mit dem Tao, dem allumfassenden Prinzip, das Fülle und Nichts, Sein und Nichtsein zugleich in sich trägt.
In seiner Einleitung nimmt der profilierte Sinologe und Übersetzer Günther Debon eine umfassende historische Einordnung dieser heiligsten Quelle der chinesischen Mystik vor und ebnet so den Weg zum besseren Textverständnis.
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1
W. Speiser hat jene Sätze des Lunyu, der »Ausgewählten Worte« des Konfuzius, zusammengestellt, in denen Tao (Dao) und Te (De) vorkommen. Siehe G. Debon / W. Speiser, Chinesische Geisteswelt, Baden-Baden 1957, S. 27–44.
2
Vgl. J. J. L. Duyvendak, »Chinesische Philosophie«, in: Die Philosophie im XX. Jahrhundert, Stuttgart 1959, S. 33 f.
3
Siehe H. Maspero, Le Taoisme, Paris 1950 (Mélanges posthumes sur les religions et l’histoire de la Chine II), S. 23.
4
Vgl. J. J. M. de Groot, Universismus. Die Grundlage der Religion und Ethik, des Staatswesens und der Wissenschaften Chinas, Berlin 1918.
5
Vgl. die §§ 33 f., 95, 120 f., 126 f.
6
§§ 41, 46, 85, 90, 135, 138, 140, 156, 159, 173, 178, 193; dem Reichsoberhaupt gelten die §§ 30, 60, 66, 80, 112, 145.
7
Vermutlich in den §§ 7, 18, 110, 120, 170, 172, 174.
8
Vermutlich in den §§ 10, 23, 51, 113, 134, 160.
9
Vgl. Zhuangzi 2.9, 2.12, 3.4, 6.3, 6.4, 6.5, 18.2, 18.4.
10
Vgl. des weiteren Kap. 50, 67, 74, 76, 80.
11
Den besten Eindruck von ihr vermittelt J. J. L. Duyvendak, The Book of Lord Shang, London 1928.
12
Bezeichnend im Zhongyong (»Maß und Mitte«), einem der kanonischen Bücher des Konfuzianismus: »Die sogenannte ›Menschenfreundlichkeit‹ bedeutet Menschentum; zunächst die Nächsten lieben ist dabei das Größte. Die sogenannte ›Rechtlichkeit‹ bedeutet rechtes Betragen; die Trefflichen ehren ist dabei das Größte.«
13
Shiji, Buch 121.
14
Vgl. A. F. Wright: Buddhism in Chinese History, Stanford 1959, S.43f.
15
Siehe R. des Rotours, Le Traité des Examens, Paris 1932, S. 173 f.
16
Siehe A. Waley, The Poetry and Career of Li Po, London 1950, S. 30.
17
Siehe J. J. L. Duyvendak, Tao Tê Ching, S. 4.
18
Etwa in §42; bei §§ 75 und 76; oder §§ 140 und 141.
19
So bei §§ 13 und 14 durch die Worte »Himmel und Erde«; bei §§ 19 und 20 durch das Wort »gut«; bei §§ 34 und 35 durch das Wort »Strudel«; bei §§ 29 und 30 durch die Worte »Dein« (bzw. »Dir«) und »Leib«; bei §§ 165 und 166 durch die Worte »ohne Feind« usw.
20
Etwa zwischen Kap. 5, Anfang, und Kap. 79, Schluss.
21
Sie sind neben vier weiteren Beispielen von Ma Xulun in seinem Laozi jiaogu, S. 201 f., zusammengestellt.
22
Vgl. S. 99 f.
23
Vgl. H. Franke, Sinologie, Bern 1953, S. 60.
§ 1Könnten wir weisen den Weg
Es wäre kein ewiger Weg.
Könnten wir nennen den Namen,
Es wäre kein ewiger Name.
Was ohne Namen, 2
Ist Anfang von Himmel und Erde;
Was Namen hat,
Ist Mutter den zehntausend Wesen.
Wahrlich: 3
Wer ewig ohne Begehren,
Wird das Geheimste schaun;
Wer ewig hat Begehren,
Erblickt nur seinen Saum.
Diese beiden sind eins und gleich. 4
Hervorgetreten, sind ihre Namen verschieden.
Ihre Vereinung nennen wir mystisch.
Mystisch und abermals mystisch:
Die Pforte zu jedwedem Geheimnis.
Erst seit auf Erden 5
Ein jeder weiß von der Schönheit des Schönen,
Gibt es die Hässlichkeit;
Erst seit ein jeder weiß von der Güte des Guten,
Gibt es das Ungute.
Wahrlich: 6
Sein und Nichtsein entspringen einander;
Schwer und Leicht bedingen einander;
Lang und Kurz vermessen einander;
Hoch und Tief erzwingen einander.
Die Stimme fügt sich dem Ton im Chor;
Und ein Danach folgt dem Zuvor.
Deshalb der Heilige Mensch: 7
Er weilt beim Geschäft des Ohne-Tun,
Er lebt die Lehre des Nicht-Redens.
Die zehntausend Wesen werden geschaffen von ihm,
Doch er entzieht sich ihnen nicht.
Er zeugt, aber besitzt nicht;
Er tut, aber baut nicht darauf.
Ist das Werk vollendet, verweilt er nicht dabei.
Wohl! Nur dadurch, dass er nicht verweilt, 8
Ist nichts, das ihm entginge.
Wer nicht die Tüchtigen ehrt, 9
Bewirkt, dass das Volk sich nicht streitet.
Wer nicht die Güter schätzt, die schwer zu erlangen,
Bewirkt, dass das Volk nicht zu Räubern wird.
Wer nicht vorzeigt, was man begehren kann,
Bewirkt, dass des Volkes Sinn nicht aufsässig wird.
Deshalb des Heiligen Menschen Regierung: 10
Er leert ihren Sinn
Und füllt ihren Bauch;
Er schwächt ihren Willen
Und stärkt ihre Knochen.
Ewig lässt er das Volk
Ohne Wissen, ohne Begehren
Und wirkt, dass die Klugen
Nicht wagen zu tun.
Tut er das Ohne-Tun, 11
Ist nichts, das nicht regiert würde.
Der Weg ist raumleer, 12
Dass im Gebrauch er niemals gefüllt wird.
Abgründig ist er, ach!
Dem Ahnherrn der zehntausend Wesen gleich.
(Er schabt ab seine Schärfen, 130
Löst auf seine Wirren,
Beschwichtigt sein Glänzen,
Vereint seinen Staub.)
Tiefgründig ist er, ach! 12
Und gleichsam ewig gegenwärtig.
Ich weiß nicht, wessen Sohn er ist –
Ein Bild von dem, das vor den Göttern war.
Himmel und Erde sind nicht menschenfreundlich; 13
Sie nehmen die zehntausend Wesen für Strohhunde.
Der Heilige Mensch ist nicht menschenfreundlich;
Er nimmt die hundert Geschlechter für Strohhunde.
Himmel und Erde, wie gleicht 14
Ihr Zwischenraum einem Blasebalg!
Er fällt nicht ein, ob noch so leer;
Je mehr bewegt, gibt aus er umso mehr.
Viele Worte – manch Verlust. 15
Am besten, man bewahrt sie in der Brust!
Unsterblich ist die Fee des Tals: 16
So heißt es von der Mystischen Weibheit.
Der Mystischen Weibheit Pforte:
So heißt man die Wurzel von Himmel und Erde.
Endlos wallend, gleichsam gegenwärtig,
Also wirkt sie sonder Beschwerde.
Der Himmel währt ewig, und die Erde dauert. 17
Was aber macht, dass Himmel und Erde vermögen
Zu währen, zu dauern?
Weil sie nicht sich selber leben,
Darum vermögen sie, ewig zu leben.
Deshalb der Heilige Mensch: 18
Er setzt zurück sein Selbst –
Und es wird vorne sein;
Er treibt hinaus sein Selbst –
Und sein Selbst tritt ein.
Ist das nicht, weil er ohne Eigennutz?
Darum vermag er, sein Eigen zu vollenden.
Das höchste Gute gleicht dem Wasser. 19
Des Wassers Gutsein: Es nützt den zehntausend Wesen,
Aber macht ihnen nichts streitig;
Es weilt an Orten,
Die die Menge der Menschen verabscheut.
Darum ist es nahe dem Weg.
Gut ist beim Wohnen: der Grund. 20
Gut ist beim Sinnen: die Tiefe.
Gut ist beim Geben: die Menschlichkeit.
Gut ist beim Reden: die Treulichkeit.
Gut ist beim Herrschen: die Ordnung.
Gut ist beim Schaffen: die Fähigkeit.
Gut beim Sich-Regen: die rechte Zeit.
Wohl! Nur, wer sich nicht streitet, 21
Ist gegen Schmähung gefeit.
[Den Becher] halten und füllen zugleich – 22
Besser, du ließest es sein!
[Die Klinge] betasten und schärfen zugleich –
Das dauert nicht lange!
Voll Erz und Juwelen die Halle –
Niemand kann sie bewahren.
Stolz auf Reichtum und Ehre
Schafft selber sich Unheil.
Sein Werk vollbringen
Und sich zurückziehn:
Also des Himmels Weg.
Zügelnd den Leibgeist, umfangend das Eine, 23
Kannst ohne Fehl du sein.
Versammelnd den Atem, gelangend zur Weichheit,
So kannst ein Kind du sein.
Reinigend, läuternd den mystischen Blick,
Kannst ohne Mal du bleiben.
Schonend das Volk dein Land regierend,
Kannst ohne Tun du bleiben.
Die himmlischen Pforten geöffnet, geschlossen,
Kannst du zum Weibchen werden.
Erleuchtend die vier Enden der Welt,
Kannst unerkannt du sein auf Erden.
Erzeuge das, hege das! 24
Erzeugen, doch nicht besitzen; 118
Tun, doch nicht drauf baun;
Leiten, doch nicht beherrschen –
Dies nennt man Mystische Tugend.
Der Speichen dreimal zehn 25
Auf einer Nabe stehn.
Eben dort, wo sie nicht sind,
Ist des Wagens Brauchbarkeit.
Man knetet Ton zurecht
Zum Trinkgerät:
Eben dort, wo keiner ist,
Ist des Gerätes Brauchbarkeit.
Man meißelt Tür und Fenster aus
Zur Wohnung.
Eben dort, wo nichts ist,
Ist der Wohnung Brauchbarkeit.
Wahrlich:
Erkennst du das Da-Sein als einen Gewinn,
Erkenne: Das Nicht-Sein macht brauchbar.
Die Fünf Farben 26
Machen das Auge der Menschen blind;
Die Fünf Töne
Machen das Ohr der Menschen dumpf;
Die Fünf Geschmäcke
Machen den Mund der Menschen stumpf.
Wagenrennen und Jagden
Machen den Sinn der Menschen toll;
Schwer erlangbares Gut
Macht ihren Wandel bürdevoll.
Deshalb, der Heilige Mensch 27
Tut für den Bauch,
Nicht für das Aug.
Wahrlich: 28
Von jenem lass! Dieses erfass!
»Gunst und Schande sind gleichsam ein Stachel. 29
Ehrung ist ein großes Leiden wie Dein Leib.«
Was heißt:
»Gunst und Schande sind gleichsam ein Stachel?«
Gunst ist etwas [Hohes, Schande etwas] Niedriges.
Sie zu erlangen, ist gleichsam ein Stachel;
Sie zu verlieren, ist gleichsam ein Stachel.
Das heißt:
»Gunst und Schande sind gleichsam ein Stachel.«
Was heißt:
»Ehrung ist ein großes Leiden wie Dein Leib?«
Dass Wir große Leiden haben,
Ist, weil Wir einen Leib haben.
Wären Wir ohne Leib,
Was hätten Wir für Leid?
Wahrlich: 30
Ehre wie den Leib so das Reich,
Und das Reich kann Dir anvertraut werden.
Schone wie den Leib so das Reich,
Und das Reich kann Dir überantwortet werden.